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MEDIAkompakt Ausgabe 32

Die Zeitung des Studiengangs Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart - www.mediapublishing.org

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DIE ZEITUNG DES STUDIENGANGS MEDIAPUBLISHING<br />

DER HOCHSCHULE DER MEDIEN STUTTGART<br />

AUSGABE 02/2022 30.06.2022<br />

media<br />

kompakt<br />

NOT AFRAID


2 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

German Angst – eine<br />

hamsternde Nation?<br />

Den Deutschen wird nachgesagt, besonders furchtsam zu sein<br />

und gerne zögerlich zu handeln. Für diese angeblich typisch<br />

deutsche Eigenschaft gibt es im Ausland einen eigenen Begriff:<br />

die German Angst.<br />

EIN KOMMENTAR VON EIKE BABEL<br />

Bild: Luis Klink<br />

Bürger:innen in die Supermärkte strömen, um so<br />

viel Klopapier zu kaufen wie nur möglich? Oder<br />

Mehl? Oder Speiseöl? Keine zwei Jahre nach Pandemiebeginn<br />

heißt es im Discounter um die Ecke<br />

wieder „Übergangsweise gilt für alle Mehlsorten<br />

eine maximale Abgabemenge von vier Packungen”.<br />

Man könnte denken, die Deutschen haben<br />

aus vergangenen Krisen rein gar nichts gelernt.<br />

„Denn wenn die Menschen aus der Corona Krise<br />

gelernt hätten, dann wüssten sie, dass Lebensmittel<br />

in Deutschland nicht knapp werden”, wie<br />

Christian Lüdke, Mitglied der deutschsprachigen<br />

Gesellschaft für Psychotraumatologie, im Interview<br />

mit Focus Online sagt.<br />

„Aber viele hören in manchen Momenten auf<br />

zu denken”. Dieser Reflex werde durch immer<br />

neue Nachrichten ausgelöst. In solchen Momenten<br />

würden die Menschen den Kopf ausschalten<br />

und befänden sich quasi im Steinzeitmodus: „Ich<br />

muss meine Höhle vollpacken.” Dann gehe es nur<br />

um das eigene Überleben und das der Familie. In<br />

erster Linie sind das reine Kontrollverlustängste”.<br />

Man befinde sich in einer Situation, die man als<br />

Mensch nicht kontrollieren könne. Dadurch werde<br />

das grundlegende Sicherheitsgefühl der Bürger<br />

massiv erschüttert. „Wenn sie aktiv werden, glauben<br />

sie, sich ein Stückchen Sicherheit zu verschaffen”,<br />

erklärt Lüdke. Trotzdem bleibt das Hamstern<br />

von Lebensmitteln eine Art Egoismus, weil keiner<br />

mehr an seine Mitmenschen denkt, sondern nur<br />

noch an sich selbst. Getrost nach dem Motto: erst<br />

mal muss es nur mir gut gehen, dann sehen wir<br />

weiter.<br />

„Aber viele hören in<br />

manchen Momenten<br />

auf zu denken.”<br />

Bild: Rebecca Kraemer<br />

Es gibt viele Gründe für die Bürger:innen<br />

der Nation beunruhigt zu sein: Klimawandel,<br />

der Krieg in der Ukraine<br />

und viele ungeklärte Zukunftsfragen in<br />

Zeiten der Coronakrise. Laut einer<br />

jährlichen Studie der R+V Versicherung sind mit<br />

rund 53 Prozent die größte Angst der Deutschen<br />

Steuererhöhungen beziehungsweise Leistungskürzungen,<br />

ausgelöst durch die Corona-Pandemie.<br />

Auf Platz zwei und drei des Rankings liegen<br />

mit jeweils 50 Prozent die steigenden Lebenshaltungskosten<br />

und Kosten für den Steuerzahler<br />

durch die EU-Schuldenkrise (Stand September<br />

2021). Sicherlich sind das keine Ängste, die sich<br />

nach Lust und Laune verschieben und verändern.<br />

Wenn es gefühlt um die eigene Existenz geht, darf<br />

man man durchaus auch mal beunruhigt sein.<br />

Doch wie rechtfertigt man, dass unzählig viele<br />

Wie absurd und unnachsichtig das ist, können<br />

und wollen viele nicht sehen. Fairerweise muss<br />

man dazu sagen, dass dieses Handeln nicht von<br />

rationaler, sondern von emotionaler Natur ist.<br />

Man kann es also nicht nur der mangelnden Intelligenz<br />

zuschreiben. Natürlich spielen auch hier<br />

die wirtschaftlichen Verhältnisse eine große Rolle.<br />

„Menschen, die finanziell unabhängig sind, interessiert<br />

der Spritpreis kaum. Für andere ist das<br />

ein großes Problem“, betont Christian Lüdke zum<br />

Abschluss des Interviews.<br />

Doch wie schafft man es, eine Nation umzustimmen<br />

und aufzuklären, der seit Jahrzehnten<br />

Furchtsamkeit und Zögerlichkeit zugesprochen<br />

wird? Man sollte sich in dem Moment Zeit zum<br />

Nachdenken nehmen und sich fragen, wie man<br />

sich am Besten von diesen egoistischen Gedanken<br />

und Impulsen distanzieren kann. Man sollte sich<br />

fragen: „Brauche ich jetzt wirklich die beiden letzten<br />

Flaschen Sonnenblumenöl aus dem Regal?”<br />

Denn so floskelhaft sich das anhören mag, eine<br />

gute Gesellschaft funktioniert nur, wenn auch alle<br />

mitmachen. Wenn man sich aus alten Verhaltensmustern<br />

löst und anfängt mehr im Kollektiv<br />

zu denken, statt nur an sich.


02/ 2022 NOT AFRAID 3<br />

Summertime sadness<br />

Steigende Temperaturen und hellere Abendstunden: Die Vorfreude<br />

auf den Sommer wächst. Doch für einige Menschen steht der<br />

Sonnenschein im starken Kontrast zu ihrer eigenen Stimmung.<br />

VON SINA MAJER<br />

Bild: Adobe Stock/nanihta<br />

Mit dem Ende des Winters fiebert<br />

der Großteil der Menschen mit<br />

freudiger Erwartung dem Sommer<br />

entgegen. Der Grund: Vielen<br />

schlägt die dunkle Jahreszeit aufs<br />

Gemüt. Der Begriff der Winterdepression wird im<br />

Alltag dabei gerne salopp verwendet. Doch so<br />

leicht wie sich dieser Ausdruck im Sprachgebrauch<br />

etabliert hat, kann man bei einer getrübten<br />

Stimmung noch lange nicht von einer depressiven<br />

Erkrankung sprechen. Allerdings können<br />

gewisse Phasen im Jahr depressive Verstimmungen<br />

begünstigen oder verstärken.<br />

Der medizinische Fachausdruck der Winterdepression<br />

ist die sogenannte saisonal abhängige<br />

Depression. Im Gegensatz zu klassischen, unipolaren<br />

Depressionen treten die Symptome nur in<br />

bestimmten Phasen des<br />

Jahres immer wiederkehrend<br />

auf. Meistens im<br />

Herbst oder Winter. Als<br />

Auslöser würden viele<br />

Experten den Botenstoff<br />

Melatonin verantwortlich<br />

machen, erklärt<br />

Christine Rummel-Kluge.<br />

Sie ist geschäftsführende<br />

Oberärztin am Universitätsklinikum in Leipzig. Er<br />

beeinflusst im Körper unseren Schlaf-Wachrhythmus.<br />

Durch die geringe Lichtintensität<br />

während der Wintermonate ist die<br />

Melatonin-Ausschüttung im Körper besonders<br />

hoch. Als Folge fühlen wir uns müde und haben<br />

ein vermehrtes Schlafbedürfnis.<br />

Gibt es eine Sommerdepression?<br />

Eine zum Winter analoge Sommerdepression gibt<br />

es wie in einigen Artikeln im Netz beschrieben<br />

jedoch nicht. Rummel-Kluge betont: „Der Begriff<br />

Sommerdepression ist vor allem ein gemachter<br />

Begriff der Medien“. Häufig wird der Ausdruck mit<br />

der Freizügigkeit im Sommer und dem damit einhergehenden<br />

Selbstzweifel einiger junger Frauen<br />

erwähnt. Der verstärkte Fokus auf die Körperwahrnehmung<br />

kann den Unmut zum eigenen<br />

Körper zwar begünstigen, Depression sei aber<br />

etwas anderes als Unzufriedenheit oder schlechte<br />

Laune, hebt die Oberärztin hervor. „Der Begriff in<br />

einem solch irrtümlich verwendeten Zusammenhang<br />

wird Menschen mit echter Depression nicht<br />

gerecht“, bekräftigt sie.<br />

Bei einer saisonal abhängigen Depression treten<br />

atypische Symptome in Erscheinung. Dazu<br />

zählen unter anderem vermehrter Appetit und<br />

Schlaf, anstatt Appetitverlust und Schlafstörungen.<br />

Letztere begleiten häufig eine unipolare<br />

„Der Begriff Sommerdepression<br />

ist vor<br />

allem ein gemachter<br />

Begriff der Medien.“<br />

Depression , zu deren Kernsymptomen eine niedergeschlagene<br />

Stimmung und Antriebs-, und<br />

Freudlosigkeit gehören. Fachexperten hätten<br />

Menschen untersucht, die im Sommer unter einer<br />

wiederholten depressiven Episode litten,<br />

beschreibt Rummel-Kluge. Der Großteil der<br />

Betroffenen hätte Symptome einer unipolaren<br />

Depression gezeigt. Das Ergebnis bestätigt: Sommermonate<br />

sind selten der Auslöser für depressive<br />

Erkrankungen . In den meisten Fällen verstärken<br />

sie jedoch eine bereits vorhandene.<br />

Einfluss auf Stimmung und Selbstwert<br />

Die Oberärztin rät Betroffenen im Sommer aus<br />

diesem Grund von einer Urlaubsreise ab. Die<br />

sichtbare Lebensfreude des Umfelds rückt die persönliche<br />

konträre Stimmung nur in den Fokus der<br />

eigenen Wahrnehmung.<br />

Schuldgefühle kommen<br />

hinzu. „Einem an Depression<br />

erkrankten<br />

Menschen fällt dann<br />

auf: Ich bin im Urlaub,<br />

die Sonne scheint, es<br />

müsste mir doch eigentlich<br />

gut gehen“,<br />

beschreibt sie.<br />

Für viele Menschen war der Corona-Sommer<br />

und der Umgang mit der plötzlichen Einsamkeit<br />

eine Herausforderung. Für Menschen mit depressiven<br />

Erkrankungen glich er vage formuliert einer<br />

Erleichterung. Die eigene Situation sei jetzt nicht<br />

mehr so stark aufgefallen. Man hätte sich nun in<br />

einem breiten Strom bewegt, wo man vorher immer<br />

nur gegen ihn geschwommen sei, veranschaulicht<br />

Babette Glöckner die Gefühlslage der<br />

Betroffenen. Die Pastorin ist seit 13 Jahren Leiterin<br />

der telefonischen Seelsorge in Hamburg.<br />

Menschen mit Depression zieht die vermehrte<br />

soziale Aktivität in den Sommermonaten häufig<br />

noch stärker in die eigene, sogenannte Tunnelexistenz.<br />

Wichtig ist aber, sich entgegen dem Gefühl<br />

nicht weiter in den eigenen vier Wänden zurückzuziehen.<br />

Der Rückzug verhindert das Erleben positiver<br />

Erfahrungen, die für den Wiederaufbau des Selbstwertgefühls<br />

dringend notwendig sind. Für Mitmenschen<br />

rät Glöckner an dieser Stelle: „Zuhören.<br />

Der Person achtsames und wertschätzendes<br />

Interesse entgegenbringen. Ihr vermitteln ‚Du bist<br />

wichtig in dem Moment‘.“<br />

Summertime Sadness – ein Titel mit zwei Deutungen.<br />

Dabei gilt: Mit einem größeren<br />

öffentlichen Bewusstsein für psychische Erkrankungen<br />

nimmt man Betroffenen ein Stück Last<br />

von ihren Schultern.


4 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Bild: Pexels<br />

Zwischen Furcht und Freude<br />

Mord, Totschlag und andere Verbrechen – dass Krimis und Thriller schon lange die deutschen<br />

Massen begeistern, ist bekannt. Einen besonderen Grusel-Faktor bietet das Genre „True Crime“.<br />

VON LAURA EPPLE<br />

Ein sonniger Montagmorgen am<br />

S-Bahnhof Stuttgart–Feuerbach. Eine<br />

junge Frau rennt die Stufen zum Gleis<br />

hinauf, zieht ihre Kopfhörer auf und<br />

steigt in die Bahn. Sie holt ihr<br />

Smartphone heraus, drückt den Play-Button und<br />

schaut gedankenverloren aus dem Fenster. Häuser<br />

und Bäume ziehen vorbei, während die Stimme in<br />

ihrem Ohr erzählt, wie Tristan Brübach am 26.<br />

März 1998 seinen Tod findet.<br />

True Crime Podcasts begeistern bereits seit einigen<br />

Jahren die deutschen Hörer:innen. Knapp<br />

20 Prozent der 2022 befragten deutschen Podcast-<br />

Hörer:innen geben an, am liebsten Folgen aus<br />

dem Grusel-Genre zu hören. True Crime-Formate<br />

gibt es aber schon länger. Früher begeisterte unter<br />

anderem Eduard Zimmermann mit „Aktenzeichen<br />

XY“ die deutschen Kriminalfans, während<br />

seit 2014, mit dem Start des US-Podcasts „Serial“,<br />

vor allem True Crime Podcasts boomen.<br />

Im November 2018 entscheidet sich auch True<br />

Crime-Fan Alex Apeitos dazu, einen eigenen Podcast<br />

zu produzieren, dem er den passenden Namen<br />

„Wahre Verbrechen“ gibt. „Ich habe zu der<br />

Zeit immer ‚Mordlust‘ und ‚Zeit Verbrechen‘ gehört<br />

und fand die Fälle einfach fesselnd. Irgendwann<br />

habe ich mir gedacht: ‚Komm, das probierst<br />

du jetzt auch mal aus.‘ Und dann habe ich meine<br />

erste Folge hochgeladen“, sagt er. Und das mit Erfolg<br />

– heute misst seine Community auf Instagram<br />

über 13 000 Follower. Seinen ersten Fall widmete<br />

der Berliner dem in Downtown Los Angeles<br />

gelegenen Hotel Cecil, auch bekannt als „Horror-<br />

Hotel“, das seine Popularität vor allem der vielen<br />

Morde, Suizide und mysteriösen Vorkommnisse<br />

verdankt.<br />

„Ich hatte damals American Horrorstory geschaut<br />

und da gab es eine Staffel, die in diesem<br />

Hotel gespielt hat und deswegen hatte ich das sofort<br />

im Kopf“, sagt Alex. „Durch die unverhältnismäßig<br />

vielen Serienverbrechen und Suizide gab es<br />

da eine Verbindung zwischen Krimi und Mysterium,<br />

die mich sehr interessiert hat“, erklärt er.<br />

Warum True Crime bei den Hörer:innen so beliebt<br />

ist liegt für Alex an drei Faktoren: „Zum einen<br />

ist da die Spannung. Es wird eine Geschichte<br />

erzählt und etwas aufgebaut, das heißt man wird<br />

neugierig und will wissen, wie es weiter geht. Ein<br />

anderer Grund ist auch der Schock oder das Unerklärte.<br />

Man fragt sich, was einen Menschen zum<br />

Täter macht und ist entsetzt durch die Tat.“ Ein<br />

weiterer Grund sei die Nähe zum Geschehen. „Zu<br />

wissen, dass es wirklich passiert ist, macht das<br />

Ganze noch realer und gefährlicher und so auch<br />

spannender“, erzählt Alex.<br />

Ein weiteres True Crime-Phänomen ist, dass<br />

sich besonders Frauen von den wahren Verbrechen<br />

angezogen fühlen. „Während es sich bei den<br />

Strafgefangenen zu 95 Prozent um Männer handelt,<br />

sind die Interessierten an Verbrechen in meinen<br />

Vorlesungen vorwiegend Frauen“, erläutert<br />

Jörg Kinzig, Direktor des Instituts für Kriminologie<br />

der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.<br />

Über die Gründe könne man allerdings nur spekulieren.<br />

„Was wir mit Sicherheit wissen, ist dass<br />

Frauen eher Furcht vor Kriminalität verspüren als<br />

Männer und das könnte ein größerer Faktor sein.<br />

Möglich ist auch, dass weibliche Hörer durch den<br />

Konsum von Podcasts die Taten besser verstehen<br />

wollen, vielleicht auch um zu erfahren, welche<br />

Vorkehrungen sie treffen können. Mit Sicherheit<br />

sagen kann man das allerdings nicht“, sagt Kinzig.<br />

Warum uns wahre Verbrechen so faszinieren,<br />

hat viele Gründe: Spannung, Neugier, Entsetzen,<br />

bis hin zur Angstlust. Im Mordfall Tristan Brübach<br />

mag es eine Mischung aus allem sein. Fest steht:<br />

Wir gruseln uns gern – aber aus sicherer Distanz.<br />

Wahre Verbrechen by Alex<br />

Instagram: @wahre_verbrechen_podcast<br />

Spotify: True Crime Podcast:<br />

Wahre Verbrechen<br />

Erscheint jeden 2. Donnerstag


02/ 2022 NOT AFRAID 5<br />

Schraube locker – na und?<br />

„Ich bin in Therapie!“: Bei solch einer Aussage geht einem verschiedenes durch den Kopf.<br />

Therapie sollte aber nichts Unnormales sein. Im Gegenteil. Oft hilft Therapie auch mit den<br />

alltäglichen Problemen besser klarzukommen.<br />

VON SOPHIA OROSZI<br />

„Als ich gemerkt<br />

habe, dass etwas<br />

nicht mit mir<br />

stimmt, suchte<br />

ich mir Hilfe.“<br />

Angst, Herzrasen, Schweißausbruch –<br />

jeder kennt dieses unwohle und beklemmende<br />

Gefühl von Hilflosigkeit.<br />

Manchmal ist es etwas ganz Alltägliches,<br />

wie zum Beispiel Stress in der<br />

Schule oder bei der Arbeit, aber auch Streit in der<br />

Familie oder in der Partnerschaft können derartige<br />

Empfindungen auslösen.<br />

Die 22-Jährige Mediengestalterin<br />

Lina* geht seit mehr<br />

als sieben Jahren zur Therapie.<br />

„Als ich gemerkt habe,<br />

dass irgendetwas nicht mit<br />

mir stimmt und es mir nicht<br />

gut geht, suchte ich mir Hilfe“,<br />

verrät sie im Interview.<br />

Auf eigenen Wunsch machte<br />

sich die damals 15-Jährige zusammen<br />

mit ihrer Mutter auf<br />

den Weg zum Hausarzt. Lina<br />

war es von Anfang an wichtig, offen mit ihrer<br />

Mutter über ihre Gefühle zu sprechen. Nach dem<br />

Gang zum Hausarzt folgte eine Überweisung zum<br />

Psychologen. Auch hier war ihre Mutter als große<br />

Stütze, selbst bei der ersten Sprechstunde, mit dabei.<br />

Durch tiefgründige Gespräche, aber auch<br />

Atemübungen zur Kontrolle der unterdrückten<br />

Gefühle, konnte der Psychologe der heute 22-Jährigen<br />

weiterhelfen. Nach ihrem Empfinden sollte<br />

jedem Menschen die Möglichkeit bereitstehen, eine<br />

derartige Therapie aufsuchen zu können. Doch<br />

das gelingt nicht immer. Ein Antrag entscheidet<br />

darüber, ob die Krankenkasse die Kosten der Psychotherapie<br />

übernimmt.<br />

Im Jahr 2015 waren knapp<br />

2 Millionen Deutsche in ambulanter<br />

Psychotherapie. Also<br />

warum wird diese Angelegenheit<br />

immer noch als Tabuthema<br />

gesehen? „Vor ein paar<br />

Jahren reagierte nicht jeder so<br />

positiv darauf, als ich sagte,<br />

dass ich mich in Psychotherapie<br />

befinde“, erklärte Lina.<br />

„Manche haben so ablehnend<br />

darauf reagiert, dass ich es irgendwann nicht<br />

mehr erzählt habe“. Doch immer mehr junge<br />

Menschen im Alter von 18 bis 25 leiden unter diagnostizierten<br />

psychischen Störungen. Speziell<br />

Student:innen, die unter hohem Leistungsdruck<br />

stehen, sind davon betroffen. „In den letzten zwei<br />

Jahren, bekam ich aus meinem Bekanntenkreis<br />

immer häufiger zu hören, dass sich jemand in<br />

Therapie befindet. Der Austausch hilft oftmals“,<br />

erklärte die Mediengestalterin.<br />

Für Lina war der Schritt zur Therapie rückblickend<br />

die beste Entscheidung, die sie treffen<br />

konnte. Durch ihre Furchtlosigkeit, mit dem Thema<br />

offen umzugehen, ermutigte sie bereits eine<br />

Arbeitskollegin sich Hilfe zu suchen.<br />

Mit den Worten „Mut zum Hilfe suchen!“, beendete<br />

die 22-Jährige das Interview.<br />

* Namen von der Redaktion geändert.<br />

Tipp von Lina:<br />

Wenn es dir nicht gut geht, suche dir Hilfe<br />

bei deinem Arzt. Oft hilft es mit einem vertrauten<br />

Menschen zu sprechen, der dich auf<br />

diesem Weg begleitet. Habe Mut es dir selbst<br />

einzugestehen, wenn du Hilfe brauchst. Du<br />

bist nicht allein!<br />

Bild: Pexels


6 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Mut zur Angst<br />

Spinnen, Prüfungen, Telefonate. Furcht ist nicht gleich Furcht.<br />

Sie kann beschützen und gefährden. Diese Methoden helfen,<br />

das Grauen zu besiegen.<br />

VON JESSICA MORLOCK<br />

Bild: Quelle: pixabay.com/ unsplash.com: Alexandra Gor/ Montage Jessica Morlock<br />

