Das Stadtgespraech Ausgabe-Juni 2022
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Buchtis<br />
Abdulrazak Gurnah<br />
»Ferne Gestade«<br />
Darüber, wer den Nobelpreis für<br />
Literatur bekommen soll, lässt sich<br />
jedes Jahr wieder trefflich streiten.<br />
Wenn Schreibende ihn bekommen,<br />
die vor mehreren Jahrzehnten ihre<br />
Hauptwerke veröffentlicht haben,<br />
dann ist das politisch zwar nicht<br />
brisant. Aber das Argument, dass<br />
sie »dran« waren, hinterlässt einen<br />
faden Beigeschmack. Und dann sind da noch die obskuren Autoren, auf<br />
die sich die Jury einigen konnte, weil nur wenige sie kennen. Und das licher Weise auch noch zu Recht. Genau zu diesen Autoren zählt Abdulrazak<br />
mög-<br />
Gurnah, der Literaturnobelpreisträger von 2021, eben nicht!<br />
Gurnah, der 1948 im damaligen Sultanat Sansibar geboren wurde, greift<br />
in seinem Roman »Fremde Gestade« nicht nur ein Thema auf, das aktueller<br />
nicht sein könnte, geht es doch um Menschen, die ihre Heimat verlassen<br />
müssen. Gleichzeitig ist er ein Meister nahezu orientalischer Erzählkunst,<br />
der seinesgleichen höchstens noch in Salman Rushdie findet. Worum geht<br />
es in »Ferne Gestade«, der im englischsprachigen Original unspektakulärer<br />
Weise »By the Sea« heißt?<br />
Saleh Omar landet auf dem Flughafen in London. In einer kleinen Tasche,<br />
dem einzigen Gepäck, das der Mann aus Sansibar bei sich trägt, liegt<br />
sein wertvollster Besitz: eine Mahagonischachtel mit Weihrauch. Früher<br />
war Omar Inhaber eines Geschäftes, er besaß ein Haus, war Ehemann und<br />
Vater einer Tochter. Jetzt ist er ein Asylbewerber, und Schweigen scheint<br />
sein einziger Schutz zu sein. Omar, der über exzellente Bildung verfügt,<br />
gibt dem verhörenden Beamten gegenüber vor, kein Englisch zu können.<br />
Auch den netten, aber etwas selbstgerechten Flüchtlingshelfern gegenüber<br />
schweigt er zunächst.<br />
Nicht weit von Salehs neuer Unterkunft entfernt, lebt Latif Mahmud<br />
zurückgezogen in seiner Londoner Wohnung. Auch er stammt aus Sansibar,<br />
hatte jedoch bei der Flucht aus seiner Heimat einst den Weg über den<br />
»sozialistischen Bruderstaat« DDR gewählt. Als Mahmud und Omar Jahre<br />
später in einem englischen Küstenort aufeinandertreffen, entrollt uns der<br />
Autor die Vergangenheit der beiden als eine Geschichte von Liebe und Verrat,<br />
von Verführung und Besessenheit, und von Menschen, die inmitten<br />
unserer wechselvollen Zeit Sicherheit und Halt suchen. Und ganz nebenbei<br />
erfahren wir etwas über die arabischen Händler, die über Jahrhunderte<br />
jährlich mit dem Monsun kamen, über den arabischen Kolonialismus, über<br />
den Sturm des religiösen Wahns, den die Portugiesen im Indischen Ozean<br />
entfachten, über die Briten, die die Welt mit hartem Griff umschlossen.<br />
Und auch die deutschen Siedler im Osten Afrika kommen nicht gut weg<br />
in ihrem Bestreben, sich mit Falschheit und Gewalt am Eigentum anderer<br />
zu bereichern. Als kleines Zuckerl für Literaturliebhaber treffen wir auch<br />
bei der Begegnung mit Harun al Rashid oder Melvilles Bartleby wieder. Erschienen<br />
ist die Neuauflage von »Ferne Gestade« als Hardcover bei Penguin,<br />
413 Seiten, 26 Euro.<br />
Wilhelms Busch »Sämtliche Werke«<br />
»Ach, was muss man oft von bösen/Kindern hören oder lesen!« Wer diesen<br />
Satz nicht kennt, hat etwas in der Kindheit verpasst, denn Max und<br />
Moritz sind seit Generationen Teil des schwarzen Humors im Kinderzimmer.<br />
