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Leseprobe_Anklaenge 2020-2021

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10 Einleitung<br />

Fertigkeiten und Kenntnisse für die Wissensproduktion immer relevanter. Die Folge<br />

ist eine Verwischung der bis dahin scharf gezogenen Grenze zwischen dem Bereich<br />

der praktisch-operativen techné und jenem der ,reinen‘ theoretischen und in der<br />

Hierarchie menschlichen Wissens höher angesiedelten episteme. Analog dazu lassen<br />

sich Verlagerungen zwischen traditionell als ,niedrig‘ angesehenen und höherwertigen<br />

Formen der musikalischen Produktion beobachten. So bedeutet die umfassende<br />

und nachhaltige Etablierung komponierter Instrumentalmusik eine Literarisierung<br />

und damit einen Zuwachs an Prestige und ästhetischem Wert von „handwerklichen“<br />

und vormals schriftlosen Praktiken. Auch beim Basso continuo kommt ein solches<br />

,improvisatorisches‘ Musizieren, das durch das Agieren am Instrument bzw. durch<br />

„embodied knowledge“ mitbestimmt wird, zum Tragen. Zugleich sehen jedoch die<br />

Zeitgenossen den Generalbass aus diesem Grund und speziell wegen der mit ihm einhergehenden<br />

Reduktion an Texthaftigkeit zum Teil kritisch, stellt er doch eine Abkehr<br />

von der Tradition theoretisch anspruchsvollen kontrapunktischen Komponierens<br />

dar, das im Bereich der Akkord- und insbesondere der Tasteninstrumente bereits<br />

länger etabliert war. Am Beispiel der Madrigale von L. Luzzaschi, von Toccaten und<br />

von Agazzaris Anleitung zum Spielen über einen Bass wird abschließend konkretisiert,<br />

wie sich in diesen verschiedenen Sparten gleichermaßen bestimmte Konventionen<br />

des Spiels auf Tasteninstrumenten manifestieren, die einem „embodied knowledge“<br />

bzw. einem spezifischen „instrumentalen Habitus“ entsprangen.<br />

Dass eine historische Erklärung des Generalbasses vielschichtig anzulegen ist und<br />

die ‚lange Geschichte‘ der Mehrstimmigkeit zu berücksichtigen hat, zeigt der Beitrag<br />

von Reinhard Kapp. Im Generalbass fließen Entwicklungen ineinander, die sich auf<br />

mehreren Ebenen vollziehen und die in einer übergeordneten bzw. abstrakteren Betrachtung<br />

unter folgenden Gesichtspunkten zu fassen sind: der Integration des mehrstimmigen<br />

Satzes, der Differenzierung von Zuschnitt und Funktion der einzelnen<br />

Stimmen (und dabei insbesondere der Rolle der untersten Stimme), der „Emanzipation“<br />

der Instrumentalmusik und den Veränderungen der Mittel zur Aufzeichnung<br />

von Musik. Unter dieser weiteren Perspektive wird deutlich, dass der Generalbass<br />

wohl das Ergebnis von Entwicklungen ist, die sich im Laufe des 16. Jahrhunderts<br />

verdichtet haben, dass diese aber vielfach auf historischen Voraussetzungen beruhen,<br />

die in den vorangehenden Zeiträumen liegen.<br />

An den rezenten kulturwissenschaftlichen Diskurs schließt Sarah Lutz an. Ihr Beitrag<br />

rekapituliert zunächst die wesentlichen Stationen der Entwicklung einer Theorie<br />

der Performativität und versucht anschließend, daraus abgeleitete Theoreme anhand<br />

einiger der prominentesten Beispiele der „neuen“ Musik um 1600 in Verbindung mit<br />

dem zu bringen, was mittlerweile als ein Kern der musikhistorischen Veränderungen<br />

dieser Zeit gilt: die Verschriftlichung bis dahin schriftloser, ,improvisatorischer‘<br />

musikalischer Praktiken und Techniken.

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