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Fotostrecke Stuhl als Rolli: „Ich freue mich sehr über den Stuhl. Vorher musste ich über den Boden robben. Das war sehr schwer. Jetzt kann ich überall hin.“ Annet Nnabulime ist eine von rund einer Million Menschen in Uganda, die einen Rollstuhl brauchen. Doch nur die wenigsten können sich das teure Hilfsmittel leisten. Der Durchschnittsverdienst liegt bei einem Dollar pro Tag. Die Sozialorganisation Free Wheelchair Mission bietet mit dem „Gen 1“ eine preisgünstige und dennoch haltbare Alternative. Seit 2001 konnten so 1,2 Millionen Roll stühle verteilt werden, bis 2025 sollen es 2 Millionen sein. H auke Wendler hat in den vergangenen fünf Jahren in viele fragende Gesichter geguckt. „Es hieß immer: ‚Man kann doch nicht einen 90-minütigen Film über einen Plastikstuhl machen!‘“, sagt der Hamburger Dokumentarfilmer. Dass „Monobloc“ nun doch in den Kinos startet, hat viel mit der Hartnäckigkeit des 54-Jährigen und ein wenig wohl auch mit der Faszination des Hässlichen zu tun, die von diesem Plastikstuhl ausgeht. Bei uns ab 5,99 Euro im Baumarkt zu haben, ist der aus einem Guss gefertigte Monobloc das meistverkaufte Möbelstück aller Zeiten. Weltweit soll es eine Milliarde Stück geben. Hierzulande gilt der Stuhl als banales Wegwerfprodukt: billig, unästhetisch, noch dazu umweltschädigend. „Aus unserer Sicht ist der Plastikstuhl automatisch böse“, sagt Wendler. Das hat er oft gehört, als er in Hamburg eine Straßenumfrage gestartet hat. Mit einem Megafon in der Hand lockte er Passant:innen an der Kehrwiederspitze an und interviewte sie im Inneren eines Lkw. Dabei saßen sie auf einem Monobloc. Was sie denn von Plastikstühlen halten würden? Die Antworten nahezu unisono: gar nichts. Einer zertrümmerte den Stuhl spontan. Die Dinger seien blöd, von schlechter Qualität und man könne sie nicht recyceln. „Natürlich ist Plastik ein total problematischer Rohstoff“, sagt Wendler. „Nur: Unsere Welt ist heute extrem kompliziert, mit einfachen Antworten kommt man nicht weiter. Das gilt auch für diesen Stuhl.“ Bei der Recherche, die Wendler und sein Team von Hamburg aus auf fünf Kontinente führte, änderte sich seine eigene Sichtweise auf den Plastikstuhl radikal. Der Wendepunkt kam in Uganda. Das afrikanische Land mit knapp 47 Millionen Einwohner:innen hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten große wirtschaftliche Fortschritte gemacht. Dennoch leben bis heute rund 40 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Betroffen sind vor allem die Bewohner:innen auf dem Land. So wie Annet Nnabulime. Die 56-Jährige lebt mit ihrer Familie in einer Lehmhütte. Fünf Jahre lang hat die gehbehinderte Frau auf ihren Rollstuhl gewartet. Aber 39 keinen, wie Europäer:innen ihn kennen. Der „Gen 1“ ist gefertigt aus Stahlrohr, Mountainbike-Reifen, als Sitzfläche dient ein Plastikstuhl. Kosten: nur 20 Dollar. Erfunden hat ihn ein amerikanischer Ingenieur. Kritiker:innen argumentieren, es sei zynisch, die von Armut betroffenen Menschen mit so einem Billigstuhl abzuspeisen. Im Film sagt ein Pfarrer aus Uganda dazu: „Würdest du lieber auf den 2000-Dollar-Stuhl warten, den du dir nie leisten kannst, oder würdest du lieber erst mal vom Boden hochkommen wollen?“ „Was am Ende zählt, ist, dass man sitzt.“ HAUKE WENDLER In Neu-Delhi trifft Wendler zudem auf einen Unternehmer, der ihm vorrechnet, dass die weltweite Nachfrage nach günstigen Stühlen nur mit Plastik umweltverträglich zu erfüllen ist: „Indiens Vegetation ist arm an Wäldern. Würde man bei der Herstellung Holz verarbeiten, würden wir unsere eigenen Ressourcen schnell vernichten.“ Der Monobloc wird aus Polypropylen hergestellt, das keine Weichmacher enthält und bis zu 100 Prozent wiederverwertbar ist. Wendler: „Aus diesem Stuhl, der bei uns als Wegwerfprodukt gilt, wird dort mehrfach ein neuer Stuhl gemacht. Am Ende des Downcyclings wird ein Blumenkasten daraus.“ Und manchmal landet er sogar im Museum: 2017 stapelten sich bei „Monobloc – ein Stuhl für die Welt“ 40 Plastikstühle im Vitra Design Museum in Weil am Rhein inmitten anderer berühmter Exponate von Designerstühlen. „Ich möchte diese Stühle nicht bei mir im Wohnzimmer stehen haben“, sagt Hauke Wendler lachend, „aber letztlich ist es ja nicht der Punkt, an dem sich entscheidet, ob ich ein glückliches und zufriedenes Leben habe. Denn was am Ende zählt, ist nicht der Stuhl, sondern dass man sitzt.“ • redaktion@hinzundkunzt.de