MEDIAkompakt Ausgabe 32
Die Zeitung des Studiengangs Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart - www.mediapublishing.org
Die Zeitung des Studiengangs Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart - www.mediapublishing.org
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
DIE ZEITUNG DES STUDIENGANGS MEDIAPUBLISHING<br />
DER HOCHSCHULE DER MEDIEN STUTTGART<br />
AUSGABE 02/2022 30.06.2022<br />
media<br />
kompakt<br />
NOT AFRAID
2 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
German Angst – eine<br />
hamsternde Nation?<br />
Den Deutschen wird nachgesagt, besonders furchtsam zu sein<br />
und gerne zögerlich zu handeln. Für diese angeblich typisch<br />
deutsche Eigenschaft gibt es im Ausland einen eigenen Begriff:<br />
die German Angst.<br />
EIN KOMMENTAR VON EIKE BABEL<br />
Bild: Luis Klink<br />
Bürger:innen in die Supermärkte strömen, um so<br />
viel Klopapier zu kaufen wie nur möglich? Oder<br />
Mehl? Oder Speiseöl? Keine zwei Jahre nach Pandemiebeginn<br />
heißt es im Discounter um die Ecke<br />
wieder „Übergangsweise gilt für alle Mehlsorten<br />
eine maximale Abgabemenge von vier Packungen”.<br />
Man könnte denken, die Deutschen haben<br />
aus vergangenen Krisen rein gar nichts gelernt.<br />
„Denn wenn die Menschen aus der Corona Krise<br />
gelernt hätten, dann wüssten sie, dass Lebensmittel<br />
in Deutschland nicht knapp werden”, wie<br />
Christian Lüdke, Mitglied der deutschsprachigen<br />
Gesellschaft für Psychotraumatologie, im Interview<br />
mit Focus Online sagt.<br />
„Aber viele hören in manchen Momenten auf<br />
zu denken”. Dieser Reflex werde durch immer<br />
neue Nachrichten ausgelöst. In solchen Momenten<br />
würden die Menschen den Kopf ausschalten<br />
und befänden sich quasi im Steinzeitmodus: „Ich<br />
muss meine Höhle vollpacken.” Dann gehe es nur<br />
um das eigene Überleben und das der Familie. In<br />
erster Linie sind das reine Kontrollverlustängste”.<br />
Man befinde sich in einer Situation, die man als<br />
Mensch nicht kontrollieren könne. Dadurch werde<br />
das grundlegende Sicherheitsgefühl der Bürger<br />
massiv erschüttert. „Wenn sie aktiv werden, glauben<br />
sie, sich ein Stückchen Sicherheit zu verschaffen”,<br />
erklärt Lüdke. Trotzdem bleibt das Hamstern<br />
von Lebensmitteln eine Art Egoismus, weil keiner<br />
mehr an seine Mitmenschen denkt, sondern nur<br />
noch an sich selbst. Getrost nach dem Motto: erst<br />
mal muss es nur mir gut gehen, dann sehen wir<br />
weiter.<br />
„Aber viele hören in<br />
manchen Momenten<br />
auf zu denken.”<br />
Bild: Rebecca Kraemer<br />
Es gibt viele Gründe für die Bürger:innen<br />
der Nation beunruhigt zu sein: Klimawandel,<br />
der Krieg in der Ukraine<br />
und viele ungeklärte Zukunftsfragen in<br />
Zeiten der Coronakrise. Laut einer<br />
jährlichen Studie der R+V Versicherung sind mit<br />
rund 53 Prozent die größte Angst der Deutschen<br />
Steuererhöhungen beziehungsweise Leistungskürzungen,<br />
ausgelöst durch die Corona-Pandemie.<br />
Auf Platz zwei und drei des Rankings liegen<br />
mit jeweils 50 Prozent die steigenden Lebenshaltungskosten<br />
und Kosten für den Steuerzahler<br />
durch die EU-Schuldenkrise (Stand September<br />
2021). Sicherlich sind das keine Ängste, die sich<br />
nach Lust und Laune verschieben und verändern.<br />
Wenn es gefühlt um die eigene Existenz geht, darf<br />
man man durchaus auch mal beunruhigt sein.<br />
Doch wie rechtfertigt man, dass unzählig viele<br />
Wie absurd und unnachsichtig das ist, können<br />
und wollen viele nicht sehen. Fairerweise muss<br />
man dazu sagen, dass dieses Handeln nicht von<br />
rationaler, sondern von emotionaler Natur ist.<br />
Man kann es also nicht nur der mangelnden Intelligenz<br />
zuschreiben. Natürlich spielen auch hier<br />
die wirtschaftlichen Verhältnisse eine große Rolle.<br />
„Menschen, die finanziell unabhängig sind, interessiert<br />
der Spritpreis kaum. Für andere ist das<br />
ein großes Problem“, betont Christian Lüdke zum<br />
Abschluss des Interviews.<br />
Doch wie schafft man es, eine Nation umzustimmen<br />
und aufzuklären, der seit Jahrzehnten<br />
Furchtsamkeit und Zögerlichkeit zugesprochen<br />
wird? Man sollte sich in dem Moment Zeit zum<br />
Nachdenken nehmen und sich fragen, wie man<br />
sich am Besten von diesen egoistischen Gedanken<br />
und Impulsen distanzieren kann. Man sollte sich<br />
fragen: „Brauche ich jetzt wirklich die beiden letzten<br />
Flaschen Sonnenblumenöl aus dem Regal?”<br />
Denn so floskelhaft sich das anhören mag, eine<br />
gute Gesellschaft funktioniert nur, wenn auch alle<br />
mitmachen. Wenn man sich aus alten Verhaltensmustern<br />
löst und anfängt mehr im Kollektiv<br />
zu denken, statt nur an sich.
02/ 2022 NOT AFRAID 3<br />
Summertime sadness<br />
Steigende Temperaturen und hellere Abendstunden: Die Vorfreude<br />
auf den Sommer wächst. Doch für einige Menschen steht der<br />
Sonnenschein im starken Kontrast zu ihrer eigenen Stimmung.<br />
VON SINA MAJER<br />
Bild: Adobe Stock/nanihta<br />
Mit dem Ende des Winters fiebert<br />
der Großteil der Menschen mit<br />
freudiger Erwartung dem Sommer<br />
entgegen. Der Grund: Vielen<br />
schlägt die dunkle Jahreszeit aufs<br />
Gemüt. Der Begriff der Winterdepression wird im<br />
Alltag dabei gerne salopp verwendet. Doch so<br />
leicht wie sich dieser Ausdruck im Sprachgebrauch<br />
etabliert hat, kann man bei einer getrübten<br />
Stimmung noch lange nicht von einer depressiven<br />
Erkrankung sprechen. Allerdings können<br />
gewisse Phasen im Jahr depressive Verstimmungen<br />
begünstigen oder verstärken.<br />
Der medizinische Fachausdruck der Winterdepression<br />
ist die sogenannte saisonal abhängige<br />
Depression. Im Gegensatz zu klassischen, unipolaren<br />
Depressionen treten die Symptome nur in<br />
bestimmten Phasen des<br />
Jahres immer wiederkehrend<br />
auf. Meistens im<br />
Herbst oder Winter. Als<br />
Auslöser würden viele<br />
Experten den Botenstoff<br />
Melatonin verantwortlich<br />
machen, erklärt<br />
Christine Rummel-Kluge.<br />
Sie ist geschäftsführende<br />
Oberärztin am Universitätsklinikum in Leipzig. Er<br />
beeinflusst im Körper unseren Schlaf-Wachrhythmus.<br />
Durch die geringe Lichtintensität<br />
während der Wintermonate ist die<br />
Melatonin-Ausschüttung im Körper besonders<br />
hoch. Als Folge fühlen wir uns müde und haben<br />
ein vermehrtes Schlafbedürfnis.<br />
Gibt es eine Sommerdepression?<br />
Eine zum Winter analoge Sommerdepression gibt<br />
es wie in einigen Artikeln im Netz beschrieben<br />
jedoch nicht. Rummel-Kluge betont: „Der Begriff<br />
Sommerdepression ist vor allem ein gemachter<br />
Begriff der Medien“. Häufig wird der Ausdruck mit<br />
der Freizügigkeit im Sommer und dem damit einhergehenden<br />
Selbstzweifel einiger junger Frauen<br />
erwähnt. Der verstärkte Fokus auf die Körperwahrnehmung<br />
kann den Unmut zum eigenen<br />
Körper zwar begünstigen, Depression sei aber<br />
etwas anderes als Unzufriedenheit oder schlechte<br />
Laune, hebt die Oberärztin hervor. „Der Begriff in<br />
einem solch irrtümlich verwendeten Zusammenhang<br />
wird Menschen mit echter Depression nicht<br />
gerecht“, bekräftigt sie.<br />
Bei einer saisonal abhängigen Depression treten<br />
atypische Symptome in Erscheinung. Dazu<br />
zählen unter anderem vermehrter Appetit und<br />
Schlaf, anstatt Appetitverlust und Schlafstörungen.<br />
Letztere begleiten häufig eine unipolare<br />
„Der Begriff Sommerdepression<br />
ist vor<br />
allem ein gemachter<br />
Begriff der Medien.“<br />
Depression , zu deren Kernsymptomen eine niedergeschlagene<br />
Stimmung und Antriebs-, und<br />
Freudlosigkeit gehören. Fachexperten hätten<br />
Menschen untersucht, die im Sommer unter einer<br />
wiederholten depressiven Episode litten,<br />
beschreibt Rummel-Kluge. Der Großteil der<br />
Betroffenen hätte Symptome einer unipolaren<br />
Depression gezeigt. Das Ergebnis bestätigt: Sommermonate<br />
sind selten der Auslöser für depressive<br />
Erkrankungen . In den meisten Fällen verstärken<br />
sie jedoch eine bereits vorhandene.<br />
Einfluss auf Stimmung und Selbstwert<br />
Die Oberärztin rät Betroffenen im Sommer aus<br />
diesem Grund von einer Urlaubsreise ab. Die<br />
sichtbare Lebensfreude des Umfelds rückt die persönliche<br />
konträre Stimmung nur in den Fokus der<br />
eigenen Wahrnehmung.<br />
Schuldgefühle kommen<br />
hinzu. „Einem an Depression<br />
erkrankten<br />
Menschen fällt dann<br />
auf: Ich bin im Urlaub,<br />
die Sonne scheint, es<br />
müsste mir doch eigentlich<br />
gut gehen“,<br />
beschreibt sie.<br />
Für viele Menschen war der Corona-Sommer<br />
und der Umgang mit der plötzlichen Einsamkeit<br />
eine Herausforderung. Für Menschen mit depressiven<br />
Erkrankungen glich er vage formuliert einer<br />
Erleichterung. Die eigene Situation sei jetzt nicht<br />
mehr so stark aufgefallen. Man hätte sich nun in<br />
einem breiten Strom bewegt, wo man vorher immer<br />
nur gegen ihn geschwommen sei, veranschaulicht<br />
Babette Glöckner die Gefühlslage der<br />
Betroffenen. Die Pastorin ist seit 13 Jahren Leiterin<br />
der telefonischen Seelsorge in Hamburg.<br />
Menschen mit Depression zieht die vermehrte<br />
soziale Aktivität in den Sommermonaten häufig<br />
noch stärker in die eigene, sogenannte Tunnelexistenz.<br />
Wichtig ist aber, sich entgegen dem Gefühl<br />
nicht weiter in den eigenen vier Wänden zurückzuziehen.<br />
Der Rückzug verhindert das Erleben positiver<br />
Erfahrungen, die für den Wiederaufbau des Selbstwertgefühls<br />
dringend notwendig sind. Für Mitmenschen<br />
rät Glöckner an dieser Stelle: „Zuhören.<br />
Der Person achtsames und wertschätzendes<br />
Interesse entgegenbringen. Ihr vermitteln ‚Du bist<br />
wichtig in dem Moment‘.“<br />
Summertime Sadness – ein Titel mit zwei Deutungen.<br />
Dabei gilt: Mit einem größeren<br />
öffentlichen Bewusstsein für psychische Erkrankungen<br />
nimmt man Betroffenen ein Stück Last<br />
von ihren Schultern.
4 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Bild: Pexels<br />
Zwischen Furcht und Freude<br />
Mord, Totschlag und andere Verbrechen – dass Krimis und Thriller schon lange die deutschen<br />
Massen begeistern, ist bekannt. Einen besonderen Grusel-Faktor bietet das Genre „True Crime“.<br />
VON LAURA EPPLE<br />
Ein sonniger Montagmorgen am<br />
S-Bahnhof Stuttgart–Feuerbach. Eine<br />
junge Frau rennt die Stufen zum Gleis<br />
hinauf, zieht ihre Kopfhörer auf und<br />
steigt in die Bahn. Sie holt ihr<br />
Smartphone heraus, drückt den Play-Button und<br />
schaut gedankenverloren aus dem Fenster. Häuser<br />
und Bäume ziehen vorbei, während die Stimme in<br />
ihrem Ohr erzählt, wie Tristan Brübach am 26.<br />
März 1998 seinen Tod findet.<br />
True Crime Podcasts begeistern bereits seit einigen<br />
Jahren die deutschen Hörer:innen. Knapp<br />
20 Prozent der 2022 befragten deutschen Podcast-<br />
Hörer:innen geben an, am liebsten Folgen aus<br />
dem Grusel-Genre zu hören. True Crime-Formate<br />
gibt es aber schon länger. Früher begeisterte unter<br />
anderem Eduard Zimmermann mit „Aktenzeichen<br />
XY“ die deutschen Kriminalfans, während<br />
seit 2014, mit dem Start des US-Podcasts „Serial“,<br />
vor allem True Crime Podcasts boomen.<br />
Im November 2018 entscheidet sich auch True<br />
Crime-Fan Alex Apeitos dazu, einen eigenen Podcast<br />
zu produzieren, dem er den passenden Namen<br />
„Wahre Verbrechen“ gibt. „Ich habe zu der<br />
Zeit immer ‚Mordlust‘ und ‚Zeit Verbrechen‘ gehört<br />
und fand die Fälle einfach fesselnd. Irgendwann<br />
habe ich mir gedacht: ‚Komm, das probierst<br />
du jetzt auch mal aus.‘ Und dann habe ich meine<br />
erste Folge hochgeladen“, sagt er. Und das mit Erfolg<br />
– heute misst seine Community auf Instagram<br />
über 13 000 Follower. Seinen ersten Fall widmete<br />
der Berliner dem in Downtown Los Angeles<br />
gelegenen Hotel Cecil, auch bekannt als „Horror-<br />
Hotel“, das seine Popularität vor allem der vielen<br />
Morde, Suizide und mysteriösen Vorkommnisse<br />
verdankt.<br />
„Ich hatte damals American Horrorstory geschaut<br />
und da gab es eine Staffel, die in diesem<br />
Hotel gespielt hat und deswegen hatte ich das sofort<br />
im Kopf“, sagt Alex. „Durch die unverhältnismäßig<br />
vielen Serienverbrechen und Suizide gab es<br />
da eine Verbindung zwischen Krimi und Mysterium,<br />
die mich sehr interessiert hat“, erklärt er.<br />
Warum True Crime bei den Hörer:innen so beliebt<br />
ist liegt für Alex an drei Faktoren: „Zum einen<br />
ist da die Spannung. Es wird eine Geschichte<br />
erzählt und etwas aufgebaut, das heißt man wird<br />
neugierig und will wissen, wie es weiter geht. Ein<br />
anderer Grund ist auch der Schock oder das Unerklärte.<br />
Man fragt sich, was einen Menschen zum<br />
Täter macht und ist entsetzt durch die Tat.“ Ein<br />
weiterer Grund sei die Nähe zum Geschehen. „Zu<br />
wissen, dass es wirklich passiert ist, macht das<br />
Ganze noch realer und gefährlicher und so auch<br />
spannender“, erzählt Alex.<br />
Ein weiteres True Crime-Phänomen ist, dass<br />
sich besonders Frauen von den wahren Verbrechen<br />
angezogen fühlen. „Während es sich bei den<br />
Strafgefangenen zu 95 Prozent um Männer handelt,<br />
sind die Interessierten an Verbrechen in meinen<br />
Vorlesungen vorwiegend Frauen“, erläutert<br />
Jörg Kinzig, Direktor des Instituts für Kriminologie<br />
der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.<br />
Über die Gründe könne man allerdings nur spekulieren.<br />
„Was wir mit Sicherheit wissen, ist dass<br />
Frauen eher Furcht vor Kriminalität verspüren als<br />
Männer und das könnte ein größerer Faktor sein.<br />
Möglich ist auch, dass weibliche Hörer durch den<br />
Konsum von Podcasts die Taten besser verstehen<br />
wollen, vielleicht auch um zu erfahren, welche<br />
Vorkehrungen sie treffen können. Mit Sicherheit<br />
sagen kann man das allerdings nicht“, sagt Kinzig.<br />
Warum uns wahre Verbrechen so faszinieren,<br />
hat viele Gründe: Spannung, Neugier, Entsetzen,<br />
bis hin zur Angstlust. Im Mordfall Tristan Brübach<br />
mag es eine Mischung aus allem sein. Fest steht:<br />
Wir gruseln uns gern – aber aus sicherer Distanz.<br />
Wahre Verbrechen by Alex<br />
Instagram: @wahre_verbrechen_podcast<br />
Spotify: True Crime Podcast:<br />
Wahre Verbrechen<br />
Erscheint jeden 2. Donnerstag
02/ 2022 NOT AFRAID 5<br />
Schraube locker – na und?<br />
„Ich bin in Therapie!“: Bei solch einer Aussage geht einem verschiedenes durch den Kopf.<br />
Therapie sollte aber nichts Unnormales sein. Im Gegenteil. Oft hilft Therapie auch mit den<br />
alltäglichen Problemen besser klarzukommen.<br />
VON SOPHIA OROSZI<br />
„Als ich gemerkt<br />
habe, dass etwas<br />
nicht mit mir<br />
stimmt, suchte<br />
ich mir Hilfe.“<br />
Angst, Herzrasen, Schweißausbruch –<br />
jeder kennt dieses unwohle und beklemmende<br />
Gefühl von Hilflosigkeit.<br />
Manchmal ist es etwas ganz Alltägliches,<br />
wie zum Beispiel Stress in der<br />
Schule oder bei der Arbeit, aber auch Streit in der<br />
Familie oder in der Partnerschaft können derartige<br />
Empfindungen auslösen.<br />
Die 22-Jährige Mediengestalterin<br />
Lina* geht seit mehr<br />
als sieben Jahren zur Therapie.<br />
„Als ich gemerkt habe,<br />
dass irgendetwas nicht mit<br />
mir stimmt und es mir nicht<br />
gut geht, suchte ich mir Hilfe“,<br />
verrät sie im Interview.<br />
Auf eigenen Wunsch machte<br />
sich die damals 15-Jährige zusammen<br />
mit ihrer Mutter auf<br />
den Weg zum Hausarzt. Lina<br />
war es von Anfang an wichtig, offen mit ihrer<br />
Mutter über ihre Gefühle zu sprechen. Nach dem<br />
Gang zum Hausarzt folgte eine Überweisung zum<br />
Psychologen. Auch hier war ihre Mutter als große<br />
Stütze, selbst bei der ersten Sprechstunde, mit dabei.<br />
Durch tiefgründige Gespräche, aber auch<br />
Atemübungen zur Kontrolle der unterdrückten<br />
Gefühle, konnte der Psychologe der heute 22-Jährigen<br />
weiterhelfen. Nach ihrem Empfinden sollte<br />
jedem Menschen die Möglichkeit bereitstehen, eine<br />
derartige Therapie aufsuchen zu können. Doch<br />
das gelingt nicht immer. Ein Antrag entscheidet<br />
darüber, ob die Krankenkasse die Kosten der Psychotherapie<br />
übernimmt.<br />
Im Jahr 2015 waren knapp<br />
2 Millionen Deutsche in ambulanter<br />
Psychotherapie. Also<br />
warum wird diese Angelegenheit<br />
immer noch als Tabuthema<br />
gesehen? „Vor ein paar<br />
Jahren reagierte nicht jeder so<br />
positiv darauf, als ich sagte,<br />
dass ich mich in Psychotherapie<br />
befinde“, erklärte Lina.<br />
„Manche haben so ablehnend<br />
darauf reagiert, dass ich es irgendwann nicht<br />
mehr erzählt habe“. Doch immer mehr junge<br />
Menschen im Alter von 18 bis 25 leiden unter diagnostizierten<br />
psychischen Störungen. Speziell<br />
Student:innen, die unter hohem Leistungsdruck<br />
stehen, sind davon betroffen. „In den letzten zwei<br />
Jahren, bekam ich aus meinem Bekanntenkreis<br />
immer häufiger zu hören, dass sich jemand in<br />
Therapie befindet. Der Austausch hilft oftmals“,<br />
erklärte die Mediengestalterin.<br />
Für Lina war der Schritt zur Therapie rückblickend<br />
die beste Entscheidung, die sie treffen<br />
konnte. Durch ihre Furchtlosigkeit, mit dem Thema<br />
offen umzugehen, ermutigte sie bereits eine<br />
Arbeitskollegin sich Hilfe zu suchen.<br />
Mit den Worten „Mut zum Hilfe suchen!“, beendete<br />
die 22-Jährige das Interview.<br />
* Namen von der Redaktion geändert.<br />
Tipp von Lina:<br />
Wenn es dir nicht gut geht, suche dir Hilfe<br />
bei deinem Arzt. Oft hilft es mit einem vertrauten<br />
Menschen zu sprechen, der dich auf<br />
diesem Weg begleitet. Habe Mut es dir selbst<br />
einzugestehen, wenn du Hilfe brauchst. Du<br />
bist nicht allein!<br />
Bild: Pexels
6 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Mut zur Angst<br />
Spinnen, Prüfungen, Telefonate. Furcht ist nicht gleich Furcht.<br />
Sie kann beschützen und gefährden. Diese Methoden helfen,<br />
das Grauen zu besiegen.<br />
VON JESSICA MORLOCK<br />
Bild: Quelle: pixabay.com/ unsplash.com: Alexandra Gor/ Montage Jessica Morlock<br />
Ein grauer Himmel. Dicke Regentropfen<br />
zerplatzen auf dem Asphalt. Draußen<br />
kriechen sie hervor. Kein Gesicht.<br />
Lang. Schleimig. Stumm. Wie eine rosa<br />
Alien-Invasion besetzen sie Straßen<br />
und Wege – Regenwürmer. Die Kreaturen sind weder<br />
gefährlich noch angriffslustig, aber sie sind eine<br />
irrationale Angst.<br />
Ängste sind etwas sehr Wichtiges. Eine gesunde<br />
Portion Furcht schützt vor Gefahren. Andererseits<br />
