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Credit Suisse bulletin, 2009/04
Credit Suisse bulletin, 2009/04
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Chaostheorie <strong>Struktur</strong><br />
<br />
Fotos: Kerstin Enderlein, Outdoor-Archiv | Thomas Willemsen | Peter Widmann | Tom Ulrich, Oxford Scientific, Keystone<br />
Als der Schmetterlingseffekt einmal beschrieben<br />
war, entdeckte man ihn bald überall.<br />
Tropfende Wasserhähne, Schwarzmarktkurse,<br />
Schneehasenpopulationen: Alle folgen sie<br />
chaotischen Bahnen. Auch beim Billard multiplizieren<br />
sich kleine Startunterschiede von<br />
Stoss zu Stoss: Schon das Hinzutreten eines<br />
Zuschauers an den Tisch, der auf die Kugeln<br />
eine winzige Gravitationskraft ausübt, reicht<br />
aus, damit sich nach neun Stössen – unter<br />
sonst identischen Bedingungen – eine andere<br />
Verteilung ergibt ! Aus den gleichen<br />
Gründen ist es völlig unmöglich, die Ziehung<br />
der Lottozahlen aus der Anfangsverteilung<br />
der Lottokugeln vorherzusagen.<br />
Zufall oder Notwendigkeit ?<br />
Es ist dies eine elegante Antwort auf die alte<br />
Frage nach Zufall oder Notwendigkeit: Selbst<br />
wenn die Welt deterministisch wäre, so bliebe<br />
sie für uns unvorhersehbar. Die Erkenntnis<br />
hat etwas Befreiendes, vielleicht aber<br />
auch etwas Beängstigendes. Sogar etwas<br />
so Einfaches und scheinbar Stabiles wie<br />
unser Sonnensystem erhält dadurch einen<br />
Schuss Unberechenbarkeit. Zwar liegt hier<br />
die Vorhersageschranke nicht bei wenigen<br />
Tagen wie beim Wetter, aber im Prinzip läuft<br />
es gleich: Astronomen können die Stabilität<br />
des Sonnensystems nur für die nächsten<br />
40 Millionen Jahre garantieren. Der Grund<br />
ist, dass die Planeten nicht einfach brav auf<br />
ihren Ellipsen um die Sonne kreisen, sondern<br />
sich auch gegenseitig ein wenig anziehen.<br />
Diese Störungen sind zwar klein, doch weil<br />
eine Gravitationsgemeinschaft schon ab drei<br />
Körpern grundsätzlich chaotisch ist, kann<br />
man nicht ausschliessen, dass über lange<br />
Zeit beispielsweise der Merkur mit der Erde<br />
kollidiert oder der Mars aus dem Sonnensystem<br />
geschleudert wird.<br />
Das ist eine der grossen Erkenntnisse der<br />
Chaostheorie: Komplexes Verhalten kann<br />
schon in relativ einfachen Systemen entstehen.<br />
Davon zeugen auch die so genannten<br />
Fraktale, die zu den Ikonen der Chaosbewegung<br />
geworden sind. Fraktale sind unglaublich<br />
schöne, sich bis ins unendlich Kleine verzweigende<br />
Kurven oder Flächen, die meist<br />
auf verblüffend einfachen Formeln beruhen.<br />
Hinter der berühmten Mandelbrot-Menge<br />
etwa (auch Apfelmännchen genannt), der<br />
wohl bekanntesten Figur der modernen Mathematik,<br />
steckt eine einzige mathematische<br />
Abbildungsvorschrift: zn + 1 = zn 2 + c. Aus<br />
dieser simplen Formel erwächst der ganze<br />
Formenreichtum des Gebildes.<br />
Manche der auf diese Weise erzeugten<br />
Fraktale sehen erstaunlich natürlich aus, und<br />
Computergrafiker nutzen die bequemen<br />
Formeln der Chaostheoretiker, um beispielsweise<br />
Berglandschaften zu zeichnen. Umgekehrt<br />
kann man etwa Bäume, Küstenlinien,<br />
Blumenkohl oder Schneeflocken als natürliche<br />
Fraktale bezeichnen: Sie sind bis ins<br />
Kleinste verzweigt, und wenn man einen<br />
Ausschnitt vergrössert, ein Röschen des Blumenkohls<br />
etwa, dann sieht dieser Teil wieder<br />
aus wie das Ganze.<br />
Dieser Naturbezug hat sicherlich auch zur<br />
Popularität der fraktalen Geometrie beigetragen.<br />
Die herkömmliche Geometrie sei daher<br />
so «trocken», weil sie unfähig sei, Formen<br />
wie Wolken, Berge oder Küstenlinien zu beschreiben,<br />
meint der französisch-polnische<br />
Mathematiker Benoît Mandelbrot, der Star<br />
der Chaostheoretiker-Zunft. «Doch Wolken<br />
sind keine Kugeln, Berge keine Kegel, Küstenlinien<br />
keine Kreise.» In der Vergangenheit<br />
