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Gerhard Wegner: Substanzielles Christentum (Leseprobe)

Die Indifferenz gegenüber Kirche und christlicher Religion wächst ebenso wie die schlichte Unkenntnis christlicher Sprache und Symbolik. Dem ist mit funktionalen Sichtweisen und entsprechenden Abschwächungen normativer Aspekte nicht mehr zu begegnen. Es braucht eine Besinnung auf »substanzielles Christentum« – auf das, was am Glauben begeisternd und nährend ist. Wege dazu, das Christentum neu zu entdecken, bieten vielfältige Überlegungen in der produktiven Begegnung von Soziologie und Theologie. Der Blick geht zurück in die 1960er Jahre und voraus in neue Gestaltungen eines zugleich transformierten und transformierenden christlichen Lebens. Erfahrungen eines Kraftfelds des Geistes kommen ebenso zum Tragen wie Fragen der Armut in der Theologie. Ideen zur »Aufstellung« der Kirche beenden das Buch.

Die Indifferenz gegenüber Kirche und christlicher Religion wächst ebenso wie die schlichte Unkenntnis christlicher Sprache und Symbolik. Dem ist mit funktionalen Sichtweisen und entsprechenden Abschwächungen normativer Aspekte nicht mehr zu begegnen. Es braucht eine Besinnung auf »substanzielles Christentum« – auf das, was am Glauben begeisternd und nährend ist.

Wege dazu, das Christentum neu zu entdecken, bieten vielfältige Überlegungen in der produktiven Begegnung von Soziologie und Theologie. Der Blick geht zurück in die 1960er Jahre und voraus in neue Gestaltungen eines zugleich transformierten und transformierenden christlichen Lebens. Erfahrungen eines Kraftfelds des Geistes kommen ebenso zum Tragen wie Fragen der Armut in der Theologie. Ideen zur »Aufstellung« der Kirche beenden das Buch.

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<strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong><br />

<strong>Substanzielles</strong><br />

<strong>Christentum</strong><br />

Soziotheologische Erkundungen


Vorwort<br />

Die Krise infolge der Corona-Pandemie in den Jahren 2020<br />

und 2021 hat eine ganze Reihe von Schwachstellen in der<br />

sozialstaatlichen und gesellschaftlichen Organisation<br />

Deutschlands aufgedeckt. Das betrifft auch die derzeitige<br />

Rolle der Kirchen und des christlichen Glaubens. Insgesamt<br />

lässt sich festhalten, dass die Kirche in dieser Zeit medial<br />

und politisch wenig präsent und wenig prägend gewesen<br />

ist – was ihr mitunter auch zum Vorwurf gemacht worden<br />

ist. Sicherlich hätte sie ihre zivilreligiöse Rolle durchaus offensiver<br />

wahrnehmen und die Kontingenzerfahrung des Einbruchs<br />

der Seuche stärker religiös dramatisieren können.<br />

Darauf hat sie jedoch weitgehend verzichtet, bisweilen die<br />

Pandemie sogar als reine Naturerscheinung enttheologisiert<br />

und die notwendigen Maßnahmen des Staates bruchlos mitgetragen.<br />

Allerdings greift der Vorwurf, die Kirche hätte in dieser<br />

Situation versagt, zu kurz. Man kann durchaus davon ausgehen,<br />

dass die Kirche in ihrer Zurückhaltung, was eine<br />

religiöse Deutung der Krise betrifft, lediglich auf die Stimmungslage<br />

der Bevölkerung und auch der Masse der Kirchenmitglieder<br />

reagiert hat. Es gab schlicht und einfach in<br />

dieser Zeit kein gesteigertes religiöses Interesse. Die Pandemie<br />

wurde in einem großen Konsens als eine nüchtern einzuschätzende<br />

und mit guter Organisation zu bekämpfende<br />

Bedrohung verstanden, die keiner weiteren Sinngebung<br />

bedurfte. Die Sorgen der Menschen richteten sich auf die<br />

5


Gestaltung des eigenen eingeschränkten Lebens in dieser<br />

Zeit; die Debatten drehten sich um medizinische Fragen und<br />

Probleme der Organisation des Gesundheitswesens bzw. der<br />

Vitalität der Wirtschaft unter Coronabedingungen. Darüber<br />

hinaus das ganze Geschehen weltanschaulich oder eben<br />

christlich religiös einzuordnen, war weitaus weniger von Interesse.<br />

Auch andersgeartete, nicht religiöse oder theologische<br />

Einordnungen der Pandemie, wie zum Beispiel eine<br />

evolutionstheoretische Sortierung, wurden kaum diskutiert.<br />

Im Grunde genommen ist diese Situation erstaunlich,<br />

denn angesichts des Einbruchs massiver Kontingenzerfahrung<br />

auf einer weltweiten Ebene mit Millionen von Toten<br />

und noch mehr leidenden Menschen könnte man eine gesteigerte<br />

religiöse Sensibilität bei den Menschen vermuten.<br />

Aber ein entsprechendes Interesse hat sich schlicht und einfach<br />

nicht entwickelt. Ob die Kirchen durch stärkere Aktivitäten<br />

in dieser Richtung ein solches Interesse hätten wecken<br />

können, muss offenbleiben. Sie selbst hatte jedenfalls viele<br />

Gründe, nicht in diese Richtung wirken zu wollen, sofern<br />

man überhaupt Alternativen in den Blick genommen hat.<br />

Corona bestätigt die soziale Nutzlosigkeit christlichen Glaubens:<br />

»Er liefert keine Antworten mehr auf Fragen aus der<br />

Gesellschaft oder von den Menschen. Es gibt auch solche<br />

Fragen nicht.« 1<br />

Wir haben es in Europa nicht nur mit einem Rückgang von<br />

Kirchlichkeit zu tun, sondern parallel dazu auch mit einer<br />

immer schwächer werdenden religiösen Kommunikation. Ja,<br />

1<br />

<strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong>, Transzendentaler Vertrauensvorschuss. Sozialethik<br />

im Entstehen, Leipzig 2019, 220.<br />

6


man könnte spekulativ sogar davon sprechen, dass das allgemeine<br />

Interesse an übergreifender Sinnstiftung weniger<br />

wird und auch von daher religioide Ersatzsysteme ebenfalls<br />

an Interesse verlieren. Für die christlichen Kirchen bedeutet<br />

die Corona-Pandemie mithin das Ende ihrer selbstverständlichen<br />

umfassenden Einbettung in das gesellschaftliche Leben,<br />

was sich zwar zumindest im Osten Deutschlands schon lange<br />

abgezeichnet hat, aber nun auch in anderen Bereichen deutlich<br />

wird. Die Folge ist, dass sich die Kirchen in eine Diasporasituation<br />

2 hinein entwickeln, in der sie anders als bisher gefordert<br />

sein werden, ihren Glauben als eine plausible Option<br />

für die Menschen darzustellen. Dies ist die Erfahrung, die<br />

hinter den in diesem Buch versammelten Beiträgen steht. Der<br />

Titel »<strong>Substanzielles</strong> <strong>Christentum</strong>« weist auf das hin, das wieder<br />

neu in den Blick geraten muss. Die vielen gern gepflegten<br />

Funktionalisierungen 3 von Religion und Kirche verblassen in<br />

ihrer Nützlichkeit für die Gestaltung einer Zukunft des <strong>Christentum</strong>s.<br />

Nach wie vor »organisieren« christliche Deutungsmuster<br />

Erfahrungen, aber der Zugang zu ihnen wird schwieriger.<br />

Was kann christlicher Glaube unter diesen Bedingungen<br />

sein? Was ist das Stärkende, Nährende, das, woran man sich<br />

festhalten kann und was einen Menschen verändert? Auf diese<br />

– eben substanziellen – Fragen soll hier der Blick gerichtet<br />

werden, und zwar im Dialog mit der Soziologie.<br />

2<br />

Vgl. dazu Thomas Schlegel / Martin Reppenhagen (Hrsg.), Kirche in<br />

der Diaspora. Bilder für die Zukunft der Kirche. Festschrift zu Ehren<br />

von Michel Herbst, Leipzig 2021.<br />

3<br />

Vgl. Ivo Bäder-Butschle / Detlef Lienau, Funktionalisierte Religion.<br />

Soziologische Perspektiven auf Religion und Kirche, Leipzig 2021.<br />

7


Meine Überlegungen beginnen einleitend (»<strong>Substanzielles</strong><br />

<strong>Christentum</strong>«) mit einer Skizzierung der aktuellen Fragestellung<br />

als einer Suche nach der Substanz des christlichen<br />

Glaubens, um dann in einem umfassenderen Entwurf<br />

Perspektiven einer in die Tiefe gehenden Kooperation von<br />

Soziologie und Theologie zu entwickeln (»Soziotheologie –<br />

eine Skizze«). Anlass hierzu sind meine langjährigen Erfahrungen<br />

mit der Rezeption empirischer Sozialforschung in<br />

der Kirche, die zwar gerne genutzt wird, aber das Potenzial<br />

der Begegnung von Soziologie und Theologie bei weitem<br />

nicht ausschöpft. Die Idee ist, dass es so etwas wie eine »Soziotheologie«<br />

geben könnte. Daran schließt sich der Wiederabdruck<br />

einer Studie über die produktive Begegnung von<br />

Sozialwissenschaften und Theologie in den epochalen<br />

1960er Jahren an (»Säkularisation inklusive«). Liest man<br />

heute Texte aus dieser Zeit, können fast nostalgische Gefühle<br />

aufkommen.<br />

Sodann folgen zwei stärker »inhaltlich« ausgerichtete Beiträge.<br />

Zum einen zur Frage der Armut in der deutschsprachigen<br />

Theologie (»Armut in der Theologie«). Das Thema<br />

erlebte einen erheblichen Bedeutungszuwachs mit dem Beginn<br />

der 2000er Jahre und ist seitdem in Randbereichen der<br />

Theologie präsent. Und dann ein Versuch, substanzielle<br />

geistliche Transformationserfahrungen zu erfassen (»Ergriffenheiten«).<br />

Schließlich endet der Band mit organisatorischen<br />

Überlegungen zur Entwicklung der evangelischen Kirchen<br />

(»Freilaufende Pfarrerinnen«).<br />

Wie alle Bücher ist auch dieses aus der Kooperation und<br />

dem lebendigen Austausch mit vielen Kolleginnen und Kollegen<br />

entstanden; Diskussionen aus meiner Zeit im Sozial-<br />

8


wissenschaftlichen Institut der EKD wirken nach. Schließlich<br />

war es das intensive Gespräch mit Gernot Gerlach im<br />

Winter 2020/21, das zur Konzipierung dieses Buches – insbesondere<br />

des Teils über Soziotheologie – führte. Ein besonderer<br />

Dank gilt Tilman Meckel für seine wie immer her -<br />

ausragende redaktionelle Arbeit.<br />

<strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong><br />

im Sommer 2021<br />

9


Inhalt<br />

<strong>Substanzielles</strong> <strong>Christentum</strong>. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

Eine aktuelle Einleitung<br />

Soziotheologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />

Eine Skizze<br />

Säkularisation inklusive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170<br />

Zur Rezeption der Soziologie in Theologie<br />

und Kirche in den 60er Jahren<br />

An der Seite der Armen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245<br />

Soziale Ungleichheit in der Theologie<br />

Ergriffenheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300<br />

Geistliche Transformationserfahrungen<br />

Freilaufende Pfarrerinnen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328<br />

Zur Entwicklung der evangelischen<br />

Kirchen in Deutschland<br />

11


<strong>Substanzielles</strong> <strong>Christentum</strong><br />

Eine aktuelle Einleitung<br />

Es ist nicht sonderlich schwierig festzustellen, dass sich das<br />

<strong>Christentum</strong> in Deutschland in einer massiven Krise befindet.<br />

Sie kulminiert in erkennbaren Reproduktionsproblemen<br />

der Institution Kirche seit vielen Jahren. Der Bedeutungsverlust<br />

des christlichen Glaubens in der Gesellschaft ist sowohl<br />

Ursache als auch Folge dieser Probleme. Die vielfach<br />

belegte Konsequenz ist eine Haltung der Indifferenz gegenüber<br />

der Kirche und der christlichen Religion, gegen die<br />

kein Kraut gewachsen zu sein scheint. Immer weniger, so<br />

hat man den Eindruck, wissen die Menschen überhaupt<br />

noch, was christlicher Glaube ist oder gar sein könnte und<br />

welche Rolle in seinem Zusammenhang die Kirche spielt.<br />

Kirchengebäude werden von einer wachsenden Zahl von<br />

Menschen nur noch als historische Highlights, aber nicht<br />

mehr als lebendige Orte des Gottesdienstes identifiziert, und<br />

auch der Gottesdienst an sich weist selbst bei denen, die<br />

ihn besuchen, kein durchgängig positives Image auf. Bald<br />

hat die Zahl derjenigen, die keiner christlichen Kirche angehören<br />

(mehrheitlich Menschen, die fälschlicherweise »Konfessionslose«<br />

genannt werden), die 50-Prozent-Grenze innerhalb<br />

der deutschen Bevölkerung überschritten. All diese<br />

Fakten sind bei den Kennern der entsprechenden praktischtheologischen<br />

oder religionssoziologischen Forschungen gut<br />

bekannt. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) unterhält<br />

selbst ein eigenes sozialwissenschaftliches For-<br />

13


schungsinstitut, das laufend entsprechende Diagnosen vorlegt,<br />

und führt darüber hinaus alle zehn Jahre eine große<br />

sozialwissenschaftliche Studie über die Sicht der Mitglieder<br />

auf ihre Kirche durch.<br />

Zwar führen die daraus entstehenden Publikationen regelmäßig<br />

zu einem erhöhten Diskussionsbedarf, der bis in<br />

die leitenden Gremien der Kirche hinein wahrgenommen<br />

wird. Dennoch muss man bedauerlicherweise feststellen,<br />

dass sich die große Organisation der evangelischen Kirche<br />

in Reaktion auf solche Entwicklungen kaum wesentlich verändert.<br />

Natürlich gibt es eine ganze Reihe von Anpassungen<br />

an veränderte Rahmenbedingungen und bspw. ein wachsendes<br />

Feld experimenteller Projekte. Dass hierfür allerdings,<br />

wie von der EKD-Synode 2020 im Entwurf zu einem<br />

Zwölf-Punkte-Papier als Zukunftskonzept erwähnt wurde,<br />

10 Prozent aller kirchlichen Finanzen zur Verfügung gestellt<br />

werden würden, ist nicht in Ansätzen zu erkennen. Derartige<br />

Absichten dienen wohl eher der Beruhigung der kirchlich<br />

Aktiven und der Kirche Näherstehenden, als dass sie<br />

wirklich ernst gemeint wären. Was tatsächlich dominiert,<br />

ist der Abbau von kirchlichen Handlungsmöglichkeiten wie<br />

von Stellen für Pastorinnen und Pastoren und insbesondere<br />

die landauf landab sich vollziehende Zusammenlegung von<br />

Kirchengemeinden und mittleren kirchlichen Leitungsebenen.<br />

Die damit einhergehende Verkleinerung der kirchlichen<br />

Präsenz, die sich in den nächsten Jahren sicherlich fortsetzen<br />

wird, geschieht im Vorgriff auf zu erwartende Rückgänge<br />

der kirchlichen Finanzen. Das alles rüttelt allerdings<br />

in keiner Weise an der Struktur der gesamten Körperschaft<br />

des öffentlichen Rechts, sondern sorgt faktisch sogar für<br />

14


ihre Verfestigung. Auch die Ergebnisse der Freiburger Studie<br />

führen hier nicht zu einem Umdenken und wirklichen Veränderungsaktivitäten.<br />

