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2021/43 | FRIZZ November

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werden die primären Geschlechtsmerkmale<br />

an das Aussehen und die Funktion des anderen<br />

Geschlechts angeglichen. Im Mai 2019 gab es<br />

dann einen weiteren, zweistündigen Eingriff,<br />

um die Ästhetik noch etwas anzugleichen.<br />

Den Feinschliff, wie ich es nenne.“ Zwei Tage<br />

vor dem ersten Eingriff muss Julia bereits in<br />

die Klinik. „Mein Umfeld war verzweifelt. Besonders<br />

meine Eltern, die mich die ganze Zeit<br />

über unterstützt haben, hatten große Angst<br />

um mich.“ Hatte Julia die richtige Entscheidung<br />

getroffen? „Ich fühlte mich während<br />

dieser Zeit ganz bei mir. Ich wusste, das ist<br />

die richtige Entscheidung. Der einzige Weg.<br />

‚Mehr als diese Option gibt es für dich nicht‘,<br />

sagte ich zu mir.“ Julia blickt von ihrer Zigarette<br />

auf, lächelt. „Es war ein Zustand wie eine<br />

Zen-Meditation.“<br />

„Ein Gefühl, nicht von dieser Welt“<br />

Als sich die Türen zum Operationssaal öffnen,<br />

weiß sie: „Das passiert wirklich. Ich habe es<br />

fast geschafft. Ein Gefühl, zu surreal, um es in<br />

Worte zu fassen“, wie die Psychologiestudentin<br />

erläutert. „Später wachte ich auf und konnte<br />

mich kaum bewegen. Von oben bis unten in<br />

Verbände gewickelt. Ein Gefühl – nicht von<br />

dieser Welt …“ Nach mehreren Tagen kann sie<br />

erste Schritte über den Krankenhausflur wagen.<br />

„Mühsam. Ich zählte. Anfangs schaffte ich<br />

nur fünf. Dann zehn Schritte. Und irgendwann<br />

schritt ich über den gesamten Flur.“ Drei weitere<br />

Wochen verbringt Julia Heinrich in der<br />

Klinik. „Ich habe in der Zeit eine Trilogie von<br />

Ken Follet durchgelesen. 4.000 Seiten. Das<br />

war meine Rettung, um die Zeit rumzubringen.<br />

Es war so eine Ausnahmesituation, dass<br />

alle anderen Funktionen richtig runterreguliert<br />

waren. Verstehen können das nur diejenigen,<br />

die es am eigenen Leib erfahren haben.<br />

Im Nachhinein, wenn ich darüber nachdenke,<br />

dann ist es wie ein innerer Film, der abläuft.“<br />

Oktober <strong>2021</strong>. Julia bevorzugt das weibliche<br />

Personalpronomen „sie“. „Das klang jetzt vielleicht<br />

einfach und gar nicht emotional. Die<br />

Wahrheit ist: Wir sprechen hier von einem<br />

unwahrscheinlich beschwerlichen Weg. Viele<br />

wollen ihn gehen und schaffen es nicht.“ Weil<br />

sie um die Hürden auf diesem Weg weiß, will<br />

sie anderen in derselben Situation helfen und<br />

verspricht: „Ich werde mich für die Rechte<br />

und Interessen derer einsetzen, die den Weg<br />

noch vor sich haben.“<br />

Der biologisch vorgeschriebene Weg?<br />

Sandra Nickel, die als Psychotherapeutin an<br />

einer Ulmer Klinik tätig ist, befasst sich eingehend<br />

mit dem Thema Intersexualität. Was<br />

es aus psychologischer Sicht für Menschen<br />

bedeutet, wenn sie mit mehreren Geschlechtsmerkmalen<br />

zur Welt gekommen sind. „Sind<br />

diese Merkmale mehr- oder uneindeutig,<br />

spricht man von einem Intersexus, kurz: inter,<br />

was eben nicht den medizinisch-gesellschaftlichen<br />

Normen entspricht. Oftmals werden<br />

diese Menschen bewusst misgegendert“, sagt<br />

sie. „Seit Mai 2020 partizipiert das Uniklinikum<br />

Ulm an einem bundesweiten Projekt,<br />

‚DSDCare‘, das die Verbesserung der Versorgung<br />

von Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung<br />

anstrebt.“ Bei DSDCare<br />

geht es nicht nur um Fragen des biologischen<br />

Geschlechts. „Nur, weil das Geschlecht bei<br />

der Geburt zugewiesen wurde, muss das nicht<br />

zwangsläufig bedeuten, dass dieses Geschlecht<br />

das endgültige ist. Der Weg wird von der Biologie<br />

zwar vorbestimmt doch bei DSDCare<br />

psychologisch hinterfragt.“<br />

Text: Julia Haaga<br />

KUNTERBUNT<br />

BEIM SHOOTING<br />

FLAGGE ZEIGEN<br />

FÜR DIE DIVERSITÄT<br />

Foto: Marc Hörger<br />

Ich wusste<br />

einfach, das<br />

ist die richtige<br />

Entscheidung.<br />

Under the rainbow: Julia steht für andere ein. | Fotos: privat<br />

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