Ein grauer Himmel. Dicke Regentropfen<br />

zerplatzen auf dem Asphalt. Draußen<br />

kriechen sie hervor. Kein Gesicht.<br />

Lang. Schleimig. Stumm. Wie eine rosa<br />

Alien-Invasion besetzen sie Straßen<br />

und Wege – Regenwürmer. Die Kreaturen sind weder<br />

gefährlich noch angriffslustig, aber sie sind eine<br />

irrationale Angst.<br />

Ängste sind etwas sehr Wichtiges. Eine gesunde<br />

Portion Furcht schützt vor Gefahren. Andererseits<br />

unterliegt Angst immer einer Eigendynamik.<br />

Diese kann irrationale, gefährliche Gedankenmuster<br />

hervorrufen. Der Neurologe Holger Flöttmann<br />

beschreibt in seinem Buch „Angst: Ursprung<br />

und Überwindung“ diffuse Angst als die<br />

Furcht vor keiner echten Bedrohung. Jeder weiß –<br />

ein Regenwurm ist nicht lebensgefährlich. Alles<br />

kann Grauen erzeugen. Besonders verbreitet sind<br />

Platzangst, Sozialphobie oder Tierphobien. Das<br />

Angstpotenzial hängt vom Erziehungsstil sowie<br />

biologisch-evolutionären und genetischen Faktoren<br />

ab. Gesundheitliche Beschwerden wie die<br />

Schilddrüsenerkrankung Hashimoto und seelische<br />

Probleme wie Depressionen erhöhen die Anfälligkeit.<br />

Keine Angst vor Hilfe<br />

Laut der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie,<br />

Christa Roth-Sackenheim, sind irrationale<br />

Ängste krankhaft, wenn sie die Lebensqualität<br />

der Betroffenen einschränken. Eine Person mit<br />

Flugangst, die kein Bedürfnis hat zu fliegen, ist<br />

nicht beeinträchtigt. Anders als eine Person, die<br />

sich vor Spritzen fürchtet und deswegen wichtige<br />

Arzttermine vermeidet. Auch wenn das Umfeld<br />

leidet, ist eine Behandlung ratsam. Eine Verhaltenstherapie<br />

ist für die Fachärztin der beste Ansatz:<br />

„Das ist ein psychotherapeutisches Verfahren<br />

und bei allen Arten von Ängsten die Methode,<br />

die am effektivsten und am langanhaltendsten<br />

ist.“ Die Patient:innen erleben mehrmals die Konfrontation.<br />

Sie nehmen wahr, dass von der Angst<br />

kein Risiko ausgeht. Das Muster im Gehirn<br />

schreibt sich um. Bei einer Regenwurm-Phobie<br />

hilft die Beschäftigung mit den Geschöpfen.<br />

Bilder betrachten. Dokumentationen anschauen.<br />

Im Garten einen Wurm beobachten. „Das Mittel<br />

der Wahl ist die Konfrontation mit der Situation.<br />

Die Schwelle der Angst sinkt, je gewöhnlicher etwas<br />

für einen wird“, betont die Expertin. Dabei<br />

muss klar von posttraumatischen Ängsten unterschieden<br />

werden. In diesen Fällen ist es wichtig,<br />

vor der Konfrontation ausreichende Stabilität zu<br />

erreichen, um keine Retraumatisierung hervorzurufen.<br />

Praktiken gegen das Grauen<br />

Senay Isik hypnotisiert ihre Klient:innen, um die<br />

Angst zu behandeln. Sie versetzt sie in eine körperliche<br />

und geistige Entspannung. Bis in die<br />

Tiefenhypnose. Eine ihrer Methoden ist die Rückführung<br />

zum Ereignis der Furcht. Oft verstecken<br />

sich diese in der Kindheit. Negative Erlebnisse verknüpfen<br />

sich unterbewusst mit ungefährlichen<br />

Dingen.<br />

Die Hypnose bewirkt einen neuen Blickwinkel auf<br />

den Auslöser. „Ich schicke die Person zurück und<br />

lasse sie ihr inneres Kind trösten. Dem Kind wird<br />

erklärt, dass diese Gefühle diese Erlebnisse zur<br />

Vergangenheit gehören und dass es jetzt keine<br />

Angst mehr davor haben muss“, berichtet die<br />

Hypnotiseurin.<br />

Sandra Büchele, Heilpraktikerin für Psychotherapie,<br />

nutzt Techniken der Systemik. Im Gespräch<br />

analysiert sie die Funktion des Umfelds auf die<br />

Angst. Traut sich eine Person nicht mehr allein<br />

raus, weil sie unterbewusst die Fürsorge ihrer<br />

Familie behalten will? Neue Impulse verändern<br />

das System. Ein gesünderes Gleichgewicht<br />

zwischen Individuum und Umfeld entsteht.<br />

Für die Selbsthilfe eignen sich nach der Fachärztin<br />

Christa Roth-Sackenheim Ausdauersport, progressive<br />

Muskelentspannung, eine proteinreiche<br />

abwechslungsreiche Ernährung, gute soziale<br />

Kontakte und Austausch in einer Selbsthilfegruppe.<br />

Trotz der verschiedenen Methodiken sind sich<br />

alle Expert:innen einig: Jede Angst ist heilbar.<br />

Hilfsangebote:<br />

Therapieplatzvermittlung:<br />

Therapieplatzvermittlung:<br />

117116<br />

117116<br />

Vermittlungshilfe<br />

Vermittlungshilfe<br />

Selbsthilfegruppen:<br />

Selbsthilfegruppen:<br />

LAG<br />

LAG<br />

KISS<br />

KISS<br />

Tel.<br />

Tel.<br />

0711<br />

0711<br />

45149290<br />

45149290<br />

lag-kiss@selbsthilfe-bw.de<br />

lag-kiss@selbsthilfe-bw.de


02/ 2022 NOT AFRAID 7<br />

(Alb)traum: Bühne<br />

Bild: Fynn Freund<br />

Eine eigene Tour, ausverkaufte Konzerte und Fans, die den Namen rufen – wer möchte das nicht?<br />

Aber was, wenn dieser scheinbare Traum mit Schlaflosigkeit und Angst einhergeht? Musiker Jakob<br />

Bruckner erzählt von seinen Erfahrungen.<br />

VON ANN-KATHRIN SKIBA<br />

Die Pandemie war für viele Künstler:innen herausfordernd.<br />

Was hat sie denn für euch bedeutet?<br />

Wir hatten gerade unsere zweite Single aus dem<br />

neuen Album veröffentlicht, als der erste Lockdown<br />

kam. Wir hätten unsere erste Festival-Saison<br />

und eine eigene Tour gespielt.<br />

Ehrlich gesagt war ich aber erleichtert, als die verschoben<br />

wurde. Vor dieser Tour war ich unfassbar<br />

unsicher und dachte wir wären zu schlecht zum<br />

Auftreten. Im Nachhinein weiß ich, dass mir die<br />

Auftritte wahnsinnig viel gegeben und von der<br />

Unsicherheit genommen hätten.<br />

Wie äußert sich diese Unsicherheit bei dir?<br />

Ich bin sehr gut darin, mich in Gedankenspielen<br />

zu verlieren. Mein Kopf wandert und malt sich<br />

Worst-Case-Szenarien aus. Beispielsweise, dass<br />

niemand zum Konzert kommt. Selbst wenn da<br />

Sold Out steht, denke ich es kommt niemand,<br />

weil vielleicht noch eine geilere Band in der Stadt<br />

spielt.<br />

Besonders krass ist das, wenn ich lange nicht<br />

mehr vor Menschen gespielt habe. Dann bin ich<br />

saunervös, von Schlaflosigkeit geplagt und bekomme<br />

Herzrasen. Gerade während Corona war<br />

das schlimm – den Festivalsommer ‘21 mussten<br />

wir deshalb komplett absagen.<br />

Gibt es Faktoren, die diese Ängste verstärken?<br />

Veränderungen im Team sind schwer für mich.<br />

Oder auch wenn bei einem Gig andere Bands<br />

spielen, die gerade richtig durchstarten und die<br />

man selbst feiert – das schüchtert ein.<br />

Ich glaube so geht es aber vielen Künstlern. Dieses<br />

Extrovertierte, was man sieht, ist oft eine Überspielung<br />

von Unsicherheit.<br />

Wie schaffst du es trotzdem auf die Bühne? Hast du<br />

Strategien, die dir helfen?<br />

Atmen! Ich zieh meine Lunge so voll es geht, drücke<br />

alle Luft raus und wenn nichts mehr geht,<br />

noch ein bisschen mehr. Das mach ich 10 bis 15<br />

Mal.<br />

Während Corona habe ich auch eine Therapie angefangen.<br />

Dort habe ich gelernt zu erkennen,<br />

wenn mein Kopf sich verselbstständigt und in eine<br />

Negativspirale gerät. Wenn ich da früh reingehe,<br />

werden die Ängste nicht so groß.<br />

Gibt es Möglichkeiten, von außen zu unterstützen?<br />

Ich kann mich an Berlin auf der letzten Tour erinnern,<br />

wo vor dem Konzert schon laut „Bruckner“-Chöre<br />

angestimmt wurden, das gibt auf jeden<br />

Fall einen kranken Push!<br />

Bild: Fynn Freund<br />

Habt ihr Rituale, die ihr vor einem Konzert durchgeht?<br />

Bühnenoutfit anziehen, Zähneputzen, Stretchen.<br />

Und spätestens eine halbe Stunde vor dem Konzert<br />

muss backstage laut Gute-Laune-Musik laufen.<br />

Dazu tanze ich dann die Nervosität so gut es geht<br />

raus, so lässt sie sich in etwas Positives kanalisieren.<br />

Kurz vor dem Gig umarmen wir uns noch mal<br />

alle und dann geht’s raus!<br />

Kannst du deinen Unsicherheiten auch was Positives<br />

abgewinnen?<br />

Meine Unsicherheiten haben mich zum Musikmachen<br />

getrieben und mich meine Leidenschaft<br />

finden lassen. Als ich gemerkt habe, dass ich Zuspruch<br />

bekomme, wenn ich öffentlich singe oder<br />

spiele, hat das viel mit mir gemacht und mein<br />

Selbstbewusstsein verändert. Ich konnte mich<br />

selbst plötzlich mehr lieben kann und Musik wurde<br />

zu einer zentralen Sache in meinem Leben.<br />

Hast du Tipps für Leute mit ähnlichen Problemen?<br />

Mir helfen Meditations-Apps und Sport. Bei Schlaflosigkeit<br />

hilft mir außerdem Tagebuchschreiben!<br />

Wenn ich mich im Bett rumwälze, stehe ich auf,<br />

setze mich an den Schreibtisch und schreibe auf,<br />

was mir durch den Kopf geht. Und natürlich –<br />

Handy weglegen!<br />

Was steht bei Bruckner in kommender Zeit an?<br />

Wir sind gerade viel im Studio, planen und drehen<br />

Musikvideos und veröffentlichen bald einen<br />

neuen Song. Dann geht es an den Festivalsommer<br />

und unsere coronabedingt verschobene Tour.<br />

Am 20. April 2023 sind wir mit der Tour auch wieder<br />

im Wizemann in Stuttgart!


8 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Pop the Bubble<br />

Klick auf Insta: Veganer Bananenkuchen, Fridays for Future,<br />

Handlettering. Alles außerhalb des gewohnten Medienverhaltens<br />

wird weggefiltert. Dieser Artikel zeigt, wie die eigene Filterblase<br />

funktioniert und wie man sie platzen lassen kann.<br />

VON JENNY HUBER<br />

Bild: Unsplash/ Sandra Seitamaa<br />

Mut sich mit differenzierten Meinungen<br />

auseinanderzusetzen –<br />

das ist gar nicht so einfach. In Anbetracht,<br />

dass Algorithmen jeder<br />

Nutzerin und jedem Nutzer nur<br />

bestimmte Informationen in die Timeline spielen.<br />

So besitzt jede:r einen eigenen Strauß aus Informationen,<br />

die einen Diskurs erschweren.<br />

Mittlerweile nutzen alleine in Deutschland<br />

72,6 Millionen Personen Social Media. Google hat<br />

mit über 80 Prozent Marktanteil im Suchmaschinen-Markt<br />

eine monopole Stellung. Kostenlos ist<br />

beides – wir bezahlen mit unseren Daten. So landen<br />

Meldungen, Beiträge oder Nachrichten auf<br />

unserer Timeline, die zu uns und unserem Medienverhalten<br />

passen sollen. Konträre Meinungen<br />

tauchen hingegen sehr selten auf. Wissenschaftler:innen<br />

nennen dieses Phänomen Filterbubbles.<br />

Der Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler<br />

Wolfgang Schweiger definiert die Filterblase<br />

in seinem Buch<br />

„Der (des)informierte<br />

„Lieber aktiv selektieren,<br />

als passiv konsumieren.<br />

So kann man<br />

dem Sog einer Filterblase<br />

entkommen.“<br />

Bürger im Netz” als<br />

„maßgeschneidertes<br />

Angebot an Informationen”.<br />

Mit jeder Interaktion,<br />

sprich jedem<br />

spontanen Link, Kommentar<br />

und Teilen,<br />

wird das Profil der Filterblase<br />

langfristig<br />

nachgebessert.<br />

Dass Filterblasen<br />

erst mit Beginn vom<br />

Web 4.0 entstanden sind, entkräftet Jens Vogelgesang<br />

von der Universität Hohenheim. Dort ist er<br />

Professor und Fachgebietsleiter für Kommunikationswissenschaft,<br />

insbesondere für Medien- und<br />

Nutzungsforschung. „Ähnliches hat sich schon<br />

immer zu Ähnlichem gesellt“, verdeutlicht er und<br />

spielt dabei auf das Prinzip der Homophilie an.<br />

Dieses besagt, dass Menschen sich gerne in Gruppen<br />

aufhalten, deren Mitglieder dieselben Werte,<br />

Ziele und Sympathien haben. Während sich die<br />

einen Gruppen nicht an Hundebildern sattsehen<br />

können, interessieren sich andere vor allem für<br />

Motorsport oder Interior Design.<br />

Doch durch Filterblasen entsteht ein einseitiges<br />

Bild der Welt: Das soziale Abbild, das wir<br />

durch soziale Medien und Suchmaschinen vermittelt<br />

bekommen, zeigt oft nicht das vollständige<br />

Bild vom aktuellen Diskurs und ist meist sogar<br />

von Meinungen anderer bereinigt. Die eigene<br />

Wahrnehmung wird immer wieder bekräftigt und<br />

uns wird bestätigt, dass die persönliche Meinung<br />

richtig ist und alle anderen auch so denken. Auch<br />

wenn Fakten im Allgemeinen nicht stimmen und<br />

nur die Meinung einer Minderheit reproduziert<br />

wird. Filterblasen können weitreichende Folgen<br />

haben, wenn Nutzer:innen dabei in ein sogenanntes<br />

Rabbit Hole versinken. Wie bei Alice im<br />

Wunderland werden sie immer weiter in einen<br />

Sog aus Informationen gezogen. Existiert die Informationsquelle<br />

abseits der klassischen, etablierten<br />

Medien und verfolgt gewisse Ideologien, kann<br />

daraus eine verzerrte Realitätswahrnehmung resultieren.<br />

Die individuelle Einschätzung zwischen<br />

wahr und falsch wird erschwert, sodass alternative<br />

Fakten als absolute Realität wahrgenommen<br />

werden. Zur Vermeidung von starren Filterbubbles<br />

sollte die persönliche Meinung also stetig<br />

hinterfragt werden, um nicht in einem festgefahrenen<br />

Weltbild zu verharren.<br />

Faire Diskussionen<br />

können nur in einer<br />

funktionierenden Demokratie<br />

stattfinden.<br />

„Ohne Gegenrede<br />

funktioniert Demokratie<br />

nicht”, erklärt Jens<br />

Vogelgesang. Es sei<br />

wichtig, sich über verschiedene<br />

Standpunkte<br />

auszutauschen, solange<br />

die Diskussion auf demokratischem<br />

Boden stattfinde. Er appelliert,<br />

„durch Gegenrede nicht entnervt zu werden”,<br />

sondern Mut zu fassen und sich mit differenzierten<br />

Meinungen auseinanderzusetzen.<br />

Wie Nutzer:innen aus ihrer Filterblase austreten<br />

können, erläutert Vogelgesang weiter: „Empfehlenswert<br />

ist es, gezielt verschiedene voneinander<br />

unabhängige Medienanbieter wie Die Zeit,<br />

Der Spiegel oder Welt zu nutzen und die unterschiedlichen<br />

Kommentarlinien miteinander zu<br />

vergleichen. So verfolgt beispielsweise Welt eine<br />

liberal-konservative Ansicht. Lieber aktiv selektieren,<br />

als passiv konsumieren. So kann man dem<br />

Sog einer Filterblase entkommen. Wichtig dabei<br />

ist, laut Jens Vogelgesang, die Neugier, sich „Zeit<br />

für differenzierte Meinungsbildung zu nehmen,<br />

vielleicht lernt man ja was Neues.“


02/ 2022 NOT AFRAID 9<br />

Bild: Unsplash/ Karsten Winegeart<br />

Kein Like<br />

für Tierleid<br />

Verkleidete Hunde. Katzen, die sich vor Gurken erschrecken. Urlaubsfotos mit Wildtieren. Social<br />

Media ist voll von Beiträgen mit tierischen Stars. Nur wenige wissen, dass hinter solchen Inhalten<br />

oft verschiedene Formen von Tierleid stecken.<br />

VON JOSEPHINE HENNEN<br />

Die getigerte Katze liegt schlafend auf<br />

dem Sofa. Eine Hand erscheint im<br />

Bild. Sie legt heimlich eine Gurke neben<br />

das ruhende Tier. Die Katze öffnet<br />

müde ein Auge, sieht das schlangenförmige<br />

Gemüse und springt panisch vom Sofa.<br />

Im Video ertönt lautes Gelächter. Ist das noch<br />

Spaß oder schon Tierleid?<br />

„Hier ist einfach Unwissenheit im Spiel. Ich<br />

mache mich über etwas lustig, was überhaupt<br />

nicht lustig sein sollte“, sagt Wiebke Plasse von<br />

der Welttierschutzgesellschaft e.V. Sie ist Leiterin<br />

der Kampagne „Stoppt Tierleid in den sozialen<br />

Netzwerken“. Es gibt verschiedene Formen von<br />

Tierquälerei. Die höchste Stufe ist das eindeutige<br />

Tierleid: Die Darstellung von grundlosem physischem<br />

oder psychischem Leiden von Tieren. Diese<br />

Inhalte verstoßen gegen das deutsche Tierschutzgesetz.<br />

Dazu zählen auch der unnötige<br />

Kontakt zu Wildtieren und die unkritische Darstellung<br />

von Qualzuchten.<br />

Eine Stufe darunter steht der Tierleid-Verdacht:<br />

Inhalte, die wie eindeutiges Tierleid wirken,<br />

aber ohne weiteren Kontext nicht klar einzuordnen<br />

sind. Ein Beispiel: Ein Wildtier wird mit<br />

der Flasche gefüttert und nimmt dann ein<br />

Schaumbad. „Man kann zwar erkennen, dass dieses<br />

Tier aufgepäppelt werden muss, aber es wird in<br />

eine vermenschlichende Rolle gebracht. Das ist<br />

schon grenzüberschreitend“, erklärt Plasse.<br />

Die unterste Stufe ist der respektlose Umgang<br />

mit Tieren. „Da steckt erstmal kein Tierleid dahinter.<br />

Das Tier hat keine Schmerzen, keinen nachhaltigen<br />

körperlichen Schaden“, sagt Plasse.<br />

„Aber es ist dem Tierschutz nicht förderlich, Tiere<br />

in einer nicht tiergerechten Form darzustellen.“<br />

Ab wann es sich um eine respektlose Darstellung<br />

handelt, liegt im Auge des Betrachters. Fest steht,<br />

es ist die Vorstufe zu Tierleid.<br />

Was harmlos anfängt, kann schnell eskalieren.<br />

Der Hashtag #AnimalCrush wurde erstmals<br />

2019 verwendet. Ein Mädchen filmte sich dabei,<br />

wie sie einen Käfer zertrat. Schnell entwickelte<br />

sich die Challenge weiter. „Es gab Tausend Schritte<br />

dazwischen, aber es mündete in dem Zertreten<br />

von Welpen, was einfach unfassbar war“, erinnert<br />

sich die Expertin. „Es war extrem verstörend, welche<br />

Richtung das annimmt. Und es hört dann natürlich<br />

nicht auf. Je größer eine Challenge wird,<br />

desto mehr Menschen machen mit und desto weniger<br />

beschäftigen sich damit, was da eigentlich<br />

gerade passiert.“<br />

Auch Videos von Tierrettungen sind beliebt.<br />

Hinter diesen Beiträgen steckt jedoch oft ein perfides<br />

Geschäftsmodell. Die Rettungen sind inszeniert.<br />

Tiere werden absichtlich in Gefahr gebracht<br />

und die Ersteller:innen verdienen durch bezahlte<br />

Werbung in den Videos viel Geld. „Es ist eine ganz<br />

miese Nummer, auf Kosten der Tiere um Klicks zu<br />

kämpfen“, empört sich Lea Schmitz, Pressesprecherin<br />

des Deutschen Tierschutzbund. Die Enttarnung<br />

dieser Fake Rescues ist langwierig. „Die Problematik<br />

ist, dass man nie an die Leute herankommt,<br />

die das Video produziert haben. Oft sitzen<br />

sie im Ausland“, klagt sie. „Es gibt keinerlei gesetzliche<br />

Grundlage, die die Darstellung von Tierleid<br />

in sozialen Netzwerken regelt“, kritisiert<br />

Wiebke Plasse. Dabei stehe das Thema auf einer<br />

Ebene mit Gewalt gegen Menschen oder Kinderpornografie,<br />

erklärt sie. Zahlreiche Studien haben<br />

ergeben, dass Tierquälerei die Vorstufe zu Gewalt<br />

an Menschen sein kann.<br />

„Mit der Gewalt gegen das Tier wird oft angefangen.<br />

Das kann sich schnell steigern, wenn die<br />

Befriedigung nicht mehr ausreicht“, ergänzt sie.<br />

Wenn Nutzer:innen regelmäßig mit Tierleid konfrontiert<br />

werden, tritt ein Gewöhnungseffekt auf.<br />

Die Schwelle zur Gewaltbereitschaft sinkt deutlich.<br />

„Der Blick für das Tier geht verloren. Es wird<br />

als Unterhaltungsobjekt wahrgenommen, was<br />

man nur für eigene Zwecke nutzt“, sagt Lea<br />

Schmitz.<br />

Wie können Nutzer:innen selbst aktiv gegen<br />

Tierleid in Social Media vorgehen? „Nicht alles<br />

ungefiltert gut finden. Sondern als User mit kritischem<br />

Blick fragen, was steckt vielleicht dahinter“,<br />

empfiehlt die Expertin. Fragwürdige Inhalte<br />

auf keinen Fall liken oder teilen. Kommentare<br />

sollten bedacht erstellt werden. „Es ist ein zweischneidiges<br />

Schwert“, räumt Schmitz ein. Kritische<br />

Kommentare und Dislikes können vom Algorithmus<br />

der Netzwerke als Interesse bewertet<br />

werden. Andererseits könnten sie andere Nutzer:innen<br />

auf Missstände aufmerksam machen.<br />

Der wichtigste Schritt: Beiträge melden. Von<br />

selbst werden die Netzwerke nicht aktiv.