Vielmehr scheint man sich zu freuen,<br />

dass in Deutschland überhaupt noch so viele Christen ihre<br />

Kirche in deren institutionellen Struktur aufrechterhalten.<br />

Fazit: Es geht im Großen und Ganzen alles weiter wie bisher.<br />

Die Kirche im korporatistischen Setting<br />

Wie kommt es zu einer solchen erkennbar paradoxen Situation?<br />

Der Grund für dieses eigentlich merkwürdige Verhalten<br />

der Kirchenleitenden liegt weder in den Grundaussagen<br />

des christlichen Glaubens noch in den spezifischen Optionen<br />

des Verhaltens der Christen in den Kirchengemeinden<br />

vor Ort. Vielmehr ist diese Haltung eine Folge des spezi -<br />

fischen Entwicklungspfads, den die christlichen Kirchen seit<br />

dem Ende des Staatskirchenregiments 1919 in Deutschland<br />

eingeschlagen haben (oder anders gesagt: der ihnen staat -<br />

licherseits eröffnet wurde). Das typisch deutsche, letztlich<br />

korporatistische System, das die Kirchen mit erheblichen<br />

Privilegien ausstattet, sichert – nicht zuletzt durch das Recht<br />

zur staatlich eingezogenen Kirchensteuer – einen beträchtlichen<br />

Ressourcenfluss, auf den niemand ernsthaft ver -<br />

zichten kann, der überhaupt noch eine bedeutungsvolle Kirche<br />

haben will. Von sich aus wird die Kirche niemals auf<br />

dieses System verzichten. Ja, im Gegenteil: Sie wird es mit<br />

allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten vertei -<br />

digen.<br />

15


Über die reine Finanzierung hinaus hat dieses System<br />

vor allem eine spezifische Eingebundenheit der Kirchen in<br />

die deutsche Gesellschaft zur Folge. Der entscheidende<br />

Kollateraleffekt dabei ist, dass sich die Kirchen institutionell<br />

und mental weit entfernt, ja unabhängig von den Interessen<br />

und Vorstellungen ihrer Mitglieder entwickeln können. Was<br />

einem bisweilen bereits als Vorwurf im Kontext unseres parlamentarischen<br />

demokratischen System bekannt vorkommen<br />

mag, zeigt sich durch den gestaffelten Zugang zu den<br />

kirchlichen Synoden in den Kirchen noch drastischer: Keine<br />

Synodale, kein Synodaler muss irgendwelchen Wählern zu<br />

Hause Rechenschaft über ihr bzw. sein Tun in der Synode<br />

ablegen. Insbesondere die EKD-Synode ist eine, allerdings<br />

hochqualifizierte, Welt für sich.<br />

Zuletzt hat diesen Zusammenhang sehr treffend Tobias<br />

Cremer im Blick auf das völlig unterschiedliche Verhalten<br />

der deutschen und der US-amerikanischen Kirchen zu dem<br />

sich entwickelnden Rechtspopulismus der letzten Jahre<br />

herausgearbeitet. 1 Während die US-amerikanischen Kirchen<br />

aufgrund ihrer Abhängigkeit von ihren Mitgliedern in<br />

den Kirchengemeinden in großem Ausmaß rechtspopulis -<br />

tische Positionen übernahmen, blieben die deutschen Kirchen<br />

nicht nur in deutlicher Differenz zur AfD, sondern<br />

sprachen in diese Richtung geradezu Bannflüche aus. In<br />

die ser Eindeutigkeit konnten sie dies nur deswegen tun, weil<br />

sie nicht von ihren Mitgliedern abhängig sind. Dies wird<br />

1<br />

Tobias Cremer, Nations under God: How Church-State Relations<br />

Shape Christian Responses to Right-Wing Populism in Germany and<br />

the United States, in: religions 12 (2021), 254, 21 Seiten.<br />

16


noch durch die große Nähe der kirchlichen Leitungsebene<br />

zu den herrschenden staatlichen Führungspersonen unterstützt,<br />

die durch die kirchlichen Rekrutierungsmechanismen<br />

unterstützt wird. Cremers Fazit: »It endows leaders<br />

ex officio with high levels of political, theological and financial<br />

authority and independence, and while it may make<br />

Germany’s churches less agile and responsive to grassroot<br />

trends, it also means that these faith leaders can make decisions<br />

and even unpopular statements with comparatively<br />

little need to fear immediate repercussions for their own<br />

position.« 2 Was sich also im Fall des Verhältnisses zum<br />

Rechtspopulismus für die meisten als sehr sympathisch auswirkt,<br />

beruht grundsätzlich auf einem System einer hoch<br />

zentralisierten kirchlichen Leitungsstruktur. Durch diese<br />

müssen Formen von kommunikativen Abbrüchen und<br />

drastischen Verhaltensänderungen unter den Kirchenmitgliedern<br />

bzw. auch unter den Nichtmitgliedern so lange<br />

nicht wahrgenommen werden, wie sie sich nicht auf die<br />

Ressourcenbasis, d. h. auf die Finanzen der Kirche, auswirken.<br />

Und deren Auswirkung war, insgesamt gesehen, bisher<br />

gering. Jedenfalls gibt es – so verblüffend das klingt – strukturell<br />

tatsächlich keine Gründe für die Kirchenleitenden,<br />

sich konsequent um den wachsenden Verlust substanziellen<br />

Glaubens in Kirche und Gesellschaft zu kümmern. Darüber<br />

dürfen auch die vielen Texte und Statements nicht hinwegtäuschen,<br />

die seitens der Kirche immer wieder produziert<br />

werden. Durch die Selbstreflexion und die Betonung der<br />

gemeinsamen Herausforderungen fördern sie zwar den<br />

2<br />

A. a. O., 12.<br />

17


Zusammenhalt – was ja auch wichtig ist. Doch sind sie, sieht<br />

man es nüchtern, keine Anleitungen, wirklich etwas in<br />

Kirche und Gesellschaft zu unternehmen. Das zeigt sich<br />

auch schon darin, dass viele dieser Texte auf der Reflexionsebene<br />

stehen bleiben und keinerlei projektbezogene<br />

Handlungskonsequenzen, wie zum Beispiel Zielvorgaben,<br />

Zeitpläne oder Evaluationskriterien, enthalten. Der oft<br />

enorme Aufwand in der Erstellung solcher Texte verpufft<br />

dann schnell.<br />

Geringes Level religiöser Kommunikation<br />

Diese Situation geht nun mit einem im weltweiten Vergleich<br />

geringen Level religiöser Kommunikation einher, wie es sich<br />

ähnlich nur noch in einigen europäischen Ländern findet.<br />

Konzentriert man sich gar auf christliche religiöse Kommunikation<br />

so verringert sich ihre Nutzung weiter. Außerhalb<br />

von spezifisch definierten religiösen Gelegenheiten, die sich<br />

insbesondere natürlich im Rahmen der Kirche finden lassen,<br />

lässt sich ein entsprechendes Interesse nur noch im privaten<br />

und im familiären Kontext feststellen – dies aber auch nur<br />

bei Menschen, die über frühkindliche positive religiöse Erfahrungen<br />

verfügen und daraufhin auch eine entsprechende<br />

Haltung, meist mit einer starken Bindung an die Kirche, entwickelt<br />

haben. Außerhalb dieser Kontexte ist die Wahrscheinlichkeit,<br />

auf Formen religiöser Kommunikation zu<br />

treffen, ausgesprochen gering. Dies sieht leicht anders aus,<br />

wenn man in einem sehr viel allgemeineren Sinne nach spirituellen<br />

Interessen und einer entsprechenden Betätigung<br />

18


fragt. Ein völlig anderes Bild ergibt sich aber auch dann<br />

nicht. Selbst wenn man fundamentalistische Strömungen<br />

mit in den Blick nimmt, ändert sich nicht viel: Sie zeichnen<br />

sich zwar durch eine hohe Intensität religiöser Kommunikation<br />

aus, haben in Deutschland jedoch eine vergleichsweise<br />

geringe Resonanz und bleiben insular – trotz der im<br />

Vergleich zu den Landeskirchen sehr viel intensiveren missionarischen<br />

Bemühungen.<br />

Die vielfach diskutierte Frage ist nun, inwiefern diese<br />

Situation mit dem beschriebenen institutionellen Entwicklungspfad<br />

in der Nachfolge der staatskirchlichen Traditionen<br />

zusammenhängt. Der Blick auf andere europäische<br />

Länder mit anderen Traditionen und ähnlichen Entwick -<br />

lungen macht schnell deutlich, dass es nicht so einfach ist,<br />

hier eindeutige Zusammenhänge festhalten zu können,<br />

zumal sich die in den Blick zu nehmenden Entwicklungen<br />

über sehr lange Zeiträume erstrecken. Zudem ist die<br />

Situation der Kirchen in Deutschland in das gesamte<br />

staatliche und gesellschaftliche Setting eng eingepasst. Der<br />

Deutschland nach wie vor in vielen Bereichen prägende<br />

Korporatismus, d. h. die enge Verflochtenheit gesellschaftlicher<br />

und staatlicher Institutionen, formt die Mentalität<br />

der Deutschen auch in vielen anderen Bereichen, wie zum<br />

Beispiel den Sozialdienstleistungen, den Sozialversiche -<br />

rungen oder auch in großen Bildungsbereichen. Der Staat<br />

ist in Deutschland überall präsent – gerade auch dort, wo<br />

man ansonsten von Zivilgesellschaft sprechen würde.<br />

Diese Haltung prägt auch das Verhältnis zur Kirche. Man<br />

ist letztlich nicht für sie verantwortlich – selbst wenn<br />

man in ihr engagiert ist. Sie zu einer zivilgesellschaftli-<br />

19


chen Organisation umzubauen, erscheint kaum möglich zu<br />

sein.<br />

Dennoch möchte ich auch davor warnen, die geringe religiöse<br />

Vitalität in Deutschland sozusagen schicksalhaft<br />

auf das Wirken einer irgendwie gearteten Säkularisierung,<br />

gegen die kein Kraut gewachsen wäre, zurückzuführen.<br />

Zum einen ist sich die Forschung heute einig, dass es solche<br />

übergreifenden Trends tatsächlich nur in großer Gebrochenheit<br />

gibt und Säkularisierung durchaus mit Resakralisierungstendenzen<br />

einhergehen kann. Ein Musterbeispiel<br />

hierfür sind die ungemein produktiven Auseinanderset -<br />

zungen zwischen den Sozialwissenschaften und der Theologie<br />

in Deutschland in den so entscheidenden 1960er<br />

Jahren. Dass im weiteren Verlauf die Säkularisierung deutlich<br />

an Fahrt aufnehmen würde, war Anfang der 1960er<br />

Jahre in keiner Weise voraussehbar und schon gar nicht<br />

determiniert. Meines Erachtens könnte ein genauer Blick<br />

auf die Entwicklungen der kirchlichen Organisiertheit in<br />

den letzten 50 Jahren und der ihre Veränderung beglei -<br />

tenden Diskurse Entscheidungen aufzeigen, die zu einer<br />

immer weiteren Preisgabe prägender religiöser Felder in<br />

Anpassung an gesellschaft liche Entwicklungen geführt haben.<br />

Man wird kaum her ausfinden können, ob dies zwangsläufig<br />

so erfolgte oder es auch andere Optionen gegeben<br />

hätte. Aber es lässt sich sicherlich zeigen, dass die Entwicklung<br />

der kirchlichen Organisation sich negativ auswirkende<br />

Rückwirkungen auf die Vitalität religiöser Kommunikation<br />

gehabt hat; also vieles Produktive, was nötig gewesen<br />

wäre, unterlassen wurde. Was ich sagen will: Es gibt schon<br />

eine gewisse, näher zu erfassende Autonomie der Kirche<br />

20


zur Regeneration von »religiöser Nachfrage«, die die Kirche<br />

nutzen könnte – aber möglicherweise auch nicht genutzt<br />

hat.<br />

Am deutlichsten wird dies in der Art und Weise, wie von<br />

Seiten der Kirche im Lauf der letzten 20 Jahre die Familie<br />

thematisiert worden ist. Zunächst wurde sie als Grundlage<br />

der Reproduktion des Glaubens geschätzt und kirchlich gewürdigt.<br />

Diese Sichtweise geriet jedoch angesichts vielfältiger<br />

Differenzierungen familiärer Strukturen und der Zunahme<br />

der Individualisierung in einen kaum widerlegbaren<br />

Konservativismus-Verdacht – mit dem Ergebnis, dass die Furore<br />

machende Familienstudie der EKD »Zwischen Autonomie<br />

und Angewiesenheit« von 2013 3 der Frage der Glaubensvermittlung<br />

in den Familien kaum noch Aufmerksamkeit<br />

widmete. Die Kirche unternahm mit dieser Studie durch<br />

eine Umstellung ihrer theologischen Argumentation den<br />

Versuch, diejenigen Lebensformen, die sich in der Gesellschaft<br />

herausgebildet haben, zu integrieren, verlor aber darüber<br />

ihr »religionssozialisatorisches Eigeninteresse« aus<br />

dem Blick. Auch hier stellt sich die Frage, ob es einen anderen<br />

Weg gegeben hätte oder sich eine solche Situation<br />

zwangsläufig einstellt, wenn sich die Kirche gemäß ihrer gesellschaftlichen<br />

