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Taxi Times DACH - 3. Quartal 2021

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KRANKENFAHRTEN<br />

DER<br />

IRRGLAUBE<br />

MIT DER<br />

BORDSTEIN-<br />

KANTE<br />

Die Pläne der AOK, mithilfe einer App Krankenfahrten »on demand«<br />

zu digitalisieren, sind praxisfremd und teilweise rechtswidrig.<br />

FOTOS: Pixabay, ARZ<br />

Was für eine Nachricht: Die AOK arbeitet an einer Möglichkeit,<br />

Patientenfahrten zu digitalisieren. Schon<br />

der Begriff deutet auf eine geänderte Wahrnehmung<br />

hin: Patientenfahrten impliziert, dass es sich hier also gar nicht<br />

mehr um kranke Menschen handelt, die zur Dialyse oder zur<br />

Bestrahlung müssen, sondern um „Patienten“. Dabei ist gerade<br />

hier der elementare Unterschied: Der zu befördernde Patient ist<br />

in der theoretischen Praxis der Kasse jemand, den man lediglich<br />

von der Bordsteinkante des Einstiegs zur Bordsteinkante des Ausstiegs<br />

zu transportieren hat. Der Kranke ist derjenige, der<br />

geschwächt ist, deshalb an der Wohnungstüre abgeholt werden<br />

muss und oft genug auch in der Dialysestation bis zum Gerät<br />

begleitet wird.<br />

FÜR LANGE FAHRTEN ZU GESCHWÄCHT<br />

Zusätzlich ist den Patienten auch eine längere „gepoolte“ Fahrstrecke<br />

wegen ihres Befindens kaum möglich. Bevor diese dialysiert<br />

werden, sind diese Menschen geschwächt durch die in ihrem<br />

Körper befindlichen Giftstoffe und Flüssigkeitsansammlungen,<br />

die nicht mehr ausgeschieden werden können. Nach der Dialyse,<br />

bei der immerhin ein Gewichtsunterschied zwischen durchschnittlich<br />

3 bis 5 Kilo abgebaut wird, sind diese Menschen ebenfalls<br />

geschwächt und ihr Kreislauf stark belastet. Fazit: Es ist ein Irrglaube<br />

der Krankenkassen, dass „Patientenfahrten“ vergleichbar<br />

mit Fahrten des Gelegenheitsverkehrs von Bordsteinkante zu Bordsteinkante<br />

durchgeführt werden.<br />

Wenn man die Ankündigung der beiden Kooperationspartner<br />

door2door und AOK zwischen den Zeilen liest, handelt es sich um<br />

eine im Bereich Bayern befindliche AOK, die jetzt schon nur Tarife<br />

in ihre Verträge packt, mit denen sich ein wirtschaftliches,<br />

steuer- und sozialversicherungsrechtliches ordnungsgemäßes Fahren<br />

nicht finanzieren lässt. Nun kommt man auch noch auf die<br />

Idee, das zum Nahverkehrstarif machen zu wollen. Gibt es dann<br />

auch die Fördergelder, die der Nahverkehr erhält (und sich trotzdem<br />

in der Verlustzone befindet)?<br />

<strong>Taxi</strong>- und Mietwagenunternehmer müssen mit ihrem Umsatz<br />

die Kosten und den eigenen Lebensunterhalt inklusive ihrer Altersversorgung<br />

erwirtschaften. Hier handelt es sich nicht um Millionäre,<br />

die Billigpreise durch monatliches Sponsoring von Leuten,<br />

die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld, finanzieren. Der (gewerkschaftliche)<br />

Slogan „Faire Löhne für faire Arbeit“ darf durchaus<br />

auch für mittelständische Unternehmer angewandt werden.<br />

Aber das scheint nicht zu zählen. Hauptsache, man ist modern<br />

(Pooling) und spart auf dem Rücken der vielen Kleinunternehmer,<br />

die seit Jahrzehnten eine beachtenswerte Logistik aufgebaut<br />

haben, um kranke Menschen ihren Bedürfnissen entsprechend<br />

zu und von den Behandlungen zu fahren. Jene Unternehmen und<br />

ihre Fahrer tragen damit auch dazu bei, dass Termine in Praxen<br />

und Krankenhäusern optimal genutzt werden konnten.<br />

DIESES POOLING IST BUSVERKEHR<br />

Neben der gesellschaftspolitischen, sozialen, moralischen und<br />

wirtschaftlichen Frage ist bei dieser geplanten Digitalisierung<br />

aber auch die rechtliche Grundlage zu betrachten. Hier wäre zur<br />

Klarstellung die Frage zu stellen: Was sind das für „Patientenfahrten“?<br />

Sind das die Menschen, die noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln<br />

fahren können? Für diese übernimmt die Krankenkasse<br />

sowieso keine <strong>Taxi</strong>- bzw. Mietwagenkosten.<br />

Das softwarebasierte Pooling wäre dem Busverkehr gleichwertig<br />

und somit laut § 60 des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V)<br />

und den dazugehörenden Richtlinien § 7 Abs. 3 keine Krankenfahrt<br />

(siehe nebenstehender Kasten). Einen kranken Patienten<br />

„digitalisiert“ zu einer On-Demand-Haltestelle zu schicken und<br />

ihn dort dann auch noch mit einem linienbusähnlichen Verkehr<br />

zu befördern, wäre gleichzusetzen mit der Verweigerung der dem<br />

Patienten zustehenden Krankenfahrt. Wenn man bedenkt, dass<br />

es sich bei den Gesamtkosten für Krankenfahrten lediglich um<br />

0,05 Prozent des Gesamtausgabenvolumens einer Krankenkasse<br />

handelt, ist es ein starkes Stück, dass man in diesem Promillebereich<br />

nun unter dem Deckmantel einer Digitalisierung noch<br />

mehr Geld einsparen will. <br />

gs<br />

GISELA SPITZLEI<br />

war von 1974 bis 2005 <strong>Taxi</strong>unternehmerin<br />

und steht seit 1980 dem<br />

Abrechnungszentrum Spitzlei vor.<br />

Gewerbepolitisch engagiert sie sich<br />

seit 1974 und seit den 1990er-Jahren<br />

ist sie im Fachausschuss Krankenfahrten<br />

des Bundesverbands BVTM,<br />

seit 1999 als dessen Vorsitzende.<br />

TAXI <strong>3.</strong> QUARTAL / OKTOBER <strong>2021</strong><br />

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