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ERF Antenne 0506|2022 Gewollt, geschaffen, geliebt

Das Magazin von ERF – Der Sinnsender

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H<br />

err Gärtner war ein kleiner, alter und sehr<br />

agiler Mann. Gemeinsam mit Frau Gärtner<br />

wohnte er schon immer im dritten Stock<br />

des Mehrfamilienhauses in der Kölner<br />

Südstadt. Er war die gute Seele des Hauses, in das ich<br />

2009 einzog. Schon bevor das passierte, erwähnte die<br />

Hausverwaltung beiläufig, falls ich einmal Probleme<br />

habe, könne ich mich an Herrn Gärtner wenden. Am<br />

Tag meines Einzuges sprang er wie selbstverständlich<br />

aus seiner Garage heraus auf mich zu und stellte sich<br />

vor. Als ich meinen Namen sagte, leuchteten seine<br />

Augen auf. „Katharina, Kind Gottes!“, rief er in seinem<br />

unnachahmlichen, rheinischen Singsang. Von diesem<br />

Tag an war die Sache klar. Ich war Katharina, ein<br />

Kind Gottes.<br />

Jedes Mal, wenn ich mich ausgesperrt hatte und<br />

Hilfe beim Aufhebeln meiner Wohnungstür oder<br />

anderen Alltagsproblemen brauchte, nannte er mich<br />

so: „Katharina, Kind Gottes.“ Ich habe mich mit Herrn<br />

Gärtner nie über Religion unterhalten. Er wusste nicht,<br />

ob ich getauft war, ob ich in eine Gemeinde ging und<br />

falls ja, in welche. Ob ich regelmäßig Stille Zeit machte,<br />

Fleisch aß oder geimpft war. Ich wette, er hätte<br />

mich immer und in jeder Ausführung meiner selbst<br />

einfach als das gesehen, erkannt und gerufen, das ich<br />

bin: Ein Kind Gottes.<br />

Herr Gärtner sprach mir selbstverständlich und radikal<br />

zu, was nach meinem Verständnis den Kern des<br />

christlichen Menschenbildes ausmacht: Die wertvolle<br />

menschliche Identität als Geschöpf Gottes. Doch wie<br />

entsteht Identität und was gehört dazu? Identität ist<br />

die Antwort auf die Frage, wer ich wirklich bin. Diese<br />

Frage geht tief und ist unscharf. Sie ist eine Überfrage,<br />

die weitere Fragen nach sich zieht, um eine befriedigende<br />

Antwort geben zu können.<br />

Wie unsere Identität entsteht<br />

»Er hat mich<br />

einfach als das<br />

gesehen, erkannt<br />

und gerufen, das<br />

ich bin.«<br />

Als soziale Wesen bekommen wir in unserer Entwicklung<br />

viele Rückmeldungen darüber, was, wer, wie<br />

wir sind oder sein sollen. Wir brauchen das, um ein<br />

Bild von uns selbst und der angrenzenden Realität zu<br />

bekommen. Es fängt mit einfachen Unterscheidungen<br />

und Zuordnungen an. Zum Beispiel lernen wir, dass<br />

wir ein Mensch sind und kein Tier. Dass wir ein Mädchen<br />

sind oder ein Junge. Dass wir zur Landbevölkerung<br />

zählen oder zu den Stadtmenschen, Deutsche<br />

sind oder eine andere Staatszugehörigkeit haben. Dass<br />

wir beispielsweise Christen sind. Wir lernen, was das<br />

inhaltlich bedeutet. Die Unterscheidungen werden<br />

schnell feiner, die vermittelten Narrative komplex. Familienerzählungen,<br />

Geschichten, das soziale Umfeld,<br />

die Kultur, in der wir leben, all das vermittelt uns ein<br />

Bild unserer selbst.<br />

Mit der Pubertät startet in der Regel die Überprüfung.<br />

Jugendliche hinterfragen das gelernte Bild ihrer<br />

selbst. Sie beginnen, sich zu reflektieren und probieren<br />

aus, wie die Umwelt auf Anpassungen reagiert. Dieser<br />

Prozess der Identitätsfindung kann für alle Beteiligten<br />

anstrengend sein. Fakt ist, er dauert ein Leben lang.<br />

Was sich verändert hat<br />

Die Vorstellung der individuellen Identität ist neu. Früher<br />

waren Identitäten viel starrer und an bestimmte,<br />

feste Merkmale gebunden. Man war der Dorfschmied,<br />

der Sohn des ehemaligen Schmiedes und der Vater des<br />

folgenden. Der Rahmen, in dem man seine Identität<br />

entwickeln konnte, war sehr klein.<br />

Heute ist das anders. Wir leben in einer globalen<br />

Gesellschaft, in der wir vergleichsweise frei unsere<br />

Identität entfalten können. Persönliche Merkmale, die<br />

vor ein paar Jahren unverrückbar identitätsbestimmend<br />

schienen, diffundieren oder werden hinterfragt.<br />

Es gibt sehr viele Möglichkeiten für uns, Erfahrungen<br />

zu sammeln, die uns prägen. Je nachdem, wie offen,<br />

reflexions- und experimentierfreudig wir sind, nutzen<br />

wir kleinere oder größere Freiräume, um unsere Identität<br />

zu entfalten und reifen zu lassen.<br />

Thema<br />

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