Einbettung gar nicht anders verhalten kann.<br />

Hochinteressant in diesem Zusammenhang ist die Funktion<br />

theologischer Argumentation: Sie bezieht sich immer we -<br />

niger auf einen eigenständigen Diskurs, der sich auch nor-<br />

3<br />

EKD, Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche<br />

Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der<br />

EKD, Gütersloh 2013.<br />

21


mativ auswirken kann; vielmehr werden innerhalb der<br />

Argumentation Glaubensgrundsätze vor allem daraufhin<br />

durchgescannt, ob sich mit ihnen gesellschaftliche Entwicklungen<br />

legitimieren lassen. Auf diese Weise wird der christliche<br />

Glaube seiner Substanz beraubt. Zwar legitimiert seine<br />

aktuelle Interpretation dann die Inklusion gesellschaftlich<br />

virulenter Formen des Zusammenlebens oder sexueller Orientierung<br />

in die Kirche, was ohne Zweifel wichtig ist. Aber<br />

er verliert an orientierender Kraft gerade auch für jene, die<br />

auf diese Weise den Zugang zum Glauben und zur Kirche<br />

finden. Deutlich ist natürlich, dass diese Situation ein Dilemma<br />

bezeichnet, das sich nicht einfach auflösen lässt.<br />

Nur klar ist auch, dass der Verlust von Substanz stets auch<br />

einen Verlust von nährenden und stärkenden Inhalten des<br />

Glaubens beinhaltet.<br />

In diesem Zusammenhang muss noch ein weiterer Faktor<br />

in den Blick geraten, der wichtig ist, aber leider oft über -<br />

sehen wird. Der christliche Glaube äußert sich ohne Zweifel<br />

in eindeutiger Form in religiöser Kommunikation, also zum<br />

Beispiel in religiösen Ritualen oder Formen persönlicher<br />

Frömmigkeit. Aber seine Vitalität geht weit darüber hinaus<br />

und umfasst auch die kulturelle Gestaltung der Lebenswelt<br />

und insbesondere eine soziale Haltung mit einer entsprechenden<br />

Praxis. Nicht zuletzt entspricht gerade Letzteres<br />

der gängigen Auffassung von dem, was als christlich bezeichnet<br />

werden kann: Menschen verbinden mit einer<br />

christlichen Praxis immer auch soziales Engagement. Ein<br />

rein religiöses Verhalten würde kaum als wirklich christlich<br />

identifiziert werden. Ja, soziale Kommunikation prägt in<br />

dieser Hinsicht das kirchliche Leben faktisch weitaus mehr<br />

22


als das Religiöse im engeren Sinn. Sich auf religiöse Kommunikation<br />

allein zu konzentrieren, bedeutet deswegen<br />

auch, die Präsenz des christlichen Glaubens in einer letztlich<br />

unzulässigen Weise zu reduzieren. 4 Wenn das Christliche<br />

mit dem Sozialen gleichgestellt wird, kann man diese Situation<br />

zwar einerseits als Indikator für Säkularisierung verstehen.<br />

Andererseits aber gehört das soziale Engagement<br />

unauflöslich zum christlichen Glauben dazu, solange es ihn<br />

gibt. Insofern muss eine Gesamtbilanz des Christlichen<br />

diese Aspekte ausdrücklich mitberücksichtigen. Ähnliches<br />

gilt im Übrigen natürlich auch für die kulturellen Dimensionen.<br />

Offen bleibt dabei, wie weit soziale und kulturelle<br />

Gestaltungen überhaupt noch als christlich »gelesen« werden<br />

können.<br />

Christliche Substanz<br />

Dies alles im Blick stellt sich umso dringender die Frage<br />

nach dem Schicksal substanziellen christlichen Glaubens in<br />

Deutschland. Was ist damit gemeint? Zunächst einmal meint<br />

dies jedenfalls nicht Erörterungen über die Funktionalität<br />

von Religion oder Glauben für dieses oder jenes oder gar<br />

Erwägungen über den Nutzen der Kirche für die Gesellschaft<br />

– so wichtig solche Überlegungen auch in allgemeiner<br />

Hinsicht sein mögen. Hier geht es um das, wovon Menschen<br />

zehren können, wenn sie sich den Glauben aneignen.<br />

4<br />

Vgl. Petra-Angela Ahrens, Image der Diakonie und prosoziales Handeln.<br />

Studienbrief Brennpunkt Gemeinde, 2018.<br />

23


Das, was sie ergreift und sie so über sich selbst hinaus -<br />

wachsen lässt. Das, woraus Kraft erwächst, die mich im Leben<br />

stärkt und lebendig sein lässt. Damit verbunden sind<br />

diejenigen Narrative und Symboliken, die mich mit anderen<br />

in Verbindung bringen und mein Leben als sinnvoll erscheinen<br />

lassen. Nicht zuletzt ist das eine ganze Welt von<br />

Möglichkeiten der Teilhabe, die sich mir in den Fiktionen<br />

des Glaubens erschließt, der Teilhabe an der Realität Gottes,<br />

der die Welt dauernd neu erschafft. Dieses Handeln Gottes<br />

ist die Quelle der Kraft des Lebens der Christen, die Substanz<br />

dieses Lebens und eben nicht ihre auswechselbare<br />

Funktion. Substanziell ist dabei nicht nur das, was erzählt<br />

und aufgeführt wird, sondern die gesamte Inszenierung<br />

dieses Handelns Gottes in allen möglichen kulturellen und<br />

sozialen Praktiken. In ihnen verwirklicht sich der Glaube<br />

als primärer Faktor, als Subjekt – und nicht nur in sekun -<br />

därer Funktion als Anhängsel aller möglichen anderen Entwicklungen.<br />

Damit ist deutlich, dass es hier um eine be -<br />

sondere Perspektive, eine spezifische Konstruktion des<br />

Glaubens geht, die gerade nicht auf seine Nützlichkeit für<br />

erwünschte gesellschaftliche Entwicklungen abzielt, sondern<br />

auf eine Realität sui generis. Solch ein Herangehen<br />

wird von vornherein bei einigen auf Ablehnung stoßen, da<br />

ihnen die Plausibilität einer solchen eigenständigen Realität<br />

nicht einleuchtet oder so mitunter als fundamentalistische<br />

Verirrung eingeordnet wird. Aber ob das so ist, lässt sich<br />

aus meiner Sicht nur aus dem Glauben selbst heraus entscheiden.<br />

Nun ereignen sich Epiphanien wahrscheinlich immer<br />

wieder – werden aber nur selten zum Gegenstand von nä-<br />

24


heren Darstellungen und Narrativen. Dass es überhaupt zu<br />

ihrer nachträglichen Versprachlichung kommt, setzt ein dafür<br />

resonantes Umfeld voraus, das längst nicht immer gegeben<br />

ist. Deswegen mag es durchaus sein, dass spontane Gotteserfahrung<br />

privat und somit sozial unsichtbar bleibt.<br />

Demgegenüber ist die rituelle Praxis des <strong>Christentum</strong>s, also<br />

