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AUSGABE <strong>11</strong><br />

12. März <strong>2022</strong><br />

SO TEUER<br />

WIRD DER<br />

WIRTSCHAFTS-<br />

KRIEG<br />

Putins Überfall, die Sanktionen des Westens<br />

THILO<br />

MISCHKE<br />

Krieg und Frieden<br />

Der <strong>FOCUS</strong>-Reporter<br />

schreibt über sein Leben<br />

zwischen den<br />

Fronten<br />

und die Gefahr für unseren Wohlstand 1365<br />

Kilometer<br />

liegen zwischen<br />

Kiew und der<br />

deutschen<br />

Hauptstadt<br />

POLITIK<br />

Angst und Schrecken<br />

im Kessel von Kiew<br />

FEMINISMUS<br />

Neue Stimmen,<br />

neue Perspektiven<br />

HILFERUF<br />

Ein offener Brief von<br />

Olena Selenska


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E-PAPER LESEN:


Seite 5<br />

Seite 6<br />

EDITORIAL<br />

An Krieg dürfen wir uns<br />

nicht gewöhnen<br />

Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />

Fotos: Peter Rigaud/<strong>FOCUS</strong>-Magazin, Antoni Lallican<br />

Liebe Leserinnen,<br />

liebe Leser,<br />

Woche zwei nach dem russischen Einmarsch<br />

in die Ukraine. Die Journalisten<br />

Antoni Lallican und Philip Malzahn senden<br />

uns Fotos und Berichte aus dem Kessel<br />

von Kiew. Jedes Bild, jede Geschichte, die<br />

sie erzählen, ein Stich ins Herz. Ich bewundere<br />

die Arbeit der Reporter und habe<br />

großen Respekt davor, dass sie unter Einsatz<br />

ihres Lebens eindringlich auf dieses<br />

Unrecht aufmerksam machen. Kehrt<br />

gesund zurück!<br />

An Krieg darf man sich nicht gewöhnen.<br />

Auch deshalb fällt es so schwer zu fassen,<br />

dass es nach 1945 einem einzigen Menschen<br />

tatsächlich möglich ist, die ganze<br />

Welt auf den Kopf zu stellen. Auf dem<br />

Weg durch Berlin sehe ich vor Bahnhöfen<br />

geflüchtete Frauen und Kinder in Busse<br />

steigen. So viele Menschen! Ihre Männer<br />

und Söhne kämpfen in der Ukraine tapfer<br />

für Freiheit und Demokratie, einen Wert,<br />

den Wladimir Putin als Feind ansieht. Die<br />

Solidarität mit den geflüchteten Familien<br />

ist groß – die Nachbarschaft, unsere Firma,<br />

der Freundeskreis sammeln Spenden<br />

und helfen. Unsere Geschlossenheit, die<br />

Einigkeit des Westens ist die größte Waffe<br />

gegen Putins Wahnsinn, auch wenn dieser<br />

Schulterschluss in politischen Fragen<br />

nicht einfach ist und manchmal etwas<br />

dauert.<br />

In der Diskussion um Sanktionen gegen<br />

Russland ließ in der vergangenen Woche<br />

eine Äußerung von Bundesfinanzminister<br />

Christian Lindner aufhorchen. Der FDP-<br />

Chef berief sich bei seiner Absage an eine<br />

Flugverbotszone über der Ukraine auf<br />

nichts weniger als seinen Amtseid. Der<br />

verpflichte ihn nämlich, „Schaden vom<br />

deutschen Volk abzuwenden“. Er könne<br />

deswegen auch nicht kurzfristig nach<br />

seinem „eigenen Herzen entscheiden“,<br />

sondern müsse „in der Verantwortung<br />

für unser Land insgesamt“ seine<br />

Entscheidungen treffen.<br />

Lindner, dessen Empathie<br />

für den verzweifelten Freiheitskampf<br />