unterliegt Angst immer einer Eigendynamik.<br />
Diese kann irrationale, gefährliche Gedankenmuster<br />
hervorrufen. Der Neurologe Holger Flöttmann<br />
beschreibt in seinem Buch „Angst: Ursprung<br />
und Überwindung“ diffuse Angst als die<br />
Furcht vor keiner echten Bedrohung. Jeder weiß –<br />
ein Regenwurm ist nicht lebensgefährlich. Alles<br />
kann Grauen erzeugen. Besonders verbreitet sind<br />
Platzangst, Sozialphobie oder Tierphobien. Das<br />
Angstpotenzial hängt vom Erziehungsstil sowie<br />
biologisch-evolutionären und genetischen Faktoren<br />
ab. Gesundheitliche Beschwerden wie die<br />
Schilddrüsenerkrankung Hashimoto und seelische<br />
Probleme wie Depressionen erhöhen die Anfälligkeit.<br />
Keine Angst vor Hilfe<br />
Laut der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie,<br />
Christa Roth-Sackenheim, sind irrationale<br />
Ängste krankhaft, wenn sie die Lebensqualität<br />
der Betroffenen einschränken. Eine Person mit<br />
Flugangst, die kein Bedürfnis hat zu fliegen, ist<br />
nicht beeinträchtigt. Anders als eine Person, die<br />
sich vor Spritzen fürchtet und deswegen wichtige<br />
Arzttermine vermeidet. Auch wenn das Umfeld<br />
leidet, ist eine Behandlung ratsam. Eine Verhaltenstherapie<br />
ist für die Fachärztin der beste Ansatz:<br />
„Das ist ein psychotherapeutisches Verfahren<br />
und bei allen Arten von Ängsten die Methode,<br />
die am effektivsten und am langanhaltendsten<br />
ist.“ Die Patient:innen erleben mehrmals die Konfrontation.<br />
Sie nehmen wahr, dass von der Angst<br />
kein Risiko ausgeht. Das Muster im Gehirn<br />
schreibt sich um. Bei einer Regenwurm-Phobie<br />
hilft die Beschäftigung mit den Geschöpfen.<br />
Bilder betrachten. Dokumentationen anschauen.<br />
Im Garten einen Wurm beobachten. „Das Mittel<br />
der Wahl ist die Konfrontation mit der Situation.<br />
Die Schwelle der Angst sinkt, je gewöhnlicher etwas<br />
für einen wird“, betont die Expertin. Dabei<br />
muss klar von posttraumatischen Ängsten unterschieden<br />
werden. In diesen Fällen ist es wichtig,<br />
vor der Konfrontation ausreichende Stabilität zu<br />
erreichen, um keine Retraumatisierung hervorzurufen.<br />
Praktiken gegen das Grauen<br />
Senay Isik hypnotisiert ihre Klient:innen, um die<br />
Angst zu behandeln. Sie versetzt sie in eine körperliche<br />
und geistige Entspannung. Bis in die<br />
Tiefenhypnose. Eine ihrer Methoden ist die Rückführung<br />
zum Ereignis der Furcht. Oft verstecken<br />
sich diese in der Kindheit. Negative Erlebnisse verknüpfen<br />
sich unterbewusst mit ungefährlichen<br />
Dingen.<br />
Die Hypnose bewirkt einen neuen Blickwinkel auf<br />
den Auslöser. „Ich schicke die Person zurück und<br />
lasse sie ihr inneres Kind trösten. Dem Kind wird<br />
erklärt, dass diese Gefühle diese Erlebnisse zur<br />
Vergangenheit gehören und dass es jetzt keine<br />
Angst mehr davor haben muss“, berichtet die<br />
Hypnotiseurin.<br />
Sandra Büchele, Heilpraktikerin für Psychotherapie,<br />
nutzt Techniken der Systemik. Im Gespräch<br />
analysiert sie die Funktion des Umfelds auf die<br />
Angst. Traut sich eine Person nicht mehr allein<br />
raus, weil sie unterbewusst die Fürsorge ihrer<br />
Familie behalten will? Neue Impulse verändern<br />
das System. Ein gesünderes Gleichgewicht<br />
zwischen Individuum und Umfeld entsteht.<br />
Für die Selbsthilfe eignen sich nach der Fachärztin<br />
Christa Roth-Sackenheim Ausdauersport, progressive<br />
Muskelentspannung, eine proteinreiche<br />
abwechslungsreiche Ernährung, gute soziale<br />
Kontakte und Austausch in einer Selbsthilfegruppe.<br />
Trotz der verschiedenen Methodiken sind sich<br />
alle Expert:innen einig: Jede Angst ist heilbar.<br />
Hilfsangebote:<br />
Therapieplatzvermittlung:<br />
Therapieplatzvermittlung:<br />
117116<br />
117116<br />
Vermittlungshilfe<br />
Vermittlungshilfe<br />
Selbsthilfegruppen:<br />
Selbsthilfegruppen:<br />
LAG<br />
LAG<br />
KISS<br />
KISS<br />
Tel.<br />
Tel.<br />
0711<br />
0711<br />
45149290<br />
45149290<br />
lag-kiss@selbsthilfe-bw.de<br />
lag-kiss@selbsthilfe-bw.de
02/ 2022 NOT AFRAID 7<br />
(Alb)traum: Bühne<br />
Bild: Fynn Freund<br />
Eine eigene Tour, ausverkaufte Konzerte und Fans, die den Namen rufen – wer möchte das nicht?<br />
Aber was, wenn dieser scheinbare Traum mit Schlaflosigkeit und Angst einhergeht? Musiker Jakob<br />
Bruckner erzählt von seinen Erfahrungen.<br />
VON ANN-KATHRIN SKIBA<br />
Die Pandemie war für viele Künstler:innen herausfordernd.<br />
Was hat sie denn für euch bedeutet?<br />
Wir hatten gerade unsere zweite Single aus dem<br />
neuen Album veröffentlicht, als der erste Lockdown<br />
kam. Wir hätten unsere erste Festival-Saison<br />
und eine eigene Tour gespielt.<br />
Ehrlich gesagt war ich aber erleichtert, als die verschoben<br />
wurde. Vor dieser Tour war ich unfassbar<br />
unsicher und dachte wir wären zu schlecht zum<br />
Auftreten. Im Nachhinein weiß ich, dass mir die<br />
Auftritte wahnsinnig viel gegeben und von der<br />
Unsicherheit genommen hätten.<br />
Wie äußert sich diese Unsicherheit bei dir?<br />
Ich bin sehr gut darin, mich in Gedankenspielen<br />
zu verlieren. Mein Kopf wandert und malt sich<br />
Worst-Case-Szenarien aus. Beispielsweise, dass<br />
niemand zum Konzert kommt. Selbst wenn da<br />
Sold Out steht, denke ich es kommt niemand,<br />
weil vielleicht noch eine geilere Band in der Stadt<br />
spielt.<br />
Besonders krass ist das, wenn ich lange nicht<br />
mehr vor Menschen gespielt habe. Dann bin ich<br />
saunervös, von Schlaflosigkeit geplagt und bekomme<br />
Herzrasen. Gerade während Corona war<br />
das schlimm – den Festivalsommer ‘21 mussten<br />
wir deshalb komplett absagen.<br />
Gibt es Faktoren, die diese Ängste verstärken?<br />
Veränderungen im Team sind schwer für mich.<br />
Oder auch wenn bei einem Gig andere Bands<br />
spielen, die gerade richtig durchstarten und die<br />
man selbst feiert – das schüchtert ein.<br />
Ich glaube so geht es aber vielen Künstlern. Dieses<br />
Extrovertierte, was man sieht, ist oft eine Überspielung<br />
von Unsicherheit.<br />
Wie schaffst du es trotzdem auf die Bühne? Hast du<br />
Strategien, die dir helfen?<br />
Atmen! Ich zieh meine Lunge so voll es geht, drücke<br />
alle Luft raus und wenn nichts mehr geht,<br />
noch ein bisschen mehr. Das mach ich 10 bis 15<br />
Mal.<br />
Während Corona habe ich auch eine Therapie angefangen.<br />
Dort habe ich gelernt zu erkennen,<br />
wenn mein Kopf sich verselbstständigt und in eine<br />
Negativspirale gerät. Wenn ich da früh reingehe,<br />
werden die Ängste nicht so groß.<br />
Gibt es Möglichkeiten, von außen zu unterstützen?<br />
Ich kann mich an Berlin auf der letzten Tour erinnern,<br />
wo vor dem Konzert schon laut „Bruckner“-Chöre<br />
angestimmt wurden, das gibt auf jeden<br />
Fall einen kranken Push!<br />
Bild: Fynn Freund<br />
Habt ihr Rituale, die ihr vor einem Konzert durchgeht?<br />
Bühnenoutfit anziehen, Zähneputzen, Stretchen.<br />
Und spätestens eine halbe Stunde vor dem Konzert<br />
muss backstage laut Gute-Laune-Musik laufen.<br />
Dazu tanze ich dann die Nervosität so gut es geht<br />
raus, so lässt sie sich in etwas Positives kanalisieren.<br />
Kurz vor dem Gig umarmen wir uns noch mal<br />
alle und dann geht’s raus!<br />
Kannst du deinen Unsicherheiten auch was Positives<br />
abgewinnen?<br />
Meine Unsicherheiten haben mich zum Musikmachen<br />
getrieben und mich meine Leidenschaft<br />
finden lassen. Als ich gemerkt habe, dass ich Zuspruch<br />
bekomme, wenn ich öffentlich singe oder<br />
spiele, hat das viel mit mir gemacht und mein<br />
Selbstbewusstsein verändert. Ich konnte mich<br />
selbst plötzlich mehr lieben kann und Musik wurde<br />
zu einer zentralen Sache in meinem Leben.<br />
Hast du Tipps für Leute mit ähnlichen Problemen?<br />
Mir helfen Meditations-Apps und Sport. Bei Schlaflosigkeit<br />
hilft mir außerdem Tagebuchschreiben!<br />
Wenn ich mich im Bett rumwälze, stehe ich auf,<br />
setze mich an den Schreibtisch und schreibe auf,<br />
was mir durch den Kopf geht. Und natürlich –<br />
Handy weglegen!<br />
Was steht bei Bruckner in kommender Zeit an?<br />
Wir sind gerade viel im Studio, planen und drehen<br />
Musikvideos und veröffentlichen bald einen<br />
neuen Song. Dann geht es an den Festivalsommer<br />
und unsere coronabedingt verschobene Tour.<br />
Am 20. April 2023 sind wir mit der Tour auch wieder<br />
im Wizemann in Stuttgart!
8 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Pop the Bubble<br />
Klick auf Insta: Veganer Bananenkuchen, Fridays for Future,<br />
Handlettering. Alles außerhalb des gewohnten Medienverhaltens<br />
wird weggefiltert. Dieser Artikel zeigt, wie die eigene Filterblase<br />
funktioniert und wie man sie platzen lassen kann.<br />
VON JENNY HUBER<br />
Bild: Unsplash/ Sandra Seitamaa<br />
Mut sich mit differenzierten Meinungen<br />
auseinanderzusetzen –<br />
das ist gar nicht so einfach. In Anbetracht,<br />
dass Algorithmen jeder<br />
Nutzerin und jedem Nutzer nur<br />
bestimmte Informationen in die Timeline spielen.<br />
So besitzt jede:r einen eigenen Strauß aus Informationen,<br />
die einen Diskurs erschweren.<br />
Mittlerweile nutzen alleine in Deutschland<br />
72,6 Millionen Personen Social Media. Google hat<br />
mit über 80 Prozent Marktanteil im Suchmaschinen-Markt<br />
eine monopole Stellung. Kostenlos ist<br />
beides – wir bezahlen mit unseren Daten. So landen<br />
Meldungen, Beiträge oder Nachrichten auf<br />
unserer Timeline, die zu uns und unserem Medienverhalten<br />
passen sollen. Konträre Meinungen<br />
tauchen hingegen sehr selten auf. Wissenschaftler:innen<br />
nennen dieses Phänomen Filterbubbles.<br />
Der Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler<br />
Wolfgang Schweiger definiert die Filterblase<br />
in seinem Buch<br />
„Der (des)informierte<br />
„Lieber aktiv selektieren,<br />
als passiv konsumieren.<br />
So kann man<br />
dem Sog einer Filterblase<br />
entkommen.“<br />
Bürger im Netz” als<br />
„maßgeschneidertes<br />
Angebot an Informationen”.<br />
Mit jeder Interaktion,<br />
sprich jedem<br />
spontanen Link, Kommentar<br />
und Teilen,<br />
wird das Profil der Filterblase<br />
langfristig<br />
nachgebessert.<br />
Dass Filterblasen<br />
erst mit Beginn vom<br />
Web 4.0 entstanden sind, entkräftet Jens Vogelgesang<br />
von der Universität Hohenheim. Dort ist er<br />
Professor und Fachgebietsleiter für Kommunikationswissenschaft,<br />
insbesondere für Medien- und<br />
Nutzungsforschung. „Ähnliches hat sich schon<br />
immer zu Ähnlichem gesellt“, verdeutlicht er und<br />
spielt dabei auf das Prinzip der Homophilie an.<br />
Dieses besagt, dass Menschen sich gerne in Gruppen<br />
aufhalten, deren Mitglieder dieselben Werte,<br />
Ziele und Sympathien haben. Während sich die<br />
einen Gruppen nicht an Hundebildern sattsehen<br />
können, interessieren sich andere vor allem für<br />
Motorsport oder Interior Design.<br />
Doch durch Filterblasen entsteht ein einseitiges<br />
Bild der Welt: Das soziale Abbild, das wir<br />
durch soziale Medien und Suchmaschinen vermittelt<br />
bekommen, zeigt oft nicht das vollständige<br />
Bild vom aktuellen Diskurs und ist meist sogar<br />
von Meinungen anderer bereinigt. Die eigene<br />
Wahrnehmung wird immer wieder bekräftigt und<br />
uns wird bestätigt, dass die persönliche Meinung<br />
richtig ist und alle anderen auch so denken. Auch<br />
wenn Fakten im Allgemeinen nicht stimmen und<br />
nur die Meinung einer Minderheit reproduziert<br />
wird. Filterblasen können weitreichende Folgen<br />
haben, wenn Nutzer:innen dabei in ein sogenanntes<br />
Rabbit Hole versinken. Wie bei Alice im<br />
Wunderland werden sie immer weiter in einen<br />
Sog aus Informationen gezogen. Existiert die Informationsquelle<br />
abseits der klassischen, etablierten<br />
Medien und verfolgt gewisse Ideologien, kann<br />
daraus eine verzerrte Realitätswahrnehmung resultieren.<br />
Die individuelle Einschätzung zwischen<br />
wahr und falsch wird erschwert, sodass alternative<br />
Fakten als absolute Realität wahrgenommen<br />
werden. Zur Vermeidung von starren Filterbubbles<br />
sollte die persönliche Meinung also stetig<br />
hinterfragt werden, um nicht in einem festgefahrenen<br />
Weltbild zu verharren.<br />
Faire Diskussionen<br />
können nur in einer<br />
funktionierenden Demokratie<br />
stattfinden.<br />
„Ohne Gegenrede<br />
funktioniert Demokratie<br />
nicht”, erklärt Jens<br />
Vogelgesang. Es sei<br />
wichtig, sich über verschiedene<br />
Standpunkte<br />
auszutauschen, solange<br />
die Diskussion auf demokratischem<br />
Boden stattfinde. Er appelliert,<br />
„durch Gegenrede nicht entnervt zu werden”,<br />
sondern Mut zu fassen und sich mit differenzierten<br />
Meinungen auseinanderzusetzen.<br />
Wie Nutzer:innen aus ihrer Filterblase austreten<br />
können, erläutert Vogelgesang weiter: „Empfehlenswert<br />
ist es, gezielt verschiedene voneinander<br />
unabhängige Medienanbieter wie Die Zeit,<br />
Der Spiegel oder Welt zu nutzen und die unterschiedlichen<br />
Kommentarlinien miteinander zu<br />
vergleichen. So verfolgt beispielsweise Welt eine<br />
liberal-konservative Ansicht. Lieber aktiv selektieren,<br />
als passiv konsumieren. So kann man dem<br />
Sog einer Filterblase entkommen. Wichtig dabei<br />
ist, laut Jens Vogelgesang, die Neugier, sich „Zeit<br />
für differenzierte Meinungsbildung zu nehmen,<br />
vielleicht lernt man ja was Neues.“
02/ 2022 NOT AFRAID 9<br />
Bild: Unsplash/ Karsten Winegeart<br />
Kein Like<br />
für Tierleid<br />
Verkleidete Hunde. Katzen, die sich vor Gurken erschrecken. Urlaubsfotos mit Wildtieren. Social<br />
Media ist voll von Beiträgen mit tierischen Stars. Nur wenige wissen, dass hinter solchen Inhalten<br />
oft verschiedene Formen von Tierleid stecken.<br />
VON JOSEPHINE HENNEN<br />
Die getigerte Katze liegt schlafend auf<br />
dem Sofa. Eine Hand erscheint im<br />
Bild. Sie legt heimlich eine Gurke neben<br />
das ruhende Tier. Die Katze öffnet<br />
müde ein Auge, sieht das schlangenförmige<br />
Gemüse und springt panisch vom Sofa.<br />
Im Video ertönt lautes Gelächter. Ist das noch<br />
Spaß oder schon Tierleid?<br />
„Hier ist einfach Unwissenheit im Spiel. Ich<br />
mache mich über etwas lustig, was überhaupt<br />
nicht lustig sein sollte“, sagt Wiebke Plasse von<br />
der Welttierschutzgesellschaft e.V. Sie ist Leiterin<br />
der Kampagne „Stoppt Tierleid in den sozialen<br />
Netzwerken“. Es gibt verschiedene Formen von<br />
Tierquälerei. Die höchste Stufe ist das eindeutige<br />
Tierleid: Die Darstellung von grundlosem physischem<br />
oder psychischem Leiden von Tieren. Diese<br />
Inhalte verstoßen gegen das deutsche Tierschutzgesetz.<br />
Dazu zählen auch der unnötige<br />
Kontakt zu Wildtieren und die unkritische Darstellung<br />
von Qualzuchten.<br />
Eine Stufe darunter steht der Tierleid-Verdacht:<br />
Inhalte, die wie eindeutiges Tierleid wirken,<br />
aber ohne weiteren Kontext nicht klar einzuordnen<br />
sind. Ein Beispiel: Ein Wildtier wird mit<br />
der Flasche gefüttert und nimmt dann ein<br />
Schaumbad. „Man kann zwar erkennen, dass dieses<br />
Tier aufgepäppelt werden muss, aber es wird in<br />
eine vermenschlichende Rolle gebracht. Das ist<br />
schon grenzüberschreitend“, erklärt Plasse.<br />
Die unterste Stufe ist der respektlose Umgang<br />
mit Tieren. „Da steckt erstmal kein Tierleid dahinter.<br />
Das Tier hat keine Schmerzen, keinen nachhaltigen<br />
körperlichen Schaden“, sagt Plasse.<br />
„Aber es ist dem Tierschutz nicht förderlich, Tiere<br />
in einer nicht tiergerechten Form darzustellen.“<br />
Ab wann es sich um eine respektlose Darstellung<br />
handelt, liegt im Auge des Betrachters. Fest steht,<br />
es ist die Vorstufe zu Tierleid.<br />
Was harmlos anfängt, kann schnell eskalieren.<br />
Der Hashtag #AnimalCrush wurde erstmals<br />
2019 verwendet. Ein Mädchen filmte sich dabei,<br />
wie sie einen Käfer zertrat. Schnell entwickelte<br />
sich die Challenge weiter. „Es gab Tausend Schritte<br />
dazwischen, aber es mündete in dem Zertreten<br />
von Welpen, was einfach unfassbar war“, erinnert<br />
sich die Expertin. „Es war extrem verstörend, welche<br />
Richtung das annimmt. Und es hört dann natürlich<br />
nicht auf. Je größer eine Challenge wird,<br />
desto mehr Menschen machen mit und desto weniger<br />
beschäftigen sich damit, was da eigentlich<br />
gerade passiert.“<br />
Auch Videos von Tierrettungen sind beliebt.<br />
Hinter diesen Beiträgen steckt jedoch oft ein perfides<br />
Geschäftsmodell. Die Rettungen sind inszeniert.<br />
Tiere werden absichtlich in Gefahr gebracht<br />
und die Ersteller:innen verdienen durch bezahlte<br />
Werbung in den Videos viel Geld. „Es ist eine ganz<br />
miese Nummer, auf Kosten der Tiere um Klicks zu<br />
kämpfen“, empört sich Lea Schmitz, Pressesprecherin<br />
des Deutschen Tierschutzbund. Die Enttarnung<br />
dieser Fake Rescues ist langwierig. „Die Problematik<br />
ist, dass man nie an die Leute herankommt,<br />
die das Video produziert haben. Oft sitzen<br />
sie im Ausland“, klagt sie. „Es gibt keinerlei gesetzliche<br />
Grundlage, die die Darstellung von Tierleid<br />
in sozialen Netzwerken regelt“, kritisiert<br />
Wiebke Plasse. Dabei stehe das Thema auf einer<br />
Ebene mit Gewalt gegen Menschen oder Kinderpornografie,<br />
erklärt sie. Zahlreiche Studien haben<br />
ergeben, dass Tierquälerei die Vorstufe zu Gewalt<br />
an Menschen sein kann.<br />
„Mit der Gewalt gegen das Tier wird oft angefangen.<br />
Das kann sich schnell steigern, wenn die<br />
Befriedigung nicht mehr ausreicht“, ergänzt sie.<br />
Wenn Nutzer:innen regelmäßig mit Tierleid konfrontiert<br />
werden, tritt ein Gewöhnungseffekt auf.<br />
Die Schwelle zur Gewaltbereitschaft sinkt deutlich.<br />
„Der Blick für das Tier geht verloren. Es wird<br />
als Unterhaltungsobjekt wahrgenommen, was<br />
man nur für eigene Zwecke nutzt“, sagt Lea<br />
Schmitz.<br />
Wie können Nutzer:innen selbst aktiv gegen<br />
Tierleid in Social Media vorgehen? „Nicht alles<br />
ungefiltert gut finden. Sondern als User mit kritischem<br />
Blick fragen, was steckt vielleicht dahinter“,<br />
empfiehlt die Expertin. Fragwürdige Inhalte<br />
auf keinen Fall liken oder teilen. Kommentare<br />
sollten bedacht erstellt werden. „Es ist ein zweischneidiges<br />
Schwert“, räumt Schmitz ein. Kritische<br />
Kommentare und Dislikes können vom Algorithmus<br />
der Netzwerke als Interesse bewertet<br />
werden. Andererseits könnten sie andere Nutzer:innen<br />
auf Missstände aufmerksam machen.<br />
Der wichtigste Schritt: Beiträge melden. Von<br />
selbst werden die Netzwerke nicht aktiv.
