28.06.2023 Aufrufe

MEDIAkompakt Ausgabe 34

Die Zeitung des Studiengangs Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart - www.mediapublishing.org

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DIE ZEITUNG DES STUDIENGANGS MEDIAPUBLISHING<br />

DER HOCHSCHULE DER MEDIEN STUTTGART<br />

AUSGABE 02/2023 29.06.2023<br />

media<br />

kompakt


2 FREI<br />

mediakompakt<br />

Und wann ist es<br />

bei euch so weit?<br />

Bild: Unsplash<br />

Egoistisch, verantwortungsscheu und karrierefixiert – diese<br />

Vorurteile kursieren auch im Jahr 2023 über gewollt kinderlose<br />

Frauen. Mit diesen Stereotypen räumt jetzt eine Studie der<br />

Dualen Hochschule Gera auf.<br />

VON LEA SANDKÜHLER<br />

Bekomm du erst einmal eigene Kinder,<br />

dann wirst du es lieben.“ „Eine<br />

Frau ohne Kind ist keine richtige<br />

Frau.“ „Und, wann ist es bei euch so<br />

weit?“ Diese Sprüche hören vermutlich<br />

viele Frauen mindestens einmal in ihrem Leben.<br />

Von Bekannten, der Familie, von Fremden<br />

oder im Bewerbungsgespräch. Sie sind persönlich,<br />

teils übergriffig. Und doch wollen sie einfach<br />

nicht aussterben. Etwa jede fünfte Frau bleibt in<br />

Deutschland laut dem Statistischen Bundesamt<br />

kinderlos. Bei vielen ist diese Kinderlosigkeit gewollt.<br />

Aus den unterschiedlichsten Gründen. Diese<br />

sind allerdings nicht, wie bisher angenommen,<br />

den Rahmenbedingungen der Gesellschaft geschuldet.<br />

Im Gegenteil: Laut einer Studie der<br />

sozial wissenschaftlichen Fakultät an der Dualen<br />

Hochschule Gera, an der 1.100 gewollt kinderlose<br />

Frauen teilgenommen haben, wird diese Entscheidung<br />

vor allem aus persönlichen Erfahrungen<br />

und Ansichten getroffen.<br />

Kinder nehmen viel Raum und Zeit ein. Ein<br />

Kind macht aus einer emanzipierten Frau schnell<br />

eine Mutter, die in alten Rollenbildern gefangen<br />

ist. Auch eine anonyme Umfrage an der Hochschule<br />

der Medien mit 22 Teilnehmerinnen verdeutlicht<br />

diese These. Die Antworten stützen zudem<br />

die Ergebnisse aus Gera. „Ich möchte keine<br />

solch große Verantwortung für einen anderen<br />

Menschen übernehmen und vor allem keine Kinder<br />

in eine solch unsichere Welt setzen“, antwortet<br />

eine 28-jährige Teilnehmerin. Doch der Gedanke<br />

an eigene Kinder ist oft auch positiv behaftet:<br />

„Ich habe es immer genossen von den Menschen,<br />

die ich liebe, umgeben zu sein. Das will ich<br />

gerne weiterführen und später meinen eigenen<br />

Kindern dieses Gefühl von Zugehörigkeit und Liebe<br />

weitergeben“, sagt eine weitere Probandin der<br />

Umfrage (22).<br />

Auch die Studie aus Gera zeigt, dass eine Entscheidung<br />

gegen Kinder bewusst getroffen wird,<br />

oft schon in jungen Jahren. Bei anderen war es ein<br />

längerer Prozess. Auf die Frage, wann sie sich gegen<br />

Kinder entschieden habe, sagt eine 27-jährige<br />

Teilnehmerin: „Vielleicht um die Zeit, als ich 20<br />

wurde und anfing, aktiv an mir selbst zu arbeiten.“<br />

Sogenannte „Früh-Entscheiderinnen“ sind<br />

auch laut den Ergebnissen aus Gera keine Seltenheit.<br />

Ganze 42 Prozent der 1.100 Frauen gehören<br />

dieser Gruppe an. Eine Rolle spielt hier auch die<br />

sich immer weiter zuspitzende Klimakrise: „Die<br />

Welt kollabiert und das passiert gerade jetzt. Ich<br />

bin so enttäuscht und mache mir solche Sorgen,<br />

dass ich beschlossen habe, keine Kinder in die<br />

Welt zu setzen“, sagt auch Blythe Pepino. Die britische<br />

Sängerin gilt als Gründerin des „Birth-Strike-Movement“<br />

– der „Gebärstreik-Bewegung“.<br />

Die Anhängerinnen der Bewegung verzichten fürs<br />

Klima auf Kinder – und berufen sich dabei auf eine<br />

Nachhaltigkeitsstudie aus Schweden. 2017 haben<br />

dort Forscher:innen die besten Maßnahmen gegen<br />

steigende Emissionen in Industriestaaten untersucht.<br />

Ihr Fazit: Keine weiteren Menschen in<br />

die Welt zu setzen ist die beste Maßnahme, die<br />

Menschen konkret ergreifen können. Der Verzicht<br />

auf ein Kind kann 177 Tonnen CO2 pro Jahr<br />

einsparen. Der Verzicht aufs Auto nur rund 5,3<br />

Tonnen. Aber nicht nur der Klimawandel spielt in<br />

der Entscheidung gegen Kinder eine Rolle. Sowohl<br />

in der Studie als auch in der Umfrage waren<br />

es vor allem persönliche Gründe, die genannt<br />

wurden. Das Konzept von Mutterschaft entspreche<br />

nicht ihren Zukunftsplänen, betont eine<br />

22-jährige Teilnehmerin der Umfrage. „Ich möchte<br />

beruflich Karriere machen und mir meine Unabhängigkeit<br />

in sämtlichen Lebensentscheidungen<br />

bewahren“, sagt sie. Sowohl die Umfrage als<br />

auch die Studie zeigen aber, dass Frauen sich immer<br />

noch rechtfertigen müssen, wenn sie keine<br />

Kinder möchten. Dass Kinder Einschränkungen<br />

in der Karriere, des Körpers und dem Finanziellen<br />

bedeuten können, wird ignoriert. „Ich bin nicht<br />

verantwortlich, ob sich jemand anderes mit meinen<br />

Entscheidungen wohlfühlt“, meint Marie-<br />

Catherine Schaller, Probandin aus Gera. Ob die<br />

übergriffigen Fragen zur Kinderthematik jemals<br />

aussterben werden, bleibt dennoch abzuwarten.<br />

Buchtipps zum Thema<br />

• Linn Strømsborg: Nie, Nie, Nie<br />

Dumont Buchverlag, 13 Euro<br />

• Nadine Pungs: Nichtmuttersein<br />

Piper Verlag, 18 Euro<br />

• Verena Kessler: Eva<br />

Hanser Verlag, 24 Euro<br />

• Caroline Schmitt: Liebewesen<br />

Eichborn, 20 Euro


02/ 2023 FREI<br />

3<br />

„Es liegt nicht an dir, es liegt an mir”<br />

Beinahe jeder hat diese bekannten<br />

Worte schon einmal<br />

gehört oder vielleicht sogar<br />

von sich gegeben. Lässt sich<br />

die derzeitige Generation als<br />

beziehungsunfähig einstufen?<br />

Eine Mediakompakt-Umfrage<br />

gibt einen Einblick.<br />

VON HEIDI ROGALL<br />

Das Problem, längerfristig eine Bindung<br />

zu einer anderen Person aufrechtzuerhalten,<br />

was auch als Beziehungsunfähigkeit<br />

definiert wird,<br />

oder sich immer wieder einen neuen<br />

Partner suchen zu müssen, macht vielen jungen<br />

Leuten aktuell zu schaffen. Doch was steckt eigentlich<br />

dahinter, dass heutzutage Bindungsängste<br />

zum Alltag gehören? Schließlich haben die<br />

Menschen mehr Freiheiten und Möglichkeiten als<br />

je zuvor. Vielleicht ist genau das der springende<br />

Punkt. Sich Hals über Kopf in jemanden zu verlieben<br />

ist wohl eines der schönsten Gefühle der<br />

Welt. Alles erscheint plötzlich besser, man hat weniger<br />

Sorgen und wahrlich die rosarote Brille auf.<br />

Falls das Objekt der Begierde dann sogar ähnlich<br />

empfindet, gibt es so gut wie kein Halten mehr.<br />

Doch was, wenn alles gar nicht so einfach ist wie<br />

gedacht? Wenn alles komplizierter gemacht wird,<br />

indem sich einer der beiden Auserwählten selbst<br />

im Weg steht? Dann verwandelt sich das verträumte<br />

Gefühl der Verliebtheit in etwas<br />

Schmerzhaftes, manchmal sogar Hässliches.<br />

Schließlich kann das, was man am liebsten hat,<br />

auch am ehesten verletzen. Das muss wahrscheinlich<br />

