Hinz&Kunzt 348 Februar 2022
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Arbeit<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>348</strong>/FEBRUAR <strong>2022</strong><br />
Ausdrücken wie „Schmarotzer“ oder<br />
so. Heutzutage gibt es mehr Verständnis.<br />
Das liegt vielleicht daran, weil die<br />
Verdichtung von Arbeit zugenommen<br />
hat und immer mehr Menschen merken:<br />
Muss dieses Zwangsverhältnis<br />
mein Leben sein?<br />
„Alle haben das<br />
Gefühl, immer<br />
mehr leisten zu<br />
müssen in immer<br />
weniger Zeit.“<br />
Was arbeiten Sie selbst – und wie viel?<br />
Ich bin selbstständig, deswegen kann<br />
ich nicht exakt sagen, wie viele Stunden<br />
ich in der Woche arbeite. Ich bin Entwicklungsbegleiter<br />
und arbeite mit Kindern,<br />
die von Schulen und durch das<br />
Jugendamt an uns vermittelt werden.<br />
Kinder, deren Verhalten in der Schule<br />
beispielsweise auffällt.<br />
Bei Kindern, die zu uns kommen, ist<br />
Leistungsdruck in der Schule oft mit<br />
Widerstand und einer Art Traurigkeit<br />
verbunden. Bei uns bekommen sie erst<br />
mal einen Freiraum, in dem sie nichts<br />
leisten müssen und lernen, wie sie sich<br />
entfalten können.<br />
Wie bringt man das einem Kind bei?<br />
Kindern muss man das eigentlich gar<br />
nicht beibringen. Oft ist es eine Herausforderung<br />
für uns Erwachsene zu sehen:<br />
Warum verhält sich das Kind so und<br />
was braucht es? Wenn ich vorschlage,<br />
dass wir ein Bild zusammen malen<br />
könnten, antworten viele: „Ich kann<br />
nicht malen.“ Das ist doch traurig, weil<br />
sich schon das Kind danach richtet, wie<br />
ein Bild auszusehen hat. Manche wollen<br />
dann ein Lineal, damit es ganz exakt<br />
wird. Manche werden wütend, wenn sie<br />
es nicht hinbekommen. Der Prozess ist,<br />
die Kinder frei zu machen von diesem<br />
Druck, damit sie Dinge wieder aus der<br />
eigenen Lust heraus machen.<br />
Was ist anders, wenn Sie mit<br />
Erwachsenen über Arbeit sprechen?<br />
Viele haben schon Erfahrungen<br />
gemacht, die mitunter an existenzielle<br />
Sorgen gebunden sind.<br />
Wenn es um das alltägliche Überleben<br />
geht – wie bei vielen prekär Beschäftigten<br />
zum Beispiel –, hat die Angst viel<br />
größere Andockpunkte. Natürlich ist es<br />
dann nicht mehr so leicht zu sagen: Ich<br />
guck einfach mal. Das ist aber auch der<br />
Effekt unserer Erfolgsgesellschaft: Alle<br />
haben das Gefühl, immer mehr in immer<br />
weniger Zeit leisten zu müssen.<br />
Das erschöpft, macht krank, und man<br />
ist weniger in der Lage, Abstand von<br />
der eigenen Arbeit zu finden.<br />
Das heißt aber auch, dass Müßiggang<br />
in unserer Gesellschaft denjenigen<br />
vorbehalten ist, die ihn sich leisten<br />
können.<br />
Ja und nein. Wer nicht jeden Cent umdrehen<br />
muss, hat natürlich mehr Möglichkeiten,<br />
einfach mal nichts zu tun<br />
und sich Dingen zu widmen, die unproduktiv<br />
sind: ein Buch zu lesen oder einfach<br />
in die Luft zu gucken.<br />
Gleichzeitig hat das Potenzial zum<br />
Müßiggang aber jeder Mensch, weil<br />
jeder die Erfahrung in seinem Leben<br />
schon gemacht hat. Kind zu sein ist<br />
eigentlich ständiges Müßiggehen: entdecken,<br />
spielerisch lernen, Erfahrungen<br />
sammeln und sich in überraschende<br />
Situationen begeben. In die Leistungsorientiertheit<br />
wächst man erst hinein.<br />
Es ist in der Regel aber auch schwer,<br />
ihr zu entgehen. Kann es Müßiggang<br />
überhaupt für alle geben?<br />
Wenn es heißt, eine demokratische Gesellschaft<br />
ist eine gerechte Gesellschaft,<br />
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und dann sieht man unsere Einkommens-<br />
und Vermögensunterschiede,<br />
muss man natürlich fragen: Was ist<br />
denn daran gerecht? Gerecht wäre,<br />
wenn alle die Möglichkeit hätten, in Sicherheit<br />
und Ruhe leben zu können.<br />
Man könnte zum Beispiel sagen, dass<br />
niemand mehr als einen bestimmten<br />
Betrag im Monat braucht. Und dass<br />
der Rest denen zugutekäme, die weniger<br />
erwirtschaften können oder wollen.<br />
Wer nicht will, sollte nicht arbeiten<br />
müssen.<br />
Damit fordern Sie ein hohes Maß<br />
an Umverteilung und Solidarität.<br />
Ja, nach meinem Empfinden verkümmert<br />
die Notwendigkeit von Solidarität<br />
immer mehr. Es gibt viele unterstützende<br />
und solidarische Menschen, aber es<br />
ist nicht der Konsens, das tragende<br />
Prinzip. Für mich geht es darum, dass<br />
wir eine Basis schaffen, in der alle Menschen<br />
gut leben können. Gesellschaftlich<br />
verträglich dürfte ja eigentlich nicht<br />
sein, dass es exorbitante Vermögen gibt.<br />
Genauso sollte auch Müßiggang kein<br />
Privileg von wenigen sein. •<br />
Anna-Elisa Jakob kann bei<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> sinnhafte Arbeit<br />
verbinden mit privater Lust<br />
auf Müßiggang. Tägliches<br />
Gewusel liebt sie trotzdem!<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Verein zur Förderung<br />
des Müßiggangs:<br />
Vor 30 Jahren gründete Felix Quadflieg<br />
gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten<br />
den Verein „Otium – zur Förderung des<br />
Müßiggangs“ in Bremen. Seitdem veranstalten<br />
dessen Mitglieder regelmäßig<br />
Lesungen und besuchen Schulklassen,<br />
um mit ihnen über Arbeit und die Kunst<br />
des Nicht-Arbeitens zu diskutieren.<br />
Mehr Infos unter www.otium-ev.de