der Gottesdienst und seine Liturgien, die historisch wohl<br />

entscheidendere Art und Weise der Teilhabe an der Realität<br />

Gottes. Das wird besonders in katholischer Perspektive deutlich:<br />

»It is in Christian liturgy that a Christian heart, as C.S.<br />

Lewis said, is ›organized by trained habits into stable sentiments‹<br />

and where the negative effects of worldly liturgies<br />

may be counteracted.« 5 Wie es damit bei den Protestanten<br />

steht, ist allerdings eine weitaus komplexere Frage, der erst<br />

vor kurzem mit einer durchaus skeptischen Perspektive Jürgen<br />

Habermas nachgegangen ist. 6 Generell kann man aber<br />

unter Bezug auf Émile Durkheim behaupten: »Shared ritual<br />

practices create moral force, which is an external force (and<br />

hence a social force) enabling the individual to transcend<br />

himself or herself and enter more deeply into the group and<br />

its collective effervescence.« 7 Wird dieser Prozess – die Repetition<br />

– allerdings durch Belehrungen und Erklärungen<br />

5<br />

Michael J. MacCallion / John Ligas, Sociology of Liturgy in Postmodernity:<br />

Ritual Attunement and Dis-Attunement at Sunday Mass, in:<br />

Antiphon 22.2 (2018), 138–174, hier 171. Das Zitat von C. S. Lewis:<br />

The Abolition of Man. New York 2001, 24f.<br />

6<br />

Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 2:<br />

Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen,<br />

Berlin 2019, 588f.<br />

7<br />

MacCallion / Ligas, Sociology of Liturgy, 173.<br />

25


(»catechesis«) unterbrochen, so stellt sich kein »ritual attunement«,<br />

keine Einstimmung ein »and people collapse into<br />

their own individual emotional selves instead of transcending<br />

the self«. 8 Man könnte hier auf der Linie von Paul Tillich<br />

von der katholischen Substanz im Verhältnis zum protestantischen<br />

Prinzip sprechen: Die individualisierende, dogmenkritische<br />

Linie der bruchlosen Selbstaneignung der<br />

Glaubenssymbole – letztlich Jesu Christi – kann nur vor dem<br />

Hintergrund der Pflege ihrer Substanz wirklich Bestand haben.<br />

Will man einen solchen substanziellen Glauben wirklich<br />

ernsthaft in den Blick nehmen, stellt sich die Frage, wie man<br />

ihn fokussieren und ob man ihn überhaupt »konstruieren«<br />

kann. Natürlich bieten sich hierfür ungeheuer viele Glaubenszeugnisse<br />

aus der über 2000-jährigen <strong>Christentum</strong>s -<br />

geschichte an. Aber es lassen sich durchaus auch substanzielle<br />

Glaubensformen in unserer heutigen Lebenswelt<br />

finden. Allerdings wird man sie bei den kirchlich und religiös<br />

höher verbundenen Menschen suchen – und damit eine<br />

religions- und kirchensoziologische Forschungsrichtung<br />

aufmachen, die in den letzten 50 Jahren nicht gerade im<br />

Vordergrund stand. Man wird nicht erwarten, dass sich Aussagen<br />

über substanziellen Glauben unter den kirchlich distanzierten<br />

Kirchenmitgliedern finden, sondern eben eher<br />

unter den anderen, deren Haltungen nicht selten als ȟber-<br />

8<br />

Ebd. Vgl. für den Hintergrund die klassische Kritik an der Liturgiereform<br />

des Zweiten Vatikanums Alfred Lorenzer, Das Konzil der<br />

Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik,<br />

Frankfurt a. M. 1981.<br />

26


holt und unmodern« oder noch diskriminierender bezeichnet<br />

werden.<br />

Eine Soziologie des Leibes Christi<br />

Allerdings gibt es mittlerweile Forschungen, die in eben<br />

diese Richtungen gehen. Besonders anregend ist in dieser<br />

Hinsicht »The Christian Body at Work« von Tobias Brügger.<br />

9 Seine Grundidee ist es, die Präsenz von Christen auf<br />

der Arbeit als Gegenwart des Leibes Christi zu interpre -<br />

tieren, an dem die Körper der Christen Anteil haben. Sie<br />

verkörpern damit Christus. Er entwickelt eine Soziologie<br />

des Leibes Christi als Voraussetzung für eine Analyse des<br />

Verhältnisses von Christen zur modernen Gesellschaft. Nur<br />

auf diese Weise, so sein Ansatz, lässt sich klären, was Christsein<br />

heute bedeuten kann. Christen sind jene, die sich selbst<br />

im Verhältnis zu Jesus Christus in den Verhältnissen der<br />

Welt kontextualisieren. Eine theologische Erörterung christlichen<br />

Engagements auf der Arbeit müsse sich auf jene Existenzform<br />

beziehen, durch die Engagement »nourished and<br />

sustained« werde. Vorausgesetzt ist damit eine deutliche<br />

Differenz zwischen einem nur nominellen und einem existenziellen<br />

Christsein. Nur das zweite bilde ein System unterscheidender<br />

Zeichen aus, um überhaupt noch etwas<br />

Christliches identifizieren zu können. In einem empirischen<br />

Teil arbeitet Brügger sodann einen Dreischritt aus, der die<br />

9<br />

Tobias Brügger, The Christian Body at Work. Spirituality, Embodiment<br />

and Christian Living, Zürich / Baden-Baden 2021.<br />

27


Art und Weise christlicher Existenz auf der Arbeit beschreibt:<br />

a) Distancing (= Unterbrechung der jeweiligen Einbindung),<br />

b) Connecting (= Herstellung einer Verbindung<br />

mit Gott) und c) Investing (= Einsetzen der eigenen Ressourcen).<br />

Auf diese Weise werde »God’s own Self-Giving« 10<br />

realisiert.<br />

Ein solches Vorgehen mit seiner direkten Verknüpfung<br />

von theologischer Symbolik und empirischer Forschung<br />

wird sicherlich auf Widerstand stoßen: Gottes Wirken lässt<br />

sich doch nicht empirisch bestätigen! Für einige werden<br />

hier Grenzen überschritten, die es doch besser zu erhalten<br />

gelte. Der entscheidende Punkt scheint mir jedoch zu<br />

sein, dass Brügger entschlossen die Autonomie des Glaubens<br />

aufrechterhält, ja sie sogar in der Interpretation be -<br />

festigen will. Der Leib Christi ist keine rein virtuelle Wunderwelt,<br />

die mit der Realität überhaupt nichts zu tun hätte,<br />

sondern lässt sich wahrnehmen und sogar empirisch er -<br />

forschen. Die Substanz des Glaubens, das wird mit diesem<br />

Ansatz – meines Erachtens in Übereinstimmung mit klas -<br />

sischer Theologie – festgehalten, ist etwas Körperliches und<br />

nicht nur sich in idealen geistlichen Welten Abspielendes.<br />

Teilhabe am Glauben ist Teilhabe an dieser Realität – eine<br />

Änderung im Glauben ist so eine Veränderung in der<br />

Welt und nicht nur die Veränderung einer Meinung über<br />

die Welt. Glaube ist folglich zutiefst Empowerment, 11 ein<br />

10<br />

A. a. O., 241ff.<br />

11<br />

Sehr schön dazu religionspädagogisch Michael Domsgen, Religionspädagogik.<br />

Lehrwerk Evangelische Theologie. Band 8, Leipzig 2019,<br />

343ff.<br />

28


Zustrom an realer Kraft. »Faith is not just a matter of belief;<br />

it is how the individual and the community join themselves<br />

to the one reality that will survive and supersede the<br />

present pattern of the world.« 12 Oder noch einmal anders<br />

zugespitzt: »After all, God’s kingdom was not a matter of<br />

talk, but of power, the power of spirit.« 13 Das Ziel ist die totale<br />

Transformation der Welt als Gottes kreativer Akt (vgl.<br />

vor allem 1Kor 15,35ff.). 14 Der Leib Christi ist ein »all embracing,<br />

corporate body«. 15<br />

Blickt man in die paulinischen – aber auch andere prägende<br />

christliche – Texte hinein und setzt sich ihrem Geist<br />

aus, dann wird immer wieder der immens befreiende Impuls<br />

deutlich, der ihre ursprünglichen Verfasser antrieb. Sie waren<br />

selbst vom Geist Ergriffene, hatten in der einen oder<br />

anderen Form ihre eigene Transformation erfahren und<br />

wollten nichts anderes tun, als diese umfassende Erfahrung<br />

weiterzugeben. Schon damals war das, was vermittelt<br />

wurde, mitunter schwer nachzuvollziehen oder sogar skandalös.<br />

Der Glauben an einen Gott, der sich als Mensch wie<br />

ein gottloser Verbrecher ans Kreuz schlagen lässt, ist prinzipiell<br />

eine Zumutung für all das, was man herkömmlich<br />

12<br />

Bruce Chilton, Rabbi Paul. An intellectual Biography. New York u. a.<br />

2005, 191.<br />

13<br />

A. a. O., 180. »Paul’s presence in the spirit was no warm reassurance<br />

of his general goodwill, but a searing judgment, spurning the nameless<br />

man, casting him out into the world of the flesh, where destruction<br />

awaited him. Baptism made the body a temple by the in -<br />

dwelling of spirit.« (A. a. O., 203)<br />

14<br />

A. a. O., 208.<br />

15<br />

A. a. O., 233.<br />

29


mit zivilisierter Menschlichkeit oder auch praktischer Vernunft<br />

verbindet. Und so ist es eben auch mit dem Modus<br />

seiner Entstehung: Es geht in der Tat darum, dass Menschen<br />

von diesem Glauben angezogen und in die Realität Gottes<br />

hineingezogen werden; dass sie diese Realität prinzipiell als<br />

passive erfahren, die sie an sich selbst erleiden und von der<br />

sie sich genötigt fühlen, sich in Liebe zu anderen zu verhalten<br />

– und eben genau diesen Prozess als die größte Form<br />

der Befreiung erleben, die sie bisher erfuhren.<br />

Der Begriff der Konversion, der Drehung der Lebenseinstellung<br />

zum Licht, ist hierfür eine durchaus passende Beschreibung.<br />

Auch heute geht es wieder darum, solche Prozesse<br />

zu identifizieren und von ihnen in klassischer Weise<br />

Zeugnis abzulegen, denn nur so kann sich Glaube wirklich<br />

erschließen und können sich ganze Tableaus von Möglichkeiten<br />

der Begegnung mit Gott eröffnen. Die Kommunikation<br />

über diese Realitätsebene steht mithin im Mittelpunkt<br />

der religiösen Kommunikation des christlichen Glaubens<br />

und macht ein substanzielles <strong>Christentum</strong> aus. Wie reich<br />

entsprechende Gestaltungen in der Geschichte des <strong>Christentum</strong>s<br />

gewesen sind, belegen vielfältige kulturgeschichtliche<br />

Darstellungen. 16 Heute allerdings ist davon kaum noch<br />

etwas selbstverständlich, die »Nachfrage« danach muss erst<br />

geweckt werden.<br />

16<br />

Vgl. das wunderbare Werk von Navid Kermani, Ungläubiges Staunen.<br />

Über das <strong>Christentum</strong>, München 2016.<br />

30


Inszenierung von Erschließungssituationen<br />

des Glaubens<br />

Auch wenn es sich bei der Entstehung des Glaubens folglich<br />

um die Erfahrung von Passivität handelt und eine dementsprechend<br />

angemessene Haltung des Christen – auch seiner<br />

Kirche – die des Wartens auf Gottes Handeln ist, bedeutet<br />

dies nicht, gar nichts zu unternehmen, um Gott nahezukommen<br />

oder um Menschen diesen Glauben zu bringen.<br />

Im Gegenteil! Es ist die Aufgabe der Kirche, alle nur möglichen<br />

Gelegenheiten zu schaffen, damit sich überhaupt das<br />

Gerücht vom erfahrbaren befreienden Handeln Gottes her -<br />

umsprechen kann. Und in dieser Hinsicht bleibt es na türlich<br />

eine ganz entscheidende Aufgabe, die gegenwärtige Verfasstheit<br />

der evangelischen Kirche dahingehend zu überprüfen,<br />

ob sie über genügend Anreizstrukturen verfügt, um<br />

viel Energie in die Schaffung eben solcher Gelegenheiten<br />

zu investieren. Für die Kirche führt kein Weg daran vorbei,<br />

sich möglichst genau in die Lebensweise und Mentalität der<br />

Menschen, mit denen sie zu tun hat, hineinzudenken und<br />

darauf aufbauend die möglichen Gelegenheiten in einer angemessenen<br />

Form zu inszenieren. Dafür sind sozialwissenschaftliche<br />

Untersuchungen ausgesprochen nützlich und eigentlich<br />

auch durch nichts zu ersetzen. Aber ihre Nutzung<br />

muss klar sein. Im Hintergrund steht das Interesse an der<br />

Erforschung und Gestaltung von Erschließungssituationen<br />

des Glaubens.<br />

Erschließungssituationen des Glaubens lassen sich allerdings<br />

nur dann identifizieren, wenn wenigstens im Ansatz<br />

klar ist, worum es sich beim christlichen Glauben handelt<br />

31


und in welchen Inhalten und Formen er sich artikuliert. Nötig<br />

ist also zunächst eine Phänomenologie der Vielfalt des<br />

christlichen Glaubens. 17 Was wird überhaupt unter christlichem<br />

Glauben verstanden? Wie entwickelt sich solcher<br />

Glaube? Gibt es unterschiedliche Stadien eines anfänglichen<br />

und dann eines reifen Glaubens? Allein diese drei Fragen<br />

lassen die Bedeutung von Unterscheidungen, was als solcher<br />

Glaube verstanden werden soll und was nicht, klar erkennen.<br />

Das führt wiederum sofort zu der Frage, wer diese<br />

Unterscheidungen kompetent vornehmen könnte. Wie auch<br />

immer man sie beantwortet: Dass solche Unterschiede getroffen<br />

werden müssen, will man überhaupt Glauben gestalten<br />

können, scheint mir vollkommen evident zu sein.<br />

Damit werden sicherlich normative Diskussionen ver -<br />

bunden sein – die, so ist es jedenfalls mein Eindruck, gerade<br />

im sensiblen Bereich des individuellen Glaubens oft eher<br />

vermieden werden. In diesen Diskussionen ist es dann an<br />

der Kirche – und mit ihr der Theologie –, eine orientierende<br />

Rolle zu übernehmen (natürlich ohne irgendwelche neuen<br />

autoritären Strukturen zu etablieren). Aber um zur Ent -<br />

wicklung des christlichen Glaubens beizutragen, muss man<br />

sagen können, was darunter zu verstehen ist und was nicht.<br />

Das lässt die Frage nach Dogmen nicht außen vor. Dabei<br />

geht es gewiss nicht primär um ein Fürwahrhalten von<br />

Glaubenswissen, sondern um existenzielle Bezüge; um das<br />

Hineingezogensein in eine Bewegung. Eine große Rolle wird<br />

in diesem Kontext der Bezug auf Jesus Christus spielen. In<br />

17<br />

Vgl. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie<br />

über die menschliche Natur, Frankfurt a. M. / Leipzig 1997.<br />

32


dieser Richtung hängt viel von der Profilierung der (noch)<br />

großen Volkskirchen ab. Gelingt es ihnen, die soziale Geltung<br />

eines individuellen substanziellen Glaubens zu leben?<br />

Oder verliert sich ihre Praxis in Beliebigkeit? Die Alter -<br />

nativen zu ihnen sind auf der einen Seite fundamentalis -<br />

tische Bewegungen, deren Orientierungskraft und auch<br />

kulturelle Faszination durchaus zunehmen können. Und es<br />

sind auf der anderen Seite spiritualistische Singularisierungsströme,<br />

die sich jeder sozialen Verpflichtung entziehen.<br />

In beiden Fällen werden Authentizitäten konstruiert:<br />

gelingende Lebensformen, die, so ließe sich mit Hartmut<br />

Rosa sagen, durch stabile Resonanzbeziehungen geprägt<br />

sind. 18<br />

Konturen christlicher Existenzen<br />

Nun kann man an dieser Stelle mit Fug und Recht fragen:<br />

Was wären denn nun substanzielle Glaubenseinstellungen?<br />

Hier werden die Meinungen auseinandergehen. Für die nötige<br />

Diskussion darüber sind wiederum klare Positionierungen<br />

nötig. Mein (kurz gefasster) Vorschlag: Zunächst einmal<br />

wäre es formal eine spezifische »Existenzhaltung«: ein trianguläres<br />

Sich-Selbst-Verstehen im Verhältnis Gott – Ich –<br />

Du. Meine christliche Authentizität (= meine Freiheit) entwickelt<br />

sich stets im Verhältnis zu den Anderen (Menschen,<br />

18<br />

Vgl. sehr schön zu Rosa Ivo Bäder-Butschle / Detlef Lienau, Funktionalisierte<br />