10 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Angst als Alltag<br />

Neben Emotionen wie Freude, Überraschung und Wut gehört<br />

Angst zu den wesentlichen, menschlichen Gefühlen. Aber<br />

was, wenn sie sich verselbstständigt? Zwei Betroffene berichten<br />

von ihrer Angststörung und welchen Umgang sie sich damit<br />

wünschen.<br />

VON SIMONA MEIER<br />

Bild: Pexels/Darya Sannikova<br />

Svea* ist mit dem Bus unterwegs zur<br />

Schule, als ihr Herz urplötzlich zu hämmern<br />

beginnt. Hitze steigt in ihr auf,<br />

die Luft scheint knapp zu werden. Die<br />

Umgebung wirkt auf einmal unwirklich.<br />

Sie fürchtet das Bewusstsein zu verlieren. Bei<br />

ihrer ersten Panikattacke ist sie 17 Jahre alt. „Es ist<br />

seltsam, sich zurückzuerinnern. Ich hatte ja keine<br />

Ahnung, dass das der Anfang von etwas ist“, sagt<br />

sie zehn Jahre später. Die Attacken treten in den<br />

folgenden Wochen häufiger auf. Am liebsten würde<br />

sie nicht mehr aus dem Haus gehen. Ihr Sozialleben<br />

leidet massiv. Die Ärztin rät ihr zu einer Psychotherapie.<br />

Sie muss einige Wochen auf den ersten<br />

Termin warten. In der Zwischenzeit verliert sie<br />

an Appetit und entwickelt Schlafprobleme. Mit<br />

Ach und Krach schleppt sie sich in die Schule.<br />

Bald steht sie vor der Entscheidung in eine psychosomatische<br />

Klinik zu gehen oder ihr Abitur zu<br />

schreiben. Sie nimmt Psychopharmaka und<br />

zwingt sich die Prüfungen abzulegen. Rückblickend<br />

sagt sie: „Unsere Leistungsgesellschaft vermittelt<br />

schon jungen Menschen, dass sie unter allen<br />

Umständen funktionieren müssen. Das ist<br />

völlig absurd.“ Es dauert Jahre, bis sie nicht mehr<br />

ständig mit der nächsten Attacke rechnet.<br />

Reaktionen auf Angst werden durch einen Sinnesreiz<br />

ausgelöst, der im Gehirn komplexe Abläufe<br />

in Gang setzt, weiß Psychiater und Angstexperte<br />

Borwin Bandelow. Der Körper schlägt dann<br />

Alarm und will sagen: Bereit für Flucht oder Angriff.<br />

Von einer Angststörung spricht man, wenn<br />

die Reaktion ohne tatsächliche Gefahr auftritt.<br />

Die Erkrankung wird in Panikstörungen, Phobien<br />

und generalisierte Angststörungen unterteilt.<br />

Genetische, neurobiologische und psychosoziale<br />

Faktoren begünstigen die Entstehung, erläutert<br />

Herald Hopf, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie<br />

in der Tagesklinik Waldfriede in Berlin-<br />

Steglitz. Bis zu 25 Prozent der Menschen erkranken<br />

im Laufe des Lebens an einer Angststörung.<br />

Damit sind sie die häufigsten psychischen Erkrankungen.<br />

„Meine Wahrnehmung ist an manchen Tagen<br />

ganz komisch. Es ist als würde ich von außen auf<br />

mich blicken und alles hinterfragen: Wie ich gehe,<br />

wie ich spreche und sogar wie ich atme“, sagt<br />

Luise*. Sie hat als Kind eine soziale Phobie entwickelt.<br />

Ihre Gedanken kreisen darum, unangenehm<br />

aufzufallen und von anderen Menschen<br />

negativ bewertet zu werden. Soziale Umgebungen<br />

führen bei der 24-Jährigen daher zu extremer Nervosität.<br />

In der Uni, bei der Arbeit und privat spielt<br />

sie oft eine Rolle und versucht sich nichts anmerken<br />

zu lassen. Während Unterhaltungen wird sie<br />

aber häufig rot, was ihr wahnsinnig unangenehm<br />

ist. Der Umgang mit extrem extrovertierten Menschen<br />

fällt ihr besonders schwer. Manchmal sucht<br />

sie Auswege oder hält sich eine Zeit auf der Toilette<br />

auf, um der Anspannung kurz zu entfliehen. Es<br />

gibt Tage, an denen sie Verabredungen absagt<br />

oder sich bei der Arbeit krankmeldet. Luise wird<br />

seit ihrer Kindheit psychologisch und derzeit<br />

auch medikamentös begleitet.<br />

Eine Angsterkrankung raubt den Betroffenen<br />

viel Kraft, betont Bandelow. In alltäglichen Situationen<br />

befindet sich der Körper immer wieder im<br />

Ausnahmezustand. Häufig kommt es zur „Angst<br />

vor der Angst“ und zu Vermeidungsverhalten. Auf<br />

die Frage, was ihren Leidensdruck verringern würde,<br />

antworten Svea und Luise ganz ähnlich. Beide<br />

wünschen sich mehr Verständnis und einen offeneren<br />

Umgang mit Angststörungen. Die Krankheit<br />

ständig zu überspielen und Ausreden erfinden<br />

zu müssen sei eine zusätzliche Belastung. Gesamtgesellschaftlich<br />

würden Themen rund um<br />

psychische Gesundheit zwar oft behandelt, im alltäglichen<br />

Leben zumeist aber weiter unter den<br />

Teppich gekehrt. „Ich würde gerne bei der Arbeit<br />

anrufen und mich unter Angabe des tatsächlichen<br />

Grundes krankmelden können“, sagt Luise. Svea<br />

fehlt mittlerweile das Verständnis für Menschen<br />

ohne Verständnis: „Jeder weiß doch, wie sich<br />

Angst anfühlt. Man muss also nur verstehen, dass<br />

sie außer Kontrolle geraten kann und es eine<br />

Krankheit ist.“<br />

*Namen geändert


02/ 2022 NOT AFRAID 11<br />

Wege aus dem<br />

Grübelkarussell<br />

Nagende Grübeleien dürften den meisten<br />

Menschen bekannt sein. Das Unwohlsein, wenn<br />

sich Gedanken und Zweifel nicht bändigen<br />

lassen. Doch es gibt wissenschaftlich belegte<br />

Techniken, die dabei helfen sollen, mit den<br />

eigenen Sorgen besser umgehen zu können.<br />

Schlüsselwort: Meditation.<br />

VON EMILY MOOSMANN<br />

Bild: Unsplash<br />

Es ist dunkel, der Rollladen ist heruntergelassen.<br />

Ein paar Lichtstrahlen fallen<br />

von der Straßenlaterne ins Zimmer.<br />

Gedanken und Gefühle wollen nicht<br />

gehen. Sie setzen sich im Kopf fest und<br />

machen das Einschlafen unglaublich schwer.<br />

Diese Plagegeister können einem das Entspannen<br />

und den erholsamen Schlaf ziemlich vermiesen.<br />

Lina Grenzicher ist ausgebildete Yogalehrerin.<br />

Die 25-Jährige lebt und praktiziert in Heidelberg.<br />

Vor einem halben Jahr hat sie sich dazu entschlossen,<br />

eine vierwöchige Ausbildung als Yoga- und<br />

Achtsamkeitstrainerin in Thailand zu absolvieren.<br />

Während dieser Zeit hat sie Praktiken aus<br />

dem Yoga sowie Meditations- und Achtsamkeitsübungen<br />

erlernt.<br />

„Yoga ist nicht nur das Praktizieren von<br />

Asanas, sogenannten Stellungen wie der Kobra,<br />

sondern eine aus Indien stammende philosophische<br />

Lehre“, stellt die 25-Jährige im Interview<br />

klar.<br />

Die Lehre umfasst körperliche und geistige<br />

Übungen sowie Verhaltenskodexe. Durch den<br />

überlieferten Lebensstil sollen Körper, Geist und<br />

Seele ins Gleichgewicht gebracht werden. Dieser<br />

Zustand wird im Yoga als Einheit oder Harmonie<br />

bezeichnet. Achtsamkeit, Meditation und Yoga<br />

seien nach Lina Grenzicher in Verbindung zu sehen.<br />

Die Yogatrainerin erklärt, dass Achtsamkeit<br />

vielmehr eine Lebenseinstellung sei, die Auswirkungen<br />

auf jegliches Tun und Handeln hätte. In<br />

der Meditation gehe es darum sich und den eigenen<br />

Geist in Stille achtsam wahrzunehmen. Die<br />

Meditierenden würden lernen Stille auszuhalten<br />

und Gefühle und Gedanken nicht zu bewerten.<br />

Ziel des Praktizierens ist die „Erleuchtung“ zu erlangen.<br />

Jene Bewusstseinsform, in der der Mensch<br />

sich mit dem Moment verbindet und darin aufgeht.<br />

Lina Grenzicher praktiziert seit ihrer Ausbildung<br />

täglich. Sie trainiert, ihren Geist mit dem<br />

Körper zu verbinden und sich in Harmonie zu versetzen.<br />

Hierzu nutzt sie verschiedene Techniken,<br />

wie beispielsweise das Akta Yoga. Bei dieser Technik<br />

werden Laute benutzt, wie das „OM, der sogenannte<br />

Sound of the Universe“, um sich tiefer auf<br />

die Meditation einlassen zu können. Das Vibrieren<br />

und Brummen in Brust, Bauch und Kehlkopf<br />

habe nach den Erfahrungen von Lina Grenzicher<br />

eine beruhigende und befreiende Wirkung.<br />

Für die gelernte Yogalehrerin ist die Schaffung<br />

von täglichen Routinen besonders wichtig. Feste<br />

Schlaf- oder Essenszeiten würden dem Geist helfen<br />

zur Ruhe zu kommen und Verlässlichkeit und<br />

Struktur in den hektischen Alltag zu bringen.<br />

Meditation und Achtsamkeit sind nicht nur<br />

im Trend. Die Wirksamkeit wurde wissenschaftlich<br />

belegt wie beispielsweise in einer Metaanalyse<br />

2021. Bei dieser Analyse wurden mehrere unabhängige<br />

Studien kombiniert, um Schwankungen<br />

ausgleichen zu können.<br />

Die Analyse bestätigt, dass sich durch häufiges<br />

Meditieren, auf lange Sicht Hirnstrukturen- und<br />

Funktionen verändern können. Veränderungen<br />

wirken sich unter anderem auf Aufmerksamkeit,<br />

Leistungsfähigkeit, Gedächtnis sowie Stimmung<br />

aus.<br />

Lina Grenzicher weist ausdrücklich darauf<br />

hin, dass Meditation kein Allheilmittel sei. Eine<br />

Psychotherapie oder Medikamente könnten hierdurch<br />

nicht zwangsweise ersetzt werden. Meditation<br />

könne jedoch präventiv angewendet werden.<br />

Mit diesen und vielen weiteren Techniken<br />

lassen sich nach regelmäßiger Übung Fortschritte<br />

erzielen. Stress im Alltag kann reduziert und<br />

gemildert werden. Das Gedankenkarussell kann<br />

durch Akzeptanz über den eigenen Zustand und<br />

durch die erlernten Achtsamkeitsübungen angenehmer<br />

werden. Denn Gedanken und Zweifel<br />

sind nach Lina Grenzicher kontrollierbar.<br />

5 Meditations- und<br />

Achtsamkeitstipps<br />

1 Legen Sie Ihren ganzen Fokus auf das Zähneputzen.<br />

2 Frühstücken Sie ohne Ablenkung und<br />

konzentrieren Sie sich auf Ihr Essen.<br />

3 Stellen Sie Ihre Beine beim Sitzen in der<br />

Bahn im rechten Winkel auf den Boden.<br />

Legen Sie Ihre Handflächen auf die Knie.<br />

Spüren Sie die Sitzfläche und den Boden<br />

unter sich.<br />

4 Praktizieren Sie in der Mittagspause die<br />

Wechselatmung. Hierzu legen Sie Zeigeund<br />

Mittelfinger an die Stirn und Daumen<br />

und Ringfinger an die Nasenflügel. Beim<br />

Einatmen halten Sie jeweils eine Nasenöffnung<br />

zu. Atmen Sie auf vier ein. Schließen<br />

Sie beide Öffnungen und halten Sie den<br />

Atem auf vier an. Anschließend atmen Sie<br />

auf vier mit der anderen Seite aus. Wiederholen<br />

Sie diesen Vorgang für circa zwei<br />

Minuten.<br />

5 Notieren Sie sich vor dem Einschlafen fünf<br />

Dinge, für die Sie dankbar sind.


12 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Nicht mehr alle<br />

Tassen im Schrank<br />

Ein Selbstversuch: Sich freiwillig der eigenen Angst aussetzen? Nein, danke.<br />

In meiner Komfortzone geht’s mir recht gut. Oder etwa nicht? Um zu lernen mit<br />

Zurückweisung umzugehen, braucht es Konfrontationen.<br />

VON JENNIFER MAYER<br />

Das Bügeleisen zischt laut. Der aufsteigende<br />

Wasserdampf lässt meine Brille<br />

beschlagen. Ich drehe den Kopf<br />

weg, mein Blick fällt in die Küche.<br />

Dort räumt mein Mitbewohner sein<br />

Geschirr ein. Eine Tasse, zwei, drei... Ich wende<br />

mich wieder dem Esstisch zu, nehme meine Bluse<br />

von der Stuhllehne und streiche sie glatt. Innerlich<br />

fluche ich vor mir her – gestern erst habe ich<br />

die Spülmaschine ausgeräumt. Leider bleibt diese<br />

Aufgabe viel zu oft an meiner Mitbewohnerin und<br />

mir hängen. Meine Mitbewohner sorgen lieber<br />

dafür, dass wir die Maschine beinahe täglich anstellen<br />

müssen.<br />

1. Stufe<br />

Unbeirrt holt er weiteres Geschirr aus seinem<br />

Zimmer und sortiert die Müslischalen vorne ein.<br />

Ich starte auf Stufe 1. Nervosität. „Kannst du die<br />

bitte von hinten einräumen.“ Mein Herzschlag<br />

beschleunigt sich und Wärme durchflutet mich.<br />

„Ich räume die immer vorne ein, das geht leichter“,<br />

erwidert mein Mitbewohner stirnrunzelnd.<br />

Die Angst, die mich gepackt hat, ist von außen<br />

nicht zu erkennen. Meine nächsten Worte stecken<br />

zwischen meinen sich überschlagenden Gedanken<br />

fest. Irrational. Nervig. Übertrieben. Die<br />

Angst richtet meinen Fokus auf den ‚Worst-Case-<br />

Ausgang‘ dieser Unterhaltung: Wir streiten uns<br />

und das Zusammenleben wird ab sofort unerträglich.<br />

Die Vorstellung allein reicht aus, um mein<br />

Unwohlsein zu verstärken. Kurz überlege ich das<br />

Gespräch für beendet zu erklären und die Flucht<br />

in mein Zimmer zu ergreifen. Die Angst, dass meine<br />

Bitte abgelehnt wird, ist laut.<br />

2. Stufe<br />

Aber ich traue mich trotzdem eine Stufe weiter.<br />

Erleichterung. „Das weiß ich. So werden die<br />

Schalen aber nicht richtig sauber und man muss<br />

immer komplett aufziehen zum Reinstellen“,<br />

sprudelt es hervor. Aus eigenem Antrieb hätte ich<br />

mich vermutlich nicht dazu durchgerungen, offener<br />

zu kommunizieren. Mich gezwungenermaßen<br />

der Angst zu stellen, war der Anstoß, den ich<br />

gebraucht habe. „Da ist jemand wohl zu faul die<br />

Spülmaschine ganz aufzumachen“, kontert mein<br />

Mitbewohner. Seine Aussage war lustig gemeint.<br />

Ich fühle mich allerdings vor den Kopf gestoßen.<br />

Meine Erleichterung das Problem angesprochen<br />

zu haben, ist verflogen. Zurück bleibt das Gefühl<br />

nicht ernst genommen zu werden.<br />

3. Stufe<br />

Dritte und letzte Stufe. Wut. „Tatsächlich<br />

nicht. Ich wasche mein Geschirr häufig ab,<br />

schließlich ist das meistens eh nicht so dreckig“,<br />

äußere ich. „Naja, aber die Maschine ist ja da, um<br />

genutzt zu werden“, sagt er. Die Nervosität ist abgeebbt,<br />

mein Herzschlag hat wieder seinen nor-<br />

Bild : Jennifer Mayer


02/ 2022 NOT AFRAID 13<br />

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gemeinsame Gestaltung<br />

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Print und Digital<br />

Bild : Pexels<br />

malen Rhythmus gefunden. „Bei uns läuft die<br />

auch viel zu oft. Wäre super, wenn da nicht bei jeder<br />

Gelegenheit neues Geschirr benutzt wird.“ Ich<br />

bleibe bei meinem Standpunkt. Nachgeben ist für<br />

mich dieses Mal keine Option – zukünftig plant er<br />

mehr darauf zu achten.<br />

Die Angst vor Ablehnung entwickle sich bei<br />

den meisten bereits in der Kindheit, erläutert die<br />

Diplompsychologin Dr. Doris Wolf. In diesem Lebensabschnitt<br />

ist es üblich, dass Kinder lernen keinen<br />

Ärger zu machen<br />

und auf Andere zu hören.<br />

Tun sie das Gegenteil,<br />

schlagen ihnen<br />

Enttäuschung<br />

und Ablehnung entgegen.<br />

Durch die Abhängigkeit<br />

von den<br />

Eltern in diesem Alter<br />

ruft eine Zurückweisung<br />

des Verhaltens<br />

die Furcht verlassen<br />

zu werden, hervor.<br />

Im Erwachsenenalter besteht diese Abhängigkeit<br />

zwar nicht mehr, doch das kindliche Empfinden<br />

der Ablehnung bleibt. Den Betroffenen fällt<br />

es schwer, Selbstvertrauen aufzubauen, weil sie<br />

mit Zweifeln groß geworden sind. Das mangelnde<br />

Vertrauen begünstigt wiederum die Sorge nicht<br />

gemocht beziehungsweise abgelehnt zu werden.<br />

Eine neue Abhängigkeit von der Meinung anderer<br />

entsteht.<br />

Die Bedenken der Betroffenen führen dazu,<br />

dass sie häufig empfindlich auf Kritik reagieren<br />

oder sich rasch gekränkt fühlen. Laut dem Psychologen<br />

Dr. Rolf Merkle kann die Angst so groß<br />

werden, dass die Menschen mithilfe von Schutzmechanismen<br />

ihren Befürchtungen die Möglichkeit<br />

entziehen, Realität zu werden. Sie vermeiden<br />

Ablehnung, indem sie stets zurückstecken und<br />

sich verhalten, wie ihr Gegenüber es erwartet. Zugleich<br />

ermöglicht die Anpassung des eigenen Verhaltens,<br />

die Gefahr zu verringern, dass die Mitmenschen<br />

Negatives im Auftreten entdecken. Oft<br />

könnten Betroffene nicht sagen, was das Schlechte<br />

in ihnen sei. Sie hätten nur das diffuse und ungute<br />

Gefühl, etwas stimme mit ihnen nicht, erläutert<br />

Merkle. Er sieht in dieser Selbstwahrnehmung<br />

die Angst, zurückgewiesen zu werden, verankert.<br />

Doch wie können die Betroffenen nun mit ihrer<br />

Furcht umgehen, ohne vor ihr zu fliehen? Für<br />

den Psychologen Aziz Gazipura beginnt die Überwindung<br />

der Angst bei ihrem Ursprung: dem<br />

Nett-Sein. Der innere Wunsch von den Mitmenschen<br />

gemocht zu werden, äußert sich in freundlichen<br />

Verhaltensmustern. Darin findet sich kein<br />

Platz für Unfreundlichkeit. Betroffene fürchten,<br />

wenn sie Grenzen ziehen,<br />

egoistisch sind<br />

Das Ziel ist nicht, zu lernen,<br />

unfreundlicher zu<br />

sein, sondern aufzuhören,<br />

es allen recht machen zu<br />

wollen.<br />

oder ihre ehrliche<br />

Meinung sagen, abgelehnt<br />

zu werden.<br />

Aber genau diese<br />

Komponenten<br />

braucht es, um sich<br />

nicht von der Angst<br />

bestimmen zu lassen<br />

und authentisch zu<br />

sein. Das Ziel ist<br />

nicht, zu lernen, unfreundlicher<br />

zu sein, sondern aufzuhören, es allen<br />

recht machen zu wollen. Und dafür gilt es, vor allem<br />

die Toleranz gegenüber dem Unbehagen zu<br />

vergrößern.<br />

Das Fazit aus meinem Selbstversuch? Ohne<br />

Konfrontation und Konflikte geht es nicht, auch<br />

wenn sie Angst machen können. Es ist ein wiederkehrender<br />

Prozess, die Auslöser zu erkennen, das<br />

Unbehagen zu fühlen und der Angst vor Ablehnung<br />

entgegenzutreten. So lernen Betroffene mit<br />

Zurückweisungen umzugehen und sich von den<br />

Meinungen anderer unabhängiger zu machen.<br />

Und darum geht es am Ende.<br />

Tipp<br />

Wenn ihr mehr über den Umgang mit Ablehnung<br />

erfahren wollt, empfehle ich euch das<br />

Buch „Not Nice – Stop People Pleasing, Staying<br />

Silent, & Feeling Guilty” von Dr. Aziz Gazipura.<br />

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14 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Bild: pixabay<br />