beinahe jeder Mensch einmal am eigenen<br />

Leib erfahren, wenn man den misslungenen Liebesgeschichten<br />

von Eltern, Großeltern, Freunden<br />

oder Bekannten lauscht.<br />

Laut einer Mediakompakt-Umfrage, passend<br />

zum Thema Beziehungsunfähigkeit, die unter<br />

Mittzwanzigern durchgeführt wurde, hatten 22<br />

der 37 Befragten schon mindestens einmal Angst<br />

davor, eine Beziehung einzugehen. Das wundert<br />

wohl kaum, da 28 Personen angaben, bereits<br />

schlechte Erfahrungen mit potenziellen oder bestehenden<br />

Partner:innen gemacht zu haben. Laut<br />

Gesellschaftskommentator Michael Nast sind<br />

manche Menschen konfliktscheu, erst recht,<br />

wenn Emotionen im Umlauf sind. Stellvertretend<br />

dafür hat sich in der Umfrage gezeigt, dass 26 Personen<br />

besonders davor zurückscheuen, in Sachen<br />

Liebe verletzt zu werden. Deshalb erscheint es einfacher,<br />

Probleme und Gedanken nicht zu adressieren<br />

und sich schlichtweg aus der Situation zu<br />

entfernen, sprich es gar nicht erst zu einer Beziehung<br />

kommen zu lassen. Als mögliche Lösung vor<br />

zu viel Ernsthaftigkeit bieten sich hier sogenannte<br />

„Situationships” an. Solche beschreiben ein Verhältnis,<br />

das mehr als Freundschaft, jedoch keine<br />

feste Beziehung darstellt. Mehr als 50 Prozent der<br />

Befragten hatten bereits ein solches Verhältnis im<br />

Laufe ihres Lebens und zusätzlich eine Grundangst<br />

davor verlassen zu werden.<br />

Psycholog:innen zufolge ist niemand unfähig<br />

zu lieben. Menschen besitzen von Natur aus ein<br />

Bedürfnis nach Bindung und Nähe. Und doch<br />

scheitern in Deutschland laut der Frauenzeitschrift<br />

„Bild der Frau” rund 40 Prozent der Ehen.<br />

Dafür kann es viele verschiedene Gründe geben.<br />

Dass zwei Menschen sich trennen oder gar nicht<br />

erst zusammenkommen, scheint demnach ein alltägliches<br />

Ereignis zu sein. Der sogenannten „Bindungstheorie”,<br />

nach John Bowlby und Mary Ainsworth,<br />

zufolge besitzen 30 bis 40 Prozent der<br />

Menschen allgemein einen unsicheren Bindungsstil<br />

und dies wirkt sich nicht nur auf Beziehungen,<br />

sondern auch auf die Vorstufe des Kennenlernens<br />

aus. Psychotherapeutin Stefanie Stahl ist sich sicher:<br />

aktive und passive Partner sind das Grundgerüst<br />

dieser Probleme. Während ein Partner<br />

klammert und immer mehr Nähe verlangt, zieht<br />

der andere sich zurück und benötigt seinen Freiraum.<br />

Dieser umgekehrte Magnetismus sorgt<br />

dann vermehrt für das Aus, bevor alles überhaupt<br />

so wirklich begonnen hat. Vergessen ist der letzte<br />

Fauxpas sowieso recht schnell, denn eine Auswahl<br />

an potenziellen Paarungswilligen gibt es Statista<br />

zufolge mit neun Millionen Nutzern:innen in<br />

Deutschland zuhauf. Somit zeigen bekannte Dating-Apps<br />

wie Tinder, Bumble und Co. schon das<br />

nächste nicht weit entfernte Match an. Und das<br />

gesamte Spiel beginnt von Neuem.<br />

Drei Schritte, um die Beziehungsunfähigkeit<br />

zu überwinden:<br />

1. In der Ruhe liegt die Kraft. Es ist in Ordnung,<br />

sich erst einmal langsam an die andere<br />

Person heranzutasten. Es existiert alle Zeit der<br />

Welt und nichts muss überstürzt werden.<br />

2. Kommunikation ist der Schlüssel. Damit<br />

andere Menschen einander verstehen können,<br />

muss man anfangen, über mögliche Triggerpunkte<br />

oder Ängste zu reden.<br />

3. Auf sich selbst achten. Um eine gesunde<br />

Beziehung führen zu können, ist es wichtig,<br />

sich um sich selbst zu kümmern. So wird kein<br />

möglich bestehender Ballast auf den neuen<br />

Partner oder die Partnerin übertragen.<br />

Bild: Unsplash


4 FREI<br />

mediakompakt<br />

Reichbach. Dabei mag sie Liebesgeschichten sehr<br />

gerne, kritisiert jedoch: „Romantik ist schon überall.“<br />

In Filmen, Fernsehsendungen und Werbung<br />

wird oft das Bild vermittelt, dass für ein glückliches<br />

Leben eine romantische Beziehung anzustreben<br />

ist. Dies führt zu einer Verstärkung der gesellschaftlichen<br />

Norm, die so auch zu einer Stigmatisierung<br />

von Menschen führt, die sich nicht in romantischen<br />

Beziehungen befinden, wie zum Beispiel<br />

Singles oder alleinerziehende Eltern.<br />

„Es bedarf nur eines kurzen Augenblicks des<br />

Nachdenkens, um zu erkennen, dass eine Paarbeziehung<br />

oder eine Ehe die Menschen nicht automatisch<br />

verantwortungsbewusster, erwachsener<br />

oder sogar glücklicher macht – manchmal ist sogar<br />

das Gegenteil der Fall“, erklärt die US-amerikanische<br />

Philosophie-Professorin Elizabeth Brake,<br />

auf die der Begriff Amatonormativität zurückzuführen<br />

ist.<br />

Die Annahme, eine romantische Beziehung<br />

sei das Wichtigste und Wertvollste im Leben, könne<br />

dazu führen, dass Beziehungsmissstände aus<br />

Angst, sonst alleine zu sein, ignoriert oder nicht<br />

ernst genommen werden.<br />

Liebe ist mehr<br />

Die Vorstellung, dass romantische Liebe<br />

und Partner:innenschaften die<br />

höchste Form von Beziehungen darstellen,<br />

wird oft als selbstverständlich<br />

betrachtet. Diese Annahme wird<br />

Amatonormativität genannt und hat weitreichende<br />

Auswirkungen auf unser Denken und<br />

Handeln.<br />

Auch die sich als asexuell identifizierende<br />

Studentin Jana Reichbach* hat sich bereits ausführlich<br />

mit dem Thema Amatonormativität auseinandergesetzt.<br />

Der Begriff wird von der asexuellen<br />

und aromantischen Community verwendet,<br />

um ihre Diskriminierungserfahrungen zu beschreiben.<br />

Die Vorherrschaft der romantischen<br />

Beziehungsnorm führt dazu, dass Menschen, die<br />

keine solchen Beziehungen eingehen möchten<br />

oder können, sich ausgegrenzt und unverstanden<br />

Illustration: Julia Gramlich<br />

Romantische Beziehungen werden in unserer Gesellschaft als<br />

der Inbegriff von Liebe und Glück angesehen. Doch was passiert,<br />

wenn man diesem Ideal nicht entspricht oder nicht entsprechen<br />

möchte?<br />

VON JULIA GRAMLICH<br />

fühlen. Im Interview erzählt die Medienstudentin<br />

von Unsicherheiten und Druck, die sie empfand,<br />

da sie keine romantische Beziehung führe und<br />

auch nicht anstrebe: „Gefühlt ist jeder in einer Beziehung<br />

und ich denke mir nur so okay, cool für<br />

euch.“ Ihr selbst habe die Identifizierung als asexuell<br />

geholfen, damit umzugehen: „Für mich<br />

nimmt dieses Label den Druck raus, sodass ich<br />

denke: Es ist okay, wie ich empfinde, und es ist<br />

nicht irgendwie, weil irgendetwas falsch ist.“<br />

Romantische Liebe ist überall<br />

Das Führen einer glücklichen romantischen<br />

Beziehung wird oft als der ultimative Lebensinhalt<br />

angesehen. Daher bildet diese oft den Hauptfokus<br />

in der Popkultur. In den Medien habe fast<br />

alles eine romantische Komponente, selbst wenn<br />

diese gar keinen Nutzen erfülle, verdeutlicht Jana<br />

Mehr Liebe ins Leben bringen<br />

Amatonormativität prägt die Vorstellungen<br />

von Glück und hat Auswirkungen auf die Art und<br />