habe sich die Wissenschaft bemüht, «die Unregelmässigkeiten<br />
der Natur als geringfügige<br />
Unvollkommenheiten einer idealisierten Gestalt<br />
zu betrachten». Für Mandelbrot hingegen<br />
macht gerade eine gewisse Rauheit «das<br />
Wesen vieler Objekte der Natur aus».<br />
Es ist der Chaostheorie oft zum Vorwurf<br />
gemacht worden, sie habe nach einem furiosen<br />
Start kaum mehr Fortschritte gemacht.<br />
Mandelbrot kann man diesbezüglich aber<br />
sicher keinen Vorwurf machen: Er hat sein<br />
Fraktal-Konzept auf die Wirtschaft übertragen<br />
und zu einer höchst umstrittenen, aber<br />
umso spannenderen Theorie ausgebaut. Die<br />
Rauheit der Natur, sagt Mandelbrot in seinem<br />
Buch «Fraktale und Finanzen», entspreche in<br />
der Wirtschaftswelt der Volatilität der Kurse.<br />
Viele Preiskurven und Börsenkurse trügen<br />
fraktale Züge wie ein Blumenkohl: «Ohne die<br />
jeweilige Legende kann man nicht angeben,<br />
ob eine Kurstabelle 18 Minuten, 18 Monate<br />
oder 18 Jahre abdeckt.» Ein kleiner Ausschnitt<br />
gleicht stets der ganzen Kurve.<br />
Die herkömmliche Ökonomie hat die Fluktuationen<br />
der Finanzmärkte meist wie normale<br />
Zufallsschwankungen behandelt: Man<br />
könne sie zwar nicht vorhersagen, aber wenn<br />
man die Kursänderungen über eine gewisse<br />
Zeit sammle, sehe die Verteilung aus wie eine<br />
Gauss’sche Glockenkurve. Eine solche glatte<br />
Verteilung bekommt man beispielsweise,<br />
wenn man die Grösse aller Frauen in der<br />
Schweiz aufzeichnet: Die meisten scharen<br />
sich um den Mittelwert, es gibt ein paar Ausreisser<br />
nach oben und unten, aber Extremgrössen<br />
wie 15 Zentimeter oder 4 Meter<br />
findet man keine.<br />
Kurssturz als fraktaler Zufall<br />
Auch Mandelbrot spricht vom Zufall – aber es<br />
ist ein wilder, zerklüfteter, eben fraktaler<br />
Zufall, der nicht der Normalverteilung folgt.<br />
Ein Kurssturz wie am 19. Oktober 1987, dem<br />
Schwarzen Montag, hat in der herkömmlichen<br />
Zufallsverteilung eine Wahrscheinlichkeit<br />
von 1 zu 1050 – mit anderen Worten: Er ist<br />
schlechterdings unmöglich. In Mandelbrots<br />
Theorie hingegen gehören solche Ausreisser<br />
zum Spiel: «Auf Finanzmärkten sind extreme<br />
Kursumschwünge die Regel und keine Abweichungen,<br />
die man ignorieren kann.»<br />
Das sind keine akademischen Betrachtungen,<br />
die Theorie hat im Gegenteil Auswirkungen<br />
auf die Art und Weise, wie man Risiken<br />
bewertet. Die Black-Scholes-Formel<br />
etwa, die immer noch das Standardmodell zur<br />
Berechnung des Wertes von Optionen ist, behandelt<br />
die Volatilität der Kurse wie normale<br />
Zufallsschwankungen. Entsprechend versagt<br />
sie bei turbulentem Marktgeschehen. «Die<br />
Risiken für Ruin in einer freien globalen Marktwirtschaft<br />
sind grob unterschätzt worden»,<br />
sagt Mandelbrot. Die fraktale Sichtweise sei<br />
dem Geschehen viel besser angepasst.<br />
Die Finanzwelt brauche eine ähnliche<br />
Risikokultur wie etwa die Schifffahrt, schreibt<br />
Mandelbrot: «Die Schiffbauer wissen, dass<br />
die See in den meisten Fällen gemässigt ist.<br />
Doch sie wissen auch, dass Taifune aufkommen<br />
und Hurrikane toben. Sie konstruieren<br />
nicht nur für die 95 Prozent der Seefahrtstage,<br />
an denen das Wetter gutmütig ist,<br />
sondern auch für die übrigen 5 Prozent, an<br />
denen Stürme toben und ihre Geschicklichkeit<br />
auf die Probe gestellt wird. Die Finanziers<br />
und Anleger der Welt sind derzeit wie Seeleute,<br />
die keine Wetterwarnungen beachten.»<br />
Diese Zeilen wurden, wohlgemerkt, noch vor<br />
der aktuellen Finanzkrise geschrieben. <<br />
Literatur:<br />
Benoît B.Mandelbrot, Richard L.Hudson:<br />
«Fraktale und Finanzen. Märkte<br />
zwischen Risiko, Rendite und Ruin».<br />
München, Piper, 200.<br />
Edward N. Lorenz: «The Essence of Chaos».<br />
University of Washington Press, 1.<br />
Credit Suisse <strong>bull</strong>etin 4/<strong>09</strong>