10 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Angst als Alltag<br />
Neben Emotionen wie Freude, Überraschung und Wut gehört<br />
Angst zu den wesentlichen, menschlichen Gefühlen. Aber<br />
was, wenn sie sich verselbstständigt? Zwei Betroffene berichten<br />
von ihrer Angststörung und welchen Umgang sie sich damit<br />
wünschen.<br />
VON SIMONA MEIER<br />
Bild: Pexels/Darya Sannikova<br />
Svea* ist mit dem Bus unterwegs zur<br />
Schule, als ihr Herz urplötzlich zu hämmern<br />
beginnt. Hitze steigt in ihr auf,<br />
die Luft scheint knapp zu werden. Die<br />
Umgebung wirkt auf einmal unwirklich.<br />
Sie fürchtet das Bewusstsein zu verlieren. Bei<br />
ihrer ersten Panikattacke ist sie 17 Jahre alt. „Es ist<br />
seltsam, sich zurückzuerinnern. Ich hatte ja keine<br />
Ahnung, dass das der Anfang von etwas ist“, sagt<br />
sie zehn Jahre später. Die Attacken treten in den<br />
folgenden Wochen häufiger auf. Am liebsten würde<br />
sie nicht mehr aus dem Haus gehen. Ihr Sozialleben<br />
leidet massiv. Die Ärztin rät ihr zu einer Psychotherapie.<br />
Sie muss einige Wochen auf den ersten<br />
Termin warten. In der Zwischenzeit verliert sie<br />
an Appetit und entwickelt Schlafprobleme. Mit<br />
Ach und Krach schleppt sie sich in die Schule.<br />
Bald steht sie vor der Entscheidung in eine psychosomatische<br />
Klinik zu gehen oder ihr Abitur zu<br />
schreiben. Sie nimmt Psychopharmaka und<br />
zwingt sich die Prüfungen abzulegen. Rückblickend<br />
sagt sie: „Unsere Leistungsgesellschaft vermittelt<br />
schon jungen Menschen, dass sie unter allen<br />
Umständen funktionieren müssen. Das ist<br />
völlig absurd.“ Es dauert Jahre, bis sie nicht mehr<br />
ständig mit der nächsten Attacke rechnet.<br />
Reaktionen auf Angst werden durch einen Sinnesreiz<br />
ausgelöst, der im Gehirn komplexe Abläufe<br />
in Gang setzt, weiß Psychiater und Angstexperte<br />
Borwin Bandelow. Der Körper schlägt dann<br />
Alarm und will sagen: Bereit für Flucht oder Angriff.<br />
Von einer Angststörung spricht man, wenn<br />
die Reaktion ohne tatsächliche Gefahr auftritt.<br />
Die Erkrankung wird in Panikstörungen, Phobien<br />
und generalisierte Angststörungen unterteilt.<br />
Genetische, neurobiologische und psychosoziale<br />
Faktoren begünstigen die Entstehung, erläutert<br />
Herald Hopf, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie<br />
in der Tagesklinik Waldfriede in Berlin-<br />
Steglitz. Bis zu 25 Prozent der Menschen erkranken<br />
im Laufe des Lebens an einer Angststörung.<br />
Damit sind sie die häufigsten psychischen Erkrankungen.<br />
„Meine Wahrnehmung ist an manchen Tagen<br />
ganz komisch. Es ist als würde ich von außen auf<br />
mich blicken und alles hinterfragen: Wie ich gehe,<br />
wie ich spreche und sogar wie ich atme“, sagt<br />
Luise*. Sie hat als Kind eine soziale Phobie entwickelt.<br />
Ihre Gedanken kreisen darum, unangenehm<br />
aufzufallen und von anderen Menschen<br />
negativ bewertet zu werden. Soziale Umgebungen<br />
führen bei der 24-Jährigen daher zu extremer Nervosität.<br />
In der Uni, bei der Arbeit und privat spielt<br />
sie oft eine Rolle und versucht sich nichts anmerken<br />
zu lassen. Während Unterhaltungen wird sie<br />
aber häufig rot, was ihr wahnsinnig unangenehm<br />
ist. Der Umgang mit extrem extrovertierten Menschen<br />
fällt ihr besonders schwer. Manchmal sucht<br />
sie Auswege oder hält sich eine Zeit auf der Toilette<br />
auf, um der Anspannung kurz zu entfliehen. Es<br />
gibt Tage, an denen sie Verabredungen absagt<br />
oder sich bei der Arbeit krankmeldet. Luise wird<br />
seit ihrer Kindheit psychologisch und derzeit<br />
auch medikamentös begleitet.<br />
Eine Angsterkrankung raubt den Betroffenen<br />
viel Kraft, betont Bandelow. In alltäglichen Situationen<br />
befindet sich der Körper immer wieder im<br />
Ausnahmezustand. Häufig kommt es zur „Angst<br />
vor der Angst“ und zu Vermeidungsverhalten. Auf<br />
die Frage, was ihren Leidensdruck verringern würde,<br />
antworten Svea und Luise ganz ähnlich. Beide<br />
wünschen sich mehr Verständnis und einen offeneren<br />
Umgang mit Angststörungen. Die Krankheit<br />
ständig zu überspielen und Ausreden erfinden<br />
zu müssen sei eine zusätzliche Belastung. Gesamtgesellschaftlich<br />
würden Themen rund um<br />
psychische Gesundheit zwar oft behandelt, im alltäglichen<br />
Leben zumeist aber weiter unter den<br />
Teppich gekehrt. „Ich würde gerne bei der Arbeit<br />
anrufen und mich unter Angabe des tatsächlichen<br />
Grundes krankmelden können“, sagt Luise. Svea<br />
fehlt mittlerweile das Verständnis für Menschen<br />
ohne Verständnis: „Jeder weiß doch, wie sich<br />
Angst anfühlt. Man muss also nur verstehen, dass<br />
sie außer Kontrolle geraten kann und es eine<br />
Krankheit ist.“<br />
*Namen geändert
02/ 2022 NOT AFRAID 11<br />
Wege aus dem<br />
Grübelkarussell<br />
Nagende Grübeleien dürften den meisten<br />
Menschen bekannt sein. Das Unwohlsein, wenn<br />
sich Gedanken und Zweifel nicht bändigen<br />
lassen. Doch es gibt wissenschaftlich belegte<br />
Techniken, die dabei helfen sollen, mit den<br />
eigenen Sorgen besser umgehen zu können.<br />
Schlüsselwort: Meditation.<br />
VON EMILY MOOSMANN<br />
Bild: Unsplash<br />
Es ist dunkel, der Rollladen ist heruntergelassen.<br />
Ein paar Lichtstrahlen fallen<br />
von der Straßenlaterne ins Zimmer.<br />
Gedanken und Gefühle wollen nicht<br />
gehen. Sie setzen sich im Kopf fest und<br />
machen das Einschlafen unglaublich schwer.<br />
Diese Plagegeister können einem das Entspannen<br />
und den erholsamen Schlaf ziemlich vermiesen.<br />
Lina Grenzicher ist ausgebildete Yogalehrerin.<br />
Die 25-Jährige lebt und praktiziert in Heidelberg.<br />
Vor einem halben Jahr hat sie sich dazu entschlossen,<br />
eine vierwöchige Ausbildung als Yoga- und<br />
Achtsamkeitstrainerin in Thailand zu absolvieren.<br />
Während dieser Zeit hat sie Praktiken aus<br />
dem Yoga sowie Meditations- und Achtsamkeitsübungen<br />
erlernt.<br />
„Yoga ist nicht nur das Praktizieren von<br />
Asanas, sogenannten Stellungen wie der Kobra,<br />
sondern eine aus Indien stammende philosophische<br />
Lehre“, stellt die 25-Jährige im Interview<br />
klar.<br />
Die Lehre umfasst körperliche und geistige<br />
Übungen sowie Verhaltenskodexe. Durch den<br />
überlieferten Lebensstil sollen Körper, Geist und<br />
Seele ins Gleichgewicht gebracht werden. Dieser<br />
Zustand wird im Yoga als Einheit oder Harmonie<br />
bezeichnet. Achtsamkeit, Meditation und Yoga<br />
seien nach Lina Grenzicher in Verbindung zu sehen.<br />
Die Yogatrainerin erklärt, dass Achtsamkeit<br />
vielmehr eine Lebenseinstellung sei, die Auswirkungen<br />
auf jegliches Tun und Handeln hätte. In<br />
der Meditation gehe es darum sich und den eigenen<br />
Geist in Stille achtsam wahrzunehmen. Die<br />
Meditierenden würden lernen Stille auszuhalten<br />
und Gefühle und Gedanken nicht zu bewerten.<br />
Ziel des Praktizierens ist die „Erleuchtung“ zu erlangen.<br />
Jene Bewusstseinsform, in der der Mensch<br />
sich mit dem Moment verbindet und darin aufgeht.<br />
Lina Grenzicher praktiziert seit ihrer Ausbildung<br />
täglich. Sie trainiert, ihren Geist mit dem<br />
Körper zu verbinden und sich in Harmonie zu versetzen.<br />
Hierzu nutzt sie verschiedene Techniken,<br />
wie beispielsweise das Akta Yoga. Bei dieser Technik<br />
werden Laute benutzt, wie das „OM, der sogenannte<br />
Sound of the Universe“, um sich tiefer auf<br />
die Meditation einlassen zu können. Das Vibrieren<br />
und Brummen in Brust, Bauch und Kehlkopf<br />
habe nach den Erfahrungen von Lina Grenzicher<br />
eine beruhigende und befreiende Wirkung.<br />
Für die gelernte Yogalehrerin ist die Schaffung<br />
von täglichen Routinen besonders wichtig. Feste<br />
Schlaf- oder Essenszeiten würden dem Geist helfen<br />
zur Ruhe zu kommen und Verlässlichkeit und<br />
Struktur in den hektischen Alltag zu bringen.<br />
Meditation und Achtsamkeit sind nicht nur<br />
im Trend. Die Wirksamkeit wurde wissenschaftlich<br />
belegt wie beispielsweise in einer Metaanalyse<br />
2021. Bei dieser Analyse wurden mehrere unabhängige<br />
Studien kombiniert, um Schwankungen<br />
ausgleichen zu können.<br />
Die Analyse bestätigt, dass sich durch häufiges<br />
Meditieren, auf lange Sicht Hirnstrukturen- und<br />
Funktionen verändern können. Veränderungen<br />
wirken sich unter anderem auf Aufmerksamkeit,<br />
Leistungsfähigkeit, Gedächtnis sowie Stimmung<br />
aus.<br />
Lina Grenzicher weist ausdrücklich darauf<br />
hin, dass Meditation kein Allheilmittel sei. Eine<br />
Psychotherapie oder Medikamente könnten hierdurch<br />
nicht zwangsweise ersetzt werden. Meditation<br />
könne jedoch präventiv angewendet werden.<br />
Mit diesen und vielen weiteren Techniken<br />
lassen sich nach regelmäßiger Übung Fortschritte<br />
erzielen. Stress im Alltag kann reduziert und<br />
gemildert werden. Das Gedankenkarussell kann<br />
durch Akzeptanz über den eigenen Zustand und<br />
durch die erlernten Achtsamkeitsübungen angenehmer<br />
werden. Denn Gedanken und Zweifel<br />
sind nach Lina Grenzicher kontrollierbar.<br />
5 Meditations- und<br />
Achtsamkeitstipps<br />
1 Legen Sie Ihren ganzen Fokus auf das Zähneputzen.<br />
2 Frühstücken Sie ohne Ablenkung und<br />
konzentrieren Sie sich auf Ihr Essen.<br />
3 Stellen Sie Ihre Beine beim Sitzen in der<br />
Bahn im rechten Winkel auf den Boden.<br />
Legen Sie Ihre Handflächen auf die Knie.<br />
Spüren Sie die Sitzfläche und den Boden<br />
unter sich.<br />
4 Praktizieren Sie in der Mittagspause die<br />
Wechselatmung. Hierzu legen Sie Zeigeund<br />
Mittelfinger an die Stirn und Daumen<br />
und Ringfinger an die Nasenflügel. Beim<br />
Einatmen halten Sie jeweils eine Nasenöffnung<br />
zu. Atmen Sie auf vier ein. Schließen<br />
Sie beide Öffnungen und halten Sie den<br />
Atem auf vier an. Anschließend atmen Sie<br />
auf vier mit der anderen Seite aus. Wiederholen<br />
Sie diesen Vorgang für circa zwei<br />
Minuten.<br />
5 Notieren Sie sich vor dem Einschlafen fünf<br />
Dinge, für die Sie dankbar sind.
12 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Nicht mehr alle<br />
Tassen im Schrank<br />
Ein Selbstversuch: Sich freiwillig der eigenen Angst aussetzen? Nein, danke.<br />
In meiner Komfortzone geht’s mir recht gut. Oder etwa nicht? Um zu lernen mit<br />
Zurückweisung umzugehen, braucht es Konfrontationen.<br />
VON JENNIFER MAYER<br />
Das Bügeleisen zischt laut. Der aufsteigende<br />
Wasserdampf lässt meine Brille<br />
beschlagen. Ich drehe den Kopf<br />
weg, mein Blick fällt in die Küche.<br />
Dort räumt mein Mitbewohner sein<br />
Geschirr ein. Eine Tasse, zwei, drei... Ich wende<br />
mich wieder dem Esstisch zu, nehme meine Bluse<br />
von der Stuhllehne und streiche sie glatt. Innerlich<br />
fluche ich vor mir her – gestern erst habe ich<br />
die Spülmaschine ausgeräumt. Leider bleibt diese<br />
Aufgabe viel zu oft an meiner Mitbewohnerin und<br />
mir hängen. Meine Mitbewohner sorgen lieber<br />
dafür, dass wir die Maschine beinahe täglich anstellen<br />
müssen.<br />
1. Stufe<br />
Unbeirrt holt er weiteres Geschirr aus seinem<br />
Zimmer und sortiert die Müslischalen vorne ein.<br />
Ich starte auf Stufe 1. Nervosität. „Kannst du die<br />
bitte von hinten einräumen.“ Mein Herzschlag<br />
beschleunigt sich und Wärme durchflutet mich.<br />
„Ich räume die immer vorne ein, das geht leichter“,<br />
erwidert mein Mitbewohner stirnrunzelnd.<br />
Die Angst, die mich gepackt hat, ist von außen<br />
nicht zu erkennen. Meine nächsten Worte stecken<br />
zwischen meinen sich überschlagenden Gedanken<br />
fest. Irrational. Nervig. Übertrieben. Die<br />
Angst richtet meinen Fokus auf den ‚Worst-Case-<br />
Ausgang‘ dieser Unterhaltung: Wir streiten uns<br />
und das Zusammenleben wird ab sofort unerträglich.<br />
Die Vorstellung allein reicht aus, um mein<br />
Unwohlsein zu verstärken. Kurz überlege ich das<br />
Gespräch für beendet zu erklären und die Flucht<br />
in mein Zimmer zu ergreifen. Die Angst, dass meine<br />
Bitte abgelehnt wird, ist laut.<br />
2. Stufe<br />
Aber ich traue mich trotzdem eine Stufe weiter.<br />
Erleichterung. „Das weiß ich. So werden die<br />
Schalen aber nicht richtig sauber und man muss<br />
immer komplett aufziehen zum Reinstellen“,<br />
sprudelt es hervor. Aus eigenem Antrieb hätte ich<br />
mich vermutlich nicht dazu durchgerungen, offener<br />
zu kommunizieren. Mich gezwungenermaßen<br />
der Angst zu stellen, war der Anstoß, den ich<br />
gebraucht habe. „Da ist jemand wohl zu faul die<br />
Spülmaschine ganz aufzumachen“, kontert mein<br />
Mitbewohner. Seine Aussage war lustig gemeint.<br />
Ich fühle mich allerdings vor den Kopf gestoßen.<br />
Meine Erleichterung das Problem angesprochen<br />
zu haben, ist verflogen. Zurück bleibt das Gefühl<br />
nicht ernst genommen zu werden.<br />
3. Stufe<br />
Dritte und letzte Stufe. Wut. „Tatsächlich<br />
nicht. Ich wasche mein Geschirr häufig ab,<br />
schließlich ist das meistens eh nicht so dreckig“,<br />
äußere ich. „Naja, aber die Maschine ist ja da, um<br />
genutzt zu werden“, sagt er. Die Nervosität ist abgeebbt,<br />
mein Herzschlag hat wieder seinen nor-<br />
Bild : Jennifer Mayer
02/ 2022 NOT AFRAID 13<br />
Anzeige<br />
DTP-Software für die<br />
gemeinsame Gestaltung<br />
von Publikationen<br />
Print und Digital<br />
Bild : Pexels<br />
malen Rhythmus gefunden. „Bei uns läuft die<br />
auch viel zu oft. Wäre super, wenn da nicht bei jeder<br />
Gelegenheit neues Geschirr benutzt wird.“ Ich<br />
bleibe bei meinem Standpunkt. Nachgeben ist für<br />
mich dieses Mal keine Option – zukünftig plant er<br />
mehr darauf zu achten.<br />
Die Angst vor Ablehnung entwickle sich bei<br />
den meisten bereits in der Kindheit, erläutert die<br />
Diplompsychologin Dr. Doris Wolf. In diesem Lebensabschnitt<br />
ist es üblich, dass Kinder lernen keinen<br />
Ärger zu machen<br />
und auf Andere zu hören.<br />
Tun sie das Gegenteil,<br />
schlagen ihnen<br />
Enttäuschung<br />
und Ablehnung entgegen.<br />
Durch die Abhängigkeit<br />
von den<br />
Eltern in diesem Alter<br />
ruft eine Zurückweisung<br />
des Verhaltens<br />
die Furcht verlassen<br />
zu werden, hervor.<br />
Im Erwachsenenalter besteht diese Abhängigkeit<br />
zwar nicht mehr, doch das kindliche Empfinden<br />
der Ablehnung bleibt. Den Betroffenen fällt<br />
es schwer, Selbstvertrauen aufzubauen, weil sie<br />
mit Zweifeln groß geworden sind. Das mangelnde<br />
Vertrauen begünstigt wiederum die Sorge nicht<br />
gemocht beziehungsweise abgelehnt zu werden.<br />
Eine neue Abhängigkeit von der Meinung anderer<br />
entsteht.<br />
Die Bedenken der Betroffenen führen dazu,<br />
dass sie häufig empfindlich auf Kritik reagieren<br />
oder sich rasch gekränkt fühlen. Laut dem Psychologen<br />
Dr. Rolf Merkle kann die Angst so groß<br />
werden, dass die Menschen mithilfe von Schutzmechanismen<br />
ihren Befürchtungen die Möglichkeit<br />
entziehen, Realität zu werden. Sie vermeiden<br />
Ablehnung, indem sie stets zurückstecken und<br />
sich verhalten, wie ihr Gegenüber es erwartet. Zugleich<br />
ermöglicht die Anpassung des eigenen Verhaltens,<br />
die Gefahr zu verringern, dass die Mitmenschen<br />
Negatives im Auftreten entdecken. Oft<br />
könnten Betroffene nicht sagen, was das Schlechte<br />
in ihnen sei. Sie hätten nur das diffuse und ungute<br />
Gefühl, etwas stimme mit ihnen nicht, erläutert<br />
Merkle. Er sieht in dieser Selbstwahrnehmung<br />
die Angst, zurückgewiesen zu werden, verankert.<br />
Doch wie können die Betroffenen nun mit ihrer<br />
Furcht umgehen, ohne vor ihr zu fliehen? Für<br />
den Psychologen Aziz Gazipura beginnt die Überwindung<br />
der Angst bei ihrem Ursprung: dem<br />
Nett-Sein. Der innere Wunsch von den Mitmenschen<br />
gemocht zu werden, äußert sich in freundlichen<br />
Verhaltensmustern. Darin findet sich kein<br />
Platz für Unfreundlichkeit. Betroffene fürchten,<br />
wenn sie Grenzen ziehen,<br />
egoistisch sind<br />
Das Ziel ist nicht, zu lernen,<br />
unfreundlicher zu<br />
sein, sondern aufzuhören,<br />
es allen recht machen zu<br />
wollen.<br />
oder ihre ehrliche<br />
Meinung sagen, abgelehnt<br />
zu werden.<br />
Aber genau diese<br />
Komponenten<br />
braucht es, um sich<br />
nicht von der Angst<br />
bestimmen zu lassen<br />
und authentisch zu<br />
sein. Das Ziel ist<br />
nicht, zu lernen, unfreundlicher<br />
zu sein, sondern aufzuhören, es allen<br />
recht machen zu wollen. Und dafür gilt es, vor allem<br />
die Toleranz gegenüber dem Unbehagen zu<br />
vergrößern.<br />
Das Fazit aus meinem Selbstversuch? Ohne<br />
Konfrontation und Konflikte geht es nicht, auch<br />
wenn sie Angst machen können. Es ist ein wiederkehrender<br />
Prozess, die Auslöser zu erkennen, das<br />
Unbehagen zu fühlen und der Angst vor Ablehnung<br />
entgegenzutreten. So lernen Betroffene mit<br />
Zurückweisungen umzugehen und sich von den<br />
Meinungen anderer unabhängiger zu machen.<br />
Und darum geht es am Ende.<br />
Tipp<br />
Wenn ihr mehr über den Umgang mit Ablehnung<br />
erfahren wollt, empfehle ich euch das<br />
Buch „Not Nice – Stop People Pleasing, Staying<br />
Silent, & Feeling Guilty” von Dr. Aziz Gazipura.<br />
MARKSTEIN PUBLISHER<br />
WORKGROUP EDITION<br />
Vielseitiges Layoutprogramm<br />
mit anpassbarer Oberfläche<br />
Inspektoren & Paletten<br />
Integrierter Texteditor<br />
Zusammenarbeit über die<br />
Cloud und im Netzwerk<br />
Paralleles Arbeiten an Layout<br />
und Text möglich<br />
Bloggen nach WordPress<br />
