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Mut und Liebe 422022 Wurzeln

"...In unseren Schuhen tragen wir unsere Heimat mit uns, unsere Wurzeln, auch unbewusst als spürbares Erbe." (Petra Maria Mühl aka Mia Pelenco). Erinnerung, Wurzeln und Heimat/Heimatlosigkeit sind Themen der Offenbacher Künstlerin Petra Maria Mühl. Das Foto ihrer Installation „kein ort. weiter weg“ auf unserem Titel zeigt Tanzschuhe der 1920er, mit Einlagen aus Landkarten von Böhmen und auf der umgebenden Folie die Handschrift ihrer Großmutter.

"...In unseren Schuhen tragen wir unsere Heimat mit uns, unsere Wurzeln, auch unbewusst als spürbares Erbe." (Petra Maria Mühl aka Mia Pelenco).
Erinnerung, Wurzeln und Heimat/Heimatlosigkeit sind Themen der Offenbacher Künstlerin Petra Maria Mühl. Das Foto ihrer Installation „kein ort.
weiter weg“ auf unserem Titel zeigt Tanzschuhe der 1920er, mit Einlagen aus
Landkarten von Böhmen und auf der umgebenden Folie die Handschrift
ihrer Großmutter.

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MUT&LIEBE / THEMA /<br />

Mit 18 Jahren bewarb Leyla sich erneut in der Klinik<br />

Eichberg um einen Ausbildungsplatz als Krankenschwester.<br />

Die Klinik Eichberg wurde 1815 als Irrenanstalt<br />

im Kloster Eberbach gegründet <strong>und</strong> diente<br />

den Nazis später als Durchgangslager <strong>und</strong> Tötungsanstalt<br />

für das als Aktion T4 bekannt gewordene<br />

Euthanasieprogramm. In der mehr als 100-jährigen<br />

Geschichte der Lehranstalt war Leyla die erste nichtdeutsche<br />

Bewerberin. Die Schwesternschule schrieb<br />

an die Arbeiterwohlfahrt Kassel, die seinerzeit zuständig<br />

war für die Landesheilanstalt, um zu fragen,<br />

ob Leyla als Schülerin überhaupt geeignet sei <strong>und</strong><br />

aufgenommen werden dürfe. Hier hatte sie erstmals<br />

unbewusst Kontakt zu einem Mann, mit dem<br />

sie später eine lebenslange tiefe Fre<strong>und</strong>schaft verband.<br />

Der zuständige Sachbearbeiter war die spätere<br />

Offenbacher FDP-Legende Ferdi Walther. Für ihn<br />

war klar, wenn die junge Frau volljährig ist, deutsch<br />

sprechen kann, Abitur hat <strong>und</strong> Willens wäre den<br />

Beruf zu lernen <strong>und</strong> auszuüben, dann soll sie das<br />

auch dürfen. Erst viele Jahre später, in den 1980-ern<br />

stellten Leyla <strong>und</strong> Ferdi Walther fest, dass er ihren<br />

Lebensweg maßgeblich beeinflusst hatte.<br />

So begann sie ihre Ausbildung <strong>und</strong> machte in der<br />

Lehranstalt Eichberg als erste Ausländerin ihr<br />

Staatsexamen zur Krankenschwester. Einige Ausbilderinnen<br />

<strong>und</strong> Ausbilder betonten immer wieder, dass<br />

auf dem Eichberg „aufgeräumt“ wurde. Als eine Lehrerin<br />

feststellte, dass Leyla mit links schrieb, zischte<br />

sie, dass man ihr „damals“ den linken Arm gebrochen<br />

hätte, damit sie lerne mit rechts zu schreiben. Aber in<br />

der Rückschau hatte Leyla es als Ausländerin nicht<br />

schwer gehabt. „Ich habe immer den ersten Schritt gemacht<br />

<strong>und</strong> gemerkt, mit Humor geht es leichter. Deutsche<br />

sind halt etwas zurückhaltender als wir es sind“,<br />

erinnert sie sich <strong>und</strong> fährt fort, „sie haben zwar gesagt,<br />

ich sei verrückt, aber die Menschen, mit denen ich<br />

gearbeitet habe, waren ja auch verrückt, also hat das<br />

gut gepasst.“<br />

Dino hatte sich inzwischen in Wiesbaden einen<br />

Fre<strong>und</strong>eskreis aufgebaut <strong>und</strong> verdiente als Koch<br />