Religion. Soziologische Perspektiven auf Religion und<br />

Kirche, Leipzig 2021, 23ff.<br />

33


Tieren) in meiner Mitwelt und im Verhältnis zu Gott. Dabei<br />

transzendiere ich meine Mitwelt und rahme sie neu. Dabei<br />

bezeichnen sowohl Ich, der oder die Andere als auch Gott<br />

Chiffren, die der Füllung bedürfen. Bereits als Chiffren konstituieren<br />

sie aber einen spezifischen Erfahrungsraum, der<br />

sich von anderen unterscheidet: Die Beziehung und damit<br />

die qualifizierte Offenheit für den oder die Anderen und zu<br />

Gott ist ganz und gar nicht selbstverständlich. Mit ihnen<br />

wäre durchaus auch eine prinzipiell exzentrische Persönlichkeitsstruktur<br />

bezeichnet, die ihren »Kern« als nicht stabil<br />

in sich selbst lokalisiert und folglich nicht linear interessebezogen<br />

die »Welt« für sich in Anspruch nimmt. Zu mindest<br />

hätte eine Fremdbezogenheit zugunsten der An deren<br />

ebenso ihr Recht wie Selbstbezogenheiten zugunsten von<br />

mir. Eine gewisse Gebrochenheit der Existenz, ein Zögern<br />

kann christlich durchaus als eine angemessene Haltung anerkannt<br />

werden. Das hätte nicht zuletzt auch mit der »überschießenden<br />

Kommunikation« 19 zu tun, die ein gelebter Bezug<br />

zu Gott notwendigerweise mit sich bringt und die an<br />

alltägliche Deutungen des Lebens anschließen kann. Zusammengefasst:<br />

»Heil ist demgemäß im Grunde nichts anderes<br />

als Teilhabe am erschaffenden und erneuernden Wirken<br />

Gottes in der Schöpfung, die in einer aktiven Teilnahme<br />

des Menschen an diesem Wirken zum Ausdruck kommt.« 20<br />

Spannt man auf diese Weise einen formalen triangulären<br />

Erfahrungsrahmen des Christen auf, dann müssen in einem<br />

19<br />

Vgl. zu dieser Begrifflichkeit Lukas Grill, Überschießende Kommunikation.<br />

Eine Religionstheorie alltäglicher Rede, Göttingen 2020.<br />

20<br />

Michael Nausner, Eine Theologie der Teilhabe, Leipzig 2020, 47.<br />

34


weiteren Schritt die drei Chiffren »inhaltlich« spezifiziert<br />

werden. Dabei legt sich zunächst eine betont leibliche Verortung<br />

nahe: Ich und die Anderen begegnen uns elementar<br />

als leibliche Wesen, was bereits hochkomplexe Bestimmungen<br />

der Fragilität und der Resonanz impliziert. 21 Auch Gott<br />

ist in Jesus Christus leibhaftig unter den Menschen und inkorporiert<br />

sie in seinem mystischen Leib Christi. Mithin lässt<br />

sich spekulieren, ob nicht der Glaube ebenfalls primär eine<br />

leibliche Realität bezeichnet: Er steckt sozusagen in den Körpern,<br />

besetzt und formt die Körper – nicht nur den Geist.<br />

Wenn Gott mir und anderen aber in Jesus Christus als Leib<br />

begegnet – und zwar letztlich als gemarterter, getöteter und<br />

auferweckter Leib –, dann gewinnt ein jeder Leib an so etwas<br />

wie Heiligkeit. Sie sind »not just lumps of flesh: they are selfaware<br />

and self-conscious. [...] They can become spiritual<br />

bodies: infused with spirit, God-conscious, framed in Christ’s<br />

image instead of Adam’s«. 22 In einem solchen Glauben wird<br />

die gesamte Schöpfung in einen transformativen Prozess einbezogen.<br />

Eine trianguläre Existenz ist eine im ständigen<br />

Übergang. Man könnte auch sagen: Ich bin immer drei – und<br />

mehr. Zumindest gilt: Ich bin nicht ich.<br />

Und was ist der oder die Andere? Ein Teil und Teilhaber<br />

des Leibes Christi – so wie ich auch. Darin liegt seine und<br />

ihre Würde unvergänglich begründet und sie ist fest an<br />

meine Existenz gekoppelt. Deswegen betrifft mich das<br />

21<br />

Vgl. z. B. Frank Vogelsang, Soziale Verbundenheit. Das Ringen um<br />

Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne, Freiburg/München<br />

2020.<br />

22<br />

Chilton, Rabbi Paul, 208f.<br />

35


Schicksal des Anderen – egal, wo er oder sie lebt, und auch<br />

gleichgültig, wann er oder sie gelebt hat oder leben wird. Es<br />

existiert ein unvorstellbar weiter Zusammenhang der Schöpfung,<br />

in dem unser Kosmos seinen Ort hat. Sie ist noch<br />

längst nicht vollendet; sehnt sich und dehnt sich ihrer Bestimmung<br />

entgegen. Aber nichts geht verloren. Dem Anderen<br />

wirklich zu begegnen, würde bedeuten, sich dieser ungeheuren<br />

Dynamik auszusetzen, sie sich einzuverleiben –<br />

wie Jesus Christus zu leben. Einige kommen dem nahe:<br />

Künstler, Charismatiker, Franziskus oder Teresa von Avila<br />

in ihren Exzessen der Liebe. Sie reißen eine Wirklichkeit<br />

mit den Anderen – und mit dem Anderen – auf, die ungeheuer<br />

ist. Ungeheuer eindrücklich und letztlich vollkommen<br />

verstörend hat diese Wirklichkeit Martin Scorsese in seinem<br />

Film »Silence« inszeniert: eine evangelische Existenz jenseits<br />

jeder Plausibilität. Wir anderen fliehen vor der Realität<br />

der Anderen und sind froh, ihnen nicht zu nahe kommen<br />

zu müssen. Nur so glauben wir überhaupt, leben zu können:<br />

indem wir uns selbst als unser eigenes bewahren. Gerade<br />

das aber macht unsere Schuld aus, unsere Sünde. Und wirft<br />

uns auf die Erlösung.<br />

Und schließlich: Was ist Gott? Hier führt kein Weg an<br />

einer trinitarischen Auffassung vorbei. Gott ist Gott als<br />

Schöpfer, Christus und Geist und kann so differenziert erfahren<br />

werden, was meine trianguläre Existenz noch einmal<br />

wesentlich komplexer werden lässt. Zur Illustration sei<br />

zum Abschluss dieses Textes nur noch die Bestimmung<br />

des trinitarischen Wesens, der »Eigenschaften der Ursprungsmacht«,<br />

von Eilert Herms zitiert: »[...] das absolut<br />

Zuverlässige (Wahre), das absolut Anziehende (Gute)<br />

36


und das absolut Beseligende (Schöne). Es ist absolute Gemeinschaftstreue<br />

und in diesem Sinne Welt schaffende<br />

›Liebe‹«. 23 37<br />

23<br />

Eilert Herms, Systematische Theologie. Das Wesen des <strong>Christentum</strong>s:<br />

In Wahrheit und aus Gnade leben. Band I, §§1–59, Tübingen<br />

2017, 637.


»The current situation where the christian does<br />

not inherit a model of how to integrate the mundane<br />

and the divine remains the defining aporia of christianity<br />

in the modern era in the west because the inability<br />

to locate the supernatural at work in the<br />

post-gemeinschaft industrial order<br />

exerts a pressure for de-christianisation.« 1<br />

»Als Anthropologe darf man sich nie auf die Annahme<br />

einlassen,<br />

dass die Symbole, die die Standpunkte in einer<br />

theologischen<br />

Kontroverse markieren, willkürlich gewählt seien.« 2<br />

Soziotheologie<br />

Eine Skizze<br />

Unter dem Titel »Soziotheologie« werden im folgenden Text<br />

einige grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von Soziologie<br />

(bzw. Sozialwissenschaften) und Theologie entwickelt.<br />

Dabei signalisiert bereits der Begriff, dass es um eine<br />

substanzielle, gegenseitige In-Beziehung-Setzung gehen soll<br />

und nicht nur um die Nutzung von Ergebnissen der Sozio-<br />

1<br />

Paul Gilfillan, A Sociological Phenomenology of Christian Redemption,<br />

Guildford 2014, XLV.<br />

2<br />

Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische<br />

Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt<br />

a. M. 1981, 223.<br />

38


logie in Theologie und Kirche – was ja gang und gäbe ist.<br />

Solche instrumentelle Nutzung – anstelle einer wirklichen<br />

Verarbeitung von soziologischen Einsichten in der Theologie<br />

– führt leicht zu einer schleichenden Ersetzung von theologisch<br />

leitenden Maximen und Ideen und damit zur faktischen<br />

Säkularisierung. Tatsächlich ist es in weiten Bereichen<br />

der Kirche längst so, dass sozialwissenschaftliche Theorien<br />

das Handeln zu bestimmen scheinen. Dessen ungeachtet<br />

soll an dem sozialwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn für<br />

die Theologie festgehalten werden: Die Theologie kann einen<br />

sozialen Realitätsbezug in der Tat nicht ohne Soziologie<br />

erarbeiten. Gestalten des Glaubens sind immer soziale Gestalten,<br />

die sich auch empirisch beschreiben lassen. Christlicher<br />

Glaube lebt in keiner Gespensterwelt. Aber entscheidend<br />

ist: Der Glaube geht in der sozialen Wirklichkeit nicht<br />

auf, sondern übersteigt diese Realitäten bzw., genauer gesagt,<br />

kommt dazu und lässt sie in einer besonderen Beleuchtung<br />

aufscheinen.<br />

Wie lassen sich diese Beziehungen konstruktiv-kritisch<br />

darstellen? Es liegt auf der Hand, dass es dabei um Grundfragen<br />

eines theologischen Wirklichkeitsbezuges gehen<br />

muss und insofern Auswirkungen auf die Theologie im<br />

Ganzen zu erwarten sind. Und sofern solche Theologie auch<br />

der Soziologie »einleuchtet«, müssten auch soziologische<br />

Konstitutionsbedingungen thematisiert werden. Diese Dialoge<br />

finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern vor dem<br />

Hintergrund einer massiven Krise von Theologie und Kirche<br />

(zumindest in Mittel- und Nordeuropa).<br />

39


1. Pastoralsoziologie – Soziotheologie<br />

Die Idee meiner eigenen vergangenen soziotheologischen<br />

Arbeit war zu Beginn, sich im Rahmen der von Karl-Fritz<br />

Daiber so bezeichneten »Pastoralsoziologie« zu bewegen,<br />

aber den damit verbundenen Rahmen der Praktischen Theologie<br />

zu überschreiten und soziologische Aufklärung auch<br />

im Fall systematisch arbeitender Theologie zum Tragen zu<br />

bringen sowie auch umgekehrt das gesamte Gefüge der Soziologie<br />

immer wieder theologisch zu beleuchten. Im Rückblick<br />

wird man schnell festhalten können, dass dies längst<br />

nicht immer wirklich überzeugend gelungen ist. Das hängt<br />

vor allen Dingen damit zusammen, dass eine solche Aufgabe<br />

natürlich immens komplex ist. Was ich tatsächlich vorgelegt<br />

habe, sind einige Fallstudien, in denen die Idee einer Soziotheologie<br />

primär materialiter durchexerziert wurde.<br />

Mir selbst scheinen diesbezüglich insbesondere meine<br />

Studien zur Rezeption des Konzepts der sozialen Milieus in<br />

der Theologie 3 , zur Frage der Kirchentheorie 4 , zur Kritik der<br />

3<br />

Insbesondere <strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong>, Neuschöpfung durch das Evangelium<br />

– Theologische Überlegungen zum Verhältnis von Mission und<br />

Milieu«, in: Petra-Angela Ahrens / <strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong> (Hrsg.), Soziokulturelle<br />

Milieus und Kirche. Lebensstile – Sozialstrukturen – kirchliche<br />

Angebote, Stuttgart 2013, 117–140.<br />

4<br />

Insbesondere <strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong>, Auf dem Weg zur »Organisation Kirche«?<br />

Aktuelle Strukturfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland,<br />

in: Manfred Brocker / Hartmut Behr / Mathias Hildebrand<br />

(Hrsg.), Religion – Staat – Politik. Zur Rolle der Religion in der nationalen<br />

und internationalen Politik, Wiesbaden 2003, 273–289; <strong>Gerhard</strong><br />

<strong>Wegner</strong>, Selbstorganisation als Kirche? Probleme geistlicher<br />

40


Kirchenmitgliedschaftsstudien der EKD 5 und schließlich zur<br />

fiktiven Struktur religiöser Kommunikation 6 instruktiv zu<br />

sein. In ihnen geht es durchweg um Versuche, beide Diszi -<br />

plinen nicht nur äußerlich aufeinander zu beziehen, indem<br />

z. B. in der kirchlichen Arbeit Ergebnisse der Milieuforschung<br />

quasi »handwerklich« genutzt werden – obwohl ich<br />

nicht bestreiten will, dass das durchaus sinnvoll sein kann –,<br />

sondern sie in einen kritischen Dialog zu bringen. Was bedeutet<br />

es z. B. für das Selbstverständnis eines »christlichen<br />

Subjekts« bzw. eines religiösen Akteurs, sich selbst und andere<br />

als in sozialen Milieus gebunden zu reflektieren? Ist<br />

dann das »Evangelium« von vornherein ein nur noch abhängiger<br />

Faktor? Gibt es eine »reale« Kreativität des Evange-<br />

Leitung im Protestantismus, in: Jan Hermelink / <strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong><br />

(Hrsg.), Paradoxien kirchlicher Organisation. Niklas Luhmanns frühe<br />

Kirchensoziologie und die aktuelle Reform der evangelischen Kirche,<br />

Würzburg 2008, 277–332; <strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong>, Das Gespenst der Verkirchlichung.<br />

Zum Ertrag der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung,<br />

in: Detlef Pollack / <strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong> (Hrsg.), Die soziale<br />

Reichweite von Religion und Kirche. Beiträge zu einer Debatte in<br />

Theologie und Soziologie, Würzburg 2017, 279–311.<br />

5<br />

<strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong>, 50 Jahre dasselbe gesagt? Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen<br />

der EKD im religiös kirchlichen Feld, in: <strong>Gerhard</strong><br />

<strong>Wegner</strong> (Hrsg.), Gott oder die Gesellschaft? Das Spannungsfeld<br />

von Theologie und Soziologie, Würzburg 2012, 295–341.<br />

6<br />

<strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong>, Kraftfelder des Geistes. Zu Genese und Geltung<br />

christlicher Sozialethik, in: Ders., Transzendentaler Vertrauensvorschuss.<br />

Sozialethik im Entstehen, Leipzig 2019, 215–272, und <strong>Gerhard</strong><br />

<strong>Wegner</strong>, Die soziale Relevanz religiöser Kommunikation, in:<br />

Ders. (Hrsg.), Fiktionen der Fülle. Religiöse Kommunikation und<br />

Sozialpolitische Kultur, Leipzig 2020, 27–58.<br />

41


liums? 7 Und umgekehrt: Lässt sich von Seiten der Theologie<br />

etwas zu dem sagen, was soziologisch mit Milieu gemeint<br />

ist, und insofern eine eigenständige Deutung liefern, die<br />

auch die Soziologie anregen könnte? Das Beispiel ist durchaus<br />

paradigmatisch für viele »Nutzungen« der Soziologie in<br />

Kirche und Theologie. 8<br />

»Religiöse Agency«<br />

Nüchtern empirisch gesehen hängt »religiöse Agency« mit<br />

der Stärke religiöser Überzeugungen und entsprechend<br />

wohl der Kohärenz des religiösen Milieus zusammen, in<br />

dem man sich bewegt. So lässt sich an vielen Beispielen –<br />

zuletzt am Fall der Corona-Pandemie – zeigen, dass Religiosität<br />

und Resilienz nur bei denjenigen Menschen in einer<br />

wirkungsvollen Verbindung stehen, die sich auch ihrer Religionsgemeinschaft<br />

