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Mut und Liebe 422022 Wurzeln

"...In unseren Schuhen tragen wir unsere Heimat mit uns, unsere Wurzeln, auch unbewusst als spürbares Erbe." (Petra Maria Mühl aka Mia Pelenco). Erinnerung, Wurzeln und Heimat/Heimatlosigkeit sind Themen der Offenbacher Künstlerin Petra Maria Mühl. Das Foto ihrer Installation „kein ort. weiter weg“ auf unserem Titel zeigt Tanzschuhe der 1920er, mit Einlagen aus Landkarten von Böhmen und auf der umgebenden Folie die Handschrift ihrer Großmutter.

"...In unseren Schuhen tragen wir unsere Heimat mit uns, unsere Wurzeln, auch unbewusst als spürbares Erbe." (Petra Maria Mühl aka Mia Pelenco).
Erinnerung, Wurzeln und Heimat/Heimatlosigkeit sind Themen der Offenbacher Künstlerin Petra Maria Mühl. Das Foto ihrer Installation „kein ort.
weiter weg“ auf unserem Titel zeigt Tanzschuhe der 1920er, mit Einlagen aus
Landkarten von Böhmen und auf der umgebenden Folie die Handschrift
ihrer Großmutter.

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MUT&LIEBE / THEMA /<br />

geht nebenbei zur Schule – mehr schlecht als recht.<br />

Nach Vollendung der Schulpflicht steht sie mit vernichtender<br />

Prognose, aber ohne Abschluss da. Es ist<br />

ihr egal. Sie zieht von Fre<strong>und</strong>in zu Fre<strong>und</strong>in, feiert<br />

die Nächte durch, lebt zeitweise buchstäblich auf der<br />

Straße. <strong>Wurzeln</strong> zu dieser Zeit? „Irgendwo schon da,<br />

aber taub – ein bisschen wie abgestorben vielleicht.“<br />

Sie sucht Halt, Zugehörigkeit, vor allem aber sucht<br />

sie Sinn. Bereits im Alter von zwölf Jahren beschäftigt<br />

sich Oua viel mit Religionen. Als sie 14, 15 ist,<br />

liest sie die Bibel, sie liest den Koran, sucht Antworten,<br />

vergleicht: „Für mich war die Sache schnell klar!<br />

Ich habe damals im Koran genau die Worte gef<strong>und</strong>en,<br />

die meine Seele berührt haben. Ich habe sehr viel gelesen<br />

zu dieser Zeit <strong>und</strong> plötzlich wurden da genau die<br />

Fragen gestellt, die ich all die Jahre in meinem Kopf<br />

hatte, wurde jedes Thema behandelt, was mich beschäftigte.<br />

Ich habe auch vorher schon an etwas Göttliches<br />

geglaubt, aber erst der Islam hat diesem Glauben<br />

die richtige Rahmung gegeben.“ Mit 15 Jahren konvertiert<br />

sie.<br />

Immer häufiger zieht es sie in die Familie ihres ‚marokkanischen<br />

Bruders‘. Oua nennt ihn bis heute ihren<br />

‚Bruder‘, auch, wenn der Kontakt lange nicht mehr<br />

so intensiv <strong>und</strong> sie nicht mit ihm blutsverwandt<br />

ist. Sie nennt ihn so, weil der Begriff für sie genau<br />

das bezeichnet, was er für sie ist. Die Familie des<br />

‚Bruders‘ stammt aus Marokko. Oua fühlt sich wohl<br />

bei ihnen. Vieles hier erinnert sie an zu Hause. Ihr<br />

‚Bruder‘ hört ihr zu, er ist für sie da, interessiert sich.<br />

Seine <strong>Mut</strong>ter lehrt sie die marokkanische Küche, erzählt<br />

von Herkunft <strong>und</strong> Heimat. In vielen Bezügen<br />

sind ihre Ansichten ähnlich strikt, wie die von Ouas<br />

eigener <strong>Mut</strong>ter. Diese Familie scheint verb<strong>und</strong>en<br />

durch Werte, Glaube, Tradition. Man isst zusammen,<br />

man hält zusammen. Oua wird aufgenommen, wie<br />

eine eigene Tochter. Die amtliche Adoption tritt in<br />

Kraft, als sie 15 ist. Bis heute prägt die junge Frau<br />

diese Zeit. Sie ist dankbar für die Zugehörigkeit, die<br />

Wärme, die ihr diese Familie geschenkt hat: „Ich habe<br />

viel gelernt von ihnen. Das war dort schon so etwas wie<br />

ein Zuhause für mich; auch, wenn ich nie richtig bei<br />

ihnen gewohnt habe.“ Vieles von dem, was sie heute<br />

als Person ausmache, habe seine <strong>Wurzeln</strong> genau hier.<br />

Es scheint fast, als käme Ouas Leben nun endlich ein<br />

wenig zur Ruhe.<br />

Da wird ihr Vater endgültig aus der Haft entlassen.<br />

Ein letztes Mal wollen sie es versuchen mit dem Zusammenleben<br />

– Vater <strong>und</strong> Tochter, ganz normal. Aber<br />

Oua kann die Zweifel nicht abschütteln <strong>und</strong> leider<br />

behält sie wieder einmal Recht. Die verbale Gewalt<br />

schlägt immer mal wieder ins Körperliche um. Irgendwann<br />

kommt dann ein Tag, den Oua bis heute<br />

glasklar in Erinnerung hat. An diesem Tag eskaliert<br />

die Situation mit dem Vater vollständig, alles gerät<br />

außer Kontrolle. Oua steht währenddessen fast wie<br />

neben sich – „als würde ich die Szene von außen beobachten“<br />

– zum ersten Mal in ihrem Leben spürt sie<br />

sowas wie Todesangst. Als es vorbei ist, nimmt Oua<br />

einfach ihre Trainingstasche, packt ein paar wenige<br />

MÄRZ / APRIL / MAI 2022<br />

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