Weise, wie Beziehungen eingegangen und gelebt<br />

werden. So werde durch die Annahme eines besonderen<br />

Werts von romantischer Liebe der Wert<br />

anderer liebevoller Beziehungen übersehen, analysiert<br />

Brake. Die Aussage „Wir sind ‚nur‘<br />

Freund:innen“ kennt fast jede:r. Dabei fällt oft<br />

nicht auf, dass dieser Satz schon wie eine Floskel<br />

automatisch mit dem Füllwort „nur“ gesagt wird,<br />

mit dem somit direkt eine Wertung vorgenommen<br />

wird.<br />

Die Bedeutung von Freund:innenschaften, Familie<br />

und anderen Formen von Beziehungen zu<br />

würdigen und zu unterstützen, indem man ein<br />

breiteres Verständnis von Beziehungen fördert<br />

und sich die existierende Beziehungsvielfalt bewusst<br />

macht, wäre wichtig, um die Auswirkungen<br />

der Amatonormativität zu verringern, betonen<br />

Fachleute wie Blake. So könne man ein inklusives<br />

Umfeld schaffen, in dem alle Menschen respektiert<br />

und wertgeschätzt werden. „Klar, feste Beziehungen<br />

sind schön, aber mein Leben ist nicht weniger<br />

schön, nur weil ich nicht in einer Beziehung<br />

bin. Ich habe viele gute Beziehungen, die nicht romantisch<br />

und mir sehr wichtig sind. Ich bin echt<br />

glücklich, so wie mein Leben jetzt ist“, sagt Jana<br />

Reichbach.<br />

Liebe und Verbindungen sind ein wesentlicher<br />

Bestandteil des menschlichen Lebens, jedoch<br />

konzentrieren sich Menschen oft auf romantische<br />

Verbindungen und reduzieren damit<br />

die Gesamtheit der Liebe in ihrem Leben. So<br />

schreibt auch die US-amerikanische Journalistin<br />

und Autorin Angela Chen in ihrem Buch „Ace:<br />

What Asexuality Reveals About Desire, Society,<br />

and the Meaning of Sex“ über ihren Glauben an<br />

eine Zukunft, die mehr Freude und Liebe für alle<br />

bereit hält, indem man sich von dieser Norm<br />

befreit.<br />

*Name von der Redaktion geändert


02/ 2023<br />

FREI<br />

5<br />

Einfach mal loslassen, die Kontrolle<br />

abgeben und sich unterwerfen.<br />

Eine Vorliebe, die<br />

meist hinter verschlossenen<br />

Türen bleibt und nicht offen<br />

kommuniziert und gelebt wird.<br />

Klopft man bei Domina und<br />

Bizarr-Ärztin Barbara von Stahl<br />

an, geht es richtig zur Sache.<br />

VON ELENA ROLLER<br />

Sei mein Sklave!<br />

Von einfachen Peitschen über Latex-<br />

Zwangsjacken bis zu Harnröhrenplugs<br />

– bei Barbara von Stahl hat die Kundschaft,<br />

im wahrsten Sinne des Wortes,<br />

die Qual der Wahl.<br />

Seit zehn Jahren praktiziert die erfahrene Domina<br />

in ihrem Studio Edelschmerz in der Nähe<br />

von Waiblingen. „Meine Kunden sprechen mich<br />

mit Herrin Barbara, Frau von Stahl oder in der Klinik<br />

mit Frau Doktor an“, erzählt sie.<br />

Ihr Klinik-Bereich ist besonders beliebt. Es<br />

handelt sich um ein weißes und steriles Zimmer.<br />

Die Ausstattung sorgt für eine Atmosphäre wie in<br />

einem richtigen Krankenhaus. Es gibt eine Liege<br />

für Patient:innen sowie eine Glasvitrine, die verschiedenes<br />

Spielzeug zur Schau stellt. In einer<br />

Kommode, wie man sie aus Arztpraxen kennt,<br />

sind verschiedene Hilfsmittel verstaut: Nadeln,<br />

Schläuche, Spielzeug für Electro Play und mehr.<br />

Das Highlight des Raumes ist jedoch der<br />

BDSM-Gynstuhl. Einmal darauf fixiert, ist der<br />

Sklave der Bizarr-Ärztin voll ausgeliefert. Fixierungsmöglichkeiten<br />

an Füßen, Händen und sogar<br />

am Kopf sorgen für eine komplette Einschränkung<br />

der Bewegungsfreiheit. Ein an der Decke angebrachter<br />

Spiegel ermöglicht es dem Kund:innen<br />

dabei, das Geschehen auch von oben zu betrachten.<br />

Beim Spiel in der Klinik können unter anderem<br />

Katheter gelegt werden. „Frau von Stahl“ ist<br />

dafür fachspezifisch ausgebildet. Wer gerne temporär<br />

seine Hoden modifizieren möchte, kann<br />

sich mit einer Kochsalzlösung den Hodensack<br />

„liften“ lassen. Bei ihrer Arbeit hat Hygiene oberste<br />

Priorität und es besteht kein gesundheitliches<br />

Risiko.<br />

Alternativ kann man sich von „Herrin Barbara“<br />

auch im schwarzen Salon erniedrigen lassen.<br />

Ausgestattet ist dieser mit allerlei Spielzeug und<br />

weiteren BDSM-Möbeln. Dazu zählen Peitschen,<br />

Dildos, Klemmen, Masken, ein Käfig sowie ein<br />

Sklavenstuhl. Was genau wie zum Einsatz kommt,<br />

bestimmt die Domina aber nicht alleine. Zuerst<br />

gibt es ein gemeinsames Gespräch: „Er darf mir<br />

von seinen Fantasien erzählen. Und ob es Tabus<br />

gibt, die für ihn gar nicht in Frage kommen.“ So<br />

kann sie individuell den Inhalt der jeweiligen Session<br />

anpassen. Im Schnitt verbringt die Klientel<br />

eineinhalb bis zwei Stunden in ihrem Studio. Der<br />

Preis dafür ist in der Regel fest. Werden die Wünsche<br />

ausgefallener und die Sessions länger, steigt<br />

Bild: Privat<br />

der Preis entsprechend. Wie passt BDSM in den<br />

Alltag? In vielen Beziehungen wird nicht ganz offen<br />

über sexuelle Vorlieben gesprochen. Während<br />

Frauen in den meisten Fällen einen Freiwilligen<br />

finden, der ihre intimen Wünsche erfüllt, erkaufen<br />

sich die meisten Männer diese Befriedigung.<br />

Zum Beispiel bei Barbara von Stahl. Ihre Klientel<br />

ist überwiegend männlich. „Fremdgehen ist das<br />

nicht“, sagt die Domina selbst. „Ich will ja nichts<br />

von meinen Kunden. Bin ja selber verheiratet.“<br />

Dennoch verschweigen die meisten ihrer Partnerin<br />

den Besuch in einem BDSM-Studio.<br />

Dass es auch anders geht, zeigt ein besonderes<br />

Erlebnis der Domina: Ein ehemaliger Stammkunde<br />

habe sie einmal gefragt, ob er es seiner Frau erzählen<br />

soll oder nicht. Es kam dann zu einem netten<br />

Telefonat zwischen Ehefrau und Domina – am<br />

Ende besuchte die Ehefrau sogar eine Session ihres<br />

Mannes. Da der Mann an Diabetes litt, war normaler<br />

Sex nicht mehr möglich. Seine Frau bekundete<br />

allerdings noch Interesse daran. „Sie haben<br />

dann einen Deal getroffen, den fand ich großartig:<br />

Wenn er bei mir einen Termin ausgemacht<br />

hat, war das so, dass er zuerst seine Frau in den<br />

Swinger Club gefahren hat.“ Nach der Session habe<br />

er sie wieder abgeholt. „Die beiden haben einen<br />

klasse Deal gefunden, ohne ihre Intimität als<br />

Ehepaar aufzugeben“, betont Barbara von Stahl.<br />

Das A und O einer glücklichen Beziehung ist und<br />

bleibt offene Kommunikation. Dieses Beispiel<br />

zeigt, dass es sich lohnt, verschlossene Türen zu<br />

öffnen und über persönliche Vorlieben zur reden.<br />

Was ist BDSM?<br />

BDSM steht für Bondage and Discipline, Sadism<br />

and Masochism. Es handelt sich dabei<br />

um eine erotische Spielart, bei der zwei oder<br />

mehrere Personen einvernehmlich in ein<br />

herbeigeführtes Machtgefälle steigen. Gegen<br />

Bezahlung kann man dies bei einer Domina<br />

oder einem Dominus erleben. Eine<br />

klassische Domina bleibt in ihrer Arbeit unberührbar.<br />

Das bedeutet, dass sie zwar die<br />

sexuellen Bedürfnisse ihrer Kunden befriedigt<br />

aber selbst keinen Sex anbietet.