<strong>Ausgabe</strong> als E-Book<br />
Filter für InDesign IDML<br />
Schnittstelle zu PressMatrix<br />
für E-Paper und Apps<br />
Für macOS und Windows<br />
Einmalige Lizenz – kein Abo !<br />
Mark Stein<br />
Software<br />
Neugierig?<br />
Für Informationen einfach<br />
den QR-Code scannen<br />
oder www.marksteinpublishing.com<br />
aufrufen.<br />
Mark Stein Software<br />
Entwicklungs- und<br />
Vertriebs GmbH<br />
Marienburgstraße 27<br />
D-64297 Darmstadt<br />
Tel. +49 (61 51) 3 96 87 0<br />
info@markstein.com<br />
www.markstein.com
14 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Bild: pixabay<br />
Willst du mit mir gehen?<br />
Angst als ständiger Begleiter auf dem nächtlichen Heimweg. Für viele Frauen ist das die Realität.<br />
Und die Angst ist nicht unbegründet. Das Stuttgarter Startup „Walking Buddies“ will den Nachhauseweg<br />
für Frauen zukünftig sicherer machen.<br />
VON FABIENNE GRZESIEK<br />
Eine dunkle Seitenstraße, spärlich beleuchtet<br />
von Straßenlaternen. Die<br />
rechte Hand gleitet suchend in die Jackentasche.<br />
Sie umschließt das kleine<br />
Pfefferspray. In der Ferne leise Musik<br />
und die Stimmen von Fremden. In der linken<br />
Hand das Handy fest umklammert. Plötzlich ertönen<br />
Schritte. Der Körper spannt sich an. Die Sinne<br />
sind geschärft. Bloß nicht umdrehen. Die Schritte<br />
kommen näher. Das Herz beginnt zu rasen.<br />
Gleich ist es geschafft. Nur keine Panik. Der Atem<br />
geht schneller und die Gedanken spielen verrückt.<br />
Nur noch wenige Meter. Ein Schatten löst<br />
sich aus der Dunkelheit. Sie ist es. Mein Walking<br />
Buddy. Endlich. Sie steht an der Ecke und wartet.<br />
Und mit ihr ein Gefühl von Sicherheit.<br />
„Wie fühlt es sich für euch an, allein im Dunkeln<br />
unterwegs zu sein?“ Diese Frage hat der Radiosender<br />
1LIVE Frauen und weiblich gelesenen<br />
Personen in einem Interview zum Thema „Allein<br />
im Dunkeln“ gestellt. Die Antworten sind eindeutig.<br />
Alle haben Angst. Dass diese Angst nicht unbegründet<br />
ist, zeigen die persönlichen Erfahrungen<br />
der Befragten. Sie berichten von unangenehmen<br />
Begegnungen, sexueller Belästigung und gewaltsamen<br />
Übergriffen. „Es ist ein gesamtgesellschaftliches<br />
Problem und keiner kann sich da<br />
rausziehen“, äußert sich eine Betroffene im Interview.<br />
Doch wie kann der Heimweg für Frauen sicherer<br />
werden?<br />
Diese Frage haben sich die drei Studierenden<br />
Lara Pfisterer, Aram Özdemir und Thomas Weschle<br />
gestellt. Die Idee zu ihrer App Walking Buddies<br />
entwickelten sie im Rahmen eines Startup-<br />
Programms an der Hochschule für Technik in<br />
Stuttgart. Mit ihrer App sollen sich Frauen mit<br />
dem gleichen Heimweg zukünftig verabreden<br />
können.<br />
Das Konzept lautet: Walking Buddies finden,<br />
gemeinsam laufen und sicher ankommen. Dabei<br />
können Frauen sich für den gemeinsamen Heimweg<br />
spontan verabreden oder ihn im Voraus planen.<br />
Die App sucht in beiden Fällen nach passenden<br />
Laufpartnerinnen, sogenannten Walking<br />
Buddies. Nach einem Standortabgleich zeigt die<br />
App die gemeinsame Route an. Zu Hause können<br />
die Frauen ihren Walking Buddies dann ein Feedback<br />
in der App hinterlassen.<br />
Für das junge Startup steht die Sicherheit der<br />
Frauen an erster Stelle. Deshalb muss sich jede<br />
Nutzerin nach dem Download der App einem Sicherheitscheck<br />
unterziehen. Sie wird aufgefordert<br />
ein Bild ihres Personalausweises und ein Selfie<br />
hochzuladen. Das Team von Walking Buddies<br />
überprüft die Identität der Nutzerin, indem sie<br />
beide Dokumente abgleicht. Erst dann ist die App<br />
nutzbar.<br />
Ein weiterer wichtiger Bestandteil der App ist<br />
das Socialising. „Neben mehr Sicherheit wollen<br />
wir unseren Nutzerinnen die Möglichkeit bieten,<br />
soziale Kontakte zu knüpfen“, erklärt Özdemir im<br />
Interview mit der Mediakompakt. In ihren Profilen<br />
können die Frauen ihre Interessen und Hobbys<br />
hinterlegen. Wenn sie sich gut verstehen,<br />
können sie öfter zusammen nach Hause laufen.<br />
Und vielleicht entwickelt sich sogar eine Freundschaft.<br />
Derzeit arbeitet das Startup an der Programmierung<br />
und Vermarktung der App. Die Veröffentlichung<br />
der Beta-Version ist für den Herbst<br />
diesen Jahres geplant. Die App wird vorerst für<br />
Frauen in Stuttgart verfügbar sein. In den nächsten<br />
zwei bis fünf Jahren sollen Frauen die App<br />
dann aber deutschlandweit in Großstädten nutzen<br />
können.<br />
Schon jetzt können auch Männer dazu beitragen,<br />
Frauen auf dem nächtlichen Heimweg ein sichereres<br />
Gefühl zu geben. Dafür müssen sie die<br />
Ängste der Frauen ernst nehmen. „Das beginnt in<br />
alltäglichen Situationen. Wenn eine Frau im Dunkeln<br />
alleine vor dir läuft kannst du einfach die<br />
Straßenseite wechseln“, sagt Özdemir. „Und<br />
wenn eine Freundin alleine unterwegs ist kannst<br />
du nach Zwischenupdates fragen. Das sollte<br />
selbstverständlich sein.“<br />
Hol Dir Unterstützung<br />
Übrigens: Für einen sicheren Heimweg gibt es<br />
bereits Möglichkeiten der (virtuellen) Begleitung.<br />
Das Heimwegtelefon begleitet Frauen deutschlandweit<br />
unter der Telefonnummer 030 /<br />
1207 4182 nach Hause. Erreichbarkeit: Sonntag<br />
bis Donnerstag von 20 Uhr bis 00a Uhr<br />
und Freitag und Samstag von 20 bis 03 Uhr<br />
Mit der App WayGuard kann der eigene Standort<br />
geteilt und eine virtuelle Begleitung durch<br />
das WayGuard Team ermöglicht werden.<br />
Außerdem ist das Hilfetelefon „Gewalt gegen<br />
Frauen“ unter der Telefonnummer 08000 / 116<br />
016 rund um die Uhr, deutschlandweit erreichbar.
02/ 2022 NOT AFRAID 15<br />
Wenn das Kopfkino Realität wird<br />
In Selbstverteidigungskursen lernt man, Grenzüberschreitungen zu erkennen – und sich verbal und<br />
körperlich zu verteidigen. Trainerin Sarah Dannhäuser im Interview.<br />
VON NICOLE TANDLER<br />
Schreib mir, wenn du zu Hause bist.“<br />
Diesen Satz haben die meisten Frauen<br />
schon einmal gehört, bevor sie sich<br />
nachts alleine auf den Heimweg machen.<br />
Doch oft bleibt ein mulmiges<br />
Gefühl und die Frage, wie man sich bei einem tatsächlichen<br />
Angriff verteidigt.<br />
Selbstverteidigungskurse vermitteln, wie man<br />
sich verbal und körperlich besser behaupten und<br />
schützen kann. So können sie das Selbstbewusstsein<br />
fördern und ein sicheres Auftreten erzeugen.<br />
„Es geht viel um Grenzen ziehen, sie zu spüren,<br />
wahrzunehmen und zu benennen“, sagt Sarah<br />
Dannhäuser, Trainerin und Coachin, die in Halle<br />
Kurse für Frauen anbietet.<br />
In ihren Trainingseinheiten lernen Frauen<br />
verschiedene Schlagtechniken aus den Kampfsportarten<br />
Street Combatives und aus dem brasilianischem<br />
Jiu Jitsu.<br />
Beide sind darauf ausgerichtet,<br />
sich in Extremsituationen<br />
auch<br />
gegen Gegner zu wehren,<br />
die körperlich<br />
überlegen sind.<br />
„Viele Techniken,<br />
die in Kampfsportschulen<br />
gelehrt werden,<br />
funktionieren nur,<br />
wenn du gleich groß<br />
bist oder größer. Aber<br />
nicht, wenn du kleiner<br />
und leichter bist. Deswegen<br />
ziehe ich aus allen Bereichen Elemente, die<br />
für uns Frauen praktikabel sind“, sagt Coachin<br />
Dannhäuser.<br />
Sie trainiert mit ihren Schülerinnen simulierte<br />
Stresssituationen, damit sie auch unter Druck<br />
handlungsfähig bleiben können. Durch zusätzliches<br />
Coaching und Impulse beim Training vermittelt<br />
sie auch das nötige Mindset, Situationen<br />
im Vorfeld im Geist durchzuspielen und das Verhalten<br />
dementsprechend anzupassen. Ihr Training<br />
ist darauf ausgerichtet, sicher und selbstbewusst<br />
auftreten zu können.<br />
„Täter suchen nicht die starke Frau“, erklärt<br />
die Trainerin. Denn Körpersprache kann entscheidend<br />
dafür sein, wie Frauen auf potenzielle<br />
Angreifer wirken. Sollten Täter annehmen, dass<br />
eine Frau sich schlecht zur Wehr setzen kann,<br />
greifen sie möglicherweise eher an.<br />
Trotzdem sollte man auf dem Nachhauseweg<br />
vorsichtig sein und auch um Hilfe bitten, wenn<br />
man sich unwohl fühlt. „Selbstverteidigung bedeutet<br />
für mich, heil zu Hause anzukommen“,<br />
meint die Coachin dazu. Deswegen sollte das Ziel<br />
„Da ist auch eine<br />
Hemmschwelle, die<br />
man erst mal überwinden<br />
muss, dass man<br />
sagt ‚Okay ich kämpfe<br />
jetzt‘.“<br />
lauten: Deeskalieren und unverletzt bleiben. Erst<br />
wenn verbale Abwehr und auch Wegrennen erkennbar<br />
nicht helfen, geht es an die körperliche<br />
Verteidigung.<br />
Das Wissen über Schwachpunkte des Angreifers<br />
ist hier essentiell. Wildes um sich schlagen kann<br />
zwar hilfreich sein, aber am besten trifft man da,<br />
wo es wirklich wehtut.<br />
K.O.-Punkte des Körpers sind die Stellen, an<br />
denen man schon mit einem einfachen Schlag<br />
starke Schmerzen auslösen kann: Augen, Nase,<br />
Ohren, obere Bauchregion, Genitalien und das<br />
Schienbein. Schläge auf Augen, Nase oder Ohren<br />
können Angreifer die Sinne rauben und aus dem<br />
Gleichgewicht bringen.<br />
Tritte oder Schläge in die Genitalien, obere<br />
Bauchregion oder gegen das Schienbein können<br />
die Täter auch regelrecht zusammenklappen lassen.<br />
Weitere Möglichkeiten<br />
sind auch Kratzen,<br />
Beißen und Kneifen.<br />
Es ist wichtig, alle<br />
Mittel zu nutzen, die einem<br />
in dem Moment<br />
einfallen.<br />
Für die meisten<br />
Frauen ist es zentral, bei<br />
einem Angriff nicht in<br />
einen Schockzustand<br />
zu verfallen und sich<br />
der eigenen Möglichkeiten<br />
zur Abwehr bewusst<br />
zu werden.<br />
Selbstverteidigung zu erlernen, braucht Zeit.<br />
Wie lange jemand benötigt, um das Gelernte auch<br />
unter Druck einsetzen zu können, ist individuell.<br />
Dazu zählen Faktoren wie Häufigkeit oder Intensität<br />
des Trainings aber auch die Lernenden selbst.<br />
Nicht nur um die Techniken zu beherrschen oder<br />
körperlich fit zu sein, sondern auch den Mut aufzubringen<br />
sich zu wehren.<br />
Trainer Stefan-Lukas Jelusic von der Kampfsportakademie<br />
Nürtingen stimmt hier zu:<br />
„Da ist auch eine Hemmschwelle, die man erst<br />
mal überwinden muss, dass man sagt ‚Okay ich<br />
kämpfe jetzt‘.“<br />
Deshalb braucht es viel Routine, um Gelerntes<br />
ohne zu überlegen abrufen zu können. Trotzdem<br />
ist Selbstverteidigung für alle geeignet. Körperliche<br />
Anstrengung ist zwar vorausgesetzt, aber mit<br />
genug Zeit und Fleiß kann jeder die notwendigen<br />
Techniken erlernen.<br />
Einen Tipp für Anfänger gibt Trainer Stefan<br />
noch mit: „Man darf keine Angst haben und man<br />
sollte mutig und bereit sein, Neues auszuprobieren.“<br />
Bild: Sarah Dannhäuser
16 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Stuttgart calls back<br />
„Hey Süße!“, „Geiler Arsch.“ oder „Tolle Figur haste, Kleine!“.<br />
Fast Jede und Jeder durfte sich schon einmal unangenehme<br />
Sprüche im Alltag anhören und ist damit Opfer vom sogenannten<br />
„Catcalling“ geworden.<br />
VON LINDA STEFFEN<br />
Bild: @catcallsofstg<br />
Laura kramt die Kreide, ihr Handy und<br />
Handschuhe aus ihrer Tasche. Ein paar<br />
Meter weiter beginnt Caro das Wort<br />
„Triggerwarnung“ auf den Boden zu<br />
schreiben. Doch wieso die Triggerwarnung?<br />
Catcalling: Was im ersten Augenblick harmlos<br />
oder sogar niedlich klingt, beschreibt das<br />
Hinterherrufen oder -pfeifen im öffentlichen<br />
Raum. Es geht um verbale sexuelle Belästigung,<br />
die in vielen Fällen auch mit körperlichen<br />
Übergriffen einhergeht. In anderen europäischen<br />
Ländern wie zum Beispiel Frankreich, Belgien und<br />
Portugal gilt diese Art von verbaler Belästigung<br />
bereits als Straftat und wird mit Geldstrafen<br />
geahndet. In Deutschland ist Cat calling allerdings<br />
nicht strafbar. Es wird als Kompliment gewertet.<br />
Wie also setzt man sich zu Wehr gegen verbale<br />
Übergriffe, bei denen sich Betroffene oft hilflos<br />
fühlen? Die Aktivist:innen von Catcallsofstuttgart<br />
geben ihnen eine Stimme. Sie machen<br />
Geschichten sichtbar und sprechen offen über<br />
Themen, die oft zu wenig Aufmerksamkeit<br />
bekommen.<br />
Die #ChalkBack Bewegung stammt ursprünglich<br />
aus New York, ist aber seit Jahren auch in<br />
Deutschland und vielen weiteren Ländern<br />
angekommen. Über Instagram haben Betroffene<br />
die Möglichkeit ihre Erlebnisse per Direct Message<br />
zu teilen. Die eingesendeten Geschichten<br />
nehmen die Aktivist:innen mit auf die Straße. Mit<br />
Kreide schreiben sie diese anonym, möglichst am<br />
Ort des Geschehens, auf den Boden. Später<br />
werden die Einsendungen dann auch ungekürzt<br />
auf Instagram veröffentlicht. „Wir kreiden alle<br />
Geschichten an, da wir uns nicht in der Position<br />
sehen zu entscheiden, welche Geschichte schlimmer<br />
oder wichtiger ist“, erzählt Laura, die mich<br />
dazu eingeladen hat die Gruppe an diesem Tag zu<br />
begleiten. Mit dabei sind außerdem Caro, die<br />
ebenfalls das erste Mal beim #ankreiden dabei ist,<br />
und Ferhat.<br />
Laura ist eine von drei „Oberkatzen“, die den<br />
Vorstand der Initiative bilden. An dem Treffpunkt<br />
nahe der Königsstraße erzählt sie über sich und<br />
die Bewegung. Lebhaft berichtet sie über vergangene<br />
Aktionen, wie zum Beispiel am 8. März: Mit<br />
anderen aus der Gruppe hat sie am feministischen<br />
Kampftag eine Rede vor dem Rathaus gehalten. Es<br />
ist zu spüren, wie sie und ihre Mitstreiter:innen<br />
für die Sache brennen und wie viel positive<br />
Energie es ihnen gibt, Menschen eine Stimme zu<br />
geben, die<br />
sonst von<br />
vielen<br />
nicht gehört<br />
werden.<br />
„Allerdings<br />
ist es auch oft genug für einen selbst sehr<br />
belastend“, gibt Laura zu. „Manchmal<br />
werden wir gecatcalled oder belästigt während<br />
unserer Aktionen oder Menschen kommen auf<br />
offener Straße auf uns zu und erzählen von ihren<br />
negativen Erfahrungen, nachdem sie die<br />
Geschichte auf der Straße gelesen haben“.<br />
Während sie erzählt, kramt sie aus ihrem großen<br />
Jutebeutel, auf dem das Katzenlogo der<br />
Instagramseite gedruckt ist, ein paar Flyer hervor.<br />
Neben Karten, die über Catcalling und die<br />
#Chalkback Bewegung aufklären, sind auch Informationen<br />
von verschiedenen Organisationen,<br />
wie zum Beispiel dem weißen Ring, dabei. „Manche<br />
Betroffene trauen sich bei uns das erste Mal<br />
über ihre Erlebnisse zu sprechen. Vielleicht auch<br />
weil sie dann erst begreifen, dass auch sie Betroffene<br />
sind. Da ist es wichtig entsprechendes Material<br />
dabei zu haben und sie so an Expert:innen weiterzuleiten“,<br />
erklärt Laura. Wenig später gibt sie den<br />
Startschuss für die Gruppe Richtung Königsstraße<br />
zu ziehen. Das #ankreiden beginnt.<br />
Da heute alle Geschichten ohne Ortsangabe<br />
eingesendet wurden, werden sie an möglichst<br />
zentralen Orten in der Innenstadt angekreidet.<br />
Die Freude ist groß, weil an diesem regnerisch<br />
angesagten Montagnachmittag doch die Sonne<br />
scheint. Je näher die Königsstraße mit all ihren<br />
Geschäften naht, desto belebter wird es. Auf dem<br />
Weg erzählt Ferhat wie er aus der Türkei geflüchtet<br />
ist. In Deutschland hat er begonnen sich<br />
immer mehr mit sozialen Themen auseinanderzusetzen<br />
und engagiert sich nun vermehrt in vielen<br />
verschiedenen Bereichen, die ihm wichtig<br />
geworden sind. Auch ihm merkt man sofort die<br />
Begeisterung für das, was sie hier gemeinsam tun,<br />
an. Mitten im Gespräch erreicht die Gruppe den<br />
ersten Spot. Laura und Ferhat kreiden den Instagram-Tag,<br />
ein prägnantes Zitat aus der Geschichte<br />
und Hashtags wie #stopptsexuellebelästigung auf<br />
den Boden. Caros „Triggerwarnung“ blitzt vom<br />
grauen Asphalt auf.<br />
Die Aktion mitten in der Menschenmenge<br />
zieht von Anfang an neugierige Blicke auf sich.<br />
Passant:innen werfen im Vorbeigehen<br />
einen kurzen Blick auf den bunten Gehweg, oder<br />
bleiben sogar stehen. Die meisten achten darauf<br />
nicht auf<br />
die frischen<br />
Kreidelinien<br />
zu<br />
treten. Viele<br />
unterhalten<br />
sich über das, was vor ihnen passiert oder<br />
sind neugierig genug, um mit der Gruppe ins<br />
Gespräch zu kommen.<br />
An einem weiteren Spot vor dem LKA Stuttgart<br />
soll als nächstes eine Geschichte über verbale<br />
Belästigung im Job angekreidet werden. Ein<br />
interessierter Mann fragt plötzlich, ob die Story<br />
etwas mit den Vorwürfen von sexueller Belästigung<br />
innerhalb der Landespolizei zu tun habe.<br />
Sehr verwirrt verneint Laura seine Frage.<br />
#STOPPTSEXUELLEBELÄSTIGUNG<br />
Bild: Linda Steffen
02/ 2022 NOT AFRAID 17<br />
Bild: Linda Steffen<br />
Diese Nachricht ist wohl an allen bislang vorbei<br />
gegangen. Die angekreidete Story stand damit<br />
nicht im Zusammenhang. Nach kurzer Recherche<br />
erschien der vorher eher zufällig ausgewählte<br />
Platz nun aber umso passender.<br />
Die Rhein-Neckar Zeitung beispielsweise berichtete<br />
zu dem Fall im Januar 2022. Es handelt<br />
sich bei den Erzählungen des Mannes um einen<br />
hochrangigen Beamten der Landespolizei, der<br />
„seine Machtstellung unter Inaussichtstellung<br />
von Beförderung und Besetzung ausgenutzt habe“.<br />
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelt<br />
zurzeit noch.<br />
In bunten Farben leuchte es nun fast wie ein<br />
Mahnmal von dem Gehweg auf: Mein Chef rief<br />