der Ukraine unbestreit-<br />

Berichten aus Kiew Fotograf Antoni Lallican<br />

und Reporter Philip Malzahn<br />

bar ist, beschreibt hier ganz offen das Dilemma,<br />

in dem sich alle verantwortlichen<br />

Politiker des Westens befinden: Wie kann<br />

man der Ukraine und ihrer demokratisch<br />

gewählten Regierung erfolgreich gegen<br />

den Aggressor Putin helfen und gleichzeitig<br />

das eigene Land vor allzu großem<br />

Schaden schützen? Dabei geht es nicht<br />

nur um die Durchsetzung einer Flugver-<br />

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Inge Kloepfer<br />

über den<br />

Tyrannenmord<br />

DER HAUPTSTADTBRIEF<br />

EXKLUSIV<br />

FÜR<br />

<strong>FOCUS</strong><br />

ABONNENTEN<br />

Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch<br />

Commander-in-Xi<br />

Verlässlicher geopolitischer Global Player<br />

oder strategische Partnerschaft mit Russland –<br />

welchen Weg schlägt China ein?<br />

Von Michael Schaefer Seite 2<br />

12. März <strong>2022</strong> | #18<br />

botszone durch die Nato, sondern auch<br />

um die von Polen angebotenen MiG-<br />

29-Kampfflugzeuge für die Ukraine. In<br />

den Augen Putins könnte das die Nato<br />

zur Kriegspartei machen.<br />

Anders sieht es bei der Forderung<br />

Kiews nach einem sofortigen Embargo<br />

gegen russische Rohstoffimporte wie Öl,<br />

Gas und Kohle aus. Auch das würde den<br />

Bundesbürgern schmerzliche Folgen aufbürden<br />

wie noch höhere Energiepreise<br />

oder Energieknappheit. Um unabsehbare<br />

Folgen wie bei einem Krieg zwischen<br />

Nato und Russland ginge es aber nicht.<br />

Katastrophale Auswirkungen hätte ein<br />

Gas-Embargo hingegen für ein zentrales<br />

Projekt der Ampel: die Energiewende und<br />

den damit verbundenen raschen Ausstieg<br />

aus Atom- und Kohlekraft. Da erneuerbare<br />

Energien in dem dafür erforderlichen<br />

Umfang so schnell nicht zur Verfügung<br />

stehen werden, planen SPD, Grüne und<br />

FDP den vorübergehenden Ausbau von<br />

Energie aus Gas, um Versorgungssicherheit<br />

garantieren zu können. Dafür aber ist<br />

die Regierung ganz dringend auf<br />

das vergleichsweise preiswerte<br />

Gas aus Russland angewiesen.<br />

Bleibt es aus, bricht die ohnehin<br />

auf Schönwetterannahmen<br />

beruhende Konstruktion namens<br />

Energiewende in sich zusammen.<br />

Dann hieße es schnell: Frieren für<br />

das Klima.<br />

AFGHANISTAN DANACH<br />

Thomas Rudhof-Seibert<br />

über die Nachwirkungen<br />

eines anderen Krieges<br />

Es gibt Experten, die haben Mitte<br />

dieser Woche für schon Sonntag<br />

einen Dieselpreis von drei Euro je Liter<br />

vorhergesagt. Auch das ein Ergebnis der<br />

harten Sanktionen gegen Russland. Welche<br />

Folgen der Wirtschaftskrieg für Ihr<br />

Geld, für den Wohlstand unseres Landes<br />

hat, lesen Sie in unserer Titelgeschichte<br />

ab Seite 48.<br />

Beten wir, dass der ganze Spuk bald<br />

vorbei ist.<br />

Herzlich Ihr<br />

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<strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2022</strong> 3