stark verbunden fühlen. Sie nutzen<br />

dann die »Ressourcen« ihres Glaubens zur Bewältigung der<br />

Situation, während andere mit nur schwacher Bindung darauf<br />

verzichten 9 und auch keine Vorstellung davon haben,<br />

7<br />

In Anlehnung an das großartige Werk von Hans Joas, Die Kreativität<br />

des Handelns, Frankfurt a. M. 1992.<br />

8<br />

In einer frühen Veröffentlichung formulierte Karl-Fritz Daiber: »Das<br />

Evangelium bleibt nicht ohne Bedeutung für die Gesellschaft, aber<br />

es bleibt in ihr ein fremdes Moment. Darum wird sich das Verhältnis<br />

von Kirche und Gesellschaft immer auch als Leiden der Kirche in<br />

und an der Gesellschaft sichtbar machen.« (Karl-Fritz Daiber, Die<br />

Kirche in der ländlichen Gesellschaft. Calwer Hefte 102, Stuttgart<br />

1969, 37) Der Satz blieb mir als eine selbstbewusste Aussage zur<br />

Rolle der Kirche lange im Gedächtnis.<br />

9<br />

Vgl. Maria Sinnemann, Not lehrt beten? Religiosität in Krisenzeiten<br />

42


was sie aus dem Blick verloren haben. Aber das wäre natürlich<br />

eine sehr oberflächliche Antwort. Was ist es denn, was<br />

einige zur Ausbildung einer starken Religiosität führt – und<br />

andere eben nicht? Was und wie Menschen etwas erfahren,<br />

ist (ihre) Wirklichkeit. Insofern lebendige Erfahrungen Gottes<br />

dazugehören, ist Gott ein Teil davon: vielleicht ein in der<br />

Welt wirkendes Kraftfeld – jedenfalls nicht nur ein Gegenstand<br />

von hypothetischen Erwägungen. Niemand hat das<br />

Recht, dessen Existenz zu bestreiten – allerdings klammern<br />

Soziologen die Erfahrung selbst häufig aus und evaluieren<br />

lediglich ihre Wirkungen. 10 Das wiederum lässt möglicherweise<br />

Raum für die Theologie, der aber auch ausgefüllt werden<br />

muss. Um beim Beispiel zu bleiben: In einer theologischen<br />

Analyse des Glaubens muss man sich die Frage<br />

stellen, was es ist, das z. B. im Fall von Corona zur Klage,<br />

zur demütigen Hinnahme des Leidens oder gar zur Deutung<br />

als Gericht Gottes treibt? Sind es externe, soziale Randbe-<br />

– empirische Ergebnisse aus der vierten Welle des COSMO-Monitors,<br />

in: PhiN Beihefte 24 (2020), 278.<br />

10<br />

Dazu sehr treffend Margaret S. Archer, On understanding religious<br />

experience: St. Teresa as a challenge to social theory, in: Dies. / Andrew<br />

Collier / Douglas V. Popora, Transcendence. Critical Realism<br />

and God, London/ New York 2004, 138–154, hier 153: »Max Weber<br />

declared that he was himself ›religiously unmusical‹, but he did not<br />

therefore conclude that there was no music to be heard, although all<br />

he could see were dancers moving to a silent orchestra. He did follow<br />

those moving harmoniously through the world’s ballrooms and he<br />

had much to say about the pattern of the dance as a way of being in<br />

the world.« Auf diese Weise »he didn’t explain the music away« und<br />

er verzichtete darauf, das zu erklären, was Soziologie nicht erklären<br />

kann: die Liebe zu Gott.<br />

43


dingungen der je konkreten Verwirklichung des Glaubens<br />

oder Aspekte in seinem Kern? Und was hat das jeweils für<br />

eine Bedeutung? Gibt es ein autonomes, substanzielles Wirken<br />

des Glaubens – sozusagen die Stimme Gottes, die den<br />

Christen begleitet? Wie erschließt sie sich?<br />

Tobias Brügger 11 hat vor kurzem in diesem Kontext die<br />

herkömmlichen Begründungslasten entschlossen und –<br />

überraschend – um 180 Grad gedreht, indem er im Blick auf<br />

ein Christsein in der Arbeitswelt nicht mehr von diversen<br />

sozialen Faktoren ausgeht, die es beeinflussen (bzw. konstituieren),<br />

sondern von der pointierten Präsenz des »Leibes<br />

Christi« in Gestalt der vielen einzelnen »christian bodies at<br />

work«. Sie verkörpern Christus und stellen damit eine<br />

Realität sui generis auf der Arbeit dar, deren Wirkungs -<br />

weisen sich durchaus empirisch untersuchen lassen. Brügger<br />

zeigt z. B. auf, dass sich eine entsprechende christliche<br />

Existenz (unter den von ihm befragten Managern in der<br />

Deutschschweiz) in einem Dreischritt artikuliere: a) Dis -<br />

tancing (= Unterbrechung der je aktuellen Einbindung);<br />

b) Connecting (= Kommunikation mit Gott); c) Investing<br />

(= Einsetzen der eigenen Ressourcen). 12 Entscheidend ist<br />

dabei, dass man selbst solche Phänomene nur dann wahrnehmen<br />

kann, wenn man innerhalb des Spektrums dessen,<br />

was als christlich bezeichnet wird, klar zugunsten exis -<br />

tenzieller (im Unterschied zu rein nomineller) Selbsteinstufung<br />

votiert. Man muss vom Glauben ergriffen sein und sich<br />

11<br />

Tobias Brügger, The Christian Body at Work. Spirituality, Embodiment<br />

and Christian Living, Baden-Baden 2021.<br />

12<br />

A. a. O., 269ff.<br />

44


mit ihm auseinandersetzen. Eine vielleicht freundliche,<br />

aber doch distanzierte Haltung erschließe seine Potenziale<br />

nicht.<br />

Anders gesagt: Eine irgendwie geartete ursächliche Funktionsweise<br />

des christlichen Glaubens im Handeln Einzelner<br />

oder auch von Gruppen wird nur im Fall substanzieller Vorstellungen<br />

des Wirkens Gottes – und ihrer Aktivierung –<br />

deutlich. Ist das nicht der Fall, verschwindet religiöses Wirken<br />

als abhängige Variable im Off des sozialen Lebens. Was<br />

es i. S. Brüggers braucht, wäre folglich eine Soziologie des<br />

Leibes Christi, die seine »Realität« (als Imagination?) voraussetzt.<br />

Damit macht Brügger deutlich, dass die ent -<br />

sprechenden Bestimmungen, wie sie ganz am Anfang der<br />

Begegnung von Theologie und Soziologie in Dietrich Bonhoeffers<br />

»Sanctorum Communio« standen, doch noch nicht<br />

überholt sind. 13 Die Kirche ist bei Bonhoeffer eine Struktur<br />

sui generis, die soziologische Formen aus sich selbst heraus<br />

setzt oder in Dienst nimmt, wie er pointiert gegen die Weber-Troeltsch’schen<br />

Differenzierungen von Kirche und Sekte<br />

herausstellt. 14 Die Kirche ist in dieser Sichtweise »Christus<br />

als Gemeinde existierend« – wie seine berühmte Formel lautet<br />

– und »bekleidet« sich sozusagen mit jeweils passenden<br />

sozialen Gebilden. Darin ist sie – ist Christus – autonom.<br />

Keine Frage, dass eine solche Sichtweise heute auf Verwunderung<br />

stoßen würde, da weder die aktuell existierende Kirche<br />

über ein entsprechendes Selbstbewusstsein verfügt<br />

13<br />

Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung<br />

zur Soziologie der Kirche. DBW 1, München 1986.<br />

14<br />

A. a. O., 173ff.<br />

45


noch eine solche Vorstellung in den Sozialwissenschaften<br />

auf Anerkennung rechnen könnte.<br />

Sprachspiele<br />

Was das Verhältnis beider Wissenschaften anbetrifft, so wird<br />

man bei den meisten Soziologen 15 Zustimmung dafür finden<br />

können, Theologie (Religion) und Soziologie zunächst einmal<br />

als zwei Sprachspiele i. S. Wittgensteins verstehen und<br />

so auch relativieren zu können. Die Folge: Gott »existiert«<br />

dann in »seinen« Sprachspielen – und in anderen eben nicht.<br />

Das reduziert Deutungskonflikte, aber auch das Interesse<br />

an einem substanziellen Dialog. Tatsächlich werden sich lebendige<br />

religiöse Kommunikationsgemeinschaften so aber<br />

nicht verorten können: »They understand themselves as telling<br />

stories that in some sense and to some degree also express<br />

truths about the wider cosmos that we all commonly<br />

inhabit.« 16 Und es ist die Aufgabe der Theologie, genau dieses<br />

Interesse systematisch umzusetzen und insofern also<br />

Religion »von innen« her ernst zu nehmen, d. h. die spezifische<br />

Weltsicht des Glaubens zu entfalten. Während Soziologie<br />

dazu tendiert, dieses »Innere« durch säkulare, soziale<br />

Faktoren »wegzuerklären«, indem alle erfahrungsmäßige<br />

Teilhabe an etwas Außerweltlichem von vornherein als aus<br />

der Analyse ausgeschlossen erscheint. 17 Es ist folglich nicht<br />

15<br />

Vertreter eines radikalen Atheismus sind unter den deutschsprachigen<br />

Religionssoziologen eher selten.<br />

16<br />

Introduction, in: Archer/Collier/Popora, Transcendence, 9.<br />

17<br />

Archer, On understanding religious experience, zeigt überzeugend,<br />

46


nur die Leugnung solcher Realität als solcher, sondern die<br />

Ersetzung ihrer Erfahrung durch etwas anderes, vermeintlich<br />

Plausibleres, dadurch aber die Glaubenden Enteignendes.<br />

Man könnte folglich sagen: Die Theologie ist die beständige<br />

Arbeit im, am und mit dem Mythos – die Soziologie<br />

aber sucht ihn zu erklären und so letztlich zu ersetzen.<br />

Wenn man es so sehen will, könnte dennoch gelten: Im<br />

Grunde genommen bleiben beide Wege aufeinander angewiesen.<br />

Genau dies durchzuspielen, ist Soziotheologie.<br />

Um die Fragestellung noch etwas übersichtlicher darzustellen,<br />

könnte man ein logisches Vierermodell der Beziehungen<br />

von Theologie und Soziologie konstruieren. Dabei<br />

sind die folgenden Verhältnisbestimmungen (1) und (2) relativ<br />

langweilig, da ohne wirkliche gegenseitige Heraus -<br />

forderung. Im Fall (3) und (4) hingegen geht es um eine reflektierte<br />

gegenseitige In-Beziehung-Setzung. Der erste Fall<br />

(1) wäre mithin die Nutzung der Soziologie als Zulieferer<br />

aller Art von Theorien, Deutungen, Motiven für die Theologie,<br />

die dadurch an Plausibilität, auch an Legitimität, gewinnen<br />

kann. Solch eine Nutzung der Soziologie hat es immer<br />

gegeben und gibt es weiter – auch noch in einem wesentlich<br />

weiter gefassten Rahmen, insofern, als manche Theorien<br />

(z. B. die Säkularisierungs- oder Individualisierungs theorie)<br />

faktisch den Rahmen des Theologietreibens hergeben müs-<br />

wie dieses Herangehen im Fall der Heiligen Teresa von Avila nur<br />

noch zerstörerische Wirkungen zeitigen kann. Das, was ihr selbst<br />

am allerwichtigsten war – ihre Liebe zum Allerhöchsten –, wird<br />

schlicht nicht mehr erwähnt. Aber: »She is in love, and they cannot<br />

hold her mistaken about her own feelings.« (149) Gott wirkt in der<br />

Welt. Das ist »The Light the Enlightment tried to extinguish« (145).<br />

47


sen. Der Knecht wird dann zum Herrn. Eine besondere Fassung<br />

dieses Verhältnisses stellt die »sociologie religieuse«<br />

eines Gabriel le Bras oder Jacques Leclerc da. Im zweiten<br />

Fall (2) ist die Theologie zum Gegenstand der Soziologie<br />

geworden und wird von ihr in ihrer Konstruktionslogik und<br />

Wirkungsweise beobachtet, was die Form einer Auseinandersetzung<br />

von Soziologie und Theologie annehmen kann. 18<br />

Das kann aufschlussreiche Erkenntnisse über blinde Flecke<br />

in der Theologie befördern.<br />

Sodann könnte es auch sein, dass es nicht um die direkte<br />

Indienstnahme, der einen durch die andere Perspektive geht,<br />

sondern um Formen integrierter Argumentationen bzw. von<br />

Fusionen beider. So gehörten in einem dritten Fall (3) die<br />

soziologischen Erkenntnisse zu den notwendigen Voraussetzungen<br />

jeder Theologie. Das würde z. B. bedeuten, »that<br />

the class structure mediates the structure of salvation«. 19<br />

Das ist eine wahrhaft starke These, der z. B. in der Befreiungstheologie<br />

20 strukturell entsprochen worden ist, indem<br />

sich Gott an die befreiende Praxis der Armen bindet. Ein<br />

umgekehrtes instruktives Beispiel für einen solchen Zusammenhang<br />

in deutscher Theologie wäre der klassische reformierte<br />

Topos der Berufung aller in einen Beruf. Hier war<br />

man sich in der Sozialethik lange einig, dass sich unter mo-<br />

18<br />

Entsprechende Studien sind selten. Klassisch kommt dem nahe Peter<br />

L. Berger, The Precarious Vision. A Sociologist looks at social fictions<br />

and christian faith, New York 1961.<br />

19<br />

Gilfillan, A Sociological Phenomenology, XLVI.<br />

20<br />

Vgl. zum Ganzen Clodovis Boff, Theologie und Praxis. Die erkenntnistheoretischen<br />

Grundlagen der Theologie der Befreiung, München/Mainz<br />

1983.<br />

48


dernen industriellen Arbeitsbedingungen davon nicht mehr<br />

reden ließe, da die entsprechenden Entfremdungserfahrungen<br />

auf der Arbeit (Taylorismus usw.) Menschen eine positive<br />

religiöse Deutung ihrer Tätigkeit unmöglich machen<br />

würden. 21 Christus wäre sozusagen aus der Arbeitswelt ausgewandert.<br />

Die Gestaltung moderner Gesellschaft würde<br />

eine substanzielle religiöse Erfahrung verhindern (was impliziert,<br />

dass Gesellschaft so etwas leisten kann).<br />

Umgekehrt könnte es allerdings auch so sein, dass die<br />

Soziologie von sich aus theologische Ansätze benötigt (4),<br />

um gute Soziologie sein zu können. 22 Zugegeben ist dies<br />

eine ausgesprochen ungewohnte Perspektive, die von den<br />

meisten Soziologen sicherlich empört zurückgewiesen werden<br />

würde. Hätte doch gerade die Soziologie das Erbe der<br />

Religion angetreten. Gerade dies könnte aber auf verschüttete<br />

Zusammenhänge hindeuten.<br />

21<br />

Vgl. zu einer solchen Deutung Traugott Jähnichen, Vom ›Beruf‹ zum<br />

›Job‹? Etappen der Verdrängung des Berufsgedankens in der Neuzeit,<br />

in: Anika Füser / Gunther Schendel / Jürgen Schönwitz (Hrsg.), Beruf<br />

und Berufung. Wie aktuell ist das reformatorische Berufsverständnis?,<br />

Leipzig 2017, 71–95. Allgemein <strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong>, Beruflichkeit:<br />