seinen Lebensunterhalt. Doch 1971 zog es ihn zurück<br />

nach Italien <strong>und</strong> er hatte bereits einen Vertrag<br />

in einem renommierten Hotel in einem Skigebiet<br />

in den Dolomiten in der Tasche. Zum Abschied verabredete<br />

er sich noch einmal in einem Tanzlokal in<br />

MÄRZ / APRIL / MAI 2022<br />

ristorante dino<br />

Nachdem Dino Cornia zwei Jahre in Offenbach als<br />

Koch angestellt war, eröffnete er mit Leyla Cornia<br />

1974 die Pizzeria Dino in der Bismarckstraße 6.<br />

Dino backte <strong>und</strong> kochte für die Gäste <strong>und</strong> Leyla<br />

bewirtete sie. Schnell wurde das Lokal zu einem<br />

angesagten Szenetreffpunkt der Offenbacher<br />

Lokalpolitik. Im Fre<strong>und</strong>es- <strong>und</strong> Bekanntenkreis<br />

waren unter anderem der Alt-Oberbürgermeister<br />

Gerhard Grandke, Stefan Grüttner, der Kulturpolitiker<br />

Ferdi Walther, Wolfgang Malik, damals bei<br />

der links-alternativen Szene, sowie viele weitere<br />

prominente Offenbacher aus Politik, Kultur <strong>und</strong><br />

Wirtschaft.<br />

Während an den Stammtischen Kommunalpolitik<br />

gemacht wurde, machte Leyla sich einen Scherz<br />

daraus, von Franz Josef Strauß zu schwärmen, was<br />

den einen oder anderen Genossen stets verärgerte.<br />

Die Cornias versorgten die „Kämpfer“ an der<br />

Startbahn West, die alternative Kulturstätte „Kolbenfresser“<br />

in der Fabrik Schlesinger <strong>und</strong> den ein<br />

oder anderen armen studentischen Lokalpolitiker.<br />

Mit dem Umzug in die Luisenstraße 63, 1984,<br />

gründeten die Cornias das Ristorante Dino,<br />

welches schnell eine der besten Adressen der<br />

Stadt wurde. Dino erfand Pasta-Kreationen <strong>und</strong><br />

war einer der ersten Crossover-Köche des Landes.<br />

Der Ruf von der Herzlichkeit <strong>und</strong> dem hervorragenden<br />

Essen war schon lange kein Insidertipp<br />

mehr, sondern reichte weit über die Stadtgrenzen<br />

hinaus. Unter den vielen prominenten Gästen<br />

waren unter anderem das Ensemble des Musicals<br />

„TOMMY“, welches im heutigen Capitol-Theater in<br />

der Goethestraße produziert wurde. Als Luciano<br />

Pavarotti 1995 ein Konzert im Capitol-Theater<br />

gab, kränkelte der Star-Tenor <strong>und</strong> kurzerhand kam<br />

eine Anfrage an Dino, ob er „Mamas Hühnersuppe<br />

mit Tortellini“ für den Maestro kochen könne.<br />

Dino besorgte sich das Rezept direkt von Pavarottis<br />

<strong>Mut</strong>ter aus Modena <strong>und</strong> der Meister bedankte<br />

sich mit zwei Eintrittskarten, die Leyla <strong>und</strong> Dino<br />

jedoch ablehnten. Es war ihnen schließlich eine<br />

Ehre.<br />

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