6 FREI<br />

mediakompakt<br />

Wischen,<br />

tippen,<br />

liken.<br />

Bild: Pexels<br />

Immer mehr Menschen verbringen ihre freie Zeit in den sozialen<br />

Medien. Content, der nie endet. Gefangen in einer endlosen<br />

Spirale von Kurzvideos und Fotos. Die Bildschirmzeit steigt und<br />

die Aufmerksamkeitsspanne sinkt.<br />

VON VIOLA STEIERWALD<br />

Allein in Deutschland nutzen fast 71<br />

Millionen Menschen Social Media,<br />

was 85 Prozent der Gesamtbevölkerung<br />

entspricht. „Ich nutze Social Media<br />

hauptsächlich zur Unterhaltung,<br />

wenn man sonst nichts anderes zu tun hat – in der<br />

Bahn, im Bus, auf dem Klo“, erklärt Pascal Müller,<br />

Student an der Hochschule Pforzheim. So nutzen<br />

es wohl die meisten Menschen. Es geht um den<br />

Zeitvertreib, wenn heutzutage die Zeit doch bei<br />

den meisten immer knapper wird, während man<br />

von Termin zu Termin rennt. Doch wann wird der<br />

Scroll zum Zeitvertreib zur Krankheit?<br />

Die sogenannte „Social Media Disorder Scale“,<br />

entworfen von den niederländischen Forscher:innen<br />

Regina J.J.M. van den Eijnden, Jeroen S. Lemmens<br />

und Patti M. Valkenburg, beinhaltet neun<br />

„Ja-Nein-Fragen“, basierend auf dem weltweit<br />

anerkannten Klassifikationssystem für psychische<br />

Störungen. Personen, die fünf oder mehr Fragen<br />

mit „ja“ beantworten, sollen ein problematisches<br />

Nutzungsverhalten haben. Es werden bekannte<br />

Muster von Suchterkrankungen in Bezug auf die<br />

Nutzung von sozialen Medien abgefragt. Dazu gehören<br />

einerseits Entzugserscheinungen wie Ärger,<br />

Traurigkeit oder Unruhe wenn der Zugang verwehrt<br />

wird, andererseits das Belügen von<br />

Freund:innen und Familienmitgliedern über den<br />

tatsächlichen Konsum. Aber auch die Flucht in<br />

die digitale Welt, um negative Gefühle zu bewältigen,<br />

gehört dazu.<br />

„Ich habe mir ein Zeitlimit von zwei Stunden<br />

pro Tag für manche Social-Media-Apps eingestellt,<br />

damit ich daran erinnert werde, wie viel Zeit<br />

ich dort schon verbracht habe“, berichtet die Digital-Media-Marketing-Studentin<br />

Laura Brodt.<br />

Laut einer Umfrage von YouGov, einer internationalen<br />

Data and Analytics Group aus Köln, empfinden<br />

60 Prozent der Befragten das Nutzen von<br />

Social Media als Zeitverschwendung. Ein tägliches<br />

Zeitlimit sei eine häufig genutzte Maßnahme, um<br />

die Zeitvergeudung zu minimieren. In der heutigen<br />

Zeit handeln die meisten Nachrichten von<br />

Klimakrise, Krieg oder Pandemie. Das könnte ein<br />

Grund dafür sein, wieso sich vor allem viele Kinder<br />

und Jugendliche lieber von Beauty-, Lifestyleoder<br />

Tiercontent berieseln lassen, denn laut einer<br />

DAK Studie aus dem Jahr 2017 nutzt jede:r dritte:r<br />

Befragte soziale Medien, um nicht an unangenehme<br />

Dinge denken zu müssen. Gemäß dieser vom<br />

Forsa-Institut durchgeführten Umfrage liegt die<br />

Nutzungszeit von Social Media bei Jungen und<br />

Mädchen zwischen zwölf und 17 Jahren durchschnittlich<br />

bei rund zweieinhalb Stunden täglich.<br />

Nach der „Social Media Disorder Scale“ erfüllen<br />

schon ungefähr 2,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen<br />

in Deutschland die Kriterien für eine<br />

Abhängigkeit.<br />

„Ich denke, Social-Media-Sucht ist ein ernst zu<br />

nehmendes Problem, da man nur noch in der<br />

Welt der sozialen Medien lebt und den Bezug zur<br />

Realität verliert“, kritisiert Pascal Müller. Menschen<br />

teilen auf Social Media immer nur den besten,<br />

interessantesten und „most intagrammable“<br />

Teil von ihrem Leben. Denn das gibt bekanntlich<br />

die meisten Klicks, Likes und Reposts. Laut einer<br />

Studie von Vocer, einem Institut für digitale Resilienz<br />

mit Sitz in Hamburg, erhoffen sich dadurch<br />

vor allem Instagramnutzer:innen eine Selbstbestätigung.<br />

„Auf Social Media denkt man sich schnell:<br />

Warum lebt eigentlich jeder so ein Leben, nur ich<br />

nicht? Jeder sieht so aus, nur ich nicht. Jeder ist so<br />

produktiv, nur ich nicht. Jeder unternimmt coole<br />

Sachen, nur ich nicht”, meint Sarah Kayser, Werkstudentin<br />

im Social-Media-Bereich. „Das, was<br />

dort dargestellt wird, ist ja meistens auch nur eine<br />

Momentaufnahme, teilweise auch etwas Konstruiertes,<br />

was nicht der Realität entspricht“, verdeutlicht<br />

Pascal Müller.<br />

Social Media ist heutzutage nicht mehr wegzudenken.<br />

Soziale Medien haben aber auch ihre guten<br />

Seiten, wie beispielsweise den Kontakt mit<br />

Freund:innen zu halten, Inspiration für Hobbys<br />

und Rezepte oder neue Ideen für Unternehmungen<br />

sammeln. „Ich finde, ich habe durch Social<br />

Media mehr Inspiration und mehr Mut, mich<br />

selbst auszudrücken“, teilt Sarah Kayser mit. Laut<br />

einer Studie von Vocer fühlen sich überwiegend<br />

Personen unter 30 nach der Nutzung sozialer<br />

Netzwerke inspirierter, motivierter und glücklicher.<br />

Trotzdem raten Expert:innen, darauf zu achten,<br />

dass man eine gesunde Balance zwischen echtem<br />

und digitalem Leben hält.<br />

Selbsttest<br />

Hast du im vergangenen Jahr …<br />

... regelmäßig feststellen können, dass du an<br />

nichts anderes mehr denken konntest als an<br />

den Moment, in dem du die sozialen Medien<br />

wieder nutzen kannst?<br />

... dich regelmäßig unzufrieden gefühlt,<br />

weil du mehr Zeit in sozialen Medien verbringen<br />

wolltest?<br />

... dich oft schlecht gefühlt, wenn du die sozialen<br />

Medien nicht nutzen konntest?<br />

... versucht, weniger Zeit in sozialen Medien<br />

zu verbringen, aber bist gescheitert?<br />

... oft andere Aktivitäten vernachlässigt,<br />

weil du soziale Medien nutzen wolltest?<br />

... regelmäßig Streit mit anderen wegen deiner<br />

Nutzung sozialer Medien gehabt?<br />

... deine Eltern oder Freund:innen regelmäßig<br />

darüber angelogen, wie viel Zeit du in<br />

den sozialen Medien verbringst?<br />

... häufig soziale Medien genutzt, um negativen<br />

Gefühlen zu entkommen?<br />

... einen ernsthaften Konflikt mit deinen Eltern<br />

oder deinen Geschwistern wegen deiner<br />

Social-Media-Nutzung gehabt?<br />

Hinweis: Werden mindestens fünf Fragen<br />

mit „ja“ beantwortet, liegt laut Fragebogen<br />

eine problematische Social-Media-Nutzung<br />

vor.<br />

Bei dem Selbsttest handelt es sich nicht um eine<br />

Diagnose. Bei Suchtverdacht sollte man einen<br />

Arzt aufsuchen.