Kiew kämpft<br />

Schaffen es<br />

die Ukrainer, ihre<br />

Hauptstadt gegen den<br />

scheinbar übermächtigen<br />

Feind aus dem<br />

Osten zu verteidigen?<br />

Seite 22<br />

Nic surft<br />

Wie die Weltelite<br />

rund um Nic von<br />

Rupp beim Wellenreiten<br />

neue<br />

Rekorde anpeilt<br />

Seite 106<br />

Alle gucken<br />

Der Ziernektar -<br />

vogel ist eine<br />

beeindruckende<br />

Attraktion der Birdwatching-Safari<br />

Seite 94<br />

Wer geht?<br />

Die Impfpflicht<br />

für medizinisches<br />

Personal könnte<br />

die Kliniken in Bedrängnis<br />

bringen<br />

Seite 68<br />

Neon läuft Die Modetrends fürs Frühjahr Seite 104<br />

4 <strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2022</strong>


INHALT NR. <strong>11</strong> | 12. MÄRZ <strong>2022</strong><br />

Titelthema<br />

44 Zwischen den Welten<br />

<strong>FOCUS</strong>-Reporter Thilo Mischke beschreibt<br />

eindringlich, wie sich Krieg anfühlt<br />

46 Duell an der Saar<br />

Tobias Hans (CDU) und Anke Rehlinger (SPD)<br />

führen einen Wahlkampf unter außergewöhnlichen<br />

Bedingungen<br />

Wirtschaft<br />

73 Kampf für den Kraken<br />

Streit um eine Oktopus-Farm in Spanien<br />

Kultur<br />

74 Die Schönheit und das Ich<br />

Egal ob Film, Mode, Boulevard.<br />

Die Popkultur macht den weiblichen<br />

Körper seit jeher zum Objekt.<br />

Zeit für einen Perspektivenwechsel<br />

Titel: Shutterstock/NicoElNino; Markus C. Hurek<br />

Fotos: AP Photo/Emilio Morenatti, imago images/Mika Volkmann, Daryl Dell, Dominique Wollniok für <strong>FOCUS</strong>-Magazin, Ik Aldama/dpa<br />

48 Der Wirtschaftskrieg<br />

Der Westen schneidet Russland vom<br />

Weltmarkt ab. Das hat weitreichende<br />

Folgen. Auch für unseren Wohlstand<br />

56 Wie sicher ist mein Geld?<br />

Russische Aktien fallen weg, die Kurse geben<br />

nach. Was Anleger nun wissen sollten<br />

Politik<br />

22 Im Kessel von Kiew<br />

Die russischen Truppen ziehen den Ring um<br />

die ukrainische Hauptstadt zu. Auch<br />

Zivilisten wie der 21-jährige Igor bewaffnen<br />

sich – und sind bereit zu schießen<br />

30 Das erwartet die Geflüchteten<br />

Die wichtigsten Fragen und Antworten, wie<br />

es für Ukrainer in Deutschland weitergeht<br />

32 Raketen gegen Raketen<br />

Hat der Westen überhaupt die Mittel, sich<br />

gegen russische Atomraketen zu schützen?<br />

35 Havarie-Gefahr<br />

Die Atomenergie-Organisation warnt vor<br />

Katastrophen in ukrainischen Anlagen<br />

36 Schlacht im Cyberspace<br />

Tausende Hacker sind in den digitalen Krieg<br />

gezogen. Der Cyberkampf könnte bald auch<br />

in Deutschland großen Schaden anrichten<br />

39 Datenstrudel<br />

Der Ukraine-Konflikt in den sozialen Netzen<br />

40 Der Allmächtige<br />

Warum Wladimir Putin kaum Widerstand<br />

gegen seinen Kriegskurs fürchten muss<br />

43 Offener Brief von Olena Selenska<br />

Ein dramatischer Appell der ukrainischen<br />

First Lady an die Welt<br />

58 Geldmarkt<br />

Warum Schweizer Aktien jetzt sicher sind<br />

Wissen<br />

62 Deutschland macht Zukunft<br />

Sie fahnden nach dem nächsten großen<br />

Start-up-Ding: Eine Bundesagentur investiert<br />

Millionen in „Sprunginnovationen“<br />

68 Im Chaos des Ermessens<br />

Die Impfpflicht für medizinische Berufe<br />

könnte den Pflegemangel in Deutschland<br />

noch verschlimmern. Auf Stationsbesuch<br />

Sie schreibt<br />

Emily Ratajkowski wurde stets<br />

auf ihren Körper reduziert. In<br />

ihrem Buch reflektiert sie<br />

den kulturellen Blick auf Frauen<br />

Seite 74<br />

80 Von Verlierern und Parasiten<br />

Südkoreas Filmindustrie erobert den Weltmarkt<br />

– mit ultrabrutaler Gesellschaftskritik<br />

82 Give Peace a Chance!<br />

Was Sie jetzt lesen, sehen und hören sollten<br />

84 „Zu viel Text ist nichts für mich“<br />

Samuel L. Jackson über seine erste<br />

Serienhauptrolle in „Ptolemy Grey“<br />

Titelthemen sind rot markiert<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2022</strong> 5<br />