Ein produktives Erbe? Von Luther zur Employability, in:<br />

Joachim Lange / <strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong> (Hrsg.), Beruf 4.0. Eine Institution<br />

im digitalen Wandel, Baden-Baden 2019, 229–258.<br />

22<br />

Solch ein Modell ist selten und wird in der Soziologie stigmatisiert.<br />

Aber vgl. einen mutigen Ansatz: Kieran Flanagan, The Enchantment<br />

of Sociology. A Study of Theology and Culture, Basingstoke/London<br />

1996. Nach einer anderen Art von theologisch reflektierter Soziologie<br />

ruft auch John Milbank, Theology and Social Theory. Beyond Secular<br />

Reason, Malden/Oxford 2006, 2nd edition.<br />

49


Das Interesse der Soziotheologie<br />

Über diese Relationen hinaus wird man allgemein davon<br />

ausgehen, dass das Interesse der Soziotheologie darin besteht,<br />

Soziologie bzw. Sozialwissenschaften (darunter insbesondere<br />

Sozialpsychologie) mit Theologie in eine reflektierte<br />

Beziehung zu bringen. So etwas hat es in der einen<br />

oder anderen Form immer wieder gegeben. In den großen<br />

Texten von Augustin, Thomas von Aquin oder Martin Luther<br />

findet sich ganz selbstverständlich jede Menge Soziologie,<br />

aber natürlich noch nicht als eigenständige Wissenschaft,<br />

sondern konstruiert unter der Deutungsmacht der Theologie.<br />

Gleichwohl wird man bei der Lektüre durchaus entdecken<br />

können, dass die Perspektive der sozialen Fakten bzw.<br />

der Gesellschaft auch schon damals einen gewissen Eigensinn<br />

entfalten konnte. Je weiter sich die gesellschaftliche<br />

Wirklichkeit, und damit dann auch die Wissenschaften, auseinanderdifferenzieren,<br />

desto komplexer werden die Bezüge.<br />

Die großen Transformationen finden zu Beginn des<br />

20. Jahrhunderts statt, wobei sicherlich theologisch vor allem<br />

das Werk von Ernst Troeltsch, 23 soziologisch Max Weber,<br />

Émile Durkheim und Georg Simmel herausragend sind.<br />

In der Soziologie gehört die Beschäftigung mit Religion zu<br />

den sie konstituierenden anfänglichen Aufgaben, 24 als<br />

23<br />

Vor allem Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen<br />

und Gruppen. Teilband 1 und 2. Neudruck der Ausgabe Tübingen<br />

1912, Tübingen 1994.<br />

24<br />

Vgl. dazu Volkhard Krech / Hartmann Tyrell (Hrsg.), Religionssoziologie<br />

um 1900, Würzburg 1995.<br />

50


müsse der Deutungsanspruch von Religion und Theologie<br />

zunächst einmal weggeräumt werden, bevor sich die Soziologie<br />

als eigenständige Wissenschaft entfaltet. 25 Eine wichtige<br />

explizite Auseinandersetzung der Theologie mit der Soziologie<br />

findet sich in Dietrich Bonhoeffers Dissertation<br />

»Sanctorum Communio« von 1930 26 – mit einem für das Verhältnis<br />

von Theologie und Soziologie allerdings aporetischen<br />

Schluss: Die Soziologie wird sozusagen in der Theologie<br />

aufgehoben. 27 Bis heute stellt diese These Bonhoeffers<br />

eine offenkundige Provokation dar.<br />

Die Diskussion geht dann – mehr oder minder am Rande<br />

des theologischen Mainstreams – weiter. In der Soziologie<br />

haben Religions- und Kirchensoziologie in den 1950er und<br />

den anfänglichen 1960er Jahren durchaus eine Hochkonjunktur.<br />

Zu enormen produktiven, wenn auch einseitigen,<br />

gegenseitigen Bezügen und Auseinandersetzungen kommt<br />

es in den 1960er Jahren. 28 Dann jedoch unterliegen insbesondere<br />

die Kirchen-, aber auch die Religionssoziologie als<br />

25<br />

So entfaltet sich Soziologie zunächst einmal durchaus als neue, bisweilen<br />

reaktionäre Religion, die die Sozialität der Menschen gegen<br />

den zerstörerischen Individualismus der Revolution beschwört. Vgl.<br />

Hartmann Tyrell, Von der ›Soziologie statt Religion‹ zur Religionssoziologie,<br />

in: Tyrell/Krech, Religionssoziologie um 1900, 79–128.<br />

26<br />

Bonhoeffer, Sanctorum Communio.<br />

27<br />

Wichtig ist bei Bonhoeffer, wie dann immer wieder, die Spur auf<br />

das Werk von Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft.<br />

Grund begriffe der reinen Soziologie, 3. Aufl., Darmstadt 1963.<br />

28<br />

Vgl. <strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong>, Säkularisation inklusive. Zur Rezeption der<br />

Soziologie in Theologie und Kirche in den 1960er Jahren, in: Pastoraltheologie<br />

100 (2011) 12, 566–607. Wiederabgedruckt in diesem<br />

Band.<br />

51


solche scharfer Ideologiekritik, was zu einer weitgehenden<br />

Produktionspause bis in die 1990er Jahre hinein beiträgt.<br />

Spätestens mit dem 11. September 2001 ist das sozialwissenschaftliche<br />

Interesse an Religion angesichts der »Wiederkehr<br />

der Religion« 29 allerdings geradezu explodiert. 30 Die<br />

Zahl an religionssoziologischen Gesamtdarstellungen und<br />

einzelnen Entwürfen steigt seitdem exponentiell. 31<br />

In der Kirche wird Ende der 1960er Jahre insbesondere<br />

die empirische Sozialforschung oftmals geradezu über-<br />

29<br />

Sehr gut gedeutet als neue Konjunktur des Redens über Religion angesichts<br />

ihrer Wiederkehr in Gestalt von Terror und Fundamentalismus.<br />

30<br />

Vgl. als »Summe« Detlef Pollack / Volkhard Krech / Olaf Möller /<br />

Markus Hero (Hrsg.), Handbuch Religionssoziologie, Wiesbaden<br />

2018. Forschungsübersichten gab es z. B. von Hartmann Tyrell, Religionssoziologie,<br />

in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 428–457;<br />

Michael N. Ebertz, Forschungsbericht zur Religionssoziologie, in:<br />

IJPT 21 (1997) 1, 268–301; Monika Wohlrab-Sahr, »Luckmann 1960«<br />

und die Folgen. Neuere Entwicklungen in der deutschsprachigen Religionssoziologie,<br />

in: B. Orth / Th. Schwietering / J. Weiß (Hrsg.),<br />

Soziologische Forschung – Stand und Perspektiven, Opladen 2003,<br />

427–448; Detlef Pollack, Religionssoziologie in Deutschland seit<br />

1945. Tendenzen – Kontroversen – Konsequenzen, in: KZfSS 67<br />

(2015), 433–474.<br />

31<br />

Von großer Bedeutung Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft,<br />

Frankfurt a. M. 2000; Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine<br />

Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017; Thomas<br />

Luckmann, Die unsichtbare Religion, 7. Aufl., Frankfurt a. M.<br />

2014; Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine<br />

spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2009; aber auch Martin Riesebrodt,<br />

Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen,<br />

München 2007; Pierre Bourdieu, Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie<br />

des Heilsgeschehens, Konstanz 2000; sowie viele weitere.<br />

52


schwänglich begrüßt. Dafür stehen beispielhaft die bisher<br />

fünf großen Kirchenmitgliedschaftsstudien der EKD, 32 die<br />

im Abstand von zehn Jahren Erkenntnisse über die Situation<br />

der Kirche, basierend auf Befragungen ihrer Mitglieder, dann<br />

beginnend mit der dritten Studie auch, als Vergleich, der<br />

Konfessionslosen, lieferten. Die EKD beschäftigte zu ihrer<br />

Erstellung Soziologinnen und Soziologen und berief in die<br />

begleitenden Beiräte renommierte Wissenschaftlerinnen<br />

und Wissenschaftler – am häufigsten Detlef Pollack. Im Mittelpunkt<br />

stand hierbei die empirische Sozialforschung als<br />

solche, aber insbesondere am Anfang entfalteten sich um<br />

ihr Verhältnis zur Theologie intensive Debatten, deren Höhepunkt<br />

wahrscheinlich die Diskussion zwischen Eilert<br />

Herms und Joachim Matthes 33 in der Folge der dritten Kir-<br />

32<br />

(KMU 1) Helmut Hild (Hrsg.), Wie stabil ist die Kirche? Bestand<br />

und Erneuerung. Ergebnisse einer Umfrage. Gelnhausen/Berlin<br />

1974; (KMU 2) Johannes Hanselmann / Helmut Hild / Eduard Lohse<br />

(Hrsg.), Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage<br />

über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1984; (KMU 3) Klaus<br />

Engelhart / Hermann von Loewenich / Peter Steinacker (Hrsg.),<br />

Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft,<br />

Gütersloh 1997; (KMU 4) Wolfgang Huber / Johannes<br />

Friedrich / Peter Steinacker (Hrsg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge.<br />

Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft,<br />

Gütersloh 2006; (KMU 5) Heinrich Bedford-Strohm / Volker Jung<br />

(Hrsg.), Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung<br />

und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft,<br />

Gütersloh 2015.<br />

33<br />

Die Beiträge beider finden sich in Joachim Matthes (Hrsg.), Fremde<br />

Heimat Kirche – Erkundungsgänge. Beiträge und Kommentare zur<br />

dritten EKD-Untersuchung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh<br />

2000.<br />

53


chenmitgliedschaftsuntersuchung gewesen ist. Ganz am Anfang,<br />

vorbereitend für die erste Untersuchung, ging es zudem<br />

intensiv um die Frage der Organisationsförmigkeit der<br />

Kirche im Anschluss an Niklas Luhmanns Thesen von 1972,<br />

der sich auch persönlich beteiligte. 34 Wegweisend war auch<br />

die heftige interdisziplinäre Debatte über die Bewertung<br />

bzw. Deutung des Verhältnisses der distanzierten Kirchenmitglieder<br />

zur Kirche als »unbestimmt« in der KMU 2. 35<br />

Fragt man nach der Rezeption ihrer Ergebnisse in der<br />

kirchlichen Praxis, so lassen sich einige Linien aufzeigen.<br />

So zum Beispiel die »Aufwertung« der Kasualien, die sich<br />

allerdings auch unabhängig von den großen Untersuchungen<br />

aus den religionssoziologischen Überlegungen von<br />

Joachim Matthes oder Niklas Luhmann ergab; der Rolle der<br />

Pastoren und überhaupt die Steigerung der »Wertschätzung«<br />

der »normalen« (= distanzierten) Kirchmitglieder. 36 Ansonsten<br />

führte jede der Studien zu breiten und intensiven<br />

34<br />

Vgl. dazu den bereits erwähnten Band Hermelink / <strong>Wegner</strong>, Paradoxien<br />

kirchlicher Organisation; darin insbesondere Karl-Fritz Daiber,<br />

Christliche Religion und ihre organisatorischen Ausprägungen –<br />

Überlegungen im Anschluss an Niklas Luhmann, 25–69.<br />

35<br />

KMU 2, 39ff., und dazu Joachim Matthes, Unbestimmtheit: Ein konstitutives<br />

Merkmal der Volkskirche?, in: Ders., Das Eigene und das<br />

Fremde. Gesammelte Aufsätze zu Gesellschaft, Kultur und Religion,<br />

hrsg. von Rüdiger Schloz, Würzburg 2005, 333–346 (ursprünglich<br />

in: Joachim Matthes (Hrsg.), Kirchenmitgliedschaft im Wandel, Gütersloh<br />

1990).<br />

36<br />

Diese Linien finden sich besonders gut abgebildet in den Beiträgen<br />

des Kommentarbandes zur KMU 1: Joachim Matthes (Hrsg.), Erneu -<br />

erung der Kirche. Stabilität als Chance? Folgerungen aus einer Umfrage,<br />

Gelnhausen/Berlin 1975.<br />

54


Debatten, was insbesondere die betreffenden Kommentarbände<br />

belegen. Die Untersuchungen wurden so zu Gelegenheiten,<br />

die Situation der Kirche zu diskutieren, und lösten<br />

durch unterschiedliche Deutungen wichtige, klärende Kontroversen<br />

aus. 37 Viele ihrer Erkenntnisse dienten als Legitimation<br />

für spezifische Formen kirchlicher Praxis.<br />

Unklar bleibt, inwieweit die Ergebnisse kirchenleitend zu<br />

wesentlichen Reformen geführt haben. Oft gab es entsprechende<br />

Ankündigungen, aber wenige tatsächliche Umsetzungen<br />

(was allerdings auch mit strukturellen Steuerungsproblemen<br />

der Kirchen zu tun hat). Deswegen kam schon<br />

bald die Einschätzung auf, dass die faktische Wirkung der<br />

Kirchen mitgliedschafts untersuchungen eher die Bestätigung<br />

des Bestehenden war als die Freisetzung von Erneuerungskräften.<br />

38 Das mit Abstand größte Reformunter -<br />

nehmen der EKD, das Projekt »Kirche der Freiheit«, wies in<br />

seinen begründenden Papieren so gut wie keine Bezüge zu<br />

der kurz vorher veröffentlichten vierten Kirchen mit glied -<br />

schafts untersuchung auf. Insgesamt stellen die Kirchen -<br />

mitgliedschafts untersuchungen jedoch einen enormen Fundus<br />

an Wissen über die Entwicklung der evangelischen<br />

Kirche dar, wie es sie sonst wohl für kaum eine religiöse Institution<br />

gibt. Seitens der wissenschaftlichen Soziologie werden<br />

sie allerdings nicht immer ernst genommen, da man<br />

das Ganze aufgrund der institutionellen Einbindung der Un-<br />

37<br />

Vgl. z. B. in Reaktion auf KMU 5: <strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong>, Religiöse Kommunikation<br />

und Kirchenbindung. Ende des liberalen Paradigmas?,<br />

Leipzig 2014. Und die Beiträge in Pollack/<strong>Wegner</strong>, Die soziale Reichweite<br />

von Religion und Kirche.<br />

38<br />

Vgl. dazu <strong>Wegner</strong>, 50 Jahre dasselbe gesagt.<br />

55


tersuchungen für verkappte Hofberichterstattung hält. Hier<br />

werden demgegenüber von Zeit zu Zeit Bände mit zusammenfassenden<br />

Übersichten über die religiöse Situation in<br />

Deutschland veröffentlicht, die als Referenzen dienen. 39<br />

Insgesamt ist die Zahl von religionssoziologischen und praktisch-theologischen<br />