02/ 2023<br />

FREI<br />

7<br />

„Heute sehe ich<br />

eine Kämpferin“<br />

Eine Profi-Ballerina zu werden – das war der größte Traum von<br />

Linda Müller. Dafür hat sie alles gegeben. Doch wie geht das Leben<br />

weiter, wenn der größte Lebenstraum zerplatzt?<br />

VON KATHARINA MICHALEWICZ<br />

Rosa Tutus und zauberhafte Musik –<br />

mit Ballett verbinden viele Leute eine<br />

heile Welt. Blickt man aber hinter<br />

die Kulissen des beliebten Bühnentanzes,<br />

sieht die Welt anders aus. Das<br />

hat die 23-jährige Linda Müller selbst erfahren<br />

müssen. Heute studiert sie Mediapublishing an<br />

der Hochschule der Medien Stuttgart und kann<br />

damit ihre Liebe zu Büchern ausleben. Die Zeit davor<br />

hat sie ausschließlich ihrem Lebenstraum gewidmet:<br />

eine Profi-Ballerina zu werden.<br />

Mit drei Jahren hat sie angefangen zu tanzen.<br />

Aus diesem Hobby entwickelte sich ihre große Leidenschaft<br />

zum Ballett. Prägend für die kommenden<br />

Jahre war ein Satz ihrer Tanzlehrerin: „Wenn<br />

du erfolgreich werden willst, musst du jede Sekunde<br />

dem Ballett widmen.“ Stundenlanges Training<br />

gehörte ebenso zum Alltag der Koblenzerin wie<br />

der Verzicht auf viele ihrer Hobbys. Auch auf die<br />

Ernährung musste sie strikt achten. „Ich habe<br />

Freunden abgesagt, um kein Eis essen zu müssen.“<br />

Mit 16 Jahren hat sie beschlossen, ihr Abitur<br />

am Ballett-Gymnasium Essen-Werden zu absolvieren.<br />

Dort ist es möglich, eine vorberufliche<br />

Tanzausbildung zu machen. Das Training ist jedoch<br />

kein Zuckerschlecken, was auch in einer „reporter“-Filmdoku<br />

von Tim Schrankel deutlich<br />

wird. In seiner Reportage „Ballett als Schulfach:<br />

tanzen, trainieren, verzichten“ zeigt er auf, dass<br />

dort an allen Schultagen bis zu drei Stunden trainiert<br />

wird, manchmal sogar fünf. Die Schüler:innen<br />

lernen für ihre Abiturprüfungen, während sie<br />

sich für das Tanztraining dehnen. „Gut ist nicht<br />

gut genug“, fasst Schrankel die Anforderungen<br />

des Gymnasiums zusammen. „Am Ende des Tages<br />

kämpft jeder für sich selbst.“<br />

Aber Linda Müller wusste, was sie erwarten<br />

würde und hat sich lange auf die Aufnahmeprüfung<br />

vorbereitet. Sie musste aber aufgrund eines<br />

Bänderrisses vor der Prüfung eine kleine Auszeit<br />

nehmen. Doch es war nicht die Verletzung, die<br />

ausschlaggebend dafür war, dass sie nicht am<br />

Gymnasium angenommen wurde. „Zu kleine Arme,<br />

zu kleine Beine“, sagte man ihr.<br />

„Ich war sauer, weil es gar nichts mit meinem<br />

Können zu tun hatte. Eine private Ballett-Ausbildung<br />

kam nicht infrage, weil ich sie selbst hätte finanzieren<br />

müssen.“ Sie hat ihren Traum jedoch<br />

nicht sofort aufgegeben. Nach ihrem Abitur hat<br />

sie angefangen, als Ballettlehrerin zu arbeiten.<br />

Doch der Unterricht war nicht so befriedigend wie<br />

das Tanzen selbst.<br />

Es waren viele kleine Aha-Momente, die dazu<br />

geführt haben, dass sie einen Schlussstrich gezogen<br />

hat. Freunde und Familie waren schockiert,<br />

aber die junge Frau hat sich dadurch nicht beirren<br />

lassen. „Ich habe gelernt, auf mich selbst zu hören<br />

und meine Grenzen zu respektieren. Ich wusste,<br />

dass ich noch mehr im Leben erreichen wollte.“<br />

Sie hat viele kleine Ziele erreicht, die sie heute<br />

mit ganz anderen Augen sieht. Sie hat Hauptrollen<br />

in Ballettstücken bekommen, Wettbewerbe<br />

gewonnen und selbst unterrichtet. Auch, wenn<br />

ihr damals ein Teil ihrer Identität genommen<br />

wurde, hat sie stets nach vorne geblickt. „Wenn<br />

sich eine Tür schließt, öffnen sich zwei neue. Ich<br />

glaube daran, dass alles gut wird – und dass es sogar<br />

noch besser werden kann.“<br />

Heute ist Linda Müller glücklich. Sie hat ihr<br />

ideales Studium gefunden und auch privat hat sie<br />

ein Hobby, das sie sehr begeistert: „Beim Schreiben<br />

kann ich reflektiert mit mir selbst umgehen.<br />

Es gibt keine festen Regeln oder Abläufe, an die<br />

ich mich halten muss wie beim Ballett.“ Das findet<br />

sie sehr befreiend.<br />

Wenn sie zurückblicke, sehe sie eine Kämpferin,<br />

die ihr Bestmögliches gegeben hat. „Auch,<br />

wenn sich mein Traum vom Ballett nicht erfüllt<br />

hat, habe ich ihn in anderen Formen gelebt und<br />

bin für jede Erfahrung dankbar. Jetzt habe ich viel<br />

mehr Freiheiten und Chancen in meinem Leben.“<br />

Für die Studentin ist der Weg das Ziel. Was am<br />

Ende dabei herauskommt, ist ihr nicht so wichtig<br />

wie das, was sie dabei erlebt und fühlt. Sie will sich<br />

nicht festlegen, sondern sich selbst in vielen Hinsichten<br />

selbst verwirklichen. „Erfolg sollte man<br />

nicht nur auf die Karriere beziehen. Man sollte<br />

sich sagen: Heute war ein guter Tag, weil ich<br />

glücklich war. Wir sollten die hohen Ansprüche<br />

in unserer Gesellschaft neu definieren.“<br />

Bilder: Privat Bild: privat


8 FREI<br />

mediakompakt<br />

Bild: Shutterstock<br />

Nie krank genug<br />

„Die will doch einfach nur dünn sein“ – ein häufiges Vorurteil gegenüber<br />

der Magersucht, doch es steckt viel mehr dahinter. Die<br />

Betroffenen Laura Jungk und Antonia Wesseling erzählen ihre<br />

Geschichten und ihren Weg aus der Krankheit.<br />

VON VANESSA HANKE UND YONCA KOCAGÖZ<br />

Das Leben ist nur noch ein Korsett aus<br />

Regeln und Zwängen, die die Essstörung<br />

einem auferlegt. Außerhalb dieses<br />

Korsetts gibt es nichts anderes<br />

mehr“, erklärt Laura Jungk, 23 Jahre<br />

alt. Jahrelang hat die Magersucht das Leben der<br />

Kölnerin kontrolliert. „Heute ist es umgekehrt<br />

und ich kontrolliere die Essstörung.“ Auch Antonia<br />

Wesseling hat eine lange Geschichte mit Magersucht<br />

hinter sich. Heute lebt die 23-Jährige<br />

ebenfalls in Köln und verwirklicht endlich die<br />

Träume, die sie schon seit ihrer Kindheit hat.<br />

Was dahintersteckt<br />

Im Laufe ihres Lebens erkranken etwa 14 von<br />

1.000 Mädchen und Frauen an Magersucht. Das<br />

besagt die Webseite der Bundeszentrale für gesundheitliche<br />

Aufklärung. Bei Jungen und Männern<br />

liegt diese Zahl bei durchschnittlich zwei<br />

von 1.000. Obwohl die Krankheit so weit verbreitet<br />

ist, weiß nicht jeder, was genau dahintersteckt.<br />

Vorurteile, wie zum Beispiel, dass Magersucht eine<br />

oberflächliche „Model-Krankheit“ ist, bei der<br />

es nur um äußere Schönheitsideale geht, sind<br />

nicht selten. Dabei geht es den Erkrankten eher<br />

um die Kontrolle, die sie über ihr Essverhalten erlangen<br />

wollen. Antonia Wesseling erinnert sich<br />

an das Gefühl, das ihr die Essstörung damals gab:<br />

„Ich kann mich kontrollieren, indem ich bestimme,<br />

was ich esse und damit zeigen, wie stark ich<br />

bin“. Der Ursprung liegt oft viel tiefer als man<br />

denkt. In ihrem Buch „Wie viel wiegt mein Leben?“<br />

schreibt die Autorin: „Bei psychischen<br />

Krankheiten ist es besonders wichtig, zwischen<br />

Auslöser und Ursache zu unterscheiden. Ein völlig<br />

gesunder und stabiler Mensch würde durch eine<br />

Diät niemals in eine Essstörung rutschen.“ Die


02/ 2023 FREI<br />

9<br />

Magersucht ist also in der Regel nur ein Teil des<br />

Problems und das Nicht-Essen nur ein Symptom.<br />

„Es ist eine Suchterkrankung – manche Leute erkranken<br />

an einer Alkoholsucht, andere eben an<br />

Magersucht“, erklärt Jungk.<br />

Das Leben mit der Krankheit<br />

Kalorien zählen, bloß nicht zu viel und bloß<br />

nichts „Schlechtes“ essen. Für Außenstehende ist<br />

das zwanghafte Verhalten nur<br />

schwer nachzuvollziehen. Beziehungen<br />

zu Freund:innen und Verwandten<br />

können dadurch schnell<br />

kaputt gehen. Auch Laura Jungk<br />