Willst du mit mir gehen?<br />

Angst als ständiger Begleiter auf dem nächtlichen Heimweg. Für viele Frauen ist das die Realität.<br />

Und die Angst ist nicht unbegründet. Das Stuttgarter Startup „Walking Buddies“ will den Nachhauseweg<br />

für Frauen zukünftig sicherer machen.<br />

VON FABIENNE GRZESIEK<br />

Eine dunkle Seitenstraße, spärlich beleuchtet<br />

von Straßenlaternen. Die<br />

rechte Hand gleitet suchend in die Jackentasche.<br />

Sie umschließt das kleine<br />

Pfefferspray. In der Ferne leise Musik<br />

und die Stimmen von Fremden. In der linken<br />

Hand das Handy fest umklammert. Plötzlich ertönen<br />

Schritte. Der Körper spannt sich an. Die Sinne<br />

sind geschärft. Bloß nicht umdrehen. Die Schritte<br />

kommen näher. Das Herz beginnt zu rasen.<br />

Gleich ist es geschafft. Nur keine Panik. Der Atem<br />

geht schneller und die Gedanken spielen verrückt.<br />

Nur noch wenige Meter. Ein Schatten löst<br />

sich aus der Dunkelheit. Sie ist es. Mein Walking<br />

Buddy. Endlich. Sie steht an der Ecke und wartet.<br />

Und mit ihr ein Gefühl von Sicherheit.<br />

„Wie fühlt es sich für euch an, allein im Dunkeln<br />

unterwegs zu sein?“ Diese Frage hat der Radiosender<br />

1LIVE Frauen und weiblich gelesenen<br />

Personen in einem Interview zum Thema „Allein<br />

im Dunkeln“ gestellt. Die Antworten sind eindeutig.<br />

Alle haben Angst. Dass diese Angst nicht unbegründet<br />

ist, zeigen die persönlichen Erfahrungen<br />

der Befragten. Sie berichten von unangenehmen<br />

Begegnungen, sexueller Belästigung und gewaltsamen<br />

Übergriffen. „Es ist ein gesamtgesellschaftliches<br />

Problem und keiner kann sich da<br />

rausziehen“, äußert sich eine Betroffene im Interview.<br />

Doch wie kann der Heimweg für Frauen sicherer<br />

werden?<br />

Diese Frage haben sich die drei Studierenden<br />

Lara Pfisterer, Aram Özdemir und Thomas Weschle<br />

gestellt. Die Idee zu ihrer App Walking Buddies<br />

entwickelten sie im Rahmen eines Startup-<br />

Programms an der Hochschule für Technik in<br />

Stuttgart. Mit ihrer App sollen sich Frauen mit<br />

dem gleichen Heimweg zukünftig verabreden<br />

können.<br />

Das Konzept lautet: Walking Buddies finden,<br />

gemeinsam laufen und sicher ankommen. Dabei<br />

können Frauen sich für den gemeinsamen Heimweg<br />

spontan verabreden oder ihn im Voraus planen.<br />

Die App sucht in beiden Fällen nach passenden<br />

Laufpartnerinnen, sogenannten Walking<br />

Buddies. Nach einem Standortabgleich zeigt die<br />

App die gemeinsame Route an. Zu Hause können<br />

die Frauen ihren Walking Buddies dann ein Feedback<br />

in der App hinterlassen.<br />

Für das junge Startup steht die Sicherheit der<br />

Frauen an erster Stelle. Deshalb muss sich jede<br />

Nutzerin nach dem Download der App einem Sicherheitscheck<br />

unterziehen. Sie wird aufgefordert<br />

ein Bild ihres Personalausweises und ein Selfie<br />

hochzuladen. Das Team von Walking Buddies<br />

überprüft die Identität der Nutzerin, indem sie<br />

beide Dokumente abgleicht. Erst dann ist die App<br />

nutzbar.<br />

Ein weiterer wichtiger Bestandteil der App ist<br />

das Socialising. „Neben mehr Sicherheit wollen<br />

wir unseren Nutzerinnen die Möglichkeit bieten,<br />

soziale Kontakte zu knüpfen“, erklärt Özdemir im<br />

Interview mit der Mediakompakt. In ihren Profilen<br />

können die Frauen ihre Interessen und Hobbys<br />

hinterlegen. Wenn sie sich gut verstehen,<br />

können sie öfter zusammen nach Hause laufen.<br />

Und vielleicht entwickelt sich sogar eine Freundschaft.<br />

Derzeit arbeitet das Startup an der Programmierung<br />

und Vermarktung der App. Die Veröffentlichung<br />

der Beta-Version ist für den Herbst<br />

diesen Jahres geplant. Die App wird vorerst für<br />

Frauen in Stuttgart verfügbar sein. In den nächsten<br />

zwei bis fünf Jahren sollen Frauen die App<br />

dann aber deutschlandweit in Großstädten nutzen<br />

können.<br />

Schon jetzt können auch Männer dazu beitragen,<br />

Frauen auf dem nächtlichen Heimweg ein sichereres<br />

Gefühl zu geben. Dafür müssen sie die<br />

Ängste der Frauen ernst nehmen. „Das beginnt in<br />

alltäglichen Situationen. Wenn eine Frau im Dunkeln<br />

alleine vor dir läuft kannst du einfach die<br />

Straßenseite wechseln“, sagt Özdemir. „Und<br />

wenn eine Freundin alleine unterwegs ist kannst<br />

du nach Zwischenupdates fragen. Das sollte<br />

selbstverständlich sein.“<br />

Hol Dir Unterstützung<br />

Übrigens: Für einen sicheren Heimweg gibt es<br />

bereits Möglichkeiten der (virtuellen) Begleitung.<br />

Das Heimwegtelefon begleitet Frauen deutschlandweit<br />

unter der Telefonnummer 030 /<br />

1207 4182 nach Hause. Erreichbarkeit: Sonntag<br />

bis Donnerstag von 20 Uhr bis 00a Uhr<br />

und Freitag und Samstag von 20 bis 03 Uhr<br />

Mit der App WayGuard kann der eigene Standort<br />

geteilt und eine virtuelle Begleitung durch<br />

das WayGuard Team ermöglicht werden.<br />

Außerdem ist das Hilfetelefon „Gewalt gegen<br />

Frauen“ unter der Telefonnummer 08000 / 116<br />

016 rund um die Uhr, deutschlandweit erreichbar.


02/ 2022 NOT AFRAID 15<br />

Wenn das Kopfkino Realität wird<br />

In Selbstverteidigungskursen lernt man, Grenzüberschreitungen zu erkennen – und sich verbal und<br />

körperlich zu verteidigen. Trainerin Sarah Dannhäuser im Interview.<br />

VON NICOLE TANDLER<br />

Schreib mir, wenn du zu Hause bist.“<br />

Diesen Satz haben die meisten Frauen<br />

schon einmal gehört, bevor sie sich<br />

nachts alleine auf den Heimweg machen.<br />

Doch oft bleibt ein mulmiges<br />

Gefühl und die Frage, wie man sich bei einem tatsächlichen<br />

Angriff verteidigt.<br />

Selbstverteidigungskurse vermitteln, wie man<br />

sich verbal und körperlich besser behaupten und<br />

schützen kann. So können sie das Selbstbewusstsein<br />

fördern und ein sicheres Auftreten erzeugen.<br />

„Es geht viel um Grenzen ziehen, sie zu spüren,<br />

wahrzunehmen und zu benennen“, sagt Sarah<br />

Dannhäuser, Trainerin und Coachin, die in Halle<br />

Kurse für Frauen anbietet.<br />

In ihren Trainingseinheiten lernen Frauen<br />

verschiedene Schlagtechniken aus den Kampfsportarten<br />

Street Combatives und aus dem brasilianischem<br />

Jiu Jitsu.<br />

Beide sind darauf ausgerichtet,<br />

sich in Extremsituationen<br />

auch<br />

gegen Gegner zu wehren,<br />

die körperlich<br />

überlegen sind.<br />

„Viele Techniken,<br />

die in Kampfsportschulen<br />

gelehrt werden,<br />

funktionieren nur,<br />

wenn du gleich groß<br />

bist oder größer. Aber<br />

nicht, wenn du kleiner<br />

und leichter bist. Deswegen<br />

ziehe ich aus allen Bereichen Elemente, die<br />

für uns Frauen praktikabel sind“, sagt Coachin<br />

Dannhäuser.<br />

Sie trainiert mit ihren Schülerinnen simulierte<br />

Stresssituationen, damit sie auch unter Druck<br />

handlungsfähig bleiben können. Durch zusätzliches<br />

Coaching und Impulse beim Training vermittelt<br />

sie auch das nötige Mindset, Situationen<br />

im Vorfeld im Geist durchzuspielen und das Verhalten<br />

dementsprechend anzupassen. Ihr Training<br />

ist darauf ausgerichtet, sicher und selbstbewusst<br />

auftreten zu können.<br />

„Täter suchen nicht die starke Frau“, erklärt<br />

die Trainerin. Denn Körpersprache kann entscheidend<br />

dafür sein, wie Frauen auf potenzielle<br />

Angreifer wirken. Sollten Täter annehmen, dass<br />

eine Frau sich schlecht zur Wehr setzen kann,<br />

greifen sie möglicherweise eher an.<br />

Trotzdem sollte man auf dem Nachhauseweg<br />

vorsichtig sein und auch um Hilfe bitten, wenn<br />

man sich unwohl fühlt. „Selbstverteidigung bedeutet<br />

für mich, heil zu Hause anzukommen“,<br />

meint die Coachin dazu. Deswegen sollte das Ziel<br />

„Da ist auch eine<br />

Hemmschwelle, die<br />

man erst mal überwinden<br />

muss, dass man<br />

sagt ‚Okay ich kämpfe<br />

jetzt‘.“<br />

lauten: Deeskalieren und unverletzt bleiben. Erst<br />

wenn verbale Abwehr und auch Wegrennen erkennbar<br />

nicht helfen, geht es an die körperliche<br />

Verteidigung.<br />

Das Wissen über Schwachpunkte des Angreifers<br />

ist hier essentiell. Wildes um sich schlagen kann<br />

zwar hilfreich sein, aber am besten trifft man da,<br />

wo es wirklich wehtut.<br />

K.O.-Punkte des Körpers sind die Stellen, an<br />

denen man schon mit einem einfachen Schlag<br />

starke Schmerzen auslösen kann: Augen, Nase,<br />

Ohren, obere Bauchregion, Genitalien und das<br />

Schienbein. Schläge auf Augen, Nase oder Ohren<br />

können Angreifer die Sinne rauben und aus dem<br />

Gleichgewicht bringen.<br />

Tritte oder Schläge in die Genitalien, obere<br />

Bauchregion oder gegen das Schienbein können<br />

die Täter auch regelrecht zusammenklappen lassen.<br />

Weitere Möglichkeiten<br />

sind auch Kratzen,<br />

Beißen und Kneifen.<br />

Es ist wichtig, alle<br />

Mittel zu nutzen, die einem<br />

in dem Moment<br />

einfallen.<br />

Für die meisten<br />

Frauen ist es zentral, bei<br />

einem Angriff nicht in<br />

einen Schockzustand<br />

zu verfallen und sich<br />

der eigenen Möglichkeiten<br />

zur Abwehr bewusst<br />

zu werden.<br />

Selbstverteidigung zu erlernen, braucht Zeit.<br />

Wie lange jemand benötigt, um das Gelernte auch<br />

unter Druck einsetzen zu können, ist individuell.<br />

Dazu zählen Faktoren wie Häufigkeit oder Intensität<br />

des Trainings aber auch die Lernenden selbst.<br />

Nicht nur um die Techniken zu beherrschen oder<br />

körperlich fit zu sein, sondern auch den Mut aufzubringen<br />

sich zu wehren.<br />

Trainer Stefan-Lukas Jelusic von der Kampfsportakademie<br />

Nürtingen stimmt hier zu:<br />

„Da ist auch eine Hemmschwelle, die man erst<br />

mal überwinden muss, dass man sagt ‚Okay ich<br />

kämpfe jetzt‘.“<br />

Deshalb braucht es viel Routine, um Gelerntes<br />

ohne zu überlegen abrufen zu können. Trotzdem<br />

ist Selbstverteidigung für alle geeignet. Körperliche<br />

Anstrengung ist zwar vorausgesetzt, aber mit<br />

genug Zeit und Fleiß kann jeder die notwendigen<br />

Techniken erlernen.<br />

Einen Tipp für Anfänger gibt Trainer Stefan<br />

noch mit: „Man darf keine Angst haben und man<br />

sollte mutig und bereit sein, Neues auszuprobieren.“<br />

Bild: Sarah Dannhäuser


16 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Stuttgart calls back<br />

„Hey Süße!“, „Geiler Arsch.“ oder „Tolle Figur haste, Kleine!“.<br />

Fast Jede und Jeder durfte sich schon einmal unangenehme<br />

Sprüche im Alltag anhören und ist damit Opfer vom sogenannten<br />

„Catcalling“ geworden.<br />

VON LINDA STEFFEN<br />

Bild: @catcallsofstg<br />

Laura kramt die Kreide, ihr Handy und<br />

Handschuhe aus ihrer Tasche. Ein paar<br />

Meter weiter beginnt Caro das Wort<br />

„Triggerwarnung“ auf den Boden zu<br />

schreiben. Doch wieso die Triggerwarnung?<br />

Catcalling: Was im ersten Augenblick harmlos<br />

oder sogar niedlich klingt, beschreibt das<br />

Hinterherrufen oder -pfeifen im öffentlichen<br />

Raum. Es geht um verbale sexuelle Belästigung,<br />

die in vielen Fällen auch mit körperlichen<br />

Übergriffen einhergeht. In anderen europäischen<br />

Ländern wie zum Beispiel Frankreich, Belgien und<br />

Portugal gilt diese Art von verbaler Belästigung<br />

bereits als Straftat und wird mit Geldstrafen<br />

geahndet. In Deutschland ist Cat calling allerdings<br />

nicht strafbar. Es wird als Kompliment gewertet.<br />

Wie also setzt man sich zu Wehr gegen verbale<br />

Übergriffe, bei denen sich Betroffene oft hilflos<br />

fühlen? Die Aktivist:innen von Catcallsofstuttgart<br />

geben ihnen eine Stimme. Sie machen<br />

Geschichten sichtbar und sprechen offen über<br />

Themen, die oft zu wenig Aufmerksamkeit<br />

bekommen.<br />

Die #ChalkBack Bewegung stammt ursprünglich<br />

aus New York, ist aber seit Jahren auch in<br />

Deutschland und vielen weiteren Ländern<br />

angekommen. Über Instagram haben Betroffene<br />

die Möglichkeit ihre Erlebnisse per Direct Message<br />

zu teilen. Die eingesendeten Geschichten<br />

nehmen die Aktivist:innen mit auf die Straße. Mit<br />

Kreide schreiben sie diese anonym, möglichst am<br />

Ort des Geschehens, auf den Boden. Später<br />

werden die Einsendungen dann auch ungekürzt<br />

auf Instagram veröffentlicht. „Wir kreiden alle<br />

Geschichten an, da wir uns nicht in der Position<br />

sehen zu entscheiden, welche Geschichte schlimmer<br />

oder wichtiger ist“, erzählt Laura, die mich<br />

dazu eingeladen hat die Gruppe an diesem Tag zu<br />

begleiten. Mit dabei sind außerdem Caro, die<br />

ebenfalls das erste Mal beim #ankreiden dabei ist,<br />

und Ferhat.<br />

Laura ist eine von drei „Oberkatzen“, die den<br />

Vorstand der Initiative bilden. An dem Treffpunkt<br />

nahe der Königsstraße erzählt sie über sich und<br />

die Bewegung. Lebhaft berichtet sie über vergangene<br />

Aktionen, wie zum Beispiel am 8. März: Mit<br />

anderen aus der Gruppe hat sie am feministischen<br />

Kampftag eine Rede vor dem Rathaus gehalten. Es<br />

ist zu spüren, wie sie und ihre Mitstreiter:innen<br />

für die Sache brennen und wie viel positive<br />

Energie es ihnen gibt, Menschen eine Stimme zu<br />

geben, die<br />

sonst von<br />

vielen<br />

nicht gehört<br />

werden.<br />

„Allerdings<br />

ist es auch oft genug für einen selbst sehr<br />

belastend“, gibt Laura zu. „Manchmal<br />

werden wir gecatcalled oder belästigt während<br />

unserer Aktionen oder Menschen kommen auf<br />

offener Straße auf uns zu und erzählen von ihren<br />

negativen Erfahrungen, nachdem sie die<br />

Geschichte auf der Straße gelesen haben“.<br />

Während sie erzählt, kramt sie aus ihrem großen<br />

Jutebeutel, auf dem das Katzenlogo der<br />

Instagramseite gedruckt ist, ein paar Flyer hervor.<br />

Neben Karten, die über Catcalling und die<br />

#Chalkback Bewegung aufklären, sind auch Informationen<br />

von verschiedenen Organisationen,<br />

wie zum Beispiel dem weißen Ring, dabei. „Manche<br />

Betroffene trauen sich bei uns das erste Mal<br />

über ihre Erlebnisse zu sprechen. Vielleicht auch<br />

weil sie dann erst begreifen, dass auch sie Betroffene<br />

sind. Da ist es wichtig entsprechendes Material<br />

dabei zu haben und sie so an Expert:innen weiterzuleiten“,<br />

erklärt Laura. Wenig später gibt sie den<br />

Startschuss für die Gruppe Richtung Königsstraße<br />

zu ziehen. Das #ankreiden beginnt.<br />

Da heute alle Geschichten ohne Ortsangabe<br />

eingesendet wurden, werden sie an möglichst<br />

zentralen Orten in der Innenstadt angekreidet.<br />

Die Freude ist groß, weil an diesem regnerisch<br />

angesagten Montagnachmittag doch die Sonne<br />

scheint. Je näher die Königsstraße mit all ihren<br />

Geschäften naht, desto belebter wird es. Auf dem<br />

Weg erzählt Ferhat wie er aus der Türkei geflüchtet<br />

ist. In Deutschland hat er begonnen sich<br />

immer mehr mit sozialen Themen auseinanderzusetzen<br />

und engagiert sich nun vermehrt in vielen<br />

verschiedenen Bereichen, die ihm wichtig<br />

geworden sind. Auch ihm merkt man sofort die<br />

Begeisterung für das, was sie hier gemeinsam tun,<br />

an. Mitten im Gespräch erreicht die Gruppe den<br />

ersten Spot. Laura und Ferhat kreiden den Instagram-Tag,<br />

ein prägnantes Zitat aus der Geschichte<br />

und Hashtags wie #stopptsexuellebelästigung auf<br />

den Boden. Caros „Triggerwarnung“ blitzt vom<br />

grauen Asphalt auf.<br />

Die Aktion mitten in der Menschenmenge<br />

zieht von Anfang an neugierige Blicke auf sich.<br />

Passant:innen werfen im Vorbeigehen<br />

einen kurzen Blick auf den bunten Gehweg, oder<br />

bleiben sogar stehen. Die meisten achten darauf<br />

nicht auf<br />

die frischen<br />

Kreidelinien<br />

zu<br />

treten. Viele<br />

unterhalten<br />

sich über das, was vor ihnen passiert oder<br />

sind neugierig genug, um mit der Gruppe ins<br />

Gespräch zu kommen.<br />

An einem weiteren Spot vor dem LKA Stuttgart<br />

soll als nächstes eine Geschichte über verbale<br />

Belästigung im Job angekreidet werden. Ein<br />

interessierter Mann fragt plötzlich, ob die Story<br />

etwas mit den Vorwürfen von sexueller Belästigung<br />

innerhalb der Landespolizei zu tun habe.<br />

Sehr verwirrt verneint Laura seine Frage.<br />

#STOPPTSEXUELLEBELÄSTIGUNG<br />

Bild: Linda Steffen


02/ 2022 NOT AFRAID 17<br />

Bild: Linda Steffen<br />

Diese Nachricht ist wohl an allen bislang vorbei<br />

gegangen. Die angekreidete Story stand damit<br />

nicht im Zusammenhang. Nach kurzer Recherche<br />

erschien der vorher eher zufällig ausgewählte<br />

Platz nun aber umso passender.<br />

Die Rhein-Neckar Zeitung beispielsweise berichtete<br />

zu dem Fall im Januar 2022. Es handelt<br />

sich bei den Erzählungen des Mannes um einen<br />

hochrangigen Beamten der Landespolizei, der<br />

„seine Machtstellung unter Inaussichtstellung<br />

von Beförderung und Besetzung ausgenutzt habe“.<br />

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelt<br />

zurzeit noch.<br />

In bunten Farben leuchte es nun fast wie ein<br />

Mahnmal von dem Gehweg auf: Mein Chef rief<br />

mir hinterher „Hey, wenn ich dich so<br />

sehe, komm doch zurück, du könntest gut<br />

bezahlte Überstunden machen!“ Motiviert durch<br />

das schöne Wetter und die doch vielen interessierten<br />

Menschen, die heute überwiegend begeistert<br />

von der Arbeit zu sein schienen, wurden auch die<br />

letzten Storys angekreidet ehe sich die Gruppe am<br />

Schlossplatz glücklich und verschwitzt voneinander<br />

verabschiedet.<br />

INFO<br />

Als Frau wurden bereits...:<br />

• 90%: Aufgrund ihres Aussehens bewertet<br />

• Über 50%: Wegen ihres Geschlechtes beleidigt<br />

oder erfuhren unerwünschte Annäherungsversuche<br />

• 40%: Gecatcalled und haben daraufhin bestimmte<br />

Orte gemieden<br />

Instagram: @catcallsofstg


18 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Safespace für Frauen<br />