mir hinterher „Hey, wenn ich dich so<br />
sehe, komm doch zurück, du könntest gut<br />
bezahlte Überstunden machen!“ Motiviert durch<br />
das schöne Wetter und die doch vielen interessierten<br />
Menschen, die heute überwiegend begeistert<br />
von der Arbeit zu sein schienen, wurden auch die<br />
letzten Storys angekreidet ehe sich die Gruppe am<br />
Schlossplatz glücklich und verschwitzt voneinander<br />
verabschiedet.<br />
INFO<br />
Als Frau wurden bereits...:<br />
• 90%: Aufgrund ihres Aussehens bewertet<br />
• Über 50%: Wegen ihres Geschlechtes beleidigt<br />
oder erfuhren unerwünschte Annäherungsversuche<br />
• 40%: Gecatcalled und haben daraufhin bestimmte<br />
Orte gemieden<br />
Instagram: @catcallsofstg
18 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Safespace für Frauen<br />
auf der Flucht<br />
Kriege. Gewalt. Verfolgung. Immer mehr Menschen sind gezwungen,<br />
aus ihrem Heimatland zu fliehen. Im Jahr 2020 waren über<br />
82 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Dabei wird oft<br />
vernachlässigt, dass die Hälfte der Geflüchteten weiblich ist.<br />
VON ALINA MADAY<br />
Bild: Pauline Schläger<br />
Besonders Frauen sind auf der Flucht<br />
von zusätzlichen Belastungen und<br />
geschlechtsspezifischen Herausforderungen<br />
geprägt. Neben ihrer eigenen<br />
Verwundbarkeit sind sie mit ihren<br />
Kindern oder durch eine bestehende<br />
Schwangerschaft weiteren Mehrfachbelastungen<br />
ausgesetzt. Dies zeigt auch die Untersuchung der<br />
Berliner Charité „Study on female refugees“. Bei<br />
der Befragung gaben Frauen als Fluchtursache<br />
unter anderem Vergewaltigung, Zwangsprostitution,<br />
Genitalverstümmelung und Angst vor Femizid<br />
an. Konträr dazu sind die bestehenden<br />
Hilfsangebote für Geflüchtete jedoch kaum auf<br />
die Bedürfnisse von Frauen angepasst. Es fehlt an<br />
Unterstützungsangeboten und geschützten Räumen<br />
für die frauenspezifischen Belastungen. Dieser<br />
massiven Versorgungslücke will der gemeinnützige<br />
Verein ROSA entgegentreten. ROSA ist die<br />
Abkürzung für „Rolling Safespace“ und steht für<br />
einen geschützten Raum auf Rädern. Mithilfe eines<br />
umgebauten LKW werden Geflüchtetenunterkünfte<br />
angefahren, um Frauen auf der Flucht eine mobile<br />
Anlaufstelle bereitzustellen. Die Idee dazu<br />
hatte Sophie Müller-Bahlke, Mitgründerin von<br />
ROSA, als sie mit einer Freundin zusammen im<br />
Libanon bei einem Geflüchtetenprojekt an der<br />
syrischen Grenze gearbeitet hat. In dem speziell<br />
ausgerüsteten „Rolling Safespace“ werden verschiedene<br />
Hilfsangebote für Frauen angeboten.<br />
Neben medizinischer Hilfe und der <strong>Ausgabe</strong> von<br />
Menstruations- und Hygieneartikeln, gibt es Gesundheitsworkshops<br />
zu Themen wie Verhütung,<br />
Menstruation oder Brustkrebsvorsorge. In Gruppen<br />
finden sich die Frauen für Sport- und Bewegungsangebote,<br />
oder Gesprächsrunden zusammen.<br />
Um ihnen den Besuch der Angebote zu ermöglichen,<br />
werden die Kinder in einem separaten Zelt<br />
beim Spielen betreut. Bei Bedarf auf eine weiterführende<br />
medizinische Hilfe, steht ROSA in engem<br />
Kontakt mit der unabhängigen Organisation<br />
„Ärzte ohne Grenzen“.<br />
Von Deutschland aus findet die Organisation der<br />
ROSA-Crew statt. Diese besteht aus Ärzten, Hebammen,<br />
Übersetzerinnen und weiteren Helfern,<br />
die vor Ort zur praktischen Arbeit eingesetzt werden.<br />
Seit März 2022 befindet sich die ROSA-Crew<br />
bei ihrem ersten Einsatzort in Griechenland. Mit<br />
einem LKW werden nördlich von Athen, auf der<br />
Halbinsel Attika, regelmäßig drei Geflüchtetencamps<br />
angefahren: Ritsona, Malakasa und Oinofyta.<br />
Insgesamt leben dort etwa 5000 Menschen.<br />
Ein ROSA-Tag in den Camps beginnt zusammen<br />
mit den Frauen beim Kaffee oder Tee trinken, bevor<br />
die Workshops und Gesprächsrunden beginnen.<br />
Sophie Müller-Bahlke betont: „Wir müssen<br />
spontan und flexibel bleiben. Die letzten sechs<br />
Wochen war Ramadan, da wurden die Sportworkshops<br />
vernachlässigt, aber dafür viel zusammen<br />
gekocht und Gummi-Twist gespielt. Manchmal<br />
sind nur Frauen da, die Einzelgespräche führen<br />
wollen. Die finden in unserem Behandlungszimmer<br />
im LKW mit der Ärztin und der Übersetzerin<br />
statt.“<br />
„An anderen Tagen<br />
wird einfach zusammen<br />
gesungen und getanzt.“<br />
Als eine der größten Herausforderungen auf der<br />
Reise beschreibt die Aktivistin die verschiedenen<br />
Communitys innerhalb der Camps und welche<br />
Rassismen dort untereinander herrschen. Für die<br />
arabischen, afghanischen und afrikanischen Frauen<br />
sind die Übersetzerinnen wichtige Türöffner,<br />
um eine Vertrauensbasis zu den Frauen aufzubauen<br />
und auch um zwischen den unterschiedlichen<br />
Kulturen zu vermitteln. In Zukunft will das ROSA-<br />
Team sein Konzept durch die Erfahrung aus der<br />
Praxisarbeit weiter ausbauen und mit weiteren<br />
LKW andere Länder befahren. Außerdem ist es<br />
den Organisatorinnen wichtig, dass die Crew gut<br />
vor- und nachbereitet wird, damit diese bei der<br />
mental belastenden Arbeit nicht auf sich allein gestellt<br />
ist.<br />
„Wir freuen uns sehr, dass unser Projekt so gut angenommen<br />
und besucht wurde, gleichzeitig ist es<br />
aber auch ganz schön erschreckend, weil es zeigt,<br />
wie groß der Bedarf danach eigentlich ist“, ergänzt<br />
Müller-Bahlke. Auf der Reise hat das ROSA-<br />
Team vor allem gelernt, dass man zusammen viel<br />
mehr erreichen kann, als man denkt. Die positiven<br />
Erlebnisse vor Ort motivieren sie auch weiterhin<br />
mutig, aktiv und „not afraid“ zu handeln.<br />
Infobox<br />
ROSA finanziert sich komplett über<br />
Spenden und freut sich über motivierte<br />
Crew-Mitglieder und Unterstützung aller<br />
Art.<br />
Mehr Infos unter:<br />
www.rolling-safespace.org<br />
Spendenkonto:
02/ 2022 NOT AFRAID 19<br />
Ladies, level up!<br />
Frauen in der Gaming-World:<br />
Von Hürden, Interessen und<br />
einer langsamen Veränderung<br />
– ein Einblick.<br />
VON EMMA WEITERER<br />
Computer- und Videospiele sind in<br />
Deutschland so beliebt wie nie. 50<br />
Prozent aller Deutschen spielen Games<br />
aus den unterschiedlichsten<br />
Gründen. Lange Zeit war die Szene<br />
größtenteils auf die männliche Bevölkerung ausgerichtet,<br />
doch mittlerweile ist glasklar: Auch<br />
Frauen spielen. Und zwar viele. Laut dem Jahresreport<br />
der deutschen Games-Branche 2021 machen<br />
Frauen 48 Prozent aller Spielenden aus.<br />
Auch Yvonne „MissMadHat“ Scheer ist seit ihrer<br />
Jugend Gamerin und konnte mit ihrem Team AuT<br />
pBo dreimal die österreichische Staatsmeisterschaft<br />
gewinnen. Zurzeit ist sie Genderbeauftragte<br />
des österreichischen E-Sport Verbands (ESVÖ)<br />
und setzt sich mit dem Thema Diversität im Gaming<br />
und E-Sport Bereich auseinander. Die Gamerin<br />
betont: „Mein Lieblingsgenre sind Ego-<br />
Shooter wie Call of Duty und Battlefield. Hier<br />
spiele ich ausschließlich Multiplayer, da ich mich<br />
gerne mit Freunden gegen andere Teams beweise.“<br />
Ego-Shooter wie Call of Duty, oder auch<br />
Sportspiele wie FIFA sind bei Frauen 2022 immer<br />
noch weniger beliebt als bei der männlichen Bevölkerung.<br />
So spielen laut einem Global Consumer<br />
Survey zwölf Prozent der befragten Frauen<br />
Shooter, während es bei den Männern 33 Prozent<br />
sind. Diese Zahlen könnten sich mit einer besseren<br />
Ansprache von Frauen ändern.<br />
Weibliche Charaktere<br />
Wo es noch vor zehn Jahren wenige weibliche<br />
und diverse spielbare Charaktere in Computerund<br />
Videospielen gab, sieht das Ganze heutzutage<br />
etwas anders aus: „Einige Entwicklerfirmen haben<br />
sich bereits einer realistischen Darstellung von<br />
Frauen, People of Colour oder People der<br />
LGBTQIA+ Community angenommen“, bemerkt<br />
Yvonne Scheer. Ihrer Meinung nach ist dies ein<br />
wichtiger Teil, um diese Personen für ein Spiel begeistern<br />
zu können, da man sich mit den Charakteren<br />
identifizieren kann. Beispiele hierfür sind<br />
Aloy aus Horizon, oder Ellie aus The Last of Us 2,<br />
aufgrund ihrer realistischen und mehrdimensionalen<br />
Darstellung. In vielen Online-Multiplayer-<br />
Spielen wird mittlerweile die Option genutzt, sich<br />
selbst einen Charakter erstellen zu können oder es<br />
gibt männliche und weiblich gelesene Charaktere<br />
zur Auswahl. Bei dem taktischen Multiplayer Ego-<br />
Shooter Valorant sind die Hälfte der Charaktere<br />
weiblich gelesen. Gleichzeitig verzeichnet das<br />
Spiel 30 bis 40 Prozent weibliche Spielerinnen –<br />
ein Zusammenhang lässt sich hier nur erahnen.<br />
Eine Welt voller Sexismus?<br />
Eine der größten Hürden für Frauen im Gaming<br />
ist wohl die Konfrontation mit sexistischen und<br />
diskriminierenden Anfeindungen in Sprach-<br />
Chats. Dies geschieht zumeist in Online-Multiplayer-Games.<br />
Nach einer Studie von Reach3 Insights,<br />
in der die Erfahrungen von Spielerinnen in<br />
der Gaming-Branche untersucht wurden, gaben<br />
77 Prozent der Befragten an, Erfahrungen mit Sexismus<br />
gemacht zu haben. Darunter fielen Beleidigungen,<br />
sexuelle Nachrichten und Gatekeeping.<br />
Frauen müssen sich hier von „Mach mir ein<br />
Sandwich!“, über „Send nudes, please!“ bis zu Androhungen<br />
von sexueller Gewalt einiges anhören.<br />
Sie werden oft nicht als Gamer respektiert, was<br />
auch Yvonne Scheer bestätigt, die ebenfalls negative<br />
Erfahrungen gemacht hat. Dadurch würden<br />
sich Spielende eingeschüchtert fühlen, auf einen<br />
weiblich klingenden Nicknamen verzichten oder<br />
gar aufhören zu spielen. Ein kleiner Trost ist hier<br />
vielleicht, dass eine Studie des Wissenschaftsmagazins<br />
PLOS One folgendes herausgefunden hat:<br />
Je schlechter die männlichen Spieler sind, desto<br />
eher beleidigen sie Frauen im Chat.<br />
Wohin die Reise geht<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es als Frau<br />
in der Videospiel-Welt nicht einfach ist. Vor allem<br />
kooperative Online-Multiplayer Spiele sind mit<br />
ihrer teils sexistischen Community schwieriger<br />
zugänglich. Mit einer größeren Ausrichtung auf<br />
Frauen geht die Branche in eine diversere Richtung.<br />
Doch es gibt noch viel Luft nach oben. Vor<br />
allem die BIPOC und LGBTQIA+ Community<br />
sind noch stark unterrepräsentiert. „Gaming is for<br />
©Photo by Chandri Anggara on Unsplash, Schriftzug ©Emma Weiterer<br />
everyone“, sagt Yvonne Scheer, „jeder und jede<br />
kann zum Gamer werden.“<br />
Spielempfehlungen: Von Waldgeistern und Puppen<br />
„Kena: Bridge of Spirits“<br />
Hier übernehmt ihr die Rolle der jungen Seelenführerin<br />
Kena, die mit Hilfe ihrer Begleiter, den<br />
Fäulnis (Waldgeister), auf der Suche nach dem<br />
heiligen Bergschrein, zu einem verlassenen Dorf<br />
reist. Dabei entwickelt ihr ihre Fähigkeiten, taucht<br />
in eine wunderschöne Story ein und befreit die<br />
Welt von einem seltsamen Fluch.<br />
„It takes two“<br />
In diesem Koop-Spiel, spielt ihr zusammen als Cody<br />
und May, ein Paar, welches, um ihre Ehe zu retten,<br />
in Puppen verwandelt wurde. Meistert clevere,<br />
und lustige Herausforderungen, die auf purer<br />
Zusammenarbeit basieren.<br />
© 2020 Ember Lab, LLC<br />
© Hazelight Studios 2022
20 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
TIC(K)ST DU NOCH GANZ RICHTIG?<br />
Bild: Pixabay<br />
Bild: Pexels<br />
„Wichser, Hure, Arschloch” –<br />
Aussagen, die verletzen. Für<br />
Tourette-Betroffen e gehören<br />
diese Begriffe zum Alltag.<br />
Denkt man zumindest. Doch<br />
die Krankheit birgt mehr als<br />
unkontrollierbare Beleidigungen.<br />
VON LARISSA ZWICK<br />
Sich mit Freunden in Bars treffen, häkeln<br />
und bei einem Home-Workout<br />
auspowern – auf den ersten Blick gängige<br />
Hobbys einer 23-jährigen Frau.<br />
Doch für Julia gestalten sich diese häufig<br />
schwieriger, als gewöhnlich. Sie leidet am Tourette-Syndrom.<br />
Diagnostiziert wurde die Erkrankung<br />
erst 2020, mitten in der Pandemie. Ihren ersten<br />
Tic erlebte Julia weitaus früher: Im Alter von<br />
13 Jahren nimmt sie zum ersten Mal eine Zuckung<br />
wahr. Ein harmloses „Kälte-Zucken“, vermutet<br />
sie. Anfangs traten die Zuckungen alle paar Monate<br />
auf. Über die Jahre hinweg intensivierten sich<br />
die Tics und fielen zum ersten Mal Julias Freund<br />
auf: „Davor hat das nie jemand bemerkt. Ich<br />
dachte einfach, das wäre irgendwie normal“, erzählt<br />
die 23-jährige Dresdnerin im Interview. Daraufhin<br />
ging sie zum Arzt und erlebte während der<br />
Diagnosestellung ihren ersten vokalen Tic. Ein<br />
„A-Laut“, erinnert sie sich.<br />
Zum Verständnis: Das Gilles de la Tourette-<br />
Syndrom ist eine neuro-psychiatrische Erkrankung<br />
bei dem die Betroffenen unter sogenannten<br />
„Tics“ leiden. Tic-Störungen können sich durch<br />
plötzliche und unkontrollierbare Reaktionen des<br />
Muskels oder das Wiedergeben von willkürlichen<br />
Lauten äußern. Beim Tourette-Syndrom leiden<br />
die Betroffenen sowohl an motorischen als auch<br />
an vokalen Tics. Besondere Formen des Tourette-<br />
Syndroms sind beispielsweise die Echolalie, welche<br />
sich durch stereotypisches und sinnloses<br />
Nachsprechen von Worten, Sätzen oder Geräuschen<br />
äußert. Außerdem gibt es die sogenannte<br />
Koprolalie. Hierbei haben Betroffene die zwanghafte<br />
Neigung zum Gebrauch obszöner und beleidigender<br />
Ausdrücke. Auch wenn Julia es nicht<br />
möchte, wird die Koprolalie bei ihr durch gewisse<br />
Personengruppen ausgelöst. „Eigentlich will ich<br />
keine Beispiele nennen, weil ich die Person nie so<br />
beleidigen würde“, erzählt die 23-jährige.<br />
Um sich selbst und außenstehenden Personen<br />
den Umgang mit ihrem Tourette zu erleichtern,<br />
gibt sie der Krankheit einen Namen. Ihr Tourette<br />
heißt Gerald. „Ich hatte oft Tics, wobei die Leute<br />
nicht verstanden haben, dass das Tics sind, dann<br />
habe ich immer gesagt, das war Gerald und dann<br />
wussten alle, das kam jetzt nicht von Julia“. Wichtig<br />
ist ihr hierbei zu erwähnen, dass das Tourette-<br />
Syndrom nichts mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung<br />
zu tun hat und die beiden Krankheiten<br />
zu differenzieren sind. Extreme Stresssituatio-<br />
nen und laute Geräusche sind für sie die häufigsten<br />
Auslöser der Tics.<br />
Die gelernte Soziologin erinnert sich an Situationen<br />
im Studium: „Die ganze Aufmerksamkeit<br />
ist auf dich gerichtet und man denkt sich ‘jetzt<br />
bloß keine Beleidigung, sonst denkt die Professorin<br />
schlecht von dir‘, obwohl sie ja Bescheid<br />
weiß“. Auch auf der Arbeit ist Julia diesen Situationen<br />
ausgesetzt. Was für andere ein normales Meeting<br />
ist, ist für Julia Stress pur. Denn sie steht unter<br />
ständiger Angst, es könne ihr vor ihren Vorgesetzten<br />
eine unkontrollierte Beleidigung herausrutschen.<br />
Sie selbst sagt: „Das Schlimmste an Tourette<br />
ist das Gefühl, dass du deinen eigenen Körper<br />
nicht kontrollieren kannst“.<br />
Durch eine neue medikamentöse Behandlung<br />
treten die unkontrollierbaren Beleidigungen bei<br />
ihr seltener auf. Generell ist das Tourette-Syndrom<br />
unheilbar. Durch Therapien wie das „Habit<br />
Reversal Training“ (HRT), bei dem die Betroffenen<br />
darin geschult werden, ihr Verhalten durch alternative<br />
Handlungen zu unterbrechen. Durch Medikamente<br />
können die Tics reduziert werden. Julia<br />
ist derzeit nicht in Therapie, bespricht sich allerdings<br />
alle paar Monate mit ihrem Neurologen.<br />
Sie ist zufrieden mit ihrem Medikament, steht anderen<br />
Behandlungsmethoden allerdings offen gegenüber.<br />
Der Dresdnerin fiel die Akzeptanz ihrer Krankheit<br />
zu Beginn schwer. Die späte Diagnose war für<br />
sie und ihr Umfeld zuerst ein Schock. Sie erzählt,<br />
dass der Zeitraum um die Diagnose eine schwierige<br />
Zeit in ihrem Leben war. Geholfen hat ihr, ihre<br />
Geschichte öffentlich zu machen. Julia lädt Vi-
02/ 2022 NOT AFRAID 21<br />
deos zu ihrem Tourette-Syndrom auf ihrem You-<br />
Tube-Kanal „Julticlia“ hoch, um sich und anderen<br />
den Umgang mit der Krankheit zu erleichtern und<br />
aufzuklären. Der Zuspruch und der Austausch mit<br />
anderen Betroffenen durch die sozialen Medien<br />
hat sie bestärkt und ihr dabei geholfen die Krankheit<br />
zu akzeptieren. Mittlerweile kommt sie besser<br />
damit klar: „Ich glaube man kann das nie zu 100<br />
Prozent akzeptieren, aber ich habe mich mittlerweile<br />
damit arrangiert und komme eigentlich gut<br />
klar. Natürlich gibt es aber auch manchmal Tage,<br />
an denen ich denke ‚ist halt trotzdem blöd‘.“<br />
Für Julia ist es vor allem wichtig, nicht nur<br />
durch das Tourette-Syndrom definiert zu werden:<br />
„Man ist nicht die Krankheit, man hat sie nur.“<br />
Zudem findet sie es wichtig, darüber aufzuklären,<br />
dass Tourette viele Gesichter hat. Im Interview<br />
sagt sie, sie sei ein schlechtes Beispiel hierfür, da<br />
sie selbst an Koprolalie leide, allerdings definiert<br />
sich das Tourette-Syndrom nicht nur durch Beleidigungen<br />
und auffällige Tics. Sie kritisiert unter<br />
anderem, dass die Medien sich bei dem Tourette-<br />
Syndrom häufig der Koprolalie widmen und andere<br />
Formen hierbei in Vergessenheit geraten. So<br />
ist vielen Personen gar nicht klar, dass die Krankheit<br />
sich durch weitaus unauffälligere Tics bemerkbar<br />
machen kann. Beispielsweise kann ein<br />