hatte damit zu kämpfen. Oft bekam<br />

sie zu hören, sie solle sich doch einfach<br />

zusammenreißen. Dabei geht<br />

es nicht darum, nicht zu wollen,<br />

sondern nicht zu können: „Wenn<br />

jemand den Arm gebrochen hat,<br />

sagt man ja auch nicht ‚reiß dich zusammen‘ – es<br />

geht halt nicht.“ Sie erzählt, dass ihr ganzes Leben<br />

von der Krankheit bestimmt wurde. Alles drehte<br />

sich für sie nur noch um das Thema Essen: „Es gibt<br />

nur noch diesen winzig kleinen Kosmos, in dem<br />

man irgendwie mit der Essstörung koexistiert.”<br />

Für Wesseling fühlt sich die Krankheit rückblickend<br />

wie ein Tunnel an, der aus ganz vielen Widersprüchen<br />

besteht. Dadurch fällt es ihr schwer,<br />

die essgestörten Gedanken zu erklären. Sie fühlte<br />

sich nie verstanden und hat sich von ihren<br />

Freund:innen zurückgezogen. Viele soziale Aktivitäten<br />

waren mit Essen verbunden und spontane<br />

Unternehmungen waren für sie generell nicht<br />

möglich. Sie erzählt auch, dass sich zeitweise ihr<br />

Charakter verändert hat: „Ich habe unheimlich<br />

viel gelogen in der Zeit, obwohl ich eigentlich ein<br />

sehr ehrlicher und direkter Mensch bin.“<br />

„Entweder ich mache jetzt so weiter<br />

und sterbe oder ich versuche, irgendwie<br />

wieder zu leben.“<br />

nimmt. Und selbst dann droht man immer wieder,<br />

diese Erkenntnis zu verlieren. Jungk rät Betroffenen,<br />

immer weiter gegen die Krankheit zu<br />

kämpfen und sich niemals sagen zu lassen, dass<br />

man es nicht mehr schaffen kann. Wesseling betont<br />

an der Stelle, dass es für Betroffene wichtig<br />

ist, die Verantwortung selbst zu übernehmen und<br />

nicht darauf zu warten, dass andere einen retten.<br />

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung<br />

erwähnt auf ihrer Webseite, dass ungefähr<br />

40 Prozent der Magersucht-Patient:innen geheilt<br />

werden. Etwa 25 bis 30 Prozent erzielen eingeschränkte<br />

Erfolge.<br />

Laura Jungk vermutet, dass die Chance auf Heilung<br />

unter anderem vom Krankheitsverlauf abhängt.<br />

Sie selbst war sechs Jahre lang krank. Obwohl<br />

sie sagt, dass sie die Essstörung wahrscheinlich<br />

nie wieder ganz loswerden wird, führt sie inzwischen<br />

ein ziemlich normales Leben: „Ich lebe<br />

heute einfach – ich kann verreisen, ich habe ein<br />

soziales Umfeld und gehe auf Partys.“<br />

Außer der Essstörung spielen bei Betroffenen oft<br />

auch noch andere psychische Krankheiten, wie<br />

Depressionen, eine Rolle. So ist es auch bei den<br />

beiden Kölnerinnen. Wesseling hat auch heute<br />

noch teilweise mit Depressionen zu kämpfen, berichtet<br />

aber: „Was die Essstörung angeht, würde<br />

ich mich als vollkommen geheilt bezeichnen.“<br />

Die beiden konnten aus der Essstörung<br />

und dem Heilungsweg auch<br />

etwas Positives ziehen. Jungk erzählt,<br />

dass sie durch die Therapien<br />

und die Jahre mit der Krankheit eine<br />

hohe Reflexionsfähigkeit gewonnen<br />

hat. „Die Krankheit hat<br />

mich zu der Person gemacht, die<br />

ich heute bin.“ Auch Wesseling<br />

hat in Therapie viel über sich gelernt.<br />

„Ich konnte mein Leben<br />

komplett umstrukturieren und zum Positiven ändern.”<br />

Du benötigst Hilfe? Erste Anlaufstellen können sein:<br />

ABAS – Anlaufstelle bei Essstörungen<br />

Telefon: 0711 30 56 85 40<br />

ANAD – Bundes Fachverband Essstörungen<br />

Telefon: 089 2199730<br />

Cinderella – Aktionskreis für Ess- und Magersucht<br />

Telefon: 089 502 12 12<br />

Der „Klick-Moment“<br />

Eine Sache, in der sich beide Autorinnen einig<br />

sind, ist, dass man sich als betroffene Person niemals<br />

krank genug fühlt. „Das war einer meiner<br />

prägendsten Gedanken während der Krankheit”,<br />

erzählt Wesseling. „Der Gedanke, dass man selbst<br />

die Hilfe nicht wert ist und sie sich erst verdienen<br />

muss.“ Die meisten Magersüchtigen wollen gar<br />

nicht für immer krank und dünn sein. Sie arbeiten<br />

auf einen Punkt hin, an dem sie „krank genug”<br />

sind, um Hilfe zu verdienen. Wesseling erinnert<br />

sich an die Worte ihres Therapeuten: „Auf diesen<br />

Klick-Moment zu warten ist tödlich. Viele Betroffene<br />

haben diesen Moment nicht einmal, wenn<br />

sie im Sterben liegen.“<br />

Auch für Laura Jungk kam dieser Zeitpunkt nie.<br />

Selbst am Tiefpunkt ihres Krankheitsverlaufs hat<br />

sie sich nicht krank genug gefühlt. Zu der Zeit hatten<br />

sogar manche Ärzte schon die Hoffnung auf<br />

eine Heilung aufgegeben. „Irgendwann war wirklich<br />

die Frage: Entweder ich mache jetzt so weiter<br />

und sterbe oder ich versuche, irgendwie wieder zu<br />

leben.“<br />

Der Weg in die Freiheit<br />

Mit dem Beschluss, das Leben wieder zurückzuerlangen,<br />

ist der Kampf noch lange nicht gewonnen.<br />

Erst einmal muss man zu der Einsicht kommen,<br />

dass die Magersucht einem das Leben<br />

Antonia Wesseling<br />

Antonia Wesseling ist 23 Jahre alt und lebt<br />

in Köln. Im Alter von 14 Jahren ist sie an<br />

Magersucht erkrankt und litt insgesamt<br />

fünf Jahre darunter. Mittlerweile hat sie sich<br />

ihren Kindheitstraum erfüllt und arbeitet<br />

als Autorin. 2020 erschien ihr Buch „Wie<br />

viel wiegt mein Leben?“, in dem sie ihre Geschichte<br />

mit der Krankheit erzählt.<br />

Laura Jungk<br />

Bilder: Privat<br />

Die 23-jährige Laura Jungk wohnt mit ihrem<br />

Hund in Köln. Dort hat sie vor Kurzem<br />

ihre Schauspielausbildung beendet. Sie erkrankte<br />

im Alter von 13 Jahren an Magersucht<br />

und veröffentlichte 2020 ihr Buch<br />

„Wie ich verschwand“. Darin schildert die<br />

Autorin, wie sie in die Essstörung geriet und<br />

wie sie wieder hinausfand.<br />

Bilder: Privat


10 FREI<br />

mediakompakt<br />

Vom Koma zum Comeback<br />

Vor zehn Jahren erlitt Florian<br />

Häußermann ein schweres<br />

Schädel-Hirn-Trauma. Rund<br />

neun Monate verbrachte er in<br />

verschiedenen Kliniken und<br />

kämpfte sich wieder zurück in<br />

sein normales Leben.<br />

VON JENNY GRIFFEL<br />

Der 20. Juli 2013 ist ein perfekter Sommertag,<br />

30 Grad, Sonnenschein. Florian<br />

Häußermann stattet seiner Heimatstadt<br />

Winnenden einen Besuch<br />

ab. Gemeinsam mit ein paar Freunden<br />

möchte der Wahl-Münchner den Tag in einer<br />

Kneipe ausklingen lassen. Doch der Abend nimmt<br />

ein abruptes Ende.<br />

Der 27-Jährige stürzt eine zwölf-stufige Treppe<br />

hinunter, schlägt auf seinen Hinterkopf auf und<br />

bleibt regungslos auf dem Boden liegen. „Meine<br />

Freunde haben gemerkt, dass ich nicht nur hingeflogen<br />

bin. Sie haben direkt den Notruf gewählt“,<br />

berichtet Florian Häußermann. Noch im Krankenwagen<br />

führen die Sanitäter:innen ihm zur Beatmung<br />

einen Schlauch in die Lunge ein und versetzen<br />

ihn in ein künstliches Koma. Bei der Untersuchung<br />

im Klinikum Ludwigsburg die Schock-<br />

Diagnose: Schweres Schädel-Hirn-Trauma mit<br />

Hirnschwellungen und Blutungen. Zur Überwachung<br />

kommt der Verletzte auf die Intensivstation,<br />

doch sein Zustand verschlechtert sich von Tag<br />

zu Tag.<br />

Am 23. Juli ist der Druck auf dem Gehirn zu<br />

groß und es muss eine Hemikraniektomie durchgeführt<br />

werden, bei der die linke Schädeldecke<br />

entfernt wird. Die Operation verläuft problemlos.<br />

Nach zehn Tagen im künstlichen Koma atmet der<br />

Patient wieder selbstständig, fünf Tage später erfolgt<br />

die Verlegung auf die Überwachungsstation.<br />

An das „Erwachen“ aus dem Koma kann sich Florian<br />

Häußermann nicht erinnern, erst als ihn seine<br />

Familie und Freund:innen im Krankenhaus besuchen:<br />

„Mit ihrer Unterstützung war ich mir sicher,<br />

dass alles wieder so wird wie zuvor.“ Für die<br />