Veröffentlichungen, in denen auf Soziologie<br />

zurückgegriffen wird, in den letzten 20 Jahren vollkommen<br />

unüberschaubar geworden.<br />

Will man folglich das Verhältnis von Soziologie und Theologie<br />

40 näher bestimmen, so steht man 2021 in keiner Weise<br />

am Anfang, sondern vielmehr mittendrin in vielen Forschungsansätzen,<br />

Debatten und Entwürfen. Die Angebote<br />

seitens der Soziologie, Religion und Kirche zu verstehen,<br />

sind vielfältig – demgegenüber findet sich in der Theologie<br />

sehr viel weniger, was zum Begreifen von oder gar zur Auseinandersetzung<br />

mit Soziologie 41 hilfreich wäre. Die Abhängigkeiten<br />

sind folglich sehr einseitig, obwohl sich die Theologie<br />

von ihrem Selbstverständnis her als umfassender<br />

ausweisen müsste. In den gegenwärtigen Debatten über not-<br />

39<br />

Vgl. z. B. Gert Pickel / Kornelia Sammet (Hrsg.), Religion und Religiosität<br />

im vereinigten Deutschland. 20 Jahre nach dem Umbruch,<br />

Wiesbaden 2011.<br />

40<br />

Vgl. für den deutschsprachigen katholischen Bereich Ansgar Kreutzer<br />

/ Franz Gruber (Hrsg.), Im Dialog. Systematische Theologie und<br />

Religionssoziologie, Freiburg i. Br. 2013.<br />

41<br />

Anders im englischsprachigen Bereich. So harrt die spektakuläre<br />

»Abrechnung« mit der Soziologie (und der ganzen Moderne) von<br />

John Milbank, Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason,<br />

Malden/Oxford/Carlton 1990, 2. Aufl. 2006, immer noch der deutschen<br />

Rezeption.<br />

56


wendige Reformen der Kirche dominieren deswegen oft soziologische<br />

Versatzstücke und geborgte Deutungsmuster<br />

über theologisch konsistente Entwürfe. Man kann in dieser<br />

Hinsicht davon ausgehen, dass die Soziologie für Theologie<br />

und Kirche tatsächlich so etwas wie soziologische Aufklärung<br />

leistet, wie es Niklas Luhmann formuliert hätte. Ihr<br />

gelingt es überzeugend, beides aus der Gesellschaft, ausgehend<br />

von sozialer Kommunikation, zu erklären. Theologie<br />

und Kirche weichen vor entsprechenden soziologischen<br />

»Fakten« in der Regel zurück, statt sie theologisch zu destruieren.<br />

So wird zum Beispiel das soziologische Konzept<br />

der Individualisierung 42 mittlerweile in einem großen Ausmaß<br />

in Kirchen und Theologie als vorgegeben anerkannt,<br />

obwohl es selbst natürlich ein Interpretament gesellschaftlicher<br />

Entwicklung mit erheblichen normativen Bezügen<br />

darstellt. Es könnte eigentlich nicht nur, sondern müsste<br />

auch theologisch »hinterfragt« werden. Dazu braucht es allerdings<br />

theologische Theorien, die den soziologischen Entwürfen<br />

auf Augenhöhe begegnen können (und es auch wollen)<br />

und ihnen nicht nur nachlaufen (wie im Falle der<br />

Theorie Hartmut Rosas). 43 57<br />

42<br />

Tatsächlich geht es doch wohl um neue Formen der Subjektivierung,<br />

die speziell in kapitalistisch-liberalen Gesellschaften des Nordens –<br />

also historisch protestantisch geprägten Ländern – ausgebildet werden.<br />

43<br />

Vgl. auch hier die englische Debatte um ein »relational self«. Z. B.<br />

Alistar I. McFayden, The Call to personhood. A Christian theory of<br />

the individual in social relationships, Cambridge 1990; Stanley<br />

J. Grenz, The social God and the relational self. A trinitarian theology<br />

of the imago dei, Louisville/London 2001; Angela Carpenter, Re-


Wissenschaftlich – aber im Grunde genommen auch bereits<br />

rein lebenspraktisch 44 – ist die simple Rezeption der<br />

Ergebnisse empirischer Forschung immer problematisch.<br />

Denn in ihr werden bestimmte Sichtweisen auf Ausschnitte<br />

der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht nur nüchtern unbeteiligt<br />

widergespiegelt, sondern in einem in der Regel<br />

komplexen, methodisch kontrollierten Prozess regelrecht<br />

konstruiert. In jede Formulierung eines Items fließen vielfältige<br />

– auch vorwissenschaftliche – Überlegungen und<br />

nicht zuletzt spezifische Interessen der Forschenden bzw.<br />

der forschenden Einrichtung, aber natürlich auch theoretische<br />

Erwägungen ein. Die Rezeption wird dann noch komplexer,<br />

wenn die so konstruierten Ergebnisse als Indikatoren<br />

für weitergehende grundlegende Muster gesellschaftlicher<br />

Strukturen oder gesellschaftlichen Wandels interpretiert<br />

werden. Schöne Beispiele für entsprechend problematische<br />

Deutungen liefert zum Beispiel die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung<br />

der EKD, in der ein deutlicher Rück-<br />

sponsive Becoming: Moral Formation in Theological, Evolutionary<br />

and Developmental Perspective, London 2019. Vieles geht hier zurück<br />

auf die relationale Soziologie von Margaret Archer, die in<br />

Deutschland kaum bekannt ist. Vgl. Margaret S. Archer, The Reflexive<br />

Imperative in Late Modernity, Cambridge 2012.<br />

44<br />

Lebenspraktisch hat man es mit Einzelfällen zu tun, zu deren Verständnis<br />

die heute aktuellen soziologischen Verfahren prinzipiell<br />

nichts hergeben können. Ihnen könnte man nur durch die Anwendung<br />

der klassisch exemplarischen Methode gerecht werden. Vgl.<br />

dazu die großen Künstlerstudien von Pierre Bourdieu, Manet. Eine<br />

symbolische Revolution, Berlin 2015; Pierre Bourdieu, Die Regeln<br />

der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt<br />

a. M. 1999 zu Flaubert.<br />

58


gang religiöser Kommunikation in Kirche und Gesellschaft<br />

konstatiert wird. Dies geschieht aber aufgrund spezifischer<br />

Indikatoren, die, wenn man genau hinschaut, eine solche<br />

Verallgemeinerung gar nicht erlauben. So ist evident, dass<br />

der Indikator der Frequenz des »Redens über Religion« in<br />

keiner Weise notwendigerweise religiöse Kommunikation<br />

bezeichnet, aber entsprechend gewertet wird. 45 Diese Problematik<br />

wird dann noch komplexer, wenn unterstellt wird,<br />

dass sich die Kirche im Kern aus einer so bestimmten religiösen<br />

Kommunikation reproduzieren würde, 46 während<br />

viele andere Formen von Kommunikation zusätzlich noch<br />

in den Blick genommen werden müssten (z. B. soziale, i. S.<br />

von prosozialer, Kommunikation 47 ).<br />

Allerdings ist die schlichte Übernahme von Ergebnissen<br />

empirischer Sozialforschung mittlerweile in der Gesellschaft<br />

genauso wie in der Kirche gang und gäbe. Die entsprechenden<br />

Daten werden weitgehend als eine vollgültige Beschreibung<br />

der sozialen Wirklichkeit wahrgenommen. Das führt<br />

dazu, dass die Sozialwissenschaften auf diese Weise selbst<br />

zu einem Faktor der Entwicklung der Gesellschaft bzw. der<br />

Kirche geworden sind. Dieser rekursive Prozess lässt umso<br />

45<br />

Was allerdings nicht besagen soll, dass es den konstatierten Rückgang<br />

nicht geben würde.<br />

46<br />

Vgl. zu dieser Sichtweise die hervorragende Studie Felix Roleder /<br />

Birgit Weyel, Vernetzte Kirchengemeinde. Analysen zur Netzwerkerhebung<br />

der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, Leipzig<br />

2019.<br />

47<br />

Vgl. dazu Petra-Angela Ahrens, Nah dran? Diakonie aus Sicht der<br />

Bevölkerung (veröffentlicht in drei Teilen in Si-Kompakt, Hannover,<br />

Nr. 2-2018, Nr.1-2019, Nr.1-2020).<br />

59


mehr nach den Grundlagen empirischer Sozialforschung<br />

fragen. Er müsste eigentlich im Bereich der Kirche zu einer<br />

diesbezüglichen theologischen Grundlagendebatte führen,<br />

denn auf diese Weise wird Kirche im Grunde genommen<br />

fast immer von vornherein als abhängiger Faktor einsortiert.<br />

Will sie mehr sein, muss sie dies sozusagen vor dem Gerichtshof<br />

der Sozialwissenschaften beweisen. Wie steuert<br />

sie sich selbst? Was kann sie steuern und was nicht – in der<br />

Differenz gesellschaftlich und geistlich? Zugespitzt: Wie ist<br />

geistliche Leitung der Kirche unter der Berücksichtigung dieser<br />

Entwicklung möglich? 48 Möglicherweise könnten gerade<br />

Antworten auf diese Frage prägende Themen einer Soziotheologie<br />

sein. Nicht nur, was in der gesellschaftlichen Entwicklung<br />

hingenommen werden muss, wäre zu klären, sondern<br />

auch mit welcher Haltung diese Hinnahme erfolgen<br />

könnte.<br />

Die Problematik der Nutzung soziologisch gewonnener<br />

Ergebnisse wird dann noch komplexer, wenn es um die Rezeption<br />

ganzer theoretischer Konzeptionen in der Theologie<br />

geht. Es liegt auf der Hand, dass dies eigentlich nur dann<br />

verantwortlich geschehen kann, wenn eine theologische<br />

Auseinandersetzung mit den Grundannahmen entsprechender<br />

Konzeptionen geführt wird. Natürlich erfolgt dies auch<br />

in der Theologie. So gibt es bspw. eine ganze Reihe von Auseinandersetzungen<br />

mit der Soziologie Niklas Luhmanns,<br />

Pierre Bourdieus 49 oder natürlich Max Webers und Émile<br />

48<br />

Vgl. <strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong>, Was ist geistliche Leitung? Zehn Thesen zur<br />

Verständigung, in: <strong>Wegner</strong>, Religiöse Kommunikation und Kirchenbindung,<br />

74–100.<br />

60


Durkheims. Immer wieder wird der Prozess der Auseinandersetzung<br />

jedoch abgekürzt und die theologische Auseinandersetzung<br />

auf die Rezeption der Schlussfolgerungen<br />

der betreffenden Autoren begrenzt. 50 Zwar ermöglicht das<br />

eine Diskussion darüber, ob einem die entsprechenden Aussagen<br />

in das eigene theologische Konzept integrierbar erscheinen<br />

oder eher nicht, der Erkenntniswert ist dann allerdings<br />

gering, weil er auf einen Ansatz begrenzt ist.<br />

Im Grunde genommen müssten solche Konzepte auf jeweils<br />

derselben Ebene mit theologischen Konzepten in Beziehung<br />

gesetzt bzw. konfrontiert werden. Das wäre bspw.<br />

im Fall von anthropologischen Grundannahmen denkbar.<br />

So gibt es in der langen Geschichte der Theologie selbstverständlich<br />

viele Vorstellungen von Individualität, Vergebung<br />

51 , Versprechen, Gemeinschaftlichkeit usw., die mit den<br />

49<br />

Z. B. Ansgar Kreutzer / Hans-Joachim Sander (Hrsg.), Religion und<br />

soziale Distinktion. Resonanzen Pierre Bourdieus in der Theologie,<br />

Freiburg i. Br. 2018.<br />

50<br />

So bezieht sich z. B. Jan Hermelink, Kirchliche Organisation und das<br />

Jenseits des Glaubens. Eine praktisch theologische Theorie der evangelischen<br />

Kirche, Gütersloh 2011, exklusiv auf die systemtheoretische<br />

Theorie von Niklas Luhmann und Armin Nassehi. Noch deutlicher<br />

ist ein entsprechender, ebenso exklusiver Bezug bei Birgit<br />

Klostermeier, Das unternehmerische Selbst der Kirche. Eine Diskursanalyse,<br />

Berlin/Boston 2012, auf Michel Foucault und Ulrich<br />

Bröckling.<br />

51<br />

Sehr instruktiv in dieser Richtung ist aus soziologischer Sicht Sonja<br />

Fücker, Vergebung. Zu einer Soziologie der Nachsicht. Frankfurt<br />

a. M. / New York 2020; aus theologischer Sicht Lukas Grill, Überschießende<br />

Kommunikation. Eine Religionstheorie alltäglicher Rede,<br />

Göttingen 2020.<br />

61


Grundannahmen soziologischer Forschung abgeglichen<br />

werden könnten. Die Ergebnisse wären für beide Seiten<br />

höchst aufschlussreich 52 – gerade in dem Überschießenden,<br />

was im Vergleich gerade nicht aufgeht und jeweils verbleibt.<br />

2. Bezugsfeld evangelische Kirche<br />

Bevor im Folgenden das große Bezugsfeld von Theologie<br />

und Soziologie weiter abgeschritten wird, soll zunächst die<br />

ganze Debatte im Bereich der Evangelischen Kirche in<br />

Deutschland kontextualisiert werden. In ihrer mittlerweile<br />

über 500-jährigen Geschichte stellen die letzten 50 Jahre<br />

eine Zeit besonders intensiver Reformbemühungen und organisatorischer<br />

Transformationen dar. Mit den gewaltigen<br />

kulturellen und ideologischen Umbrüchen der 1960er Jahre<br />

verlor das <strong>Christentum</strong> seine Selbstverständlichkeiten sowohl<br />

im Hinblick auf die Zugehörigkeit zur Kirche als auch,<br />

was seinen Einfluss auf die populäre Kultur und die sozialen<br />

Verhaltensstandards der Menschen anbetraf. Trotz einer<br />

enormen Lebendigkeit der protestantischen Kirchen in den<br />

1970er und 1980er Jahren hat sich ihr Niedergang weiter<br />

beschleunigt – auch wenn noch längst nicht davon auszugehen<br />

ist, dass sie sozusagen völlig aus der sozialen Welt<br />

verschwinden würden. Durchaus ähnliche Prozesse, wenn<br />

auch lange Zeit deutlich langsamer, vollziehen sich in der<br />

katholischen Kirche in Deutschland.<br />

52<br />

Eindrücklich in dieser Richtung der Band Kreutzer/Gruber, Im Dialog.<br />

62


<strong>Gerhard</strong> <strong>Wegner</strong>, Prof. Dr., Jahrgang 1953,<br />

Studium der ev. Theologie in Göttingen und<br />

Nairobi, bis 2019 Direktor des Sozialwis -<br />

senschaftlichen Instituts der EKD, Pastor<br />

i. R. und Publizist, z. Z. Gastwissenschaftler<br />

am Exzellenzcluster Religion und Politik<br />

der Universität Münster. Letzte selbständige<br />

Veröffentlichungen: »Wirksame Kirche. Soziotheologische<br />

Studien« (EVA 2019) und<br />

»Transzendentaler Vertrauensvorschuss.<br />

Sozialethik im Entstehen« (EVA 2019).<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

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sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

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Cover: makena plangrafik, Leipzig<br />

Coverfoto: Doris <strong>Wegner</strong><br />

Layout und Satz: Steffi Glauche, Leipzig<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-07014-5 // eISBN (PDF) 978-3-374-07015-2<br />

www.eva-leipzig.de

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