Leben<br />

94 Der Ruf der Paradiesvögel<br />

Birdwatching entwickelte sich gerade<br />

während der Pandemie zum Volkssport. Wir<br />

waren auf Entdeckungsreise in Südafrika<br />

99 Frischer Fisch für Fischers Fritz<br />

Yotam Ottolenghi beizt seinen Graved Lachs<br />

selbst – mit besonderen Aromen<br />

100 Fataler Crash<br />

Zwei Deutsche stehen als „Totraser“ vom<br />

Gardasee am Pranger. Der Fall scheint klar.<br />

Aber ist er das wirklich?<br />

104 Blumige Aussichten<br />

Florale Muster, Neon, Strick und Raubtiere –<br />

die wichtigsten Modetrends fürs Frühjahr<br />

106 Der Höllenreiter von Nazaré<br />

Nic von Rupp surft Wellenberge.<br />

Wir konnten ihn in Portugal begleiten<br />

109 Wuchtbrumme<br />

Kymco versucht sich an einem SUV-Roller<br />

3 Editorial<br />

6 Kolumne von<br />

Jan Fleischhauer<br />

9 Nachrichten<br />

10 Fotos der Woche<br />

16 Grafik der Woche<br />

Mindestlohn<br />

18 Menschen<br />

72 Echt irre<br />

Rubriken<br />

83 Mein Salon<br />

93 Bestseller<br />

93 Impressum<br />

<strong>11</strong>0 Die Einflussreichen<br />

<strong>11</strong>2 Leserbriefe<br />

<strong>11</strong>3 Nachrufe<br />

<strong>11</strong>3 Servicenummern<br />

<strong>11</strong>4 Tagebuch


POLITIK<br />

BLINDBLIND<br />

Klaffende Wunde<br />

Eine russische Rakete<br />

traf vier Etagen dieses<br />

Wohnhauses im Kiewer<br />

Stadtteil Schuljany.<br />

Wie durch ein Wunder<br />

gab es offenbar keine<br />

Toten. Die Rakete sollte<br />

wohl den nahen Flughafen<br />

treffen<br />

22 <strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2022</strong>


UKRAINE<br />

Kein Spiel<br />

Das russische Geschoss traf<br />

offenbar mitten ins Kinderzimmer.<br />

Das Spielzeug in den<br />

Überresten des Hauses ist<br />

noch gut erkennbar<br />

Im Kessel von Kiew<br />

Die Nervosität steigt, die Angst vor russischen<br />

Saboteuren auch. Die Ukrainer bereiten sich auf die<br />

Belagerung ihrer Hauptstadt vor. Manche,<br />

die eben noch ein unbeschwertes Leben genossen,<br />

wachsen dabei über sich hinaus<br />

TEXT VON PHILIP MALZAHN UND ROBERT PUTZBACH FOTOS VON ANTONI LALLICAN<br />

23


KULTUR<br />

Blickfang<br />

Ihr perfektes Gesicht bescherte<br />

Emily Ratajkowski eine steile Karriere.<br />

Sie lebte ihr halbes Leben als Objekt<br />

männlicher Blicke. Nun starrt das Model<br />

zurück und reflektiert in ihrem Buch ihr<br />

Verhältnis zu ihrem eigenen Körper und der<br />

Branche, die sie berühmt werden ließ<br />

74


GESELLSCHAFT<br />

Karrieresprung<br />

Aufgewachsen in San Diego, versuchte sich<br />

Emily Ratajkowski schon im Teenageralter<br />

als Schauspielerin und Model.<br />

Bekannt wurde sie 2012 mit dem Musikvideo<br />

„Blurred Lines“. Darin war sie fast nackt<br />

an der Seite von Robin Thicke, Pharrell<br />

Williams und Rapper T.I. zu sehen. Die drei<br />

Männer waren vollständig bekleidet<br />

Die Schönheit<br />

und das Ich<br />

Foto: Jeffrey Mayer/AAPimages<br />

Egal ob Film, Mode, Kunst oder Boulevard – Popkultur<br />

basiert darauf, dass der weibliche Körper kritisiert,<br />

zensiert, bewertet und vereinnahmt werden darf. Damit<br />

ist jetzt Schluss: Immer mehr Frauen erzählen ihre<br />

Geschichten selbst und verhandeln so die Perspektiven<br />

nach den eigenen Vorstellungen neu<br />

TEXT VON CORINNA BAIER UND HEIKE BLÜMNER<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2022</strong> 75


KULTUR<br />

Von Verlierern und Deserteuren<br />

Südkoreas Filmindustrie erobert den Weltmarkt – vor allem mit Serien wie „Squid Game“<br />