krankhaftes Räuspern oder Blinzeln schon zu einer<br />
Form des Tourette gehören. Auch der Umgang<br />
mit Betroffenen ist für Julia ein individuell zu betrachtender<br />
Faktor.<br />
Prominente Vorbilder wie „Gewitter im<br />
Kopf“, die einen humorvollen Umgang mit der<br />
Krankheit suggerieren, sieht sie daher als leicht<br />
problematisch an: „Der Umgang von Gewitter im<br />
Kopf mit der Krankheit ist nicht für jede:n anwendbar.<br />
Nicht jede:r findet die Tics witzig, kann<br />
darüber lachen oder will, dass es andere tun. Daher<br />
finde ich das immer schwierig, dass das als<br />
Vorbild genommen wird, wie man mit Tourette<br />
umgeht.“ Prinzipiell findet sie es gut, dass durch<br />
YouTube-Kanäle wie „Gewitter im Kopf“ oder<br />
auch ihren eigenen über das Tourette-Syndrom<br />
aufgeklärt wird, es sollte allerdings klar sein, dass<br />
mediakompakt<br />
Zeitung des Studiengangs Mediapublishing<br />
Hochschule der Medien Stuttgart<br />
I M P R E S S U M<br />
HERAUSGEBER<br />
Professor Christof Seeger<br />
Hochschule der Medien<br />
Nobelstraße 10<br />
70569 Stuttgart<br />
REDAKTION<br />
Corinna Pehar, Bianca Menzel (v.i.S.d.P.)<br />
pehar@hdm-stuttgart.de, menzelb@hdm-stuttgart.de<br />
TITELSEITE<br />
Emily Rau, Eike Babel, Sina Majer,<br />
Alina Maday, Simon Vetter, Larissa Zwick<br />
PRODUKTION<br />
Alle<br />
ANZEIGENVERKAUF<br />
Caroline Binder, Eva Roidl, Tanja Schäfer,<br />
Fabienne Grzesiek, Sophia Oroszi, Nadja Brormann<br />
jede:r Betroffene anders mit der Krankheit umgeht.<br />
Generell wünscht sich Julia von der Öffentlichkeit<br />
mit ihrem Tourette-Syndrom so umzugehen,<br />
wie sie es selbst vorlebt. Ignoriert sie ihre<br />
Tics, so wünscht sie sich das auch von ihrem Gegenüber.<br />
Lacht sie über einen Tic, so möchte sie,<br />
dass man mit ihr lacht. „Selbstakzeptanz ist wichtig,<br />
aber auch schwer“, sagt Julia. Allerdings<br />
möchte sie anderen Betroffenen mit auf den Weg<br />
geben, dass die Akzeptanz Zeit benötigt und man<br />
sich diese auch geben soll. „Natürlich geht das<br />
Tourette nicht vorbei, aber man lernt, damit umzugehen.<br />
Das Umfeld gewöhnt sich daran und<br />
man sich selbst auch“.<br />
Mehr von Julia und ihrer Geschichte gibt es auf ihrem<br />
YouTube-Kanal: Julticlia.<br />
3 Vorurteile - gecheckt:<br />
• Tourette-Betroffene werden immer beleidigend.<br />
Nein. Nur rund 30 Prozent der Tourette-<br />
Betroffenen leiden an der sogenannten<br />
Koprolalie, dem zwanghaften Aussprechen<br />
anstößiger und frivoler Ausdrücke.<br />
• Mit Tourette kann man nicht lügen.<br />
Nein. Die Aussagen, die durch das Tourette-Syndrom<br />
ausgelöst werden können,<br />
sind unkontrollierbar und spiegeln<br />
daher nicht die individuelle Meinung<br />
der Betroffenen dar.<br />
• Tourette ist lustig und man soll darüber<br />
lachen.<br />
Ebenfalls nein. Prinzipiell sollte man<br />
nicht über Tourette-Betroffene lachen.<br />
Nur weil manche mit Humor reagieren,<br />
gilt das nicht für alle. Jede:r geht mit der<br />
Krankheit anders um und daher sollte<br />
man sich vorher darüber informieren,<br />
wie die Betroffenen sich den Umgang<br />
mit der Krankheit wünschen.<br />
BLATTKRITIK<br />
Simona Meier, Jenny Mayer, Diana Holz, Nicole Tandler,<br />
Selina Meier, Jenny Huber, Laura Epple<br />
MEDIA NIGHT<br />
Emma Weiterer, Alexander Kraft, Ann-Kathrin Skiba, Elisa-<br />
Mia Metzeroth, Linda Steffen, Emily Moosmann, Jessica<br />
Morlock, Josephine Hennen<br />
DRUCK<br />
Z-Druck Zentrale Zeitungsgesellschaft GmbH & Co. KG<br />
Böblinger Straße 70<br />
71065 Sindelfingen<br />
ERSCHEINUNGSWEISE<br />
Einmal im Semester zur Medianight<br />
Copyright<br />
Stuttgart, 2022<br />
Anzeige<br />
Weil wir lieben, hier zu leben.<br />
Wir suchen zum<br />
nächstmöglichen<br />
Zeitpunkt:<br />
Volontär:in (m/w/d)<br />
für unsere Lokalredaktion<br />
in Sindelfingen<br />
Das bringst du mit:<br />
Lust auf eine fundierte,<br />
journalistische<br />
Ausbildung<br />
Spaß am Journalismus<br />
und erste<br />
journalistische<br />
Erfahrungen<br />
Bereitschaft zu<br />
Wochenendarbeit &<br />
Abendterminen<br />
Das bieten wir dir:<br />
Einen spannenden<br />
Arbeitsplatz in einer<br />
spannenden Region<br />
Ein hoch motiviertes,<br />
kollegiales Team<br />
Flache Hierarchien<br />
Regelmäßige Fort,-<br />
und Weiterbildungen<br />
Möglichkeit zum<br />
mobilen Arbeiten<br />
Bild: Pixabay<br />
Hört sich spannend an?<br />
Dann bewirb dich jetzt<br />
gleich hier:<br />
oder per Mail an:<br />
hans-joerg.zuern@szbz.de
22 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Bild: pixabay<br />
Verlass mich nicht!<br />
Einige Menschen machen ihre Partner:innen zum Mittelpunkt ihres Daseins, ein Leben ohne sie<br />
wird unvorstellbar. Wie Verlustängste eine Beziehung beeinträchtigen können und was man dagegen<br />
tun kann, erklärt Life-Coach Tina Wahren.<br />
VON SELINA MEIER<br />
Womit genau beschäftigen Sie sich?<br />
Meine Arbeit besteht darin, Menschen aus<br />
schwierigen Lebenssituationen heraus zu helfen.<br />
Die Schwerpunkte meiner Arbeit liegen darauf,<br />
Menschen zu unterstützen, die mit toxischen und<br />
narzisstischen Beziehungen oder einem ungesundem<br />
Essverhalten zu kämpfen haben. Zu mir<br />
kommen Personen, die ihr Leben verändern wollen,<br />
die sich selbst, ihre Werte und ihre Bedürfnisse<br />
kennenlernen möchten.<br />
Was genau versteht man unter Verlustängsten in romantischen<br />
Beziehungen?<br />
Man spricht in Partnerschaften von Verlustängsten,<br />
wenn der Betroffene Angst davor hat,<br />
seinen Partner zu verlieren. Menschen mit Verlustängsten<br />
neigen dazu, sich in einer Beziehung<br />
nicht vollständig emotional zu öffnen. Gleichzeitig<br />
erlebe ich oft, dass sie den Partner einengen<br />
und am liebsten 24 Stunden mit ihm zusammen<br />
wären oder wissen wollen, was er wann und mit<br />
wem gemacht hat. Durch diese vermeintliche Nähe<br />
kontrollieren sie unbewusst den anderen.<br />
Woran genau merke ich in einer Beziehung, dass ich<br />
unter Verlustängsten leide?<br />
Verlustängste können sich für Betroffene so<br />
zeigen, dass sie ständig misstrauisch sind und in<br />
ihrem Kopf negative Szenarien immer wieder<br />
durchspielen. Man ist sich der Gefühle des anderen<br />
nicht sicher und braucht Beweise, dass er es<br />
ernst meint. Man sieht Gefahren, die gar nicht<br />
existieren und steigert sich irrational hinein. Das<br />
kann zu Panikattacken führen. Betroffene wollen<br />
auf der einen Seite permanente Absicherung, dass<br />
der Partner bleibt. Auf der anderen Seite empfinden<br />
sie sich selbst als nicht liebenswert und strengen<br />
sich überdurchschnittlich an, der anderen<br />
Person zu gefallen.<br />
Bis wohin sind solche Ängste normal und ab wann sollte<br />
man etwas dagegen tun?<br />
Ängste sind grundsätzlich etwas Natürliches<br />
und eine gesunde Reaktion unseres Körpers. Sie<br />
wollen uns vor Gefahren schützen, indem wir<br />
achtsam mit einer Situation umgehen. Sie werden<br />
dann problematisch, wenn wir sie regelmäßig ohne<br />
einen realen Auslöser durchleben. Meine Empfehlung<br />
ist, etwas zu unternehmen, wenn die<br />
Angst immer mehr Raum im Leben einnimmt.<br />
Wer seinen Alltag nicht mehr frei gestalten kann,<br />
sollte Hilfe in Anspruch nehmen.<br />
Welche Ursachen können Verlustängste in Partnerschaften<br />
haben?<br />
Meines Erachtens ist es wichtig, eine Verlustangst<br />
als Symptom zu verstehen, das eine versteckte<br />
Botschaft enthält. Die Frage ist: Was will<br />
mir die Verlustangst sagen? Sie kann zum Beispiel<br />
mit einer vorherigen Trennung zusammenhängen,<br />
die nicht verarbeitet wurde. Auch kann die<br />
Ursache in prägenden Erfahrungen aus der Kindheit<br />
begründet liegen.<br />
All das sind unbewusste, tief verankerte Mechanismen.<br />
Deshalb ist es wichtig, Verlustängste<br />
als eine Art schützende Strategie zu verstehen und<br />
mit ihnen in Kontakt zu treten, anstatt sie zu<br />
ignorieren.<br />
Welche Tipps haben Sie für Paare, bei denen einer oder<br />
beide Partner unter Verlustängsten leiden?<br />
Man sollte sich bewusst machen, dass die Ursachen<br />
der Angst in der eigenen Lebensgeschichte<br />
liegen. Ich empfehle, die wahrhaftige Botschaft<br />
hinter der Angst zu finden: Sei dabei vor allem<br />
ehrlich zu dir selbst und spreche über deine Ängste<br />
und Zweifel mit deinem Partner.<br />
Der Schlüssel liegt darin, Verantwortung für<br />
das eigene Leben zu übernehmen, sich selbst lieben<br />
zu lernen sowie für sich selbst Sicherheit und<br />
Vertrauen zu erschaffen. Das beendet ungesunde<br />
Abhängigkeiten, ermöglicht freie Entscheidungen.<br />
Wie würden Sie Paaren helfen, die mit Verlustängsten<br />
zu kämpfen haben?<br />
Ich arbeite bei solchen Themen gerne mit dem<br />
inneren Kind, das sowohl die Ursache als auch die<br />
Lösung einer Situation in sich trägt. Es ist eng mit<br />
unserem Herzen verbunden und kennt alle freudvollen<br />
und schmerzhaften Erlebnisse, von denen<br />
Erwachsene oft getrennt sind. Durch das Zusammenbringen<br />
beider Teile entsteht ein neues Bewusstsein,<br />
Verständnis und bedingungslose Liebe<br />
für sich selbst. Das ist die Basis für eine gelingende<br />
Partnerschaft.<br />
Tina Wahren<br />
Coach für Selbstverwirklichung<br />
www.tina-wahren-selbstverwirklichung.de
02/ 2022 NOT AFRAID 23<br />
Zwischen Windeln wechseln<br />
und Kundengesprächen<br />
Selbstständigkeit und Kinder großziehen – ist so etwas überhaupt möglich? Ein Gespräch über Businessentscheidungen<br />
und Mutter sein mit der selbstständigen Ronja Reichert, Gründerin des Unternehmens<br />
Räuber Deern Design.<br />
VON ALEXANDER KRAFT<br />
Wie bist du auf die Idee gekommen, dich selbstständig<br />
zu machen?<br />
Ich war bei meinem vorherigen Arbeitgeber<br />
unzufrieden und habe mich nach etwas anderem<br />
umgeschaut. Vorerst hatte ich Angst vor der<br />
Selbstständigkeit, da mein Vater auch selbstständig<br />
ist und ich gesehen habe wie zeitaufwendig alle<br />
Prozesse sind. Jedoch ist es gerade im Bereich<br />
Mediengestaltung einfacher, sich ein Standbein<br />
aufzubauen als in anderen Berufen. Es gibt viele<br />
Kunden, die beispielsweise ein Logo oder auch<br />
Flyer benötigen.<br />
Was waren deine größten Ängste bevor du dich zur<br />
Selbstständigkeit entschieden hast?<br />
Die größten Ängste, die ich am Anfang hatte,<br />
waren, dass ich keine Kunden an Land ziehe. Dass<br />
ich auf meinen fixen Kosten sitzen bleibe und dadurch<br />
ein Minus-Geschäft mache. Mein Mann<br />
hat mich dazu getrieben, einen Businessplan zu<br />
erstellen und dass ich mir Ziele für die nächsten<br />
Jahre setzten soll. Damit war ich überfordert da<br />
ich überhaupt nicht wusste ob ich nach einem<br />
Jahr einen oder hunderte Kunden akquirieren<br />
kann. Das Wichtigste für mich war, erst mal meine<br />
fixen Kosten zu decken.<br />
Wie bekommst du Arbeit und Familie unter einen Hut?<br />
Was ist dabei die größte Herausforderung?<br />
Das ist eine sehr wichtige Frage. Genau diese<br />
stelle ich mir hin und wieder auch selbst. Die<br />
wichtigste Eigenschaft, welche ich habe, ist immer<br />
gelassen zu bleiben. Ich bin kein Mensch, der<br />
sich selbst Stress macht. Zudem bekomme ich herausragende<br />
Unterstützung von meiner Familie –<br />
ohne sie könnte ich das nicht schaffen. Besonders<br />
wichtig ist, dass ich mir To-Do-Listen schreibe<br />
und diese nach Priorität abarbeite. Zudem versuche<br />
ich immer Feierabend zu machen sobald meine<br />
Tochter wieder vom Kindergarten zurückkommt.<br />
Das funktioniert nicht immer, dann wird<br />
das Kind auch mal eine halbe Stunde vor den<br />
Fernseher gesetzt oder der Laptop wird mit auf<br />
dem Spielplatz genommen – auch wenn ich mich<br />
dabei immer schlecht fühle. Anfangs hatte ich damit<br />
noch öfters mal Probleme und hatte keine<br />
ausgewogene Work-Life-Balance, mittlerweile<br />
hingegen bekomme ich alles gut unter einen Hut.<br />
Welche Tipps kannst du geben, wenn sich eine junge<br />
Mutter entscheidet, sich selbstständig zu machen?<br />
Das Wichtigste ist, es einfach auszuprobieren.<br />
Wenn man das nicht tut, ärgert man sich das ganze<br />
Leben, diesen Schritt nicht gemacht zu haben.<br />
Zudem sollte man sich einen klaren Zeitraum von<br />
zum Beispiel einem Jahr geben: Bis dahin sollte<br />
man sein Ziel erreicht habe und profitabel sein.<br />
Falls man dieses Ziel nicht schafft, sollte man sich<br />
das auch selbst eingestehen und den Plan verwerfen.<br />
Es ist auch wichtig, gelassen an die Sache ranzugehen<br />
– sowohl in der Beziehung mit dem Kind<br />
als auch mit dem Kunden. Denn die Suppe wird<br />
nie so heiß gegessen wie gekocht.<br />
Bild: instagram/_mrs_ronja_<br />
Welche positiven Gefühle kommen auf, wenn du an dein<br />
Unternehmen denkst?<br />
Das beste Gefühl ist, dass ich mir meine Arbeitszeit<br />
selbst einteilen kann, gerade als Mutter.<br />
Ich kann tun und lassen was ich mag. Besonders<br />
gefällt mir, dass ich auch von überall arbeiten<br />
kann: Gestern war ich im Büro heute arbeite ich<br />
vom Sofa aus und an anderen Tagen nehme ich<br />
meinen Laptop mit auf dem Spielplatz und arbeite<br />
von dort aus. Das ist für mich der Geruch von Freiheit.<br />
Bild: instagram/_mrs_ronja_
24 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Bild: eyd clothing<br />
Fashion for Freedom<br />
Mit Mode Menschenleben verändern?<br />
Das humanitäre Modelabel<br />
eyd bietet Frauen mit<br />
einer zerrütteten Vergangenheit<br />
die Chance auf ein freies<br />
und selbstbestimmtes Leben.<br />
Die Gründerin Nathalie Schaller<br />
spricht über Hoffnung, Mut<br />
und ihre alltäglichen Ängste im<br />
Social Business.<br />
Menschenhandel oder „human<br />
trafficking“ – ein Begriff, mit dem<br />
die meisten Menschen kaum etwas<br />
anfangen können, der aber<br />
aktueller denn je ist. Momentan<br />
befinden sich laut UNODC (United Nations Office<br />
on Drugs and Crime) schätzungsweise 40 Millionen<br />
Menschen in moderner Sklaverei. Und das<br />
weltweit. Sie werden isoliert, verkauft und wie<br />
Ware gehandelt. Über die Hälfte der Betroffenen<br />
wird sexuell ausgebeutet. Darunter sind fast ausschließlich<br />
Mädchen und Frauen. Mit dem Thema<br />
Zwangsprostitution wurde die Juristin und Gründerin<br />
Nathalie Schaller während eines Aufenthalts<br />
in Kambodscha konfrontiert. Im Interview<br />
erinnert sie sich: „Ich saß Frauen gegenüber, die<br />
oftmals schon als Kinder verkauft wurden, ihre Jugend<br />
in Bordellen verbracht haben und kaum eine<br />
andere Perspektive hatten.“<br />
Die Begegnung mit dieser Ungerechtigkeit ließ<br />
sie nicht mehr los. Zurück in Deutschland stand<br />
fest: Sie möchte helfen. Über Kontakte erreicht sie<br />
die karikative Werkstatt Chaiim in Indien. Diese<br />
bietet ein Nachsorgeprogramm für Frauen an,<br />
welche in der Vergangenheit sexuelle Ausbeutung<br />
erfahren haben. Dort erhalten die Betroffenen<br />
Unterstützung in allen Lebensbereichen, um ohne<br />
Angst und Unterdrückung<br />
einen echten Neustart zu<br />
VON ELISA-MIA METZEROTH „Aber ohne Angst<br />
kann man auch<br />
nicht mutig sein.“<br />
schaffen. Neben Beistand im<br />
Bereich Bildung, Life-Skills<br />
und Gesundheit wird in dieser<br />
Werkstatt auch genäht. „Ich<br />
bin keine Sozialarbeiterin aber<br />
ich komme aus einer Unternehmerfamilie.<br />
So war der Gedanke, ein Social<br />
Business zu starten, naheliegend“, erzählt Nathalie<br />
Schaller. Sie selbst hat während ihres Jura-Studiums<br />
Nähkurse als kreative Flucht besucht und<br />
ihre eigene Kleidung hergestellt. So entstand die<br />
Idee, ein faires und humanitäres Modelabel zu<br />
gründen.<br />
2017 wurde diese Vision zur Wirklichkeit. Das<br />
Stuttgarter Start-Up eyd, welches ausgeschrieben<br />
für Empower Your Dressmaker steht, arbeitet inzwischen<br />
mit mehreren Partnerwerkstätten zusammen.<br />
Gemeinsam verfolgen sie ein Ziel – Betroffene<br />
von sozialer Ungerechtigkeit und Ausbeutung<br />
zu unterstützen. Diese Mission geht<br />
Hand in Hand mit dem Klimaschutz. Denn eyd<br />
produziert nicht nur humanitär, sondern auch<br />
nachhaltig. Alle Produkte werden aus ökologischen<br />
Materialien hergestellt und sind vegan, also<br />
fair in ganzer Linie. Bei einem Social Business werden<br />
die Kund:innen zur Ressource und die Hersteller:innen<br />
zu Kund:innen.<br />
Also gegenteilig zum herkömmlichen Business-Modell.<br />
Bei eyd bedeutet das, dass mit jedem<br />
einzelnen Kauf die Freiheitsprojekte unterstützt<br />
werden. Ein Social Business zu führen bringt eine<br />
große Verantwortung mit sich,<br />
macht die Gründerin deutlich:<br />
„Das, was wir tun und damit<br />
unseren Partner:innen ermöglichen,<br />
verändert tatsächlich<br />
Menschenleben. Die Angst,<br />
das durch meine Fehler kaputt<br />
zu machen, begleitet mich<br />
auch im Alltag. Aber ohne Angst kann man auch<br />
nicht mutig sein.“ Trotz Unsicherheiten hat Nathalie<br />
sich gegen einen sicheren Job in der Kanzlei<br />
ihres Vaters entschieden und für das humanitäre<br />
und faire Modelabel eyd. Menschenhandel ist ein<br />
weltweites Problem, welches für den größten Teil<br />
der Gesellschaft unsichtbar ist. Organisationen<br />
und Projekte wie eyd versuchen darauf aufmerksam<br />
zu machen, um die Ungerechtigkeit zu bekämpfen.<br />
Hierbei kann sogar der bewusste Kauf<br />
eines T-Shirts das Leben eines Menschen grundlegend<br />
verändern.