auf der Flucht<br />

Kriege. Gewalt. Verfolgung. Immer mehr Menschen sind gezwungen,<br />

aus ihrem Heimatland zu fliehen. Im Jahr 2020 waren über<br />

82 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Dabei wird oft<br />

vernachlässigt, dass die Hälfte der Geflüchteten weiblich ist.<br />

VON ALINA MADAY<br />

Bild: Pauline Schläger<br />

Besonders Frauen sind auf der Flucht<br />

von zusätzlichen Belastungen und<br />

geschlechtsspezifischen Herausforderungen<br />

geprägt. Neben ihrer eigenen<br />

Verwundbarkeit sind sie mit ihren<br />

Kindern oder durch eine bestehende<br />

Schwangerschaft weiteren Mehrfachbelastungen<br />

ausgesetzt. Dies zeigt auch die Untersuchung der<br />

Berliner Charité „Study on female refugees“. Bei<br />

der Befragung gaben Frauen als Fluchtursache<br />

unter anderem Vergewaltigung, Zwangsprostitution,<br />

Genitalverstümmelung und Angst vor Femizid<br />

an. Konträr dazu sind die bestehenden<br />

Hilfsangebote für Geflüchtete jedoch kaum auf<br />

die Bedürfnisse von Frauen angepasst. Es fehlt an<br />

Unterstützungsangeboten und geschützten Räumen<br />

für die frauenspezifischen Belastungen. Dieser<br />

massiven Versorgungslücke will der gemeinnützige<br />

Verein ROSA entgegentreten. ROSA ist die<br />

Abkürzung für „Rolling Safespace“ und steht für<br />

einen geschützten Raum auf Rädern. Mithilfe eines<br />

umgebauten LKW werden Geflüchtetenunterkünfte<br />

angefahren, um Frauen auf der Flucht eine mobile<br />

Anlaufstelle bereitzustellen. Die Idee dazu<br />

hatte Sophie Müller-Bahlke, Mitgründerin von<br />

ROSA, als sie mit einer Freundin zusammen im<br />

Libanon bei einem Geflüchtetenprojekt an der<br />

syrischen Grenze gearbeitet hat. In dem speziell<br />

ausgerüsteten „Rolling Safespace“ werden verschiedene<br />

Hilfsangebote für Frauen angeboten.<br />

Neben medizinischer Hilfe und der <strong>Ausgabe</strong> von<br />

Menstruations- und Hygieneartikeln, gibt es Gesundheitsworkshops<br />

zu Themen wie Verhütung,<br />

Menstruation oder Brustkrebsvorsorge. In Gruppen<br />

finden sich die Frauen für Sport- und Bewegungsangebote,<br />

oder Gesprächsrunden zusammen.<br />

Um ihnen den Besuch der Angebote zu ermöglichen,<br />

werden die Kinder in einem separaten Zelt<br />

beim Spielen betreut. Bei Bedarf auf eine weiterführende<br />

medizinische Hilfe, steht ROSA in engem<br />

Kontakt mit der unabhängigen Organisation<br />

„Ärzte ohne Grenzen“.<br />

Von Deutschland aus findet die Organisation der<br />

ROSA-Crew statt. Diese besteht aus Ärzten, Hebammen,<br />

Übersetzerinnen und weiteren Helfern,<br />

die vor Ort zur praktischen Arbeit eingesetzt werden.<br />

Seit März 2022 befindet sich die ROSA-Crew<br />

bei ihrem ersten Einsatzort in Griechenland. Mit<br />

einem LKW werden nördlich von Athen, auf der<br />

Halbinsel Attika, regelmäßig drei Geflüchtetencamps<br />

angefahren: Ritsona, Malakasa und Oinofyta.<br />

Insgesamt leben dort etwa 5000 Menschen.<br />

Ein ROSA-Tag in den Camps beginnt zusammen<br />

mit den Frauen beim Kaffee oder Tee trinken, bevor<br />

die Workshops und Gesprächsrunden beginnen.<br />

Sophie Müller-Bahlke betont: „Wir müssen<br />

spontan und flexibel bleiben. Die letzten sechs<br />

Wochen war Ramadan, da wurden die Sportworkshops<br />

vernachlässigt, aber dafür viel zusammen<br />

gekocht und Gummi-Twist gespielt. Manchmal<br />

sind nur Frauen da, die Einzelgespräche führen<br />

wollen. Die finden in unserem Behandlungszimmer<br />

im LKW mit der Ärztin und der Übersetzerin<br />

statt.“<br />

„An anderen Tagen<br />

wird einfach zusammen<br />

gesungen und getanzt.“<br />

Als eine der größten Herausforderungen auf der<br />

Reise beschreibt die Aktivistin die verschiedenen<br />

Communitys innerhalb der Camps und welche<br />

Rassismen dort untereinander herrschen. Für die<br />

arabischen, afghanischen und afrikanischen Frauen<br />

sind die Übersetzerinnen wichtige Türöffner,<br />

um eine Vertrauensbasis zu den Frauen aufzubauen<br />

und auch um zwischen den unterschiedlichen<br />

Kulturen zu vermitteln. In Zukunft will das ROSA-<br />

Team sein Konzept durch die Erfahrung aus der<br />

Praxisarbeit weiter ausbauen und mit weiteren<br />

LKW andere Länder befahren. Außerdem ist es<br />

den Organisatorinnen wichtig, dass die Crew gut<br />

vor- und nachbereitet wird, damit diese bei der<br />

mental belastenden Arbeit nicht auf sich allein gestellt<br />

ist.<br />

„Wir freuen uns sehr, dass unser Projekt so gut angenommen<br />

und besucht wurde, gleichzeitig ist es<br />

aber auch ganz schön erschreckend, weil es zeigt,<br />

wie groß der Bedarf danach eigentlich ist“, ergänzt<br />

Müller-Bahlke. Auf der Reise hat das ROSA-<br />

Team vor allem gelernt, dass man zusammen viel<br />

mehr erreichen kann, als man denkt. Die positiven<br />

Erlebnisse vor Ort motivieren sie auch weiterhin<br />

mutig, aktiv und „not afraid“ zu handeln.<br />

Infobox<br />

ROSA finanziert sich komplett über<br />

Spenden und freut sich über motivierte<br />

Crew-Mitglieder und Unterstützung aller<br />

Art.<br />

Mehr Infos unter:<br />

www.rolling-safespace.org<br />

Spendenkonto:


02/ 2022 NOT AFRAID 19<br />

Ladies, level up!<br />

Frauen in der Gaming-World:<br />

Von Hürden, Interessen und<br />

einer langsamen Veränderung<br />

– ein Einblick.<br />

VON EMMA WEITERER<br />

Computer- und Videospiele sind in<br />

Deutschland so beliebt wie nie. 50<br />

Prozent aller Deutschen spielen Games<br />

aus den unterschiedlichsten<br />

Gründen. Lange Zeit war die Szene<br />

größtenteils auf die männliche Bevölkerung ausgerichtet,<br />

doch mittlerweile ist glasklar: Auch<br />

Frauen spielen. Und zwar viele. Laut dem Jahresreport<br />

der deutschen Games-Branche 2021 machen<br />

Frauen 48 Prozent aller Spielenden aus.<br />

Auch Yvonne „MissMadHat“ Scheer ist seit ihrer<br />

Jugend Gamerin und konnte mit ihrem Team AuT<br />

pBo dreimal die österreichische Staatsmeisterschaft<br />

gewinnen. Zurzeit ist sie Genderbeauftragte<br />

des österreichischen E-Sport Verbands (ESVÖ)<br />

und setzt sich mit dem Thema Diversität im Gaming<br />

und E-Sport Bereich auseinander. Die Gamerin<br />

betont: „Mein Lieblingsgenre sind Ego-<br />

Shooter wie Call of Duty und Battlefield. Hier<br />

spiele ich ausschließlich Multiplayer, da ich mich<br />

gerne mit Freunden gegen andere Teams beweise.“<br />

Ego-Shooter wie Call of Duty, oder auch<br />

Sportspiele wie FIFA sind bei Frauen 2022 immer<br />

noch weniger beliebt als bei der männlichen Bevölkerung.<br />

So spielen laut einem Global Consumer<br />

Survey zwölf Prozent der befragten Frauen<br />

Shooter, während es bei den Männern 33 Prozent<br />

sind. Diese Zahlen könnten sich mit einer besseren<br />

Ansprache von Frauen ändern.<br />

Weibliche Charaktere<br />

Wo es noch vor zehn Jahren wenige weibliche<br />

und diverse spielbare Charaktere in Computerund<br />

Videospielen gab, sieht das Ganze heutzutage<br />

etwas anders aus: „Einige Entwicklerfirmen haben<br />

sich bereits einer realistischen Darstellung von<br />

Frauen, People of Colour oder People der<br />

LGBTQIA+ Community angenommen“, bemerkt<br />

Yvonne Scheer. Ihrer Meinung nach ist dies ein<br />

wichtiger Teil, um diese Personen für ein Spiel begeistern<br />

zu können, da man sich mit den Charakteren<br />

identifizieren kann. Beispiele hierfür sind<br />

Aloy aus Horizon, oder Ellie aus The Last of Us 2,<br />

aufgrund ihrer realistischen und mehrdimensionalen<br />

Darstellung. In vielen Online-Multiplayer-<br />

Spielen wird mittlerweile die Option genutzt, sich<br />

selbst einen Charakter erstellen zu können oder es<br />

gibt männliche und weiblich gelesene Charaktere<br />

zur Auswahl. Bei dem taktischen Multiplayer Ego-<br />

Shooter Valorant sind die Hälfte der Charaktere<br />

weiblich gelesen. Gleichzeitig verzeichnet das<br />

Spiel 30 bis 40 Prozent weibliche Spielerinnen –<br />

ein Zusammenhang lässt sich hier nur erahnen.<br />

Eine Welt voller Sexismus?<br />

Eine der größten Hürden für Frauen im Gaming<br />

ist wohl die Konfrontation mit sexistischen und<br />

diskriminierenden Anfeindungen in Sprach-<br />

Chats. Dies geschieht zumeist in Online-Multiplayer-Games.<br />

Nach einer Studie von Reach3 Insights,<br />

in der die Erfahrungen von Spielerinnen in<br />

der Gaming-Branche untersucht wurden, gaben<br />

77 Prozent der Befragten an, Erfahrungen mit Sexismus<br />

gemacht zu haben. Darunter fielen Beleidigungen,<br />

sexuelle Nachrichten und Gatekeeping.<br />

Frauen müssen sich hier von „Mach mir ein<br />

Sandwich!“, über „Send nudes, please!“ bis zu Androhungen<br />

von sexueller Gewalt einiges anhören.<br />

Sie werden oft nicht als Gamer respektiert, was<br />

auch Yvonne Scheer bestätigt, die ebenfalls negative<br />

Erfahrungen gemacht hat. Dadurch würden<br />

sich Spielende eingeschüchtert fühlen, auf einen<br />

weiblich klingenden Nicknamen verzichten oder<br />

gar aufhören zu spielen. Ein kleiner Trost ist hier<br />

vielleicht, dass eine Studie des Wissenschaftsmagazins<br />

PLOS One folgendes herausgefunden hat:<br />

Je schlechter die männlichen Spieler sind, desto<br />

eher beleidigen sie Frauen im Chat.<br />

Wohin die Reise geht<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es als Frau<br />