Doch Wilhelm Busch ist weit mehr als »Max und Moritz« oder »Die<br />
fromme Helene«, wie diese Neuauflage zum<br />
190. Geburtstag des wohl einflussreichsten<br />
deutschen Zeichners und Humoristen überzeugend<br />
beweist. <strong>Das</strong> Publikum, das den<br />
Ur-Vater des Comics nicht kennt, hat die<br />
Chance zum Kennenlernen und diejenigen,<br />
denen Wilhelm Busch durchaus etwas sagt,<br />
können auf Entdeckungsreise gehen, denn<br />
auf über 2.200 Seiten gibt es mehr als genug<br />
interessantes Unbekanntes zu erforschen.<br />
Da findet sich geballte Originalität, denn<br />
Wilhelm Busch war der große Meister der<br />
kleinen Bildergeschichten, vereinte er doch<br />
zahlreiche Talente in sich. Diese prachtvolle<br />
und vollständige <strong>Ausgabe</strong> sämtlicher Werke in Farbe präsentiert ein Multitalent,<br />
das bis heute begeistert: als begnadeter Zeichner und Typenerfinder,<br />
als Verseschmied und Satiriker, als Gedankenlyriker im Geiste Schopenhauers<br />
und Landschaftsmaler und auch als Porträtist. Selbst wenn Busch<br />
selbst, der in Düsseldorf und Antwerpen Malerei studiert hatte, sein eigenes<br />
Schaffen sehr kritisch beurteilte, so überzeugen das Frische und das Freche<br />
in seinem Werk noch heute.<br />
Zu Lebzeiten war Wilhelm Busch berühmt, seit dem Erscheinen von<br />
»Max und Moritz« im Jahr 1865. Was er zeitlebens allerdings gar nicht mochte<br />
war, wenn Aufhebens um seine eigene Person gemacht wurde, das er<br />
als widerwärtig empfand. Selbst in der Nazi-Zeit war der 1908 verstorbene<br />
Dichter wohl gelitten, hatten man in ihm, der unter anderem auch Volksmärchen<br />
sammelte, doch einen »völkischen Seher« erkannt. Dabei müsste<br />
der Meister des knappen Strichs und des knappen Reims den Herrschenden<br />
eigentlich gegen den Strick gegangen sein, wendete er sich stets nicht<br />
nur gegen kirchliche sondern auch gegen behördliche Intoleranz. Aber auf<br />
Zwischentöne zu hören war wohl nicht die Sache der braunen Herrscher.<br />
Um das Hintersinnige zu erkennen ist diese Neuausgabe ideal. Erschienen<br />
bei C.Bertelsmann, zwei Bände in Geschenkausgabe, 45 Euro.<br />
Camilla Läckberg/Henrik Fexeus »Schwarzlicht«<br />
Einen wirklich originellen Krimi zu schreiben, ist heutzutage ausgesprochen<br />
schwierig. Dafür tummeln sich einfach zu viele Autoren auf dem Markt.<br />
Und die greifen zu allen möglichen Ideen, um sich voneinander abzusetzen.<br />
Vor allem die Ermittler sind dabei natürlich von besonderem Interesse,<br />
vor allem, wenn es um Krimi-Reihen geht. Da ist dann gerne mal jemand,<br />
nennen wir es exzentrisch. Bei Läckberg/Fexeus haben die Ermittler beide<br />
einen an der Waffel, wie man es im Westfälischen treffend sagen würde.<br />
Kommissarin Mina Dabiri ist bei der Stockholmer Polizei. Sie ist gerade einmal<br />
Anfang dreißig, hat aber einen<br />
mächtigen Tick, der die Zusammenarbeit<br />
mit ihren Kollegen schwierig<br />
bis unmöglich macht. Ihr Leben ist<br />
mehr oder minder dominiert von<br />
ihrer Angst vor Keimen, Desinfektionsmittel<br />
sind ihr wichtiger als<br />
Lebensmittel. Aber, Sie ahnen es<br />
bereits, sie ist eine hervorragende<br />
Polizistin mit untrüglichem Gespür.<br />
Dennoch kommt sie in dem<br />
Fall einer jungen Frau nicht weiter,<br />
die in einer Kiste, wie sie Zauberer<br />
verwenden, von Schwertern durchbohrt<br />
wurde. Mina bekommt q<br />
32 <strong>Das</strong> Stadtgespräch