02/ 2022 NOT AFRAID 25<br />
Tapetenwechsel auf Koreanisch<br />
Raus aus der Komfortzone, neue Sprache, andere Kultur — Koffer packen und ab nach Südkorea.<br />
Ein Interview mit Lisa, die genau das gewagt hat. Seit vier Jahren lebt sie in der Hauptstadt Seoul,<br />
und hat erst einmal nicht vor zurückzukommen.<br />
VON EMILY RAU<br />
Alles ist so, wie es immer ist. Das vertraute<br />
Umfeld um einen herum.<br />
Freunde und Familie ganz nah. Jeden<br />
Tag der gleiche Ablauf. Aber was ist,<br />
wenn der normale Alltag nicht reicht?<br />
Ein Tapetenwechsel ist nötig. Viele wagen den<br />
Schritt: Auswandern.<br />
Für den ein oder anderen undenkbar. Die<br />
komplette Selbstständigkeit. Weit weg von zu<br />
Hause. Was ist, wenn es einem vor Ort nicht gefällt?<br />
Es gibt viele Dinge, die verunsichern können.<br />
Allerdings gibt es auch viele Gründe, über<br />
seinen Schatten zu springen. Es können großartige<br />
Erinnerungen und Erfahrungen gesammelt<br />
werden. Genau das hat Lisa mit ihrer Reise nach<br />
Seoul, Südkorea getan.<br />
Nach ihrem Koreanistik-Studium in Tübingen,<br />
in dem sie auch ein Jahr in Seoul lebte, entschied<br />
sie sich erneut in das weit entfernte Land<br />
zurückzukehren. Die gebürtige Kirchheimerin ist<br />
2018 für ihr zweijähriges Masterstudium erneut<br />
nach Seoul ausgereist. Heute, nach vier Jahren,<br />
lebt sie immer noch dort. Wie das zustande gekommen<br />
ist und wie sie ihr Leben in Südkorea<br />
lebt, erzählt sie in einem Interview.<br />
Wolltest du schon immer mal ins Ausland? Wenn ja,<br />
wohin?<br />
Eigentlich wollte ich nach meinem Abitur ein<br />
einjähriges FSJ in Amerika machen.<br />
Wieso hast du dich für Südkorea entschieden?<br />
Für Asien habe ich mich schon seit dem Gymnasium<br />
interessiert. Durch koreanische Musik<br />
und Serien habe ich mich immer mehr für das<br />
Land, die Kultur und die Sprache begeistert. Nach<br />
meinem einmonatigen Urlaub in Seoul konnte<br />
ich die Menschen und die Kultur richtig erleben<br />
und habe mir dann vorgenommen, Koreanistik zu<br />
studieren.<br />
Hattest du Bedenken, nach Südkorea zu ziehen?<br />
Auf jeden Fall. Es war das erste Mal, dass ich für<br />
so lange Zeit von meiner Familie und Freunden<br />
getrennt sein würde. Ich hatte Sorge, dass ich<br />
Heimweh bekomme, da ich in einem fremden<br />
Land bin. Obwohl ich die Sprache schon gelernt<br />
hatte, war es etwas ganz anderes, dort zu leben, als<br />
nur Urlaub zu machen. Man wird auf jeden Fall<br />
aus seiner Komfortzone gerissen.<br />
Was musstest du vorbereiten?<br />
Als Erstes kümmert man sich um ein Visum.<br />
Bilder: Lisa Rau<br />
Ansonsten muss man beim Packen langfristiger<br />
denken als bei einem Urlaub, vor allem wenn es<br />
um Produkte geht, die es in Korea nicht gibt.<br />
Was waren deine ersten Eindrücke als du angekommen<br />
bist?<br />
Die ersten Tage waren furchtbar. Obwohl ich<br />
schon einmal da war, war es etwas ganz anderes.<br />
Man musste sich um viele organisatorische Dinge<br />
kümmern, wie Unterkunft und Bankangelegenheiten.<br />
Aber mit der Zeit hatte sich der Alltag eingependelt<br />
und es wurde besser.<br />
Hattest du einen Kulturschock?<br />
An vieles habe ich mich mittlerweile gewöhnt.<br />
Was ich nicht mag, ist, dass es in Korea normal ist,<br />
auf die Straße zu spucken. Es gibt keine Mülleimer<br />
und der Straßenverkehr ist rasanter. Vor allem<br />
Motorradfahrer fahren wo sie wollen – da man<br />
muss sehr aufpassen.<br />
Was gefällt dir mehr in Südkorea als in Deutschland<br />
und andersherum?<br />
Das Stadtleben. Hier haben Convenience Stores<br />
24 Stunden auf, auch sonntags. Die Essenskultur,<br />
da man sein Essen miteinander teilt, anstatt<br />
dass jeder seinen eigenen Teller hat. Das Bahnsystem<br />
ist hier viel günstiger und die Züge fahren regelmäßiger.<br />
In Deutschland wiederum ist Obst<br />
und Gemüse billiger, in Korea kann eine Wassermelone<br />
auch mal 20 Euro kosten. Arbeitsrechtlich<br />
ist es in Deutschland besser, und das Gesundheitssystem<br />
und die Rentenversicherung auch. Hier<br />
habe ich nur zwölf Urlaubstage im Jahr. Wenn ich<br />
krank bin, wird mein Urlaub davon abgezogen.<br />
Was sind deine schönsten Erinnerungen, die du in Seoul<br />
machen konntest?<br />
Da gibt es viele. Ganz allgemein die Studienzeit<br />
mit meinen Freunden und meinen Uniabschluss,<br />
auf den ich sehr stolz bin. Zudem habe<br />
ich viele Freundschaften geschlossen und mit ihnen<br />
viele Erinnerungen machen können. Es ist<br />
auch immer schön, wenn man Komplimente für<br />
das Koreanisch sprechen bekommt.<br />
Was würdest du jemandem empfehlen, der auch ins<br />
Ausland gehen möchte?<br />
Ich würde es jedem empfehlen. Man wird aus<br />
seiner Komfortzone gekickt, aber man wird auch<br />
selbstständiger und offener. Man lernt neue Menschen<br />
und Kulturen kennen und sammelt viele<br />
großartige Erfahrungen. Ich kann es nur jedem<br />
ans Herz legen.
26 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Bild: Fritz Engel<br />
Die letzte Chance<br />
„Die letzte Generation“ greift<br />
mit ihren Aktionen zu außergewöhnlichen<br />
Mitteln. Die Gruppe<br />
junger Klimaaktivist:innen<br />
sieht es als einzige Chance,<br />
die Politik zum Handeln zu<br />
zwingen.<br />
VON EVA ROIDL<br />
Sie kleben sich auf viel befahrenen Straßen<br />
fest, drehen Pipelines zu, ein Aktivist<br />
springt in das Hamburger Hafenbecken.<br />
„Stoppt den fossilen Wahnsinn“,<br />
heißt es auf ihren Bannern. Die letzte<br />
Generation nutzt keine klassischen Mittel des Protests.<br />
In ihren Augen gibt es keine andere Option<br />
als den zivilen Ungehorsam, um die Folgen des<br />
menschengemachten Klimawandels noch zu<br />
stoppen. Das national vernetzte Aktionsbündnis<br />
möchte die Regierung mit ihren Aktionen herausfordern.<br />
Gleichzeitig treffen sie momentan auf<br />
viel Unmut durch die Bevölkerung. Die Bezeichnung<br />
wurde von ihnen gewählt, da sie der letzten<br />
Generation angehören, die den Kollaps des Klimas<br />
noch verhindern können.<br />
Der 25-jährige Kim studiert eigentlich in Passau<br />
Kulturwirtschaft. Doch sein Studium ist ihm<br />
nicht mehr wichtig: „Wir haben nur noch zwei bis<br />
drei Jahre, in denen wir noch irgendetwas reißen<br />
können und da sehe ich mich nicht in Vorlesungen<br />
abhängen!“<br />
Aufmerksamkeit hat die Gruppe, sowohl von<br />
der Öffentlichkeit als auch von Kim, seit deren<br />
Hungerstreiks vor dem Reichstagsgebäude im September<br />
bekommen. Seit Oktober ist der junge<br />
Mann mit ernstem Blick nun Teil der letzten Generation.<br />
Bisher war er hauptsächlich in der Organisationsstruktur<br />
tätig, die für die Strategie und<br />
die Presse verantwortlich ist. Der Student ist entschlossen,<br />
alles Mögliche zu tun. „Wir sprechen<br />
von 3,5 Millionen Menschen, die ihre Heimat verlassen<br />
müssen, Hungersnöten in Deutschland,<br />
Menschen, die in Berlin auf der Straße sterben,<br />
weil es einfach zu heiß zum Überleben ist“, versucht<br />
Kim klarzumachen.<br />
Laut wissenschaftlicher Datensätze der Welt<br />
Organisation für Meteorologie (WMO) soll das im<br />
Pariser Klimaabkommen festgelegte 1,5 Grad Ziel<br />
bereits 2026 überschritten werden. Die Erderwärmung<br />
solle demnach eigentlich bis zum Ende des<br />
Jahrhunderts auf 1,5 Grad begrenzt sein. Die Folgen<br />
dieses rasanten Temperaturanstiegs werden<br />
als verheerend prognostiziert. Und man merkt sie<br />
jetzt schon. Flutkatastrophen, Waldbrände und<br />
das Schmelzen von Gletschern. Das löst selbstverständlich<br />
Angst in Teilen der Bevölkerung hervor.<br />
Doch Kim empfindet nicht nur Angst, sondern<br />
auch Wut gegenüber der Regierung: „Die Politik<br />
führt uns sehenden Auges in die Vernichtung.“<br />
Es wäre eigentlich deren Aufgabe eine angemessene<br />
Klimapolitik zu machen. Doch anstatt<br />
fossile Infrastruktur abzubauen, ist sogar ein Ausbau<br />
geplant. Deshalb fordert die letzte Generation<br />
fossile Brennstoffe nicht weiter auszubauen, eine<br />
gerechte Notfallwirt chaft und eine Regelung bezüglich<br />
des Wegschmeißens von Lebensmitteln.<br />
Ein Mittel, um ihre Forderungen durchzusetzen<br />
sind ihre Aktionen. Diese führen häufig zu Festnahmen<br />
durch die Polizei.<br />
Auch Kim wurde schon einmal in Sicherheitsgewahrsam<br />
genommen und musste vier Tage in<br />
der Jugendvollzugsanstalt Landshut absitzen.<br />
„Natürlich habe ich Angst davor in einer Zelle zu<br />
landen und für Tage nicht zu wissen, wie ich da<br />
behandelt werde. Aber noch mehr Angst habe ich<br />
vor den Folgen, die uns erwarten, wenn wir nicht<br />
Widerstand leisten. Ich denke in der Abwägung ist<br />
es gar keine Frage, das in Kauf zu nehmen, um<br />
jetzt noch das Ruder herumzureißen“, meint er.<br />
Die Aktionsgruppe polarisiert auch in der Zivilbevölkerung.<br />
Vor allem durch die Straßenblockaden<br />
fühlen sich viele, beispielsweise auf ihrem<br />
Weg zur Arbeit, gestört. Kritiker:innen bezeichnen<br />
das Vorgehen sogar als kontraproduktiv.<br />
Denn wenn man in einer Demokratie Dinge<br />
durchsetzen möchte, geht es darum Mehrheiten<br />
zu gewinnen, und die letzte Generation trifft in<br />
letzter Zeit auf wenig Sympathie. Kim kann das<br />
nachvollziehen: „Ich wünschte der Widerstand<br />
wäre nicht notwendig. Es denken immer alle, sie<br />
müssen alle Menschen überzeugen. Aber die Geschichte<br />
hat schon oft genug gezeigt, dass man zu<br />
disruptiven Aktionen greifen muss, stören muss,<br />
um die Veränderung tatsächlich zu bewirken!“
02/ 2022 NOT AFRAID 27<br />
Klick nicht weg<br />
Hass im Netz nimmt immer mehr zu. Digitale Zivilcourage wird somit umso wichtiger. Aber wie<br />
sieht der richtige Umgang mit Hate Speech aus? Genau das ist Thema des Präventionsprogramms<br />
„Zivilcourage im Netz“ des Landeskriminalamts Baden-Württemberg.<br />
VON NADJA BRORMANN<br />
Ein Polizeibüro in Stuttgart-Ost. Der<br />
Aufsteller mit Flyern, Broschüren und<br />
Klappkarten zur Kriminal- und Verkehrsprävention<br />
vor der Fensterbank<br />
ist kaum zu übersehen. Die Papiermenge<br />
lässt den Raum voll und klein wirken. Doch<br />
viel Zeit verbringt Polizeioberkommissar Manuel<br />
August hier ohnehin nicht. Vielmehr ist er an<br />
Schulen im Stuttgarter Osten tätig und leistet Präventionsarbeit.<br />
Vor Ort hält er Vorträge zum Thema<br />
digitale Zivilcourage. Das Angebot „Zivilcourage<br />
im Netz“ des Landeskriminalamts Baden-<br />
Württemberg richtet sich an Schüler:innen ab der<br />
siebten Klassenstufe. Ziel ist immer, dass die Jugendlichen<br />
lernen, sich auch in der digitalen Welt<br />
für humane und demokratische Werte einzusetzen.<br />
Ganz konkret heißt das: Bei Hass im Netz<br />
nicht wegzuklicken oder etwa den Täter durch Likes<br />
oder Ähnliches zu unterstützen, sondern die<br />
Opfer zu stärken und einzuschreiten.<br />
Wie sehr bereits die junge Generation mit<br />
Hass im Netz konfrontiert ist, zeigen die Zahlen<br />
der diesjährigen JIM-Studie. Unter den Befragten<br />
gaben 58 Prozent an, im letzten Monat Hassbotschaften<br />
begegnet zu sein. Das sind fünf Prozentpunkte<br />
mehr als im Vorjahr. Diese Entwicklung<br />
deckt sich mit einer Statistik aus dem aktuellen Sicherheitsbericht<br />
des Landes Baden-Württemberg.<br />
Laut diesem hat die Polizei in Baden-Württemberg<br />
39.648 Straftaten mit dem Tatmittel Internet<br />
und/oder IT-Geräte registriert. Dazu zählen auch<br />
Beleidigungen via Internet. 2019 lag die Zahl der<br />
Straftaten in diesem Bereich noch bei 24.5<strong>32</strong>. Die<br />
Zahlen sprechen für sich: Es braucht mehr digitale<br />
Zivilcourage.<br />
Im Rahmen des Präventionsangebots sollen<br />
die Heranwachsenden den richtigen Umgang mit<br />
Hate Speech lernen. Anhand von konkreten Sachverhalten<br />
zeigen die Polizist:innen die Grenzen<br />
der Meinungsfreiheit nach Artikel fünf im Grundgesetz<br />
auf. Bei den fiktiven Sachverhalten handelt<br />
es sich beispielsweise um das Verschicken eines<br />
verbotenen Symbols innerhalb einer WhatsApp-<br />
Gruppe. Zuerst müssen die Schüler:innen die Fälle<br />
bewerten. Im Anschluss geben die Präventionsbeamt:innen<br />
ihre Einschätzungen ab und zeigen die<br />
verschiedenen Handlungsmöglichkeiten auf.<br />
„Grundsätzlich kann man die 110 wählen<br />
oder das örtliche Revier verständigen, wenn man<br />
sieht, wie im Internet Straftaten begangen werden“,<br />
erklärt Manuel August. Es ist aber auch<br />
möglich den Tatbestand bei der Onlinewache zu<br />
melden. Dafür ist das Dokumentieren sehr hilfreich.<br />
Screenshots können für die weitere Ermittlung<br />
von Vorteil sein. Auf Social Media bietet es<br />
Bild: Unsplash<br />
sich an, aggressive Inhalte und Kommentare auch<br />
direkt auf der Plattform zu melden.<br />
Neben den Beispielen kommen aber auch die<br />
eigenen Erfahrungen der Einzelnen nicht zu kurz.<br />
„Oft ist schon vieles passiert, auch im Klassenchat,<br />
weshalb wir auch die Schüler:innen berichten<br />
lassen“, erzählt der Polizist. Dafür nehmen<br />
sich er und seine Kolleg:innen explizit Zeit: „Was<br />
ganz wichtig ist, wir gehen erst aus den Klassen<br />
wieder raus, wenn die Fragen und Themen der<br />
Schüler:innen geklärt sind.“ Wie bei der Zivilcourage<br />
in der realen Welt kann man auch bei der digitalen<br />
Zivilcourage Fehler begehen. „Wir stellen<br />
sehr oft fest, dass Leute, die helfen wollen, selbst<br />
versehentlich Straftaten begehen. Indem sie zum<br />
Beispiel verbotene Inhalte weiterteilen“, berichtet<br />
Manuel August. Umso wichtiger ist es, dass die Polizei<br />
präventiv arbeitet und für Aufklärung sorgt.<br />
Wie der Präventionsbeamter zurecht sagt, „jeder<br />
von uns kann Opfer, Geschädigter von Hate<br />
Speech oder einem verbalen Angriff im Netz werden“.<br />
Diesbezüglich erhofft er sich, dass die Gesellschaft<br />
erkennt, wie unglaublich wichtig Zivilcourage<br />
im Netz ist.
28 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Bild: Caroline Binder<br />
Mein Pferd ist mein Therapeut<br />
Pferde faszinieren durch ihre Größe, Schönheit und Eleganz. Gleichzeitig können diese Faktoren<br />
auch einschüchternd wirken. Für die beiden langjährigen Pferdefrauen Ines und Celine sind ihre<br />
Pferde aber viel mehr als diese Eigenschaften.<br />
VON CAROLINE BINDER<br />
Der Wallach hebt seinen Kopf und<br />
blickt nach links. Er nimmt menschliche<br />
Schritte auf Kies wahr. Seine<br />
weißen Ohren sind gespitzt und seine<br />
Augen blicken in die Richtung aus<br />
der die Geräusche kommen. Als Celine um die<br />
Ecke biegt, wiehert er leise. Ein Zeichen, dass er sie<br />
erkannt hat. Auf Celines Gesicht erscheint ein Lächeln.<br />
Sie öffnet das Tor des Zauns und geht zu<br />
dem Wallach an die Heuraufe, um ihn zu streicheln.<br />
Sie berührt sein weiches und warmes Fell<br />
an Kopf und Hals. Das kontinuierlich Fressgeräusch<br />
der anderen Pferde an der Heuraufe ist zu<br />
hören. Die Vögel zwitschern, der Wind rauscht<br />
leicht durch die Bäume und von weiter weg hört<br />
man gackernde Hühner. Mit allen Sinnen fühlt<br />
Celine diesen Ort. So beginnt für sie eine andere<br />
Welt, in der sie den Stress der Universität und andere<br />
Sorgen völlig vergisst.<br />
Die 22-jährige Celine reitet seit ihrem siebten<br />
Lebensjahr und seit sechs Jahren ist ein Schimmel<br />
ihre Reitbeteiligung. Somit gehört ihr das Pferd<br />
zwar nicht, aber an zwei festen Tagen jede Woche<br />
ist sie für ihn verantwortlich und kümmert sich<br />
um ihn. In den letzten sechs Jahren hat sich zwischen<br />
den Beiden eine vertrauensvolle Beziehung<br />
entwickelt. Das ist beispielsweise daran zu erkennen,<br />
wenn sie gemeinsam Bodenarbeit machen.<br />
Hier versteht der Schimmel die feinen Signale von<br />
Celines Körpersprache. Darauf reagiert er feinfühlig<br />
indem er auf sie zukommt oder von ihr weggeht.<br />
In stressigen Zeiten im Studium oder auch<br />
bei privaten Themen konnten ihr der Schimmel –<br />
und der Ort wo er lebt – helfen. „Die Anwesenheit<br />
und das Streicheln von Pferden reicht da meist<br />
schon aus“, sagte Celine. Über das weiche Fell zu<br />
streichen, die Körperwärme und den Rhythmus<br />
des fressenden Pferdes zu fühlen ist für sie beruhigend.<br />
Auch der 52-jährigen Ines, die seit ihrem achten<br />
Lebensjahr mit Pferden zu tun hat, haben<br />
Pferde schon häufig durch schwierige Zeiten und<br />
Krisen geholfen. Speziell ihr eigenes Pferd hat dabei<br />
eine besondere Rolle gespielt. Als sie sich damals<br />
das dreieinhalb-jährige Pferd gekauft hat,<br />
stand ihr ganzes Leben – sowohl beruflich als<br />
auch privat – auf dem Kopf. Sie hatte sich zu diesem<br />
Zeitpunkt einigermaßen von einem Burnout<br />
erholt, aber durchlebte weiterhin noch unangenehme<br />
Krisen, die sich nicht so schnell abstellen<br />
ließen. Das noch sehr junge und rohe Pferde forderte<br />
sie. Bei der intensiven Jungpferdeausbildung<br />
mit ihm lernte sie gleichzeitig auch sehr viel<br />
über sich selbst. „Es bleibt wenig Gelegenheit,<br />
sich auf Sorgen und Probleme zu konzentrieren.<br />
Denn das Pferd verlangt, dass man ganz im Hier<br />
und Jetzt ist“, meint Ines. Dadurch lehrte er sie<br />
beispielsweise, sich selbst zu entschleunigen,<br />
achtsamer und dankbarer zu sein. Die zwei bis<br />
drei Stunden jeden Tag mit dem Pferd waren ihre<br />
absolute Auszeit und erweckten viel neue Lebensfreude<br />
in ihr. Ines sagt: „Mein Pferd ist auch mein<br />
Therapeut, wir haben uns in der ganzen Zeit gegenseitig<br />
ausgebildet, unterstützt und gestützt.“<br />
Um Stress des Alltags zu reduzieren, reicht es<br />
für Ines schon ihr Pferd zu beobachten, zu streicheln<br />
oder zu putzen. Dadurch entschleunigt sie<br />
automatisch, da Hektik das Pferd nur unruhig<br />
macht. Das Schönste ist für sie dann, sich harmonisch,<br />
ruhig und losgelassen als Einheit zusammen<br />
fortzubewegen. „Wer reitet, fühlt sich frei“,<br />
sagt Ines. Aber um die Früchte genießen zu dürfen,<br />
muss man sie sich erst hart erarbeiten. „Wer<br />
also die Gelegenheit bekommt in die Nähe von<br />
Pferden zu kommen, sollte diesen Tiere mit viel<br />
Ruhe begegnen und aufmerksam sein“, empfehlen<br />
Celine und Ines. „Die Pferde sind es auch und<br />
spüren ganz genau, wie es einem wirklich geht.<br />
Dabei lassen sie sich von keiner aufgesetzten Fassade<br />
täuschen“, darüber sind Celine und Ines sich<br />
auch einig. Daraus folgt, dass Pferde den Menschen<br />
sowohl die besten als auch die schlechtesten<br />
Eigenschaften vor Augen führen. Und genau<br />
hier bestehe dann für den Menschen – mit der Fähigkeit<br />
zur Selbstreflektion – die Möglichkeit an<br />
sich selbst zu arbeiten.<br />
Mediale Empfehlungen<br />
Der Film Jappeloup (2013) handelt von der Beziehung<br />
zwischen dem Springpferd und Reiter<br />
Pierre Durand. Dieser Film basiert auf<br />
wahren Begebenheiten.<br />
Die Dokumentation Aus Liebe zum Mustang<br />
(2017) zeigt, wie Menschen das Vertrauen<br />
von Wildpferden gewinnen.<br />
Der Dokumentarfilm Buck – Der wahre Pferdeflüsterer<br />
(2011) begleitet zwei Jahre lang den<br />
Pferdetrainer Buck Brannaman bei seinen<br />
Trainings in den USA. Dabei hilft er nicht nur<br />
den Pferden, sondern oftmals auch deren Besitzer:innen.<br />
Der Film Gefährten (2011) zeigt die tiefe<br />
Freundschaft zwischen dem jungen Mann Albert<br />
und seinem Pferd Joey vom britischen<br />
Zuhause bis zur Front im ersten Weltkrieg.