in der Videospiel-Welt nicht einfach ist. Vor allem<br />

kooperative Online-Multiplayer Spiele sind mit<br />

ihrer teils sexistischen Community schwieriger<br />

zugänglich. Mit einer größeren Ausrichtung auf<br />

Frauen geht die Branche in eine diversere Richtung.<br />

Doch es gibt noch viel Luft nach oben. Vor<br />

allem die BIPOC und LGBTQIA+ Community<br />

sind noch stark unterrepräsentiert. „Gaming is for<br />

©Photo by Chandri Anggara on Unsplash, Schriftzug ©Emma Weiterer<br />

everyone“, sagt Yvonne Scheer, „jeder und jede<br />

kann zum Gamer werden.“<br />

Spielempfehlungen: Von Waldgeistern und Puppen<br />

„Kena: Bridge of Spirits“<br />

Hier übernehmt ihr die Rolle der jungen Seelenführerin<br />

Kena, die mit Hilfe ihrer Begleiter, den<br />

Fäulnis (Waldgeister), auf der Suche nach dem<br />

heiligen Bergschrein, zu einem verlassenen Dorf<br />

reist. Dabei entwickelt ihr ihre Fähigkeiten, taucht<br />

in eine wunderschöne Story ein und befreit die<br />

Welt von einem seltsamen Fluch.<br />

„It takes two“<br />

In diesem Koop-Spiel, spielt ihr zusammen als Cody<br />

und May, ein Paar, welches, um ihre Ehe zu retten,<br />

in Puppen verwandelt wurde. Meistert clevere,<br />

und lustige Herausforderungen, die auf purer<br />

Zusammenarbeit basieren.<br />

© 2020 Ember Lab, LLC<br />

© Hazelight Studios 2022


20 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

TIC(K)ST DU NOCH GANZ RICHTIG?<br />

Bild: Pixabay<br />

Bild: Pexels<br />

„Wichser, Hure, Arschloch” –<br />

Aussagen, die verletzen. Für<br />

Tourette-Betroffen e gehören<br />

diese Begriffe zum Alltag.<br />

Denkt man zumindest. Doch<br />

die Krankheit birgt mehr als<br />

unkontrollierbare Beleidigungen.<br />

VON LARISSA ZWICK<br />

Sich mit Freunden in Bars treffen, häkeln<br />

und bei einem Home-Workout<br />

auspowern – auf den ersten Blick gängige<br />

Hobbys einer 23-jährigen Frau.<br />

Doch für Julia gestalten sich diese häufig<br />

schwieriger, als gewöhnlich. Sie leidet am Tourette-Syndrom.<br />

Diagnostiziert wurde die Erkrankung<br />

erst 2020, mitten in der Pandemie. Ihren ersten<br />

Tic erlebte Julia weitaus früher: Im Alter von<br />

13 Jahren nimmt sie zum ersten Mal eine Zuckung<br />

wahr. Ein harmloses „Kälte-Zucken“, vermutet<br />

sie. Anfangs traten die Zuckungen alle paar Monate<br />

auf. Über die Jahre hinweg intensivierten sich<br />

die Tics und fielen zum ersten Mal Julias Freund<br />

auf: „Davor hat das nie jemand bemerkt. Ich<br />

dachte einfach, das wäre irgendwie normal“, erzählt<br />

die 23-jährige Dresdnerin im Interview. Daraufhin<br />

ging sie zum Arzt und erlebte während der<br />

Diagnosestellung ihren ersten vokalen Tic. Ein<br />

„A-Laut“, erinnert sie sich.<br />

Zum Verständnis: Das Gilles de la Tourette-<br />

Syndrom ist eine neuro-psychiatrische Erkrankung<br />

bei dem die Betroffenen unter sogenannten<br />

„Tics“ leiden. Tic-Störungen können sich durch<br />

plötzliche und unkontrollierbare Reaktionen des<br />

Muskels oder das Wiedergeben von willkürlichen<br />

Lauten äußern. Beim Tourette-Syndrom leiden<br />

die Betroffenen sowohl an motorischen als auch<br />

an vokalen Tics. Besondere Formen des Tourette-<br />

Syndroms sind beispielsweise die Echolalie, welche<br />

sich durch stereotypisches und sinnloses<br />

Nachsprechen von Worten, Sätzen oder Geräuschen<br />

äußert. Außerdem gibt es die sogenannte<br />

Koprolalie. Hierbei haben Betroffene die zwanghafte<br />

Neigung zum Gebrauch obszöner und beleidigender<br />

Ausdrücke. Auch wenn Julia es nicht<br />

möchte, wird die Koprolalie bei ihr durch gewisse<br />

Personengruppen ausgelöst. „Eigentlich will ich<br />

keine Beispiele nennen, weil ich die Person nie so<br />

beleidigen würde“, erzählt die 23-jährige.<br />

Um sich selbst und außenstehenden Personen<br />

den Umgang mit ihrem Tourette zu erleichtern,<br />

gibt sie der Krankheit einen Namen. Ihr Tourette<br />

heißt Gerald. „Ich hatte oft Tics, wobei die Leute<br />

nicht verstanden haben, dass das Tics sind, dann<br />

habe ich immer gesagt, das war Gerald und dann<br />

wussten alle, das kam jetzt nicht von Julia“. Wichtig<br />

ist ihr hierbei zu erwähnen, dass das Tourette-<br />

Syndrom nichts mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung<br />

zu tun hat und die beiden Krankheiten<br />

zu differenzieren sind. Extreme Stresssituatio-<br />

nen und laute Geräusche sind für sie die häufigsten<br />

Auslöser der Tics.<br />

Die gelernte Soziologin erinnert sich an Situationen<br />

im Studium: „Die ganze Aufmerksamkeit<br />

ist auf dich gerichtet und man denkt sich ‘jetzt<br />

bloß keine Beleidigung, sonst denkt die Professorin<br />

schlecht von dir‘, obwohl sie ja Bescheid<br />

weiß“. Auch auf der Arbeit ist Julia diesen Situationen<br />

ausgesetzt. Was für andere ein normales Meeting<br />

ist, ist für Julia Stress pur. Denn sie steht unter<br />

ständiger Angst, es könne ihr vor ihren Vorgesetzten<br />

eine unkontrollierte Beleidigung herausrutschen.<br />

Sie selbst sagt: „Das Schlimmste an Tourette<br />

ist das Gefühl, dass du deinen eigenen Körper<br />

nicht kontrollieren kannst“.<br />

Durch eine neue medikamentöse Behandlung<br />

treten die unkontrollierbaren Beleidigungen bei<br />

ihr seltener auf. Generell ist das Tourette-Syndrom<br />

unheilbar. Durch Therapien wie das „Habit<br />

Reversal Training“ (HRT), bei dem die Betroffenen<br />

darin geschult werden, ihr Verhalten durch alternative<br />

Handlungen zu unterbrechen. Durch Medikamente<br />

können die Tics reduziert werden. Julia<br />

ist derzeit nicht in Therapie, bespricht sich allerdings<br />

alle paar Monate mit ihrem Neurologen.<br />

Sie ist zufrieden mit ihrem Medikament, steht anderen<br />

Behandlungsmethoden allerdings offen gegenüber.<br />

Der Dresdnerin fiel die Akzeptanz ihrer Krankheit<br />

zu Beginn schwer. Die späte Diagnose war für<br />

sie und ihr Umfeld zuerst ein Schock. Sie erzählt,<br />

dass der Zeitraum um die Diagnose eine schwierige<br />

Zeit in ihrem Leben war. Geholfen hat ihr, ihre<br />

Geschichte öffentlich zu machen. Julia lädt Vi-


02/ 2022 NOT AFRAID 21<br />

deos zu ihrem Tourette-Syndrom auf ihrem You-<br />

Tube-Kanal „Julticlia“ hoch, um sich und anderen<br />

den Umgang mit der Krankheit zu erleichtern und<br />

aufzuklären. Der Zuspruch und der Austausch mit<br />

anderen Betroffenen durch die sozialen Medien<br />

hat sie bestärkt und ihr dabei geholfen die Krankheit<br />

zu akzeptieren. Mittlerweile kommt sie besser<br />

damit klar: „Ich glaube man kann das nie zu 100<br />

Prozent akzeptieren, aber ich habe mich mittlerweile<br />

damit arrangiert und komme eigentlich gut<br />

klar. Natürlich gibt es aber auch manchmal Tage,<br />

an denen ich denke ‚ist halt trotzdem blöd‘.“<br />

Für Julia ist es vor allem wichtig, nicht nur<br />

durch das Tourette-Syndrom definiert zu werden:<br />

„Man ist nicht die Krankheit, man hat sie nur.“<br />

Zudem findet sie es wichtig, darüber aufzuklären,<br />

dass Tourette viele Gesichter hat. Im Interview<br />

sagt sie, sie sei ein schlechtes Beispiel hierfür, da<br />

sie selbst an Koprolalie leide, allerdings definiert<br />

sich das Tourette-Syndrom nicht nur durch Beleidigungen<br />

und auffällige Tics. Sie kritisiert unter<br />

anderem, dass die Medien sich bei dem Tourette-<br />

Syndrom häufig der Koprolalie widmen und andere<br />

Formen hierbei in Vergessenheit geraten. So<br />

ist vielen Personen gar nicht klar, dass die Krankheit<br />

sich durch weitaus unauffälligere Tics bemerkbar<br />

machen kann. Beispielsweise kann ein<br />

krankhaftes Räuspern oder Blinzeln schon zu einer<br />

Form des Tourette gehören. Auch der Umgang<br />

mit Betroffenen ist für Julia ein individuell zu betrachtender<br />

Faktor.<br />

Prominente Vorbilder wie „Gewitter im<br />

Kopf“, die einen humorvollen Umgang mit der<br />

Krankheit suggerieren, sieht sie daher als leicht<br />

problematisch an: „Der Umgang von Gewitter im<br />

Kopf mit der Krankheit ist nicht für jede:n anwendbar.<br />

Nicht jede:r findet die Tics witzig, kann<br />

darüber lachen oder will, dass es andere tun. Daher<br />

finde ich das immer schwierig, dass das als<br />

Vorbild genommen wird, wie man mit Tourette<br />

umgeht.“ Prinzipiell findet sie es gut, dass durch<br />

YouTube-Kanäle wie „Gewitter im Kopf“ oder<br />

auch ihren eigenen über das Tourette-Syndrom<br />

aufgeklärt wird, es sollte allerdings klar sein, dass<br />

mediakompakt<br />

Zeitung des Studiengangs Mediapublishing<br />

Hochschule der Medien Stuttgart<br />

I M P R E S S U M<br />

HERAUSGEBER<br />

Professor Christof Seeger<br />

Hochschule der Medien<br />

Nobelstraße 10<br />

70569 Stuttgart<br />

REDAKTION<br />

Corinna Pehar, Bianca Menzel (v.i.S.d.P.)<br />

pehar@hdm-stuttgart.de, menzelb@hdm-stuttgart.de<br />

TITELSEITE<br />

Emily Rau, Eike Babel, Sina Majer,<br />

Alina Maday, Simon Vetter, Larissa Zwick<br />

PRODUKTION<br />

Alle<br />

ANZEIGENVERKAUF<br />

Caroline Binder, Eva Roidl, Tanja Schäfer,<br />

Fabienne Grzesiek, Sophia Oroszi, Nadja Brormann<br />

jede:r Betroffene anders mit der Krankheit umgeht.<br />

Generell wünscht sich Julia von der Öffentlichkeit<br />

mit ihrem Tourette-Syndrom so umzugehen,<br />

wie sie es selbst vorlebt. Ignoriert sie ihre<br />

Tics, so wünscht sie sich das auch von ihrem Gegenüber.<br />

Lacht sie über einen Tic, so möchte sie,<br />

dass man mit ihr lacht. „Selbstakzeptanz ist wichtig,<br />

aber auch schwer“, sagt Julia. Allerdings<br />

möchte sie anderen Betroffenen mit auf den Weg<br />

geben, dass die Akzeptanz Zeit benötigt und man<br />

sich diese auch geben soll. „Natürlich geht das<br />

Tourette nicht vorbei, aber man lernt, damit umzugehen.<br />

Das Umfeld gewöhnt sich daran und<br />

man sich selbst auch“.<br />

Mehr von Julia und ihrer Geschichte gibt es auf ihrem<br />

YouTube-Kanal: Julticlia.<br />

3 Vorurteile - gecheckt:<br />

• Tourette-Betroffene werden immer beleidigend.<br />

Nein. Nur rund 30 Prozent der Tourette-<br />

Betroffenen leiden an der sogenannten<br />

Koprolalie, dem zwanghaften Aussprechen<br />

anstößiger und frivoler Ausdrücke.<br />

• Mit Tourette kann man nicht lügen.<br />

Nein. Die Aussagen, die durch das Tourette-Syndrom<br />

ausgelöst werden können,<br />

sind unkontrollierbar und spiegeln<br />

daher nicht die individuelle Meinung<br />

der Betroffenen dar.<br />

• Tourette ist lustig und man soll darüber<br />

lachen.<br />

Ebenfalls nein. Prinzipiell sollte man<br />

nicht über Tourette-Betroffene lachen.<br />

Nur weil manche mit Humor reagieren,<br />

gilt das nicht für alle. Jede:r geht mit der<br />

Krankheit anders um und daher sollte<br />

man sich vorher darüber informieren,<br />

wie die Betroffenen sich den Umgang<br />

mit der Krankheit wünschen.<br />

BLATTKRITIK<br />

Simona Meier, Jenny Mayer, Diana Holz, Nicole Tandler,<br />

Selina Meier, Jenny Huber, Laura Epple<br />

MEDIA NIGHT<br />

Emma Weiterer, Alexander Kraft, Ann-Kathrin Skiba, Elisa-<br />

Mia Metzeroth, Linda Steffen, Emily Moosmann, Jessica<br />

Morlock, Josephine Hennen<br />

DRUCK<br />

Z-Druck Zentrale Zeitungsgesellschaft GmbH & Co. KG<br />

Böblinger Straße 70<br />

71065 Sindelfingen<br />

ERSCHEINUNGSWEISE<br />

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Stuttgart, 2022<br />

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22 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Bild: pixabay<br />

Verlass mich nicht!<br />

Einige Menschen machen ihre Partner:innen zum Mittelpunkt ihres Daseins, ein Leben ohne sie<br />

wird unvorstellbar. Wie Verlustängste eine Beziehung beeinträchtigen können und was man dagegen<br />

tun kann, erklärt Life-Coach Tina Wahren.<br />

VON SELINA MEIER<br />

Womit genau beschäftigen Sie sich?<br />

Meine Arbeit besteht darin, Menschen aus<br />

schwierigen Lebenssituationen heraus zu helfen.<br />

Die Schwerpunkte meiner Arbeit liegen darauf,<br />

Menschen zu unterstützen, die mit toxischen und<br />

narzisstischen Beziehungen oder einem ungesundem<br />

Essverhalten zu kämpfen haben. Zu mir<br />

kommen Personen, die ihr Leben verändern wollen,<br />

die sich selbst, ihre Werte und ihre Bedürfnisse<br />

kennenlernen möchten.<br />

Was genau versteht man unter Verlustängsten in romantischen<br />

Beziehungen?<br />

Man spricht in Partnerschaften von Verlustängsten,<br />

wenn der Betroffene Angst davor hat,<br />

seinen Partner zu verlieren. Menschen mit Verlustängsten<br />

neigen dazu, sich in einer Beziehung<br />

nicht vollständig emotional zu öffnen. Gleichzeitig<br />

erlebe ich oft, dass sie den Partner einengen<br />

und am liebsten 24 Stunden mit ihm zusammen<br />

wären oder wissen wollen, was er wann und mit<br />

wem gemacht hat. Durch diese vermeintliche Nähe<br />

kontrollieren sie unbewusst den anderen.<br />

Woran genau merke ich in einer Beziehung, dass ich<br />

unter Verlustängsten leide?<br />

Verlustängste können sich für Betroffene so<br />

zeigen, dass sie ständig misstrauisch sind und in<br />

ihrem Kopf negative Szenarien immer wieder<br />

durchspielen. Man ist sich der Gefühle des anderen<br />

nicht sicher und braucht Beweise, dass er es<br />

ernst meint. Man sieht Gefahren, die gar nicht<br />

existieren und steigert sich irrational hinein. Das<br />

kann zu Panikattacken führen. Betroffene wollen<br />

auf der einen Seite permanente Absicherung, dass<br />

der Partner bleibt. Auf der anderen Seite empfinden<br />

sie sich selbst als nicht liebenswert und strengen<br />

sich überdurchschnittlich an, der anderen<br />

Person zu gefallen.<br />

Bis wohin sind solche Ängste normal und ab wann sollte<br />

man etwas dagegen tun?<br />

Ängste sind grundsätzlich etwas Natürliches<br />

und eine gesunde Reaktion unseres Körpers. Sie<br />

wollen uns vor Gefahren schützen, indem wir<br />

achtsam mit einer Situation umgehen. Sie werden<br />

dann problematisch, wenn wir sie regelmäßig ohne<br />

einen realen Auslöser durchleben. Meine Empfehlung<br />

ist, etwas zu unternehmen, wenn die<br />

Angst immer mehr Raum im Leben einnimmt.<br />

Wer seinen Alltag nicht mehr frei gestalten kann,<br />

sollte Hilfe in Anspruch nehmen.<br />

Welche Ursachen können Verlustängste in Partnerschaften<br />

haben?<br />

Meines Erachtens ist es wichtig, eine Verlustangst<br />

als Symptom zu verstehen, das eine versteckte<br />

Botschaft enthält. Die Frage ist: Was will<br />

mir die Verlustangst sagen? Sie kann zum Beispiel<br />

mit einer vorherigen Trennung zusammenhängen,<br />

die nicht verarbeitet wurde. Auch kann die<br />

Ursache in prägenden Erfahrungen aus der Kindheit<br />

begründet liegen.<br />

All das sind unbewusste, tief verankerte Mechanismen.<br />

Deshalb ist es wichtig, Verlustängste<br />

als eine Art schützende Strategie zu verstehen und<br />

mit ihnen in Kontakt zu treten, anstatt sie zu<br />

ignorieren.<br />

Welche Tipps haben Sie für Paare, bei denen einer oder<br />

beide Partner unter Verlustängsten leiden?<br />

Man sollte sich bewusst machen, dass die Ursachen<br />

der Angst in der eigenen Lebensgeschichte<br />

liegen. Ich empfehle, die wahrhaftige Botschaft<br />

hinter der Angst zu finden: Sei dabei vor allem<br />

ehrlich zu dir selbst und spreche über deine Ängste<br />

und Zweifel mit deinem Partner.<br />

Der Schlüssel liegt darin, Verantwortung für<br />

das eigene Leben zu übernehmen, sich selbst lieben<br />

zu lernen sowie für sich selbst Sicherheit und<br />

Vertrauen zu erschaffen. Das beendet ungesunde<br />

Abhängigkeiten, ermöglicht freie Entscheidungen.<br />

Wie würden Sie Paaren helfen, die mit Verlustängsten<br />

zu kämpfen haben?<br />

Ich arbeite bei solchen Themen gerne mit dem<br />

inneren Kind, das sowohl die Ursache als auch die<br />

Lösung einer Situation in sich trägt. Es ist eng mit<br />

unserem Herzen verbunden und kennt alle freudvollen<br />

und schmerzhaften Erlebnisse, von denen<br />

Erwachsene oft getrennt sind. Durch das Zusammenbringen<br />

beider Teile entsteht ein neues Bewusstsein,<br />

Verständnis und bedingungslose Liebe<br />

für sich selbst. Das ist die Basis für eine gelingende<br />

Partnerschaft.<br />

Tina Wahren<br />

Coach für Selbstverwirklichung<br />

www.tina-wahren-selbstverwirklichung.de


02/ 2022 NOT AFRAID 23<br />

Zwischen Windeln wechseln<br />

und Kundengesprächen<br />

Selbstständigkeit und Kinder großziehen – ist so etwas überhaupt möglich? Ein Gespräch über Businessentscheidungen<br />

und Mutter sein mit der selbstständigen Ronja Reichert, Gründerin des Unternehmens<br />

Räuber Deern Design.<br />

VON ALEXANDER KRAFT<br />

Wie bist du auf die Idee gekommen, dich selbstständig<br />

zu machen?<br />

Ich war bei meinem vorherigen Arbeitgeber<br />

unzufrieden und habe mich nach etwas anderem<br />

umgeschaut. Vorerst hatte ich Angst vor der<br />

Selbstständigkeit, da mein Vater auch selbstständig<br />

ist und ich gesehen habe wie zeitaufwendig alle<br />

Prozesse sind. Jedoch ist es gerade im Bereich<br />

Mediengestaltung einfacher, sich ein Standbein<br />

aufzubauen als in anderen Berufen. Es gibt viele<br />

Kunden, die beispielsweise ein Logo oder auch<br />

Flyer benötigen.<br />

Was waren deine größten Ängste bevor du dich zur<br />

Selbstständigkeit entschieden hast?<br />

Die größten Ängste, die ich am Anfang hatte,<br />

waren, dass ich keine Kunden an Land ziehe. Dass<br />

ich auf meinen fixen Kosten sitzen bleibe und dadurch<br />

ein Minus-Geschäft mache. Mein Mann<br />

hat mich dazu getrieben, einen Businessplan zu<br />

erstellen und dass ich mir Ziele für die nächsten<br />

Jahre setzten soll. Damit war ich überfordert da<br />

ich überhaupt nicht wusste ob ich nach einem<br />

Jahr einen oder hunderte Kunden akquirieren<br />

kann. Das Wichtigste für mich war, erst mal meine<br />

fixen Kosten zu decken.<br />

Wie bekommst du Arbeit und Familie unter einen Hut?<br />

Was ist dabei die größte Herausforderung?<br />

Das ist eine sehr wichtige Frage. Genau diese<br />

stelle ich mir hin und wieder auch selbst. Die<br />

wichtigste Eigenschaft, welche ich habe, ist immer<br />

gelassen zu bleiben. Ich bin kein Mensch, der<br />

sich selbst Stress macht. Zudem bekomme ich herausragende<br />

Unterstützung von meiner Familie –<br />

ohne sie könnte ich das nicht schaffen. Besonders<br />

wichtig ist, dass ich mir To-Do-Listen schreibe<br />

und diese nach Priorität abarbeite. Zudem versuche<br />

ich immer Feierabend zu machen sobald meine<br />

Tochter wieder vom Kindergarten zurückkommt.<br />

Das funktioniert nicht immer, dann wird<br />

das Kind auch mal eine halbe Stunde vor den<br />

Fernseher gesetzt oder der Laptop wird mit auf<br />

dem Spielplatz genommen – auch wenn ich mich<br />

dabei immer schlecht fühle. Anfangs hatte ich damit<br />

noch öfters mal Probleme und hatte keine<br />

ausgewogene Work-Life-Balance, mittlerweile<br />

hingegen bekomme ich alles gut unter einen Hut.<br />

Welche Tipps kannst du geben, wenn sich eine junge<br />

Mutter entscheidet, sich selbstständig zu machen?<br />

Das Wichtigste ist, es einfach auszuprobieren.<br />

Wenn man das nicht tut, ärgert man sich das ganze<br />

Leben, diesen Schritt nicht gemacht zu haben.<br />

Zudem sollte man sich einen klaren Zeitraum von<br />

zum Beispiel einem Jahr geben: Bis dahin sollte<br />

man sein Ziel erreicht habe und profitabel sein.<br />

Falls man dieses Ziel nicht schafft, sollte man sich<br />

das auch selbst eingestehen und den Plan verwerfen.<br />

Es ist auch wichtig, gelassen an die Sache ranzugehen<br />

– sowohl in der Beziehung mit dem Kind<br />

als auch mit dem Kunden. Denn die Suppe wird<br />

nie so heiß gegessen wie gekocht.<br />

Bild: instagram/_mrs_ronja_<br />

Welche positiven Gefühle kommen auf, wenn du an dein<br />

Unternehmen denkst?<br />

Das beste Gefühl ist, dass ich mir meine Arbeitszeit<br />

selbst einteilen kann, gerade als Mutter.<br />

Ich kann tun und lassen was ich mag. Besonders<br />

gefällt mir, dass ich auch von überall arbeiten<br />

kann: Gestern war ich im Büro heute arbeite ich<br />

vom Sofa aus und an anderen Tagen nehme ich<br />

meinen Laptop mit auf dem Spielplatz und arbeite<br />

von dort aus. Das ist für mich der Geruch von Freiheit.<br />

Bild: instagram/_mrs_ronja_


24 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Bild: eyd clothing<br />

Fashion for Freedom<br />

Mit Mode Menschenleben verändern?<br />

Das humanitäre Modelabel<br />

eyd bietet Frauen mit<br />

einer zerrütteten Vergangenheit<br />

die Chance auf ein freies<br />

und selbstbestimmtes Leben.<br />

Die Gründerin Nathalie Schaller<br />

spricht über Hoffnung, Mut<br />

und ihre alltäglichen Ängste im<br />

Social Business.<br />

Menschenhandel oder „human<br />

trafficking“ – ein Begriff, mit dem<br />

die meisten Menschen kaum etwas<br />

anfangen können, der aber<br />

aktueller denn je ist. Momentan<br />

befinden sich laut UNODC (United Nations Office<br />

on Drugs and Crime) schätzungsweise 40 Millionen<br />

Menschen in moderner Sklaverei. Und das<br />

weltweit. Sie werden isoliert, verkauft und wie<br />

Ware gehandelt. Über die Hälfte der Betroffenen<br />

wird sexuell ausgebeutet. Darunter sind fast ausschließlich<br />

Mädchen und Frauen. Mit dem Thema<br />

Zwangsprostitution wurde die Juristin und Gründerin<br />

Nathalie Schaller während eines Aufenthalts<br />

in Kambodscha konfrontiert. Im Interview<br />

erinnert sie sich: „Ich saß Frauen gegenüber, die<br />

oftmals schon als Kinder verkauft wurden, ihre Jugend<br />

in Bordellen verbracht haben und kaum eine<br />

andere Perspektive hatten.“<br />

Die Begegnung mit dieser Ungerechtigkeit ließ<br />

sie nicht mehr los. Zurück in Deutschland stand<br />

fest: Sie möchte helfen. Über Kontakte erreicht sie<br />

die karikative Werkstatt Chaiim in Indien. Diese<br />

bietet ein Nachsorgeprogramm für Frauen an,<br />

welche in der Vergangenheit sexuelle Ausbeutung<br />

erfahren haben. Dort erhalten die Betroffenen<br />

Unterstützung in allen Lebensbereichen, um ohne<br />

Angst und Unterdrückung<br />

einen echten Neustart zu<br />

VON ELISA-MIA METZEROTH „Aber ohne Angst<br />

kann man auch<br />

nicht mutig sein.“<br />

schaffen. Neben Beistand im<br />

Bereich Bildung, Life-Skills<br />

und Gesundheit wird in dieser<br />

Werkstatt auch genäht. „Ich<br />

bin keine Sozialarbeiterin aber<br />

ich komme aus einer Unternehmerfamilie.<br />

So war der Gedanke, ein Social<br />

Business zu starten, naheliegend“, erzählt Nathalie<br />

Schaller. Sie selbst hat während ihres Jura-Studiums<br />

Nähkurse als kreative Flucht besucht und<br />

ihre eigene Kleidung hergestellt. So entstand die<br />

Idee, ein faires und humanitäres Modelabel zu<br />

gründen.<br />

2017 wurde diese Vision zur Wirklichkeit. Das<br />

Stuttgarter Start-Up eyd, welches ausgeschrieben<br />

für Empower Your Dressmaker steht, arbeitet inzwischen<br />

mit mehreren Partnerwerkstätten zusammen.<br />

Gemeinsam verfolgen sie ein Ziel – Betroffene<br />

von sozialer Ungerechtigkeit und Ausbeutung<br />

zu unterstützen. Diese Mission geht<br />

Hand in Hand mit dem Klimaschutz. Denn eyd<br />

produziert nicht nur humanitär, sondern auch<br />

nachhaltig. Alle Produkte werden aus ökologischen<br />

Materialien hergestellt und sind vegan, also<br />

fair in ganzer Linie. Bei einem Social Business werden<br />

die Kund:innen zur Ressource und die Hersteller:innen<br />

zu Kund:innen.<br />

Also gegenteilig zum herkömmlichen Business-Modell.<br />

Bei eyd bedeutet das, dass mit jedem<br />

einzelnen Kauf die Freiheitsprojekte unterstützt<br />

werden. Ein Social Business zu führen bringt eine<br />

große Verantwortung mit sich,<br />

macht die Gründerin deutlich:<br />

„Das, was wir tun und damit<br />

unseren Partner:innen ermöglichen,<br />

verändert tatsächlich<br />

Menschenleben. Die Angst,<br />

das durch meine Fehler kaputt<br />

zu machen, begleitet mich<br />

auch im Alltag. Aber ohne Angst kann man auch<br />

nicht mutig sein.“ Trotz Unsicherheiten hat Nathalie<br />

sich gegen einen sicheren Job in der Kanzlei<br />

ihres Vaters entschieden und für das humanitäre<br />

und faire Modelabel eyd. Menschenhandel ist ein<br />

weltweites Problem, welches für den größten Teil<br />

der Gesellschaft unsichtbar ist. Organisationen<br />

und Projekte wie eyd versuchen darauf aufmerksam<br />

zu machen, um die Ungerechtigkeit zu bekämpfen.<br />

Hierbei kann sogar der bewusste Kauf<br />

eines T-Shirts das Leben eines Menschen grundlegend<br />

verändern.