anschließende Therapie wird er in eine Spezialklinik<br />

nach Allensbach verlegt. „Anfangs war ich etwas<br />

verwirrt. So meinte ich zum Beispiel zu meiner<br />

Mutter, dass ich Hansi Hinterseer mag, obwohl<br />

das überhaupt nicht meine Musik ist“, erklärt<br />

der Metallica-Fan lachend. „Für die Leute um<br />

mich herum war es viel schlimmer als für mich, da<br />

keiner wusste, ob der Zustand vielleicht für immer<br />

bleiben würde.“<br />

Anfang Oktober wird ihm der Knochendeckel<br />

reimplantiert. „Mein entnommener Schädelknochen<br />

wurde mit einem Plastikstück ersetzt. Nach<br />

der Operation merkte ich auch gleich einen großen<br />

Sprung in die positive Richtung“, erzählt er<br />

freudig. Trotz der Herausforderungen macht der<br />

Diplomphysiker in der Reha jeden Tag Fortschritte.<br />

„Es gab nie einen Punkt, an dem ich die Motivation<br />

verlor. Als ich einen Arzt fragte, ob ich wieder<br />

Snowboard fahren könnte, meinte er, dass das<br />

problemlos möglich wäre. Ich wusste, dass es aber<br />

eine längere Zeit dauern würde.“<br />

Ende Oktober wird Florian Häußermann aus<br />

der Klinik entlassen. Obwohl er teilweise mit<br />

Wortfindungsstörungen zu kämpfen hat, lernt er<br />

damit umzugehen und versucht die Wörter zu<br />

umschreiben. Da bei dem Unfall vor allem seine<br />

linke Gehirnhälfte verletzt wurde, hat er Schwierigkeiten<br />

mit seiner rechten Hand.<br />

„Als ich mit meiner Familie in einem asiatischen<br />

Restaurant essen war, bemerkte ich, dass<br />

ich nicht mehr wie früher mit Stäbchen essen<br />

konnte. Erst ein dreiviertel Jahr nach dem Unfall<br />

war meine Feinmotorik wieder hergestellt“, erinnert<br />

sich der Rechtshänder. Nachdem er acht Monate<br />

krankgeschrieben war, kann der Berechnungsingenieur<br />

endlich wieder langsam seinem<br />

Job nachgehen.<br />

Bild: Pixabay/ LegendaryWolf<br />

Knapp ein Jahr später erlebt Florian Häußermann<br />

einen epileptischen Anfall, daraufhin bekommt<br />

er Lamotrigin verschrieben. Er blickt zurück:<br />

„Trotz Einnahme des Medikaments hatte ich<br />

noch vier weitere Anfälle. Mein Körper warnte<br />

mich aber immer, ich höre dann eine fremde<br />

Stimme in meinem Kopf. So war ich beim zweiten<br />

und dritten Mal auch nicht überrascht. Jetzt hatte<br />

ich Jahre lang keinen Anfall mehr.“<br />

Dieses Jahr ist der Unfall schon zehn Jahre her.<br />

Bis auf die Epilepsie geht es Florian Häußermann<br />

wie vor dem Unglück, laut seinen Bekannten habe<br />

er sich auch nicht verändert. „Ich kann mir nur<br />

von Leuten, die ich nicht so oft sehe, die Namen<br />

zum Teil nicht mehr merken“, sagt d er mittlerweile<br />

37-Jährige. Im Hinblick auf die Schwere seiner<br />

Verletzungen sei dies aber nur noch eine Kleinigkeit<br />

und er könne von großem Glück reden,<br />

dass alles ein gutes Ende gefunden hat. Auf die<br />

Frage, was er aus der Erfahrung lernte, meint er:<br />

„Es sind Sekunden, die alles verändern können.<br />

Daher sollte man das Hier und Jetzt genießen.“


02/ 2023<br />

FREI<br />

11<br />

Auf einen Schlag ist alles anders<br />

Bild: unsplash<br />

Von einem auf den anderen<br />

Tag nicht mehr laufen, die<br />

Arme heben oder sprechen<br />

können – ein Schlaganfall reißt<br />

Betroffene aus ihrem Alltag.<br />

Wie man zurück ins Leben<br />

findet und wieder sprechen<br />

lernt, erklärt Logopädin Lea<br />

Bökle.<br />

VON LEA HÜNICKE<br />

Ein heftiger Schmerz zieht in den Kopf,<br />

die Hand kann plötzlich nicht mehr<br />

nach der Tasse greifen oder es kommt<br />

kein Satz mehr raus – wie Betroffene<br />

den Moment des Schlaganfalls erleben,<br />

ist verschieden und hängt davon ab, welcher Teil<br />

des Gehirns betroffen ist. Auch die Folgen, die der<br />

Ausfall von Gehirnfunktionen hervorbringt, fallen<br />

unterschiedlich aus. In den meisten Fällen<br />

wird das alltägliche Leben jedoch durch Lähmungen,<br />

Seh- oder Sprachstörungen erschwert und<br />

kann vorerst nicht mehr eigenständig bewältigt<br />

werden. „Wenn ein Knie kaputt ist nach einem<br />

Unfall, hat jeder Verständnis. Man hat eine Krücke<br />

und die eingeschränkten Fähigkeiten sind<br />

vielleicht laufen, rennen und bücken. Es ist eher<br />

spürbar, während es dem Kopf erst mal nicht anzusehen<br />

ist“, veranschaulicht Lea Bökle. Als Logopädin<br />

arbeitet sie unter anderem mit Schlaganfallpatient:innen<br />

daran, deren Beeinträchtigungen<br />

beim Schlucken und Sprechen zu verbessern. Für<br />

Betroffene sei es im Gegensatz zu einer Knieverletzung<br />

deswegen auch schwieriger, damit umzugehen<br />

und beispielsweise feststellen zu müssen, dass<br />

sie nicht mehr lesen können.<br />

Die Logopädin erklärt: „Sprache muss man<br />

verstehen, sprechen, lesen und schreiben können.“<br />

Alles Dinge, die man im Kindesalter lernt<br />

und die von da an einfach funktionieren. Wenn<br />

man ein paar Buchstaben sieht, setzt das Gehirn<br />

sie dank seiner Fähigkeit des Synthetisierens automatisch<br />

zu dem richtigen Wort zusammen. Dieser<br />

Mechanismus kann allerdings wegfallen, was zur<br />

Folge hat, dass beim Lesen falsche Wörter herauskommen.<br />

„Das Sprachverständnis kann so stark<br />

eingeschränkt sein, dass man Betroffenen etwas<br />

sagt und sie nicht wissen, was man von ihnen<br />

möchte“, verdeutlicht Bökle, wie ausgeprägt die<br />

Sprachstörung sein kann. Das sei auch für Angehörige<br />

besonders schwierig.<br />

Neben der Normalität geht durch die Beeinträchtigungen<br />

nach einem Schlaganfall auch ein<br />

Stück der Identität verloren. „Sich in seiner Person<br />

nicht mehr ganz ausleben zu können wie zuvor,<br />

schränkt ein und sich nicht so ausdrücken zu können,<br />

wie man gerne möchte, nimmt etwas von der<br />

Person“, erklärt die Logopädin. So komme es immer<br />

wieder vor, dass sprachliche Besonderheiten,<br />

wie der Wortwitz einer Person, nach<br />

einem Schlaganfall weg seien. Vielen nimmt es<br />

auch das Selbstbewusstsein, wenn die Wörter fehlen<br />

und das Sprechen vor Menschen oder Anrufe<br />

werden mit Scham verbunden. Es ist ein anstrengender<br />

Prozess, sich die Selbstständigkeit nach<br />

einem Schlaganfall zurückzuholen. Manchmal<br />

funktioniert es – durch verschiedene Faktoren<br />

bedingt – auch nicht. Wenn sich nicht genau<br />

bestimmen lässt, woran es liegt, ist das besonders<br />

frustrierend. Immer wieder bemerke man jedoch<br />

Verbesserungen und Patient:innen werde<br />

bewusst, dass sie durch das Üben etwas bewirken<br />

können, wie Lea Bökle hervorhebt. Zu sehen, wie<br />

sie teilweise im hohen Alter Bewundernswertes<br />

leisten und die Erfolgserlebnisse mitzuerleben, sei<br />

für sie das Schöne an ihrem Beruf. Abschließend<br />

betont sie: „Wenn Betroffene sich durch ihren<br />

Einsatz Freiheiten wieder zurückerlangen, ist das<br />

etwas ganz Besonderes, weil man auf den Weg<br />

dorthin zurückblicken kann und weiß, was man<br />

geschafft hat. Und darauf kann man stolz sein.“<br />

FAST-Test<br />

Bei einem Schlaganfall ist jede Minute entscheidend,<br />

weshalb schnelle Hilfe überlebenswichtig<br />

ist. Besteht der Verdacht auf einen<br />

Schlaganfall, lässt sich dies folgendermaßen<br />

überprüfen:<br />

Face: Person bitten, zu lächeln. Hängt ein<br />

Mundwinkel runter?<br />

Arms: Person bitten, beide Arme nach vorne<br />

zu strecken und die Handflächen nach<br />

oben zu drehen. Ist sie dazu nicht in der Lage<br />

oder sinkt/dreht sich ein Arm?<br />

Speech: Person bitten, einen einfachen Satz<br />

nachzusprechen. Klingt ihre Stimme verwaschen<br />

oder kann sie nicht antworten?<br />

Time: Nicht zögern! Den Notarzt rufen und<br />