02/ 2022 NOT AFRAID 29<br />
Leben wie ein Hund<br />
Durch die Pandemie ist der Bedarf nach Welpen enorm gestiegen, doch oft stammen die Tiere aus<br />
illegalen Zuchtbetrieben, wo sie wie Ware produziert werden. Was sind die Folgen dieses skrupellosen<br />
Geschäftsmodells und wie kann es gestoppt werden?<br />
VON DIANA HOLZ<br />
Eng, stickig, kalt – beklemmende erste<br />
Eindrücke für ein junges Leben. Und<br />
doch sind sie für viele Welpen bittere<br />
Realität. Viel zu früh ihren Müttern<br />
entrissen, leiden die Tiere ihr ganzes<br />
Leben unter den Folgen der Trennung. Ohne das<br />
Säugen entwickelt sich ihr Immunsystem nicht<br />
ausreichend, was sie anfällig für Krankheiten<br />
macht. Zusammen mit der mangelhaften Versorgung<br />
bewirken diese Umstände, dass viele der<br />
Welpen erkranken und innerhalb kürzester Zeit<br />
versterben. Überstehen die jungen Hunde die ersten<br />
Lebenswochen, zeigen sie oft Verhaltensauffälligkeiten<br />
wie Angst oder Aggressivität. „Von ihren<br />
Eltern und Geschwistern lernen sie in der Prägephase<br />
zu kommunizieren. Diese Möglichkeit<br />
wird den Welpen genommen“, erklärt Lea<br />
Schmitz, Pressesprecherin beim Deutschen Tierschutzbund.<br />
Auch die erwachsenen Tiere leiden<br />
unter dem schrecklichen<br />
Geschäft. In der Broschüre<br />
Illegaler Welpenhandel<br />
– Fakten und Hintergründe<br />
von Vier Pfoten<br />
wird erläutert, Hündinnen<br />
seien Gebärmaschinen,<br />
die einen Wurf<br />
nach dem anderen produzieren.<br />
Die Rüden<br />
würden zum Deckakt gezwungen, oft unter dem<br />
Einfluss von Hormonen. Die Tiere lebten in engen<br />
Verschlägen ohne Sonnenlicht. Eine medizinische<br />
Betreuung sei ausgeschlossen, die Kosten<br />
würden den Gewinn schmälern.<br />
Um nicht aufzufallen, verlangen die illegalen<br />
Züchter:innen die gleichen hohen Preise wie ihre<br />
seriösen Kolleg:innen. Für Welpen sogenannter<br />
Trendrassen wie Zwergspitz oder Malteser besteht<br />
eine extrem hohe Nachfrage. Käufer:innen sind<br />
bereit, mehrere Tausend Euro zu zahlen. Ein lukratives<br />
Geschäft für die illegalen Züchter:innen:<br />
Auswertungen des Deutschen Tierschutzbundes<br />
zeigen, dass 85 Prozent der illegal gehandelten<br />
Tiere Rassehunde sind.<br />
Die größten Verkaufskanäle sind Onlineplattformen<br />
wie eBay Kleinanzeigen. Dort können die<br />
Verkäufer:innen verdeckt agieren. Durch falsche<br />
Angaben zur eigenen Person und den Welpen ist<br />
eine Unterscheidung zwischen seriösen und unseriösen<br />
Angeboten praktisch nicht mehr machbar.<br />
„Im schlimmsten Fall hat man einen Welpen ohne<br />
Kaufvertrag und ohne Anschrift, der oft kurz<br />
darauf krank wird oder es schon ist“, mahnt<br />
Schmitz. Die Verkäufer:innen verschwinden in<br />
der Anonymität des Internets.<br />
„Tiere sind keine Ware<br />
und sollten nicht per<br />
Klick im Internet gekauft<br />
werden.“<br />
Tierschutzorganisationen wie der Deutsche<br />
Tierschutzbund und Vier Pfoten fordern daher die<br />
Prüfung der Angebote durch die Plattformen.<br />
Auch ein Identitätsnachweis sei dringend einzuholen.<br />
Außerdem sollen die Portale enger mit den<br />
zuständigen Behörden zusammenarbeiten, um<br />
unseriöse Händler:innen schneller aufzudecken<br />
und zu stoppen. Eine deutschlandweit einheitliche<br />
Kennzeichnungspflicht ist laut den Organisationen<br />
eine weitere sinnvolle Maßnahme. So<br />
könnte bei allen Hunden schnell und zuverlässig<br />
überprüft werden, woher sie stammen und wem<br />
sie gehören. Der Koalitionsvertrag der Ampelparteien<br />
sieht eine solche Kennzeichnungs- und Registrierungspflicht<br />
vor. Der Onlinehandel mit<br />
Heimtieren soll durch eine verpflichtende Identitätsüberprüfung<br />
eingeschränkt werden. Langfristig<br />
fordert der Deutsche Tierschutzbund ein komplettes<br />
Verbot des Onlinehandels von Tieren.<br />
„Tiere sind keine Ware<br />
und sollten nicht per<br />
Klick im Internet gekauft<br />
werden. Eine Adoption<br />
sollte immer vor Ort<br />
stattfinden“, appelliert<br />
Lea Schmitz.<br />
Die Welpen kommen<br />
meist aus Osteuropa<br />
nach Deutschland. Eine<br />
sinnvolle europäische Maßnahme wäre ein EUweites<br />
Register für Heimtiere. In vielen Mitgliedsstaaten<br />
existieren bereits solche Register. Eine<br />
Vernetzung würde dazu beitragen, die Nachverfolgung<br />
von Welpen zu erleichtern. Illegale Züchter:innen<br />
könnten so nicht mehr unter dem Radar<br />
der Behörden agieren. Das umzusetzen, sei laut<br />
Lea Schmitz aber kompliziert und schwer zu erreichen.<br />
Der Fokus des Deutschen Tierschutzbunds<br />
richte sich daher auf Deutschland als großes Abnehmerland<br />
für die illegalen Welpen. „Die Nachfrage<br />
bestimmt das Angebot“, erläutert Schmitz,<br />
„fällt diese weg, wird das Geschäft für die Händler<br />
weniger attraktiv“. Die Aufklärung vor Ort sei daher<br />
äußerst wichtig. Organisationen wie der Deutsche<br />
Tierschutzbund raten: „Hände weg vom Onlinekauf!“<br />
Tierliebe Menschen sollten seriöse<br />
Züchter:innen vor Ort durch Empfehlungen finden<br />
oder eine Adoption in einem der zahlreichen<br />
Tierheime in Erwägung ziehen.<br />
Weiterführende Informationen:<br />
www.tierschutzbund.de<br />
www.vier-pfoten.de<br />
www.bmel.de/welpenhandel<br />
Bild: Pixabay
30 NOT AFRAID<br />
mediakompakt<br />
Silent, Boomer, Gen Z – ein Vergleich<br />
Ob in der Schule, bei der Arbeit oder in der Freizeit: Viele kennen das Gefühl, in bestimmten<br />
Situationen erfolgreich sein zu müssen. Drei Generationen stellen sich in einer Umfrage dem Thema<br />
Erfolgsdruck.<br />
VON SIMON VETTER<br />
Bild: Privat Bild: Privat Bild: Privat<br />
„Ich bin momentan Student an der Uni Tübingen<br />
und studiere International Economics. Ich verfolge<br />
das Ziel, meinen Bachelor mit einer guten Note<br />
zu bestehen und dann im späteren Leben einen<br />
guten Job zu finden. Während der Studienbewerbung<br />
musste ich mich bereits mit Erfolgsdruck<br />
auseinandersetzen, weil ich aufgrund meines Notenschnitts<br />
das Gefühl hatte, an manchen Studiengängen<br />
nicht angenommen zu werden. Natürlich<br />
gab es auch in der Schule oder von den Eltern<br />
immer den Druck, gute Noten zu haben. Man war<br />
vielleicht sogar neidisch auf andere, wenn diese<br />
bessere Noten hatten als man selbst.<br />
„Man war vielleicht<br />
neidisch auf andere.“<br />
Auch will ich meine Prüfungen zur Regelstudienzeit<br />
bestehen, da ansonsten der Wechsel auf<br />
meinen Wunschstudiengang nicht klappt. Das<br />
muss ich dann auch alles auf den ersten Versuch<br />
schaffen, ansonsten kann ich mich erst wieder im<br />
nächsten Semester darauf bewerben. Insgesamt<br />
hat Erfolgsdruck für mich positive als auch negative<br />
Aspekte. Ich würde ihn indirekt jedoch als notwendig<br />
betrachten. Er spornt dich an, deine eigene<br />
Leistung noch einmal anzukurbeln und mehr<br />
an dich selbst zu glauben. Vielleicht würde ich ihn<br />
auch als Konkurrenzbewusstsein bezeichnen.<br />
Nach dem Motto: Wenn er das hinkriegt, kriege<br />
ich das auch hin.“<br />
„Ich habe eine Ausbildung zur Bankkauffrau gemacht<br />
und arbeite bei der Mercedes-Benz-Group<br />
als Controllerin. Ich würde mich privat gerne stärker<br />
in Bereichen engagieren, die nicht nur mit beruflichem<br />
Fortkommen zusammenhängen.<br />
Grund sätzlich muss man sich ja immer mit Erfolgsdruck<br />
auseinandersetzen, ob man eine Ausbildung<br />
macht, studiert oder auch in beruflicher<br />
Hinsicht. Das liegt daran, weil es überall natürlich<br />
Wettbewerbs- oder Konkurrenzsituationen gibt.<br />
Man wird zwangsläufig einem gewissen Erfolgsdruck<br />
ausgesetzt, da man nicht nur besser sein<br />
will als andere, sondern auch besser sein muss, um<br />
sich beruflich besser entwickeln zu können.<br />
Aktuell habe ich keinen Erfolgsdruck mehr, weil<br />
ich ein gewisses Alter erreicht habe, wo der Erfolgsdruck<br />
auf den Jüngeren lastet. Denn die wollen<br />
ja noch weiterkommen, ihre Ziele erreichen<br />
und müssen sich beweisen.<br />
Ich muss niemandem mehr etwas beweisen.<br />
In meinem Beruf habe ich für mich eine Basis gefunden,<br />
wo ich den Druck nicht mehr so habe wie<br />
früher. Dennoch gibt es Leute, die brauchen den<br />
Druck. Ich teilweise auch. Wenn man keinen<br />
Druck hat, kann es schon mal sein, dass man auf<br />
der Stelle verharrt und denkt: Es reicht doch so<br />
auch. So ein gewisser Druck und Konkurrenz beleben<br />
das Geschäft, heißt es doch immer. Es gibt jedoch<br />
auch negativen Druck, welcher gerne von<br />
den Vorgesetzten genutzt wird. Da wird dann<br />
Druck für alle aufgebaut und am Ende hat nur die<br />
Person, die befördert wird, etwas davon.“<br />
„Ich habe ein Ausflugslokal und ein Lebensmittelgeschäft<br />
geführt und bin immer berufstätig gewesen.<br />
Ich habe immer gearbeitet. Schaffa, schaffa,<br />
Häusle baua, sagt man so schön.<br />
Meine aktuellen Ziele sind kurz glaube ich,<br />
aber ein Ziel hat man ja irgendwo immer: Ich sorge<br />
dafür, dass es mir gut geht, ich versuche, mich<br />
in Bewegung zu halten und etwas für meine Gesundheit<br />
zu tun. Man ist froh, wenn es einem jeden<br />
Tag gut geht.<br />
„Man ist froh, wenn<br />
es einem jeden Tag<br />
gut geht.“<br />
Ich musste mich nie mit Erfolgsdruck auseinandersetzen.<br />
Ich habe alles ziemlich locker gesehen<br />
und hatte auch viele Freunde, die mir dabei<br />
geholfen haben.<br />
Unter Druck setzen lassen habe ich mich nie.<br />
Es war immer mein Ziel, Probleme zu lösen, ganz<br />
ohne Streit und ohne Druck.<br />
Ich kann also nur betonen, ich habe keinen Erfolgsdruck,<br />
denn ich muss niemandem mehr etwas<br />
beweisen. Ich bin froh, wenn es mir gut geht<br />
und ich meine Arbeit machen kann. Ich bin soweit<br />
zufrieden mit 87 Jahren.<br />
Ich empfinde Erfolgsdruck auch nicht als notwendig.<br />
Ich bin wie ich bin. Ich versuche immer<br />
positiv zu denken. Das ist mein Motto.“<br />
Patrick, 21, Generation Z<br />
Ulrike, 60, Generation Baby Boomer<br />
Johanna, 87, Generation Silent
02/ 2022 NOT AFRAID 31<br />
Angst vor Krieg?<br />
Russlands Angriffskrieg auf die<br />
Ukraine beschäftigt uns alle.<br />
Würde man selbst im Kriegsfall<br />
fliehen oder bleiben?<br />
Eine Befragung im Studiengang<br />
Mediapublishing.<br />
„Bisher dachte ich immer,<br />
dass Menschen irgendwo<br />
berechenbar<br />
sind und dass es nie wieder<br />
einen territorialen<br />
Krieg geben würde. Putin<br />
halte ich allerdings<br />
für völlig unberechenbar<br />
und deshalb habe<br />
ich schon Sorgen, dass<br />
es auch hier Krieg geben<br />
könnte. Ich komme aus dieser Generation, die um<br />
Kriegsdienstverweigerung gekämpft hat und bisher<br />
war ich der Meinung, dass es keine Konflikte<br />
gibt, die man nicht mit Worten lösen kann. Spontan<br />
hätte ich gesagt, ich wäre geflohen.<br />
Mittlerweile schwenke ich um, denn ich denke,<br />
dass wir in unserer Demokratie Rechte haben,<br />
die man verteidigen muss. Zu meiner Bundeswehrzeit<br />
wurde ich als Funker ausgebildet, weil<br />
ich nicht unmittelbar schießen wollte. Damals<br />
habe ich dann gleich im Anschluss den Kriegsdienst<br />
verweigert. Aber heute könnte ich mir eine<br />
Unterstützung dieser Art wahrscheinlich vorstellen.<br />
Wünschen würde ich mir, dass sich das russische<br />
Volk Putin entgegenstellt und die Ukraine<br />
wieder frei sein kann.“<br />
VON TANJA SCHÄFER Bild: Privat Bild: Privat<br />
„Es ist schwierig, denn<br />
eine gewisse Angst ist<br />
da, aber trotzdem fühlt<br />
sich das Thema Krieg<br />
fern an.<br />
Vor allem am Anfang<br />
des Krieges hatte<br />
ich ständig meinen Feed<br />
aktualisiert und es kamen<br />
neue Informationen,<br />
da war die Angst<br />
präsenter. Das ständige Updaten hat mir nicht gut<br />
getan und ich habe mich da etwas distanziert.<br />
Jetzt schaue ich immer mal wieder in die Nachrichten,<br />
denn ich möchte trotzdem informiert<br />
bleiben.<br />
Erstens habe ich das Gefühl, dass es eins der<br />
wenigen Dinge ist, die man gerade so wirklich tun<br />
kann, und zweitens sieht man ja gerade auch, wohin<br />
das führen kann, wenn Menschen sich nicht<br />
informieren. Die Entscheidung darüber, ob ich<br />
fliehen oder bleiben würde, wäre sehr stark von<br />
meiner Familie abhängig. Wie groß meine Hoffnung<br />
gerade sein soll, weiß ich nicht, weil ich<br />
denke, dass Putin nicht nachgeben wird. Und<br />
man auch nicht weiß, wie er sich weiter entscheiden<br />
wird zu handeln.“<br />
Dr. Rolf Jäger, Dozent<br />
Jennifer Mayer, Studentin<br />
„Möglicherweise beruht<br />
das auf einem falschen<br />
Sicherheitsgefühl, aber<br />
akute Angst davor, dass<br />
es hier Krieg geben<br />
könnte, habe ich nicht.<br />
Wenn es zu einem<br />
Krieg kommen würde,<br />
würde ich mich für Bleiben<br />
entscheiden, weil<br />
Bild: Privat<br />
hier viele Menschen leben,<br />
die mir am Herzen liegen und ich hier meine<br />
Verantwortlichkeiten und meine Aufgabe habe.<br />
Ich glaube, dass Auswandern eine Option werden<br />
könnte, allerdings nie ohne mein Netzwerk<br />
wichtiger Menschen. In einer Kriegssituation würde<br />
ich versuchen mich sozial zu engagieren, allerdings<br />
lieber unabhängig von Or ga ni sationen .<br />
Meine Hoffnung wäre, dass schnellstmöglich eine<br />
für alle Seiten akzeptable Lösung gefunden wird<br />
und damit begonnen werden kann, an einer<br />
gemeinsamen Zukunft zu arbeiten.“<br />
„Ja, ich habe auf jeden<br />
Fall Angst vor Krieg, gerade<br />
in der aktuellen Situation,<br />
wobei es ja<br />
schon immer Kriege gab.<br />
Wenn die Entfernung<br />
des Krieges auf einmal<br />
ungefähr so weit weg ist<br />
wie Mallorca, dann<br />
Bild: Privat macht man sich doch<br />
noch mal mehr Gedanken.<br />
Ich habe mich darüber informiert, was wäre,<br />
wenn es in Deutschland Krieg gäbe und da habe<br />
ich erfahren, dass ich im Verteidigungsfall das<br />
Land vielleicht gar nicht verlassen dürfte. So weit<br />
möchte ich gar nicht denken.<br />
Andererseits sollte man die Situation schon im<br />
Auge behalten, denn wer sagt, dass nach der<br />
Ukraine Schluss ist? Putin muss gestoppt und die<br />
Verantwortlichen vors Kriegsgericht gebracht<br />
werden. Ich hoffe, dass die Ukraine sich langfristig<br />
verteidigen kann.“<br />
„Konkrete Angst habe<br />
ich nicht davor, dass es<br />
hier in Deutschland einen<br />
Krieg geben könnte,<br />
da man das Thema im<br />
Alltag ganz gut verdrängen<br />
kann, aber ein beklemmendes<br />
Gefühl hat<br />
man schon.<br />
Bild: Privat Ich frage mich öfter,<br />
was ich tun würde,<br />
wenn es Krieg gäbe und ich glaube, dass ich eher<br />
versuchen würde wegzukommen. Doch wann wäre<br />
der Moment, an dem man sagt, jetzt ist es so<br />
nah, jetzt gehe ich? Wann wäre man bereit dazu<br />
alles aufzugeben? Bezüglich der aktuellen Situation<br />
würde ich nie sagen wollen, dass es gar keine<br />
Hoffnung gibt. Es gibt eben keinen einfachen Ausweg<br />
und ich glaube, militärisch endet der Krieg in<br />
der Ukraine nur, wenn es für Putin einen Way-<br />
Out gäbe, den er nehmen könnte. Den Weg sehe<br />
ich gerade allerdings nicht.“<br />
Dr. Vera Spillner, Dozentin<br />
Alexander Kraft, Student<br />
Mona Ulmer, Akademische Mitarbeiterin
Anzeigen<br />
Volontär<br />
(m/w/d) gesucht!<br />
Für unser Lektorat im Verlagsbereich Consumer suchen wir<br />
ab sofort einen Volontär (m/w/d) in Vollzeit.<br />
Wer wir sind<br />
Der Verlag Eugen Ulmer ist seit 1868 ein Fachverlag im Bereich Garten und Landwirtschaft<br />
mit 150 Mit arbeiterInnen, die sich emsig um unsere Bücher und E-Books,<br />
Zeitschriften und E-Paper, Websites, Apps, Newsletter und Social Media kümmern.<br />
Was zu tun ist<br />
- Mitwirkung bei der Entstehung von Büchern und elektronischen Medien, inkl. Betreuung<br />
einzelner Projekte von der Idee bis zum Druck einzelner Projekte, dabei Kennenlernen<br />
sämtlicher Arbeiten im Lektorat d. h. Prüfen und Redigieren der Manuskripte sowie deren<br />
Überarbeitung in formaler, sprachlicher und nomenklatorischer Hinsicht<br />
- Beschaffung, Auswahl und Zuordnung der Bildvorlagen und Betreuung der Werke<br />
während der Herstellungsphase<br />
- Marktanalysen und -auswertungen im Hinblick auf bestehende und neue Produkte<br />
- Betreuung der Autoren, Fotografen und Illustratoren<br />
- Verfassen von Pressetexten und Klappentexten<br />
Komm zu Ulmer!<br />
Bewerbung per E-Mail an personal@ulmer.de<br />
www.ulmer-verlag.de<br />
#Bock Journalismus<br />
auf<br />
aberSchissvorderMedienkrise?<br />
WirvomDJVBaden-Württemberg<br />
beantwortenalledeineFragenrund<br />
umStudieneinstieg,Volontariatund<br />
dieZeitdanach.<br />
Rufunsan,mailunsoderbesucheuns<br />
onlinebeiFacebook,TwitterundInsta!<br />
07112224954-0<br />
info@djv-bw.de<br />
www.djv-bw.de<br />
@DJVBW<br />
@DJVBW<br />
DJV_BW,bockaufjournalimus<br />
Baden-Württemberg