und „D.P.“, die Gesellschaftskritik rau bis ultrabrutal präsentieren<br />

Von Deutschland aus hat man<br />

in Sachen Unterhaltung immer<br />

nach Westen geschaut,<br />

in Richtung Amerika. Action,<br />

Herzschmerz, Weltläufigkeit:<br />

Hollywood war und ist der<br />

Inbegriff einer Filmindustrie,<br />

die ihre Stoffe weltweit zu verkaufen weiß.<br />

Jeder kennt den „Hollywood“-Schriftzug,<br />

den „Walk of Fame“, die Skylines von<br />

Los Angeles, New York oder Washington.<br />

In diesem Land, in dem Kinder schon in<br />

jungen Jahren lernen, auf einen Stuhl<br />

zu steigen und sich zu präsentieren, sind<br />

Film und Fernsehen eben nicht einfach<br />

Unterhaltung, sondern hohe Kunst. Deshalb<br />

begeistern Shows wie „House of<br />

Cards“, „30 Rock“ oder „Veep“ genauso<br />

wie „Game of Thrones“, „The Office“ oder<br />

„Breaking Bad“ Abermillionen Menschen<br />

weltweit.<br />

Der Überlebenskampf der Armen<br />

Nun aber hat ausgerechnet die eher<br />

kleine asiatische Nation Südkorea Bewegung<br />

in den internationalen Film- und<br />

Fernsehmarkt gebracht, mit einer Welle<br />

herausragender TV-Serien und Spielfilme.<br />

Die ultrabrutale Geschichte „Squid<br />

Game“ erreichte im vergangenen Herbst<br />

rund <strong>11</strong>1 Millionen Menschen im ersten<br />

Monat nach Erscheinen – und wurde zum<br />

erfolgreichsten Netflix-Angebot jemals.<br />

Dabei ist der Inhalt alles andere als<br />

erbaulich: In einer dystopischen, labyrinthartigen<br />

Anlage fernab aller Zivilisation<br />

und Gesetze spielen 456 Insassen,<br />

die im wahren Leben hoch verschuldet<br />

sind, um einen immensen Jackpot. Es<br />

geht um alles, am Ende wird nur eine<br />

Person die blutigen Spiele überleben.<br />

Das „Squid Game“ ist, so wie alle anderen<br />

Herausforderungen der Serie, ein<br />

koreanisches Kinderspiel. Dem internationalen<br />

Betrachter dürfte das unbekannt<br />

gewesen sein. Trotzdem waren Spielerund<br />

Wachenkostüme zu Halloween der<br />

Renner.<br />

„Squid Game“ ist nicht das einzige<br />

Format aus Korea, das in der jüngeren<br />

Vergangenheit von sich reden machte:<br />

Im Jahr 2020 wurde der Film „Minari“<br />

zu einem Welterfolg. Das Werk über eine<br />

koreanische Familie, die sich im US-Bundesstaat<br />

Arkansas niederlässt und dabei<br />

allerlei Unbilden bestehen muss, wurde<br />

für sechs Oscars nominiert und gewann<br />

am Ende den für die beste Nebendarstellerin.<br />

Und das skurrile Drama „Parasite“<br />

von 2019 holte vier der begehrten<br />

Trophäen.<br />

Auch die Plots dieser Welterfolge sind<br />

alles andere als leichte Kost. Aber Drehbuch,<br />

Regie und die Schauspielenden<br />

verstehen es, diesen Stoff aus Korea so zu<br />

erzählen, dass er als Inbegriff für soziale<br />

Ungleichheiten überall auf dem Globus<br />

verstanden werden kann. Genau solche<br />

universellen, leicht zugänglichen Stoffe<br />