02/ 2022 NOT AFRAID 25<br />

Tapetenwechsel auf Koreanisch<br />

Raus aus der Komfortzone, neue Sprache, andere Kultur — Koffer packen und ab nach Südkorea.<br />

Ein Interview mit Lisa, die genau das gewagt hat. Seit vier Jahren lebt sie in der Hauptstadt Seoul,<br />

und hat erst einmal nicht vor zurückzukommen.<br />

VON EMILY RAU<br />

Alles ist so, wie es immer ist. Das vertraute<br />

Umfeld um einen herum.<br />

Freunde und Familie ganz nah. Jeden<br />

Tag der gleiche Ablauf. Aber was ist,<br />

wenn der normale Alltag nicht reicht?<br />

Ein Tapetenwechsel ist nötig. Viele wagen den<br />

Schritt: Auswandern.<br />

Für den ein oder anderen undenkbar. Die<br />

komplette Selbstständigkeit. Weit weg von zu<br />

Hause. Was ist, wenn es einem vor Ort nicht gefällt?<br />

Es gibt viele Dinge, die verunsichern können.<br />

Allerdings gibt es auch viele Gründe, über<br />

seinen Schatten zu springen. Es können großartige<br />

Erinnerungen und Erfahrungen gesammelt<br />

werden. Genau das hat Lisa mit ihrer Reise nach<br />

Seoul, Südkorea getan.<br />

Nach ihrem Koreanistik-Studium in Tübingen,<br />

in dem sie auch ein Jahr in Seoul lebte, entschied<br />

sie sich erneut in das weit entfernte Land<br />

zurückzukehren. Die gebürtige Kirchheimerin ist<br />

2018 für ihr zweijähriges Masterstudium erneut<br />

nach Seoul ausgereist. Heute, nach vier Jahren,<br />

lebt sie immer noch dort. Wie das zustande gekommen<br />

ist und wie sie ihr Leben in Südkorea<br />

lebt, erzählt sie in einem Interview.<br />

Wolltest du schon immer mal ins Ausland? Wenn ja,<br />

wohin?<br />

Eigentlich wollte ich nach meinem Abitur ein<br />

einjähriges FSJ in Amerika machen.<br />

Wieso hast du dich für Südkorea entschieden?<br />

Für Asien habe ich mich schon seit dem Gymnasium<br />

interessiert. Durch koreanische Musik<br />

und Serien habe ich mich immer mehr für das<br />

Land, die Kultur und die Sprache begeistert. Nach<br />

meinem einmonatigen Urlaub in Seoul konnte<br />

ich die Menschen und die Kultur richtig erleben<br />

und habe mir dann vorgenommen, Koreanistik zu<br />

studieren.<br />

Hattest du Bedenken, nach Südkorea zu ziehen?<br />

Auf jeden Fall. Es war das erste Mal, dass ich für<br />

so lange Zeit von meiner Familie und Freunden<br />

getrennt sein würde. Ich hatte Sorge, dass ich<br />

Heimweh bekomme, da ich in einem fremden<br />

Land bin. Obwohl ich die Sprache schon gelernt<br />

hatte, war es etwas ganz anderes, dort zu leben, als<br />

nur Urlaub zu machen. Man wird auf jeden Fall<br />

aus seiner Komfortzone gerissen.<br />

Was musstest du vorbereiten?<br />

Als Erstes kümmert man sich um ein Visum.<br />

Bilder: Lisa Rau<br />

Ansonsten muss man beim Packen langfristiger<br />

denken als bei einem Urlaub, vor allem wenn es<br />

um Produkte geht, die es in Korea nicht gibt.<br />

Was waren deine ersten Eindrücke als du angekommen<br />

bist?<br />

Die ersten Tage waren furchtbar. Obwohl ich<br />

schon einmal da war, war es etwas ganz anderes.<br />

Man musste sich um viele organisatorische Dinge<br />

kümmern, wie Unterkunft und Bankangelegenheiten.<br />

Aber mit der Zeit hatte sich der Alltag eingependelt<br />

und es wurde besser.<br />

Hattest du einen Kulturschock?<br />

An vieles habe ich mich mittlerweile gewöhnt.<br />

Was ich nicht mag, ist, dass es in Korea normal ist,<br />

auf die Straße zu spucken. Es gibt keine Mülleimer<br />

und der Straßenverkehr ist rasanter. Vor allem<br />

Motorradfahrer fahren wo sie wollen – da man<br />

muss sehr aufpassen.<br />

Was gefällt dir mehr in Südkorea als in Deutschland<br />

und andersherum?<br />

Das Stadtleben. Hier haben Convenience Stores<br />

24 Stunden auf, auch sonntags. Die Essenskultur,<br />

da man sein Essen miteinander teilt, anstatt<br />

dass jeder seinen eigenen Teller hat. Das Bahnsystem<br />

ist hier viel günstiger und die Züge fahren regelmäßiger.<br />

In Deutschland wiederum ist Obst<br />

und Gemüse billiger, in Korea kann eine Wassermelone<br />

auch mal 20 Euro kosten. Arbeitsrechtlich<br />

ist es in Deutschland besser, und das Gesundheitssystem<br />

und die Rentenversicherung auch. Hier<br />

habe ich nur zwölf Urlaubstage im Jahr. Wenn ich<br />

krank bin, wird mein Urlaub davon abgezogen.<br />

Was sind deine schönsten Erinnerungen, die du in Seoul<br />

machen konntest?<br />

Da gibt es viele. Ganz allgemein die Studienzeit<br />

mit meinen Freunden und meinen Uniabschluss,<br />

auf den ich sehr stolz bin. Zudem habe<br />

ich viele Freundschaften geschlossen und mit ihnen<br />

viele Erinnerungen machen können. Es ist<br />

auch immer schön, wenn man Komplimente für<br />

das Koreanisch sprechen bekommt.<br />

Was würdest du jemandem empfehlen, der auch ins<br />

Ausland gehen möchte?<br />

Ich würde es jedem empfehlen. Man wird aus<br />

seiner Komfortzone gekickt, aber man wird auch<br />

selbstständiger und offener. Man lernt neue Menschen<br />

und Kulturen kennen und sammelt viele<br />

großartige Erfahrungen. Ich kann es nur jedem<br />

ans Herz legen.


26 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Bild: Fritz Engel<br />

Die letzte Chance<br />

„Die letzte Generation“ greift<br />

mit ihren Aktionen zu außergewöhnlichen<br />

Mitteln. Die Gruppe<br />

junger Klimaaktivist:innen<br />

sieht es als einzige Chance,<br />

die Politik zum Handeln zu<br />

zwingen.<br />

VON EVA ROIDL<br />

Sie kleben sich auf viel befahrenen Straßen<br />

fest, drehen Pipelines zu, ein Aktivist<br />

springt in das Hamburger Hafenbecken.<br />

„Stoppt den fossilen Wahnsinn“,<br />

heißt es auf ihren Bannern. Die letzte<br />

Generation nutzt keine klassischen Mittel des Protests.<br />

In ihren Augen gibt es keine andere Option<br />

als den zivilen Ungehorsam, um die Folgen des<br />

menschengemachten Klimawandels noch zu<br />

stoppen. Das national vernetzte Aktionsbündnis<br />

möchte die Regierung mit ihren Aktionen herausfordern.<br />

Gleichzeitig treffen sie momentan auf<br />

viel Unmut durch die Bevölkerung. Die Bezeichnung<br />

wurde von ihnen gewählt, da sie der letzten<br />

Generation angehören, die den Kollaps des Klimas<br />

noch verhindern können.<br />

Der 25-jährige Kim studiert eigentlich in Passau<br />

Kulturwirtschaft. Doch sein Studium ist ihm<br />

nicht mehr wichtig: „Wir haben nur noch zwei bis<br />

drei Jahre, in denen wir noch irgendetwas reißen<br />

können und da sehe ich mich nicht in Vorlesungen<br />

abhängen!“<br />

Aufmerksamkeit hat die Gruppe, sowohl von<br />

der Öffentlichkeit als auch von Kim, seit deren<br />

Hungerstreiks vor dem Reichstagsgebäude im September<br />

bekommen. Seit Oktober ist der junge<br />

Mann mit ernstem Blick nun Teil der letzten Generation.<br />

Bisher war er hauptsächlich in der Organisationsstruktur<br />

tätig, die für die Strategie und<br />

die Presse verantwortlich ist. Der Student ist entschlossen,<br />

alles Mögliche zu tun. „Wir sprechen<br />

von 3,5 Millionen Menschen, die ihre Heimat verlassen<br />

müssen, Hungersnöten in Deutschland,<br />

Menschen, die in Berlin auf der Straße sterben,<br />

weil es einfach zu heiß zum Überleben ist“, versucht<br />

Kim klarzumachen.<br />

Laut wissenschaftlicher Datensätze der Welt<br />

Organisation für Meteorologie (WMO) soll das im<br />

Pariser Klimaabkommen festgelegte 1,5 Grad Ziel<br />

bereits 2026 überschritten werden. Die Erderwärmung<br />

solle demnach eigentlich bis zum Ende des<br />

Jahrhunderts auf 1,5 Grad begrenzt sein. Die Folgen<br />

dieses rasanten Temperaturanstiegs werden<br />

als verheerend prognostiziert. Und man merkt sie<br />

jetzt schon. Flutkatastrophen, Waldbrände und<br />

das Schmelzen von Gletschern. Das löst selbstverständlich<br />

Angst in Teilen der Bevölkerung hervor.<br />

Doch Kim empfindet nicht nur Angst, sondern<br />

auch Wut gegenüber der Regierung: „Die Politik<br />

führt uns sehenden Auges in die Vernichtung.“<br />

Es wäre eigentlich deren Aufgabe eine angemessene<br />

Klimapolitik zu machen. Doch anstatt<br />

fossile Infrastruktur abzubauen, ist sogar ein Ausbau<br />

geplant. Deshalb fordert die letzte Generation<br />

fossile Brennstoffe nicht weiter auszubauen, eine<br />

gerechte Notfallwirt chaft und eine Regelung bezüglich<br />

des Wegschmeißens von Lebensmitteln.<br />

Ein Mittel, um ihre Forderungen durchzusetzen<br />

sind ihre Aktionen. Diese führen häufig zu Festnahmen<br />

durch die Polizei.<br />

Auch Kim wurde schon einmal in Sicherheitsgewahrsam<br />

genommen und musste vier Tage in<br />

der Jugendvollzugsanstalt Landshut absitzen.<br />

„Natürlich habe ich Angst davor in einer Zelle zu<br />

landen und für Tage nicht zu wissen, wie ich da<br />

behandelt werde. Aber noch mehr Angst habe ich<br />

vor den Folgen, die uns erwarten, wenn wir nicht<br />

Widerstand leisten. Ich denke in der Abwägung ist<br />

es gar keine Frage, das in Kauf zu nehmen, um<br />

jetzt noch das Ruder herumzureißen“, meint er.<br />

Die Aktionsgruppe polarisiert auch in der Zivilbevölkerung.<br />

Vor allem durch die Straßenblockaden<br />

fühlen sich viele, beispielsweise auf ihrem<br />

Weg zur Arbeit, gestört. Kritiker:innen bezeichnen<br />

das Vorgehen sogar als kontraproduktiv.<br />

Denn wenn man in einer Demokratie Dinge<br />

durchsetzen möchte, geht es darum Mehrheiten<br />

zu gewinnen, und die letzte Generation trifft in<br />

letzter Zeit auf wenig Sympathie. Kim kann das<br />

nachvollziehen: „Ich wünschte der Widerstand<br />

wäre nicht notwendig. Es denken immer alle, sie<br />

müssen alle Menschen überzeugen. Aber die Geschichte<br />

hat schon oft genug gezeigt, dass man zu<br />

disruptiven Aktionen greifen muss, stören muss,<br />

um die Veränderung tatsächlich zu bewirken!“


02/ 2022 NOT AFRAID 27<br />

Klick nicht weg<br />

Hass im Netz nimmt immer mehr zu. Digitale Zivilcourage wird somit umso wichtiger. Aber wie<br />

sieht der richtige Umgang mit Hate Speech aus? Genau das ist Thema des Präventionsprogramms<br />

„Zivilcourage im Netz“ des Landeskriminalamts Baden-Württemberg.<br />

VON NADJA BRORMANN<br />

Ein Polizeibüro in Stuttgart-Ost. Der<br />

Aufsteller mit Flyern, Broschüren und<br />

Klappkarten zur Kriminal- und Verkehrsprävention<br />

vor der Fensterbank<br />

ist kaum zu übersehen. Die Papiermenge<br />

lässt den Raum voll und klein wirken. Doch<br />

viel Zeit verbringt Polizeioberkommissar Manuel<br />

August hier ohnehin nicht. Vielmehr ist er an<br />

Schulen im Stuttgarter Osten tätig und leistet Präventionsarbeit.<br />

Vor Ort hält er Vorträge zum Thema<br />

digitale Zivilcourage. Das Angebot „Zivilcourage<br />

im Netz“ des Landeskriminalamts Baden-<br />

Württemberg richtet sich an Schüler:innen ab der<br />

siebten Klassenstufe. Ziel ist immer, dass die Jugendlichen<br />

lernen, sich auch in der digitalen Welt<br />

für humane und demokratische Werte einzusetzen.<br />

Ganz konkret heißt das: Bei Hass im Netz<br />

nicht wegzuklicken oder etwa den Täter durch Likes<br />

oder Ähnliches zu unterstützen, sondern die<br />

Opfer zu stärken und einzuschreiten.<br />

Wie sehr bereits die junge Generation mit<br />

Hass im Netz konfrontiert ist, zeigen die Zahlen<br />

der diesjährigen JIM-Studie. Unter den Befragten<br />

gaben 58 Prozent an, im letzten Monat Hassbotschaften<br />

begegnet zu sein. Das sind fünf Prozentpunkte<br />

mehr als im Vorjahr. Diese Entwicklung<br />

deckt sich mit einer Statistik aus dem aktuellen Sicherheitsbericht<br />

des Landes Baden-Württemberg.<br />

Laut diesem hat die Polizei in Baden-Württemberg<br />

39.648 Straftaten mit dem Tatmittel Internet<br />

und/oder IT-Geräte registriert. Dazu zählen auch<br />

Beleidigungen via Internet. 2019 lag die Zahl der<br />

Straftaten in diesem Bereich noch bei 24.5<strong>32</strong>. Die<br />

Zahlen sprechen für sich: Es braucht mehr digitale<br />

Zivilcourage.<br />

Im Rahmen des Präventionsangebots sollen<br />

die Heranwachsenden den richtigen Umgang mit<br />

Hate Speech lernen. Anhand von konkreten Sachverhalten<br />

zeigen die Polizist:innen die Grenzen<br />

der Meinungsfreiheit nach Artikel fünf im Grundgesetz<br />

auf. Bei den fiktiven Sachverhalten handelt<br />

es sich beispielsweise um das Verschicken eines<br />

verbotenen Symbols innerhalb einer WhatsApp-<br />

Gruppe. Zuerst müssen die Schüler:innen die Fälle<br />

bewerten. Im Anschluss geben die Präventionsbeamt:innen<br />

ihre Einschätzungen ab und zeigen die<br />

verschiedenen Handlungsmöglichkeiten auf.<br />

„Grundsätzlich kann man die 110 wählen<br />

oder das örtliche Revier verständigen, wenn man<br />

sieht, wie im Internet Straftaten begangen werden“,<br />

erklärt Manuel August. Es ist aber auch<br />

möglich den Tatbestand bei der Onlinewache zu<br />

melden. Dafür ist das Dokumentieren sehr hilfreich.<br />

Screenshots können für die weitere Ermittlung<br />

von Vorteil sein. Auf Social Media bietet es<br />

Bild: Unsplash<br />

sich an, aggressive Inhalte und Kommentare auch<br />

direkt auf der Plattform zu melden.<br />

Neben den Beispielen kommen aber auch die<br />

eigenen Erfahrungen der Einzelnen nicht zu kurz.<br />

„Oft ist schon vieles passiert, auch im Klassenchat,<br />

weshalb wir auch die Schüler:innen berichten<br />

lassen“, erzählt der Polizist. Dafür nehmen<br />

sich er und seine Kolleg:innen explizit Zeit: „Was<br />

ganz wichtig ist, wir gehen erst aus den Klassen<br />

wieder raus, wenn die Fragen und Themen der<br />

Schüler:innen geklärt sind.“ Wie bei der Zivilcourage<br />

in der realen Welt kann man auch bei der digitalen<br />

Zivilcourage Fehler begehen. „Wir stellen<br />

sehr oft fest, dass Leute, die helfen wollen, selbst<br />

versehentlich Straftaten begehen. Indem sie zum<br />

Beispiel verbotene Inhalte weiterteilen“, berichtet<br />

Manuel August. Umso wichtiger ist es, dass die Polizei<br />

präventiv arbeitet und für Aufklärung sorgt.<br />

Wie der Präventionsbeamter zurecht sagt, „jeder<br />

von uns kann Opfer, Geschädigter von Hate<br />

Speech oder einem verbalen Angriff im Netz werden“.<br />

Diesbezüglich erhofft er sich, dass die Gesellschaft<br />

erkennt, wie unglaublich wichtig Zivilcourage<br />

im Netz ist.


28 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Bild: Caroline Binder<br />

Mein Pferd ist mein Therapeut<br />

Pferde faszinieren durch ihre Größe, Schönheit und Eleganz. Gleichzeitig können diese Faktoren<br />

auch einschüchternd wirken. Für die beiden langjährigen Pferdefrauen Ines und Celine sind ihre<br />

Pferde aber viel mehr als diese Eigenschaften.<br />

VON CAROLINE BINDER<br />

Der Wallach hebt seinen Kopf und<br />

blickt nach links. Er nimmt menschliche<br />

Schritte auf Kies wahr. Seine<br />

weißen Ohren sind gespitzt und seine<br />

Augen blicken in die Richtung aus<br />

der die Geräusche kommen. Als Celine um die<br />

Ecke biegt, wiehert er leise. Ein Zeichen, dass er sie<br />

erkannt hat. Auf Celines Gesicht erscheint ein Lächeln.<br />

Sie öffnet das Tor des Zauns und geht zu<br />

dem Wallach an die Heuraufe, um ihn zu streicheln.<br />

Sie berührt sein weiches und warmes Fell<br />

an Kopf und Hals. Das kontinuierlich Fressgeräusch<br />

der anderen Pferde an der Heuraufe ist zu<br />

hören. Die Vögel zwitschern, der Wind rauscht<br />

leicht durch die Bäume und von weiter weg hört<br />

man gackernde Hühner. Mit allen Sinnen fühlt<br />

Celine diesen Ort. So beginnt für sie eine andere<br />

Welt, in der sie den Stress der Universität und andere<br />

Sorgen völlig vergisst.<br />

Die 22-jährige Celine reitet seit ihrem siebten<br />

Lebensjahr und seit sechs Jahren ist ein Schimmel<br />

ihre Reitbeteiligung. Somit gehört ihr das Pferd<br />

zwar nicht, aber an zwei festen Tagen jede Woche<br />

ist sie für ihn verantwortlich und kümmert sich<br />

um ihn. In den letzten sechs Jahren hat sich zwischen<br />

den Beiden eine vertrauensvolle Beziehung<br />

entwickelt. Das ist beispielsweise daran zu erkennen,<br />

wenn sie gemeinsam Bodenarbeit machen.<br />

Hier versteht der Schimmel die feinen Signale von<br />

Celines Körpersprache. Darauf reagiert er feinfühlig<br />

indem er auf sie zukommt oder von ihr weggeht.<br />

In stressigen Zeiten im Studium oder auch<br />

bei privaten Themen konnten ihr der Schimmel –<br />

und der Ort wo er lebt – helfen. „Die Anwesenheit<br />

und das Streicheln von Pferden reicht da meist<br />

schon aus“, sagte Celine. Über das weiche Fell zu<br />

streichen, die Körperwärme und den Rhythmus<br />

des fressenden Pferdes zu fühlen ist für sie beruhigend.<br />

Auch der 52-jährigen Ines, die seit ihrem achten<br />

Lebensjahr mit Pferden zu tun hat, haben<br />

Pferde schon häufig durch schwierige Zeiten und<br />

Krisen geholfen. Speziell ihr eigenes Pferd hat dabei<br />

eine besondere Rolle gespielt. Als sie sich damals<br />

das dreieinhalb-jährige Pferd gekauft hat,<br />

stand ihr ganzes Leben – sowohl beruflich als<br />

auch privat – auf dem Kopf. Sie hatte sich zu diesem<br />

Zeitpunkt einigermaßen von einem Burnout<br />

erholt, aber durchlebte weiterhin noch unangenehme<br />

Krisen, die sich nicht so schnell abstellen<br />

ließen. Das noch sehr junge und rohe Pferde forderte<br />

sie. Bei der intensiven Jungpferdeausbildung<br />

mit ihm lernte sie gleichzeitig auch sehr viel<br />

über sich selbst. „Es bleibt wenig Gelegenheit,<br />

sich auf Sorgen und Probleme zu konzentrieren.<br />

Denn das Pferd verlangt, dass man ganz im Hier<br />

und Jetzt ist“, meint Ines. Dadurch lehrte er sie<br />

beispielsweise, sich selbst zu entschleunigen,<br />

achtsamer und dankbarer zu sein. Die zwei bis<br />

drei Stunden jeden Tag mit dem Pferd waren ihre<br />

absolute Auszeit und erweckten viel neue Lebensfreude<br />

in ihr. Ines sagt: „Mein Pferd ist auch mein<br />

Therapeut, wir haben uns in der ganzen Zeit gegenseitig<br />

ausgebildet, unterstützt und gestützt.“<br />

Um Stress des Alltags zu reduzieren, reicht es<br />

für Ines schon ihr Pferd zu beobachten, zu streicheln<br />

oder zu putzen. Dadurch entschleunigt sie<br />

automatisch, da Hektik das Pferd nur unruhig<br />

macht. Das Schönste ist für sie dann, sich harmonisch,<br />

ruhig und losgelassen als Einheit zusammen<br />

fortzubewegen. „Wer reitet, fühlt sich frei“,<br />

sagt Ines. Aber um die Früchte genießen zu dürfen,<br />

muss man sie sich erst hart erarbeiten. „Wer<br />

also die Gelegenheit bekommt in die Nähe von<br />

Pferden zu kommen, sollte diesen Tiere mit viel<br />

Ruhe begegnen und aufmerksam sein“, empfehlen<br />

Celine und Ines. „Die Pferde sind es auch und<br />

spüren ganz genau, wie es einem wirklich geht.<br />

Dabei lassen sie sich von keiner aufgesetzten Fassade<br />

täuschen“, darüber sind Celine und Ines sich<br />

auch einig. Daraus folgt, dass Pferde den Menschen<br />

sowohl die besten als auch die schlechtesten<br />

Eigenschaften vor Augen führen. Und genau<br />

hier bestehe dann für den Menschen – mit der Fähigkeit<br />

zur Selbstreflektion – die Möglichkeit an<br />

sich selbst zu arbeiten.<br />

Mediale Empfehlungen<br />

Der Film Jappeloup (2013) handelt von der Beziehung<br />

zwischen dem Springpferd und Reiter<br />

Pierre Durand. Dieser Film basiert auf<br />

wahren Begebenheiten.<br />

Die Dokumentation Aus Liebe zum Mustang<br />

(2017) zeigt, wie Menschen das Vertrauen<br />

von Wildpferden gewinnen.<br />

Der Dokumentarfilm Buck – Der wahre Pferdeflüsterer<br />

(2011) begleitet zwei Jahre lang den<br />

Pferdetrainer Buck Brannaman bei seinen<br />

Trainings in den USA. Dabei hilft er nicht nur<br />

den Pferden, sondern oftmals auch deren Besitzer:innen.<br />

Der Film Gefährten (2011) zeigt die tiefe<br />

Freundschaft zwischen dem jungen Mann Albert<br />

und seinem Pferd Joey vom britischen<br />

Zuhause bis zur Front im ersten Weltkrieg.