die Symptome schildern.<br />

Quelle: Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe


12 Frei<br />

mediakompakt<br />

Queens, Kings und Aliens<br />

Drag machen doch nur<br />

schwule Männer, oder nicht?<br />

Doch Queens sind nicht die<br />

einzigen Perlen der Community.<br />

Drag King Tenu erzählt,<br />

welche Erfahrungen er in der<br />

Szene macht.<br />

VON MARILENA STEINER<br />

Bilder: King Tenu<br />

Drag Queens kennt jeder. In der breiten<br />

Masse sind vor allem die homosexuellen<br />

Männer, die die Kunst der<br />

Travestie ausüben, bekannt. Doch<br />

die Welt des Drags bietet sehr viel<br />

mehr. Schon lange sind es nicht nur Männer, die<br />

sich in überspitzter Form als Königinnen präsentieren.<br />

King Tenu ist ein junger Drag King, der sich<br />

in den letzten eineinhalb Jahren in der Münchner<br />

Drag-Community etabliert hat. Verkörpert wird<br />

er von der 21-jährigen non-binären Münchnerin<br />

Mäx.<br />

Die Drag-Szene befindet sich im Wandel. Die<br />

allseits bekannten Queens stehen nun nicht mehr<br />

alleine im Rampenlicht. Und dabei etablieren sich<br />

neben Kings auch viele andere Formen in der Szene.<br />

Jede interessierte Person kann sich frei entfalten.<br />

Mäx ist der Ansicht, dass Geschlechter -<br />

klischees in der Community längst keine Rolle<br />

mehr spielen. Die lesbische Frau stellt den King<br />

und der schwule Mann die Frau dar. Das ist ein<br />

längst überholtes Schubladendenken. Es muss<br />

nicht unbedingt das entgegengesetzte Geschlecht<br />

stereotypisch präsentiert werden. „Was hätte ich<br />

darstellen sollen, wenn ich als nicht binäre Person<br />

das Gegenteil auf die Spitze treibe?“, wirft Mäx<br />

ein. Sie wollte zu ihrer sonst weiblichen Erscheinung<br />

die männlichen Privilegien als Extrem für<br />

sich austesten. Es bietet ihr einen guten Ausgleich<br />

zu ihrem Alltag, in dem sie sich auch frei als Mann<br />

bewegen kann. Mit Konfrontation hat sie dabei<br />

weniger Erfahrungen gemacht. Queens haben im<br />

Alltag oft mit Gegenwind zu kämpfen, während<br />

Menschen in der Öffentlichkeit vor den Kings mit<br />

ihrer markanten Gangart und dem sehr maskulinem<br />

Auftreten eher zurückweichen.<br />

Als Mäx vor einiger Zeit in die Welt des Drag<br />

eingetaucht ist, war die Corona-Pandemie ein<br />

großes Thema in der Gesellschaft. Viele Treffen<br />

und Veranstaltungen haben nicht stattgefunden.<br />

So hat sich die junge Münchnerin zunächst viel<br />

auf Social-Media-Plattformen, wie TikTok, Instagram<br />

und YouTube umgesehen und Hilfe für den<br />

Einstieg gesucht. Schnell hat sie festgestellt, dass<br />

Drag Queens die größte repräsentative Gruppe der<br />

Community sind. „Ich war schon sehr oft auf<br />

Christopher Street Days (CSD) und ich fand auch<br />

immer die Drag Queens mega mega cool und habe<br />

mir auch sehr oft schon gedacht: Hey! Es wäre<br />

doch voll cool, wenn es nicht nur Drag Queens gäbe,<br />

sondern noch viel mehr Geschlechter in übertriebener<br />

Form dargestellt werden würden“, berichtet<br />

Mäx. So stand von Anfang an ihr Wunsch<br />

fest, einen Drag King zu inszenieren. Diese Entscheidung<br />

hat noch immer Bestand und die junge<br />

Münchnerin hat diese nie angezweifelt. Sie fühlt<br />

sich nicht nur sehr wohl und selbstbewusst in ihrer<br />

Rolle, sondern kann sich frei im selbst gewählten<br />

Image als „Fuckboy“ auf der Bühne präsentieren.<br />

Doch was tun Travestie-Künstler:innen während<br />

ihrer Performances? Der einfachste Einsteig<br />

in die Welt des Drag sind Lip-Sync-Battles. Hier<br />

inszenieren die Künstler:innen eine Show zu Playback-Musik<br />

und bewegen dabei die Lippen zum<br />

Text. Und genau an so einem hat der junge King<br />

im Herbst 2021 teilgenommen. Sehr spontan und<br />

ohne viel eingeprobte Choreografie wagte sich Tenu<br />

ein erstes Mal auf die Bühne und kämpfte sich<br />

alleine über mehrere Runden zum Sieg. Im Nachhinein<br />

betrachtet, hat dieser Start das Selbstbewusstsein<br />

und die Überzeugung des jungen Drag<br />

Kings enorm gesteigert. Dieses Erfolgserlebnis<br />

brachte Tenu großen Zuspruch in der Community<br />

ein. Folgebuchungen für weitere Veranstaltungen<br />

ließen nicht lange auf sich warten und so ist<br />

King Tenu heute ein gefragter Künstler. Sein bisher<br />

größter Auftritt ist auf der großen CSD-Bühne<br />

auf dem Münchner Marienplatz gewesen. Er ist<br />

sehr stolz diesen Auftritt gemeistert zu haben. „So<br />

richtig Lampenfieber habe ich eigentlich nicht,<br />

aber auf dem CSD war es anders. Die große Bühne<br />

mit Übertragung auf die riesige LED-Leinwand<br />

hat mich schon sehr nervös gemacht“, erklärt<br />

Mäx.<br />

Das heutige Styling von King Tenu erinnert<br />

noch immer an den ersten Auftritt auf der Halloween<br />

Party. Eine große Narbe im Gesicht, rote<br />

nach oben gestylte Haare, starkes Contouring und<br />

ein Bandana gehören zu seinen Erkennungsmerkmalen.<br />

In der Vergangenheit hat sich Mäx bereits<br />

mit Cosplay beschäftigt. Daraus hat sie einige Erfahrung<br />

im Umgang mit Make-Up und Perücken<br />

gewonnen, die sie jetzt weiter ausbaut. Außerdem<br />

hat sie bereits einige Jahre Tanzerfahrung gesammelt,<br />

die ihr nun ebenfalls sehr zu Gute kommen.<br />

Feste Choreografien für ihre Auftritte möchte sie<br />

sich allerdings nicht zurechtlegen. „Andere<br />

Künstler:innen brauchen das. Mich würde ein falscher<br />

Schritt komplett aus der Fassung bringen.<br />

Im Zweifelsfall ziehe ich einfach viele Schichten<br />

übereinander und fange an, eine nach der anderen<br />

passend zur Musik abzulegen“, sagt die<br />

Münchnerin. Und es zahlt sich aus. Ihr Talent im


02/ 2023 Frei 13<br />

Improvisieren hat ihr in einem ihrer schlimmsten<br />

Bühnenmomente geholfen. Zwei Personen sind<br />

plötzlich auf die Bühne gesprungen und wollten<br />

den Auftritt stören. King Tenu war zunächst überfordert.<br />

Der Druck war hoch, man sollte ihm<br />

schließlich nichts anmerken. Was sollte er tun?<br />

Doch seine Nervosität wandelte er gekonnt in eine<br />

Improvisation um: Die Störenfriede wurden<br />

einfach in die Performance eingebunden. So war<br />

der Schreckmoment erst mal überwunden. „Das<br />

Publikum hatte zum Glück nichts bemerkt und<br />

die beiden Personen konnten letztendlich von der<br />

Bühne entfernt werden“, berichtet der junge Drag<br />

King, der aus diesem Moment einiges mitnehmen<br />

konnte. Sein Talent hat ihm den nötigen Beistand<br />

gegeben. Außerdem war sofort jemand zur Stelle,<br />

der ihm geholfen hat. Die Hilfe und den Zusammenhalt<br />

in der Community weiß King Tenu sehr<br />

zu schätzen.<br />

Die größte Unterstützung ist allerdings seine<br />

sogenannte „adoptive Drag Mum“, die King Tenu<br />

in seiner Entwicklung sehr unter die Arme greift.<br />

Durch den Mangel an Kings, hat sich die Queen<br />

den jungen Tenu zur Brust genommen und begleitet<br />

ihn durch verschiedene Prozesse und bietet<br />

Hilfestellungen. Außerdem bieten einem Freunde<br />

in der Community die Möglichkeit, passende Orte<br />

zum Austausch zu finden. So gibt es ganze Häuser,<br />

Clubs und Bars, aber auch Drag-Flohmärkte.<br />

Die Darsteller:innen der Szene sehen sich gegenseitig<br />

nicht als Konkurrenz. Auch nicht zwischen<br />

den verschiedenen Darstellungsformen des Drag.<br />

In der Community hat King Tenu schon einige<br />

verschiedene Drags kennengelernt. „Von Jung bis<br />

Alt ist alles dabei! Die jüngste Queen, die ich kenne<br />

ist 18 Jahre, aber ich habe auch schon einige<br />

getroffen die weitaus älter sind. Nach oben gibt es<br />

keine Grenze!“, erzählt Mäx.<br />

Durch Beobachtungen von Menschen in der<br