Brutal, bissig,<br />

schräg: der<br />

Kosmos des<br />

K-Dramas<br />

Im Drama „Minari“<br />

(2020) bringt<br />

das Landleben in<br />

Arkansas Familie<br />

Yi an ihre Grenzen<br />

Die Serie „D.P.“<br />

(2021) thematisiert<br />

Brutalität und Mobbing<br />

im südkoreanischen<br />

Militär<br />

Arme Familie nistet<br />

sich bei Reichen ein:<br />

Die blutige Groteske<br />

„Parasite“ (2019)<br />

gewann vier Oscars<br />

Autist Geu-ru zeigt<br />

in „Move to Heaven“<br />

(2021) seinem<br />

kaltherzigen Onkel<br />

die schönen Seiten<br />

des Lebens<br />

haben Hollywood erfolgreich gemacht.<br />

Dieses Rezept geht nun auch in Ostasien<br />

auf: In einer Umfrage aus dem Jahr 2020<br />

gab ein Drittel der Befragten aus aller<br />

Welt an, dass koreanische Produktionen<br />

in ihrem Land bekannt und populär seien.<br />

Im Jahr 2019 setzte die Bewegtfilm-<br />

Industrie Südkoreas eine Rekordsumme<br />

von zwei Milliarden US-Dollar um, doppelt<br />

so viel wie zehn Jahre zuvor. Die<br />

Pandemie hat diese Entwicklung noch<br />

verstärkt.<br />

Begonnen hat der Trend im Jahr 2009<br />

mit der Serie „Boys Over Flowers“, der<br />

Verfilmung eines japanischen Comics:<br />

Ein Mädchen aus der Unterschicht<br />

kommt an eine Schule, an die nur die<br />

Reichen ihre Kinder schicken. Das Leben<br />

dort wird dominiert von vier Jungs, Kinder<br />

reicher Eltern, die der Schule viel<br />

Geld spenden. Die Heranwachsenden<br />

fühlen sich zur neuen Mitschülerin hingezogen,<br />

das Drama nimmt seinen Lauf.<br />

Auch in China und Thailand wurde der<br />

Stoff verfilmt, aber lange nicht so gut und<br />

erfolgreich wie in Korea.<br />

Soziale Kritik ist in vielen der Produktionen<br />

ein wichtiger Bestandteil. Thematisiert<br />

werden der harte Aufstiegskampf<br />

junger Menschen, ein antiquiertes Frauenbild<br />

und die straffe Hierarchie der<br />

Gesellschaft. Es geht um Korruption in<br />

der Politik, der Wirtschaft, den Medien.<br />

Oder um Mobbing in der Schule,<br />

am Arbeitsplatz, im Militär.<br />

Etliche Stoffe spielen während<br />

zeitgeschichtlich wichtiger Stationen<br />

der noch jungen Demokratie,<br />

die erst 1987 aus einer<br />

Militärdiktatur entstand. Auch<br />

das Verhältnis von Süd- und<br />

Nordkorea wird immer wieder<br />

thematisiert. Als geteiltes Land<br />

wartet Korea auf die Wiedervereinigung.<br />

Korea im Spiegel der kritischen<br />

Reflexion seiner Filmemacher ist<br />

ein Land, in dem vieles falschläuft, es<br />

aber immer wieder Menschen gibt, die<br />

den Kampf gegen das System aufzunehmen<br />

bereit sind: Der eine Serienheld<br />

kämpft für Gerechtigkeit, ein anderer für<br />

Fotos: Noh Juhan/Netflix, Netflix, Blackaura/Netflix, Melissa Lukenbaugh/A24, ddp<br />

80 <strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2022</strong>

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