Leseprobe_Anklaenge 2020-2021
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
10 Einleitung<br />
Fertigkeiten und Kenntnisse für die Wissensproduktion immer relevanter. Die Folge<br />
ist eine Verwischung der bis dahin scharf gezogenen Grenze zwischen dem Bereich<br />
der praktisch-operativen techné und jenem der ,reinen‘ theoretischen und in der<br />
Hierarchie menschlichen Wissens höher angesiedelten episteme. Analog dazu lassen<br />
sich Verlagerungen zwischen traditionell als ,niedrig‘ angesehenen und höherwertigen<br />
Formen der musikalischen Produktion beobachten. So bedeutet die umfassende<br />
und nachhaltige Etablierung komponierter Instrumentalmusik eine Literarisierung<br />
und damit einen Zuwachs an Prestige und ästhetischem Wert von „handwerklichen“<br />
und vormals schriftlosen Praktiken. Auch beim Basso continuo kommt ein solches<br />
,improvisatorisches‘ Musizieren, das durch das Agieren am Instrument bzw. durch<br />
„embodied knowledge“ mitbestimmt wird, zum Tragen. Zugleich sehen jedoch die<br />
Zeitgenossen den Generalbass aus diesem Grund und speziell wegen der mit ihm einhergehenden<br />
Reduktion an Texthaftigkeit zum Teil kritisch, stellt er doch eine Abkehr<br />
von der Tradition theoretisch anspruchsvollen kontrapunktischen Komponierens<br />
dar, das im Bereich der Akkord- und insbesondere der Tasteninstrumente bereits<br />
länger etabliert war. Am Beispiel der Madrigale von L. Luzzaschi, von Toccaten und<br />
von Agazzaris Anleitung zum Spielen über einen Bass wird abschließend konkretisiert,<br />
wie sich in diesen verschiedenen Sparten gleichermaßen bestimmte Konventionen<br />
des Spiels auf Tasteninstrumenten manifestieren, die einem „embodied knowledge“<br />
bzw. einem spezifischen „instrumentalen Habitus“ entsprangen.<br />
Dass eine historische Erklärung des Generalbasses vielschichtig anzulegen ist und<br />
die ‚lange Geschichte‘ der Mehrstimmigkeit zu berücksichtigen hat, zeigt der Beitrag<br />
von Reinhard Kapp. Im Generalbass fließen Entwicklungen ineinander, die sich auf<br />
mehreren Ebenen vollziehen und die in einer übergeordneten bzw. abstrakteren Betrachtung<br />
unter folgenden Gesichtspunkten zu fassen sind: der Integration des mehrstimmigen<br />
Satzes, der Differenzierung von Zuschnitt und Funktion der einzelnen<br />
Stimmen (und dabei insbesondere der Rolle der untersten Stimme), der „Emanzipation“<br />
der Instrumentalmusik und den Veränderungen der Mittel zur Aufzeichnung<br />
von Musik. Unter dieser weiteren Perspektive wird deutlich, dass der Generalbass<br />
wohl das Ergebnis von Entwicklungen ist, die sich im Laufe des 16. Jahrhunderts<br />
verdichtet haben, dass diese aber vielfach auf historischen Voraussetzungen beruhen,<br />
die in den vorangehenden Zeiträumen liegen.<br />
An den rezenten kulturwissenschaftlichen Diskurs schließt Sarah Lutz an. Ihr Beitrag<br />
rekapituliert zunächst die wesentlichen Stationen der Entwicklung einer Theorie<br />
der Performativität und versucht anschließend, daraus abgeleitete Theoreme anhand<br />
einiger der prominentesten Beispiele der „neuen“ Musik um 1600 in Verbindung mit<br />
dem zu bringen, was mittlerweile als ein Kern der musikhistorischen Veränderungen<br />
dieser Zeit gilt: die Verschriftlichung bis dahin schriftloser, ,improvisatorischer‘<br />
musikalischer Praktiken und Techniken.