02/ 2022 NOT AFRAID 29<br />

Leben wie ein Hund<br />

Durch die Pandemie ist der Bedarf nach Welpen enorm gestiegen, doch oft stammen die Tiere aus<br />

illegalen Zuchtbetrieben, wo sie wie Ware produziert werden. Was sind die Folgen dieses skrupellosen<br />

Geschäftsmodells und wie kann es gestoppt werden?<br />

VON DIANA HOLZ<br />

Eng, stickig, kalt – beklemmende erste<br />

Eindrücke für ein junges Leben. Und<br />

doch sind sie für viele Welpen bittere<br />

Realität. Viel zu früh ihren Müttern<br />

entrissen, leiden die Tiere ihr ganzes<br />

Leben unter den Folgen der Trennung. Ohne das<br />

Säugen entwickelt sich ihr Immunsystem nicht<br />

ausreichend, was sie anfällig für Krankheiten<br />

macht. Zusammen mit der mangelhaften Versorgung<br />

bewirken diese Umstände, dass viele der<br />

Welpen erkranken und innerhalb kürzester Zeit<br />

versterben. Überstehen die jungen Hunde die ersten<br />

Lebenswochen, zeigen sie oft Verhaltensauffälligkeiten<br />

wie Angst oder Aggressivität. „Von ihren<br />

Eltern und Geschwistern lernen sie in der Prägephase<br />

zu kommunizieren. Diese Möglichkeit<br />

wird den Welpen genommen“, erklärt Lea<br />

Schmitz, Pressesprecherin beim Deutschen Tierschutzbund.<br />

Auch die erwachsenen Tiere leiden<br />

unter dem schrecklichen<br />

Geschäft. In der Broschüre<br />

Illegaler Welpenhandel<br />

– Fakten und Hintergründe<br />

von Vier Pfoten<br />

wird erläutert, Hündinnen<br />

seien Gebärmaschinen,<br />

die einen Wurf<br />

nach dem anderen produzieren.<br />

Die Rüden<br />

würden zum Deckakt gezwungen, oft unter dem<br />

Einfluss von Hormonen. Die Tiere lebten in engen<br />

Verschlägen ohne Sonnenlicht. Eine medizinische<br />

Betreuung sei ausgeschlossen, die Kosten<br />

würden den Gewinn schmälern.<br />

Um nicht aufzufallen, verlangen die illegalen<br />

Züchter:innen die gleichen hohen Preise wie ihre<br />

seriösen Kolleg:innen. Für Welpen sogenannter<br />

Trendrassen wie Zwergspitz oder Malteser besteht<br />

eine extrem hohe Nachfrage. Käufer:innen sind<br />

bereit, mehrere Tausend Euro zu zahlen. Ein lukratives<br />

Geschäft für die illegalen Züchter:innen:<br />

Auswertungen des Deutschen Tierschutzbundes<br />

zeigen, dass 85 Prozent der illegal gehandelten<br />

Tiere Rassehunde sind.<br />

Die größten Verkaufskanäle sind Onlineplattformen<br />

wie eBay Kleinanzeigen. Dort können die<br />

Verkäufer:innen verdeckt agieren. Durch falsche<br />

Angaben zur eigenen Person und den Welpen ist<br />

eine Unterscheidung zwischen seriösen und unseriösen<br />

Angeboten praktisch nicht mehr machbar.<br />

„Im schlimmsten Fall hat man einen Welpen ohne<br />

Kaufvertrag und ohne Anschrift, der oft kurz<br />

darauf krank wird oder es schon ist“, mahnt<br />

Schmitz. Die Verkäufer:innen verschwinden in<br />

der Anonymität des Internets.<br />

„Tiere sind keine Ware<br />

und sollten nicht per<br />

Klick im Internet gekauft<br />

werden.“<br />

Tierschutzorganisationen wie der Deutsche<br />

Tierschutzbund und Vier Pfoten fordern daher die<br />

Prüfung der Angebote durch die Plattformen.<br />

Auch ein Identitätsnachweis sei dringend einzuholen.<br />

Außerdem sollen die Portale enger mit den<br />

zuständigen Behörden zusammenarbeiten, um<br />

unseriöse Händler:innen schneller aufzudecken<br />

und zu stoppen. Eine deutschlandweit einheitliche<br />

Kennzeichnungspflicht ist laut den Organisationen<br />

eine weitere sinnvolle Maßnahme. So<br />

könnte bei allen Hunden schnell und zuverlässig<br />

überprüft werden, woher sie stammen und wem<br />

sie gehören. Der Koalitionsvertrag der Ampelparteien<br />

sieht eine solche Kennzeichnungs- und Registrierungspflicht<br />

vor. Der Onlinehandel mit<br />

Heimtieren soll durch eine verpflichtende Identitätsüberprüfung<br />

eingeschränkt werden. Langfristig<br />

fordert der Deutsche Tierschutzbund ein komplettes<br />

Verbot des Onlinehandels von Tieren.<br />

„Tiere sind keine Ware<br />

und sollten nicht per<br />

Klick im Internet gekauft<br />

werden. Eine Adoption<br />

sollte immer vor Ort<br />

stattfinden“, appelliert<br />

Lea Schmitz.<br />

Die Welpen kommen<br />

meist aus Osteuropa<br />

nach Deutschland. Eine<br />

sinnvolle europäische Maßnahme wäre ein EUweites<br />

Register für Heimtiere. In vielen Mitgliedsstaaten<br />

existieren bereits solche Register. Eine<br />

Vernetzung würde dazu beitragen, die Nachverfolgung<br />

von Welpen zu erleichtern. Illegale Züchter:innen<br />

könnten so nicht mehr unter dem Radar<br />

der Behörden agieren. Das umzusetzen, sei laut<br />

Lea Schmitz aber kompliziert und schwer zu erreichen.<br />

Der Fokus des Deutschen Tierschutzbunds<br />

richte sich daher auf Deutschland als großes Abnehmerland<br />

für die illegalen Welpen. „Die Nachfrage<br />

bestimmt das Angebot“, erläutert Schmitz,<br />

„fällt diese weg, wird das Geschäft für die Händler<br />

weniger attraktiv“. Die Aufklärung vor Ort sei daher<br />

äußerst wichtig. Organisationen wie der Deutsche<br />

Tierschutzbund raten: „Hände weg vom Onlinekauf!“<br />

Tierliebe Menschen sollten seriöse<br />

Züchter:innen vor Ort durch Empfehlungen finden<br />

oder eine Adoption in einem der zahlreichen<br />

Tierheime in Erwägung ziehen.<br />

Weiterführende Informationen:<br />

www.tierschutzbund.de<br />

www.vier-pfoten.de<br />

www.bmel.de/welpenhandel<br />

Bild: Pixabay


30 NOT AFRAID<br />

mediakompakt<br />

Silent, Boomer, Gen Z – ein Vergleich<br />

Ob in der Schule, bei der Arbeit oder in der Freizeit: Viele kennen das Gefühl, in bestimmten<br />

Situationen erfolgreich sein zu müssen. Drei Generationen stellen sich in einer Umfrage dem Thema<br />

Erfolgsdruck.<br />

VON SIMON VETTER<br />

Bild: Privat Bild: Privat Bild: Privat<br />

„Ich bin momentan Student an der Uni Tübingen<br />

und studiere International Economics. Ich verfolge<br />

das Ziel, meinen Bachelor mit einer guten Note<br />

zu bestehen und dann im späteren Leben einen<br />

guten Job zu finden. Während der Studienbewerbung<br />

musste ich mich bereits mit Erfolgsdruck<br />

auseinandersetzen, weil ich aufgrund meines Notenschnitts<br />

das Gefühl hatte, an manchen Studiengängen<br />

nicht angenommen zu werden. Natürlich<br />

gab es auch in der Schule oder von den Eltern<br />

immer den Druck, gute Noten zu haben. Man war<br />

vielleicht sogar neidisch auf andere, wenn diese<br />

bessere Noten hatten als man selbst.<br />

„Man war vielleicht<br />

neidisch auf andere.“<br />

Auch will ich meine Prüfungen zur Regelstudienzeit<br />

bestehen, da ansonsten der Wechsel auf<br />

meinen Wunschstudiengang nicht klappt. Das<br />

muss ich dann auch alles auf den ersten Versuch<br />

schaffen, ansonsten kann ich mich erst wieder im<br />

nächsten Semester darauf bewerben. Insgesamt<br />

hat Erfolgsdruck für mich positive als auch negative<br />

Aspekte. Ich würde ihn indirekt jedoch als notwendig<br />

betrachten. Er spornt dich an, deine eigene<br />

Leistung noch einmal anzukurbeln und mehr<br />

an dich selbst zu glauben. Vielleicht würde ich ihn<br />

auch als Konkurrenzbewusstsein bezeichnen.<br />

Nach dem Motto: Wenn er das hinkriegt, kriege<br />

ich das auch hin.“<br />

„Ich habe eine Ausbildung zur Bankkauffrau gemacht<br />

und arbeite bei der Mercedes-Benz-Group<br />

als Controllerin. Ich würde mich privat gerne stärker<br />

in Bereichen engagieren, die nicht nur mit beruflichem<br />

Fortkommen zusammenhängen.<br />

Grund sätzlich muss man sich ja immer mit Erfolgsdruck<br />

auseinandersetzen, ob man eine Ausbildung<br />

macht, studiert oder auch in beruflicher<br />

Hinsicht. Das liegt daran, weil es überall natürlich<br />

Wettbewerbs- oder Konkurrenzsituationen gibt.<br />

Man wird zwangsläufig einem gewissen Erfolgsdruck<br />

ausgesetzt, da man nicht nur besser sein<br />

will als andere, sondern auch besser sein muss, um<br />

sich beruflich besser entwickeln zu können.<br />

Aktuell habe ich keinen Erfolgsdruck mehr, weil<br />

ich ein gewisses Alter erreicht habe, wo der Erfolgsdruck<br />

auf den Jüngeren lastet. Denn die wollen<br />

ja noch weiterkommen, ihre Ziele erreichen<br />

und müssen sich beweisen.<br />

Ich muss niemandem mehr etwas beweisen.<br />

In meinem Beruf habe ich für mich eine Basis gefunden,<br />

wo ich den Druck nicht mehr so habe wie<br />

früher. Dennoch gibt es Leute, die brauchen den<br />

Druck. Ich teilweise auch. Wenn man keinen<br />

Druck hat, kann es schon mal sein, dass man auf<br />

der Stelle verharrt und denkt: Es reicht doch so<br />

auch. So ein gewisser Druck und Konkurrenz beleben<br />

das Geschäft, heißt es doch immer. Es gibt jedoch<br />

auch negativen Druck, welcher gerne von<br />

den Vorgesetzten genutzt wird. Da wird dann<br />

Druck für alle aufgebaut und am Ende hat nur die<br />

Person, die befördert wird, etwas davon.“<br />

„Ich habe ein Ausflugslokal und ein Lebensmittelgeschäft<br />

geführt und bin immer berufstätig gewesen.<br />

Ich habe immer gearbeitet. Schaffa, schaffa,<br />

Häusle baua, sagt man so schön.<br />

Meine aktuellen Ziele sind kurz glaube ich,<br />

aber ein Ziel hat man ja irgendwo immer: Ich sorge<br />

dafür, dass es mir gut geht, ich versuche, mich<br />

in Bewegung zu halten und etwas für meine Gesundheit<br />

zu tun. Man ist froh, wenn es einem jeden<br />

Tag gut geht.<br />

„Man ist froh, wenn<br />

es einem jeden Tag<br />

gut geht.“<br />

Ich musste mich nie mit Erfolgsdruck auseinandersetzen.<br />

Ich habe alles ziemlich locker gesehen<br />

und hatte auch viele Freunde, die mir dabei<br />

geholfen haben.<br />

Unter Druck setzen lassen habe ich mich nie.<br />

Es war immer mein Ziel, Probleme zu lösen, ganz<br />

ohne Streit und ohne Druck.<br />

Ich kann also nur betonen, ich habe keinen Erfolgsdruck,<br />

denn ich muss niemandem mehr etwas<br />

beweisen. Ich bin froh, wenn es mir gut geht<br />

und ich meine Arbeit machen kann. Ich bin soweit<br />

zufrieden mit 87 Jahren.<br />

Ich empfinde Erfolgsdruck auch nicht als notwendig.<br />

Ich bin wie ich bin. Ich versuche immer<br />

positiv zu denken. Das ist mein Motto.“<br />

Patrick, 21, Generation Z<br />

Ulrike, 60, Generation Baby Boomer<br />

Johanna, 87, Generation Silent


02/ 2022 NOT AFRAID 31<br />

Angst vor Krieg?<br />

Russlands Angriffskrieg auf die<br />

Ukraine beschäftigt uns alle.<br />

Würde man selbst im Kriegsfall<br />

fliehen oder bleiben?<br />

Eine Befragung im Studiengang<br />

Mediapublishing.<br />

„Bisher dachte ich immer,<br />

dass Menschen irgendwo<br />

berechenbar<br />

sind und dass es nie wieder<br />

einen territorialen<br />

Krieg geben würde. Putin<br />

halte ich allerdings<br />

für völlig unberechenbar<br />

und deshalb habe<br />

ich schon Sorgen, dass<br />

es auch hier Krieg geben<br />

könnte. Ich komme aus dieser Generation, die um<br />

Kriegsdienstverweigerung gekämpft hat und bisher<br />

war ich der Meinung, dass es keine Konflikte<br />

gibt, die man nicht mit Worten lösen kann. Spontan<br />

hätte ich gesagt, ich wäre geflohen.<br />

Mittlerweile schwenke ich um, denn ich denke,<br />

dass wir in unserer Demokratie Rechte haben,<br />

die man verteidigen muss. Zu meiner Bundeswehrzeit<br />

wurde ich als Funker ausgebildet, weil<br />

ich nicht unmittelbar schießen wollte. Damals<br />

habe ich dann gleich im Anschluss den Kriegsdienst<br />

verweigert. Aber heute könnte ich mir eine<br />

Unterstützung dieser Art wahrscheinlich vorstellen.<br />

Wünschen würde ich mir, dass sich das russische<br />

Volk Putin entgegenstellt und die Ukraine<br />

wieder frei sein kann.“<br />

VON TANJA SCHÄFER Bild: Privat Bild: Privat<br />

„Es ist schwierig, denn<br />

eine gewisse Angst ist<br />

da, aber trotzdem fühlt<br />

sich das Thema Krieg<br />

fern an.<br />

Vor allem am Anfang<br />

des Krieges hatte<br />

ich ständig meinen Feed<br />

aktualisiert und es kamen<br />

neue Informationen,<br />

da war die Angst<br />

präsenter. Das ständige Updaten hat mir nicht gut<br />

getan und ich habe mich da etwas distanziert.<br />

Jetzt schaue ich immer mal wieder in die Nachrichten,<br />

denn ich möchte trotzdem informiert<br />

bleiben.<br />

Erstens habe ich das Gefühl, dass es eins der<br />

wenigen Dinge ist, die man gerade so wirklich tun<br />

kann, und zweitens sieht man ja gerade auch, wohin<br />

das führen kann, wenn Menschen sich nicht<br />

informieren. Die Entscheidung darüber, ob ich<br />

fliehen oder bleiben würde, wäre sehr stark von<br />

meiner Familie abhängig. Wie groß meine Hoffnung<br />

gerade sein soll, weiß ich nicht, weil ich<br />

denke, dass Putin nicht nachgeben wird. Und<br />

man auch nicht weiß, wie er sich weiter entscheiden<br />

wird zu handeln.“<br />

Dr. Rolf Jäger, Dozent<br />

Jennifer Mayer, Studentin<br />

„Möglicherweise beruht<br />

das auf einem falschen<br />

Sicherheitsgefühl, aber<br />

akute Angst davor, dass<br />

es hier Krieg geben<br />

könnte, habe ich nicht.<br />

Wenn es zu einem<br />

Krieg kommen würde,<br />

würde ich mich für Bleiben<br />

entscheiden, weil<br />

Bild: Privat<br />

hier viele Menschen leben,<br />

die mir am Herzen liegen und ich hier meine<br />

Verantwortlichkeiten und meine Aufgabe habe.<br />

Ich glaube, dass Auswandern eine Option werden<br />

könnte, allerdings nie ohne mein Netzwerk<br />

wichtiger Menschen. In einer Kriegssituation würde<br />

ich versuchen mich sozial zu engagieren, allerdings<br />

lieber unabhängig von Or ga ni sationen .<br />

Meine Hoffnung wäre, dass schnellstmöglich eine<br />

für alle Seiten akzeptable Lösung gefunden wird<br />

und damit begonnen werden kann, an einer<br />

gemeinsamen Zukunft zu arbeiten.“<br />

„Ja, ich habe auf jeden<br />

Fall Angst vor Krieg, gerade<br />

in der aktuellen Situation,<br />

wobei es ja<br />

schon immer Kriege gab.<br />

Wenn die Entfernung<br />

des Krieges auf einmal<br />

ungefähr so weit weg ist<br />

wie Mallorca, dann<br />

Bild: Privat macht man sich doch<br />

noch mal mehr Gedanken.<br />

Ich habe mich darüber informiert, was wäre,<br />

wenn es in Deutschland Krieg gäbe und da habe<br />

ich erfahren, dass ich im Verteidigungsfall das<br />

Land vielleicht gar nicht verlassen dürfte. So weit<br />

möchte ich gar nicht denken.<br />

Andererseits sollte man die Situation schon im<br />

Auge behalten, denn wer sagt, dass nach der<br />

Ukraine Schluss ist? Putin muss gestoppt und die<br />

Verantwortlichen vors Kriegsgericht gebracht<br />

werden. Ich hoffe, dass die Ukraine sich langfristig<br />

verteidigen kann.“<br />

„Konkrete Angst habe<br />

ich nicht davor, dass es<br />

hier in Deutschland einen<br />

Krieg geben könnte,<br />

da man das Thema im<br />

Alltag ganz gut verdrängen<br />

kann, aber ein beklemmendes<br />

Gefühl hat<br />

man schon.<br />

Bild: Privat Ich frage mich öfter,<br />

was ich tun würde,<br />

wenn es Krieg gäbe und ich glaube, dass ich eher<br />

versuchen würde wegzukommen. Doch wann wäre<br />

der Moment, an dem man sagt, jetzt ist es so<br />

nah, jetzt gehe ich? Wann wäre man bereit dazu<br />

alles aufzugeben? Bezüglich der aktuellen Situation<br />

würde ich nie sagen wollen, dass es gar keine<br />

Hoffnung gibt. Es gibt eben keinen einfachen Ausweg<br />

und ich glaube, militärisch endet der Krieg in<br />

der Ukraine nur, wenn es für Putin einen Way-<br />

Out gäbe, den er nehmen könnte. Den Weg sehe<br />

ich gerade allerdings nicht.“<br />

Dr. Vera Spillner, Dozentin<br />

Alexander Kraft, Student<br />

Mona Ulmer, Akademische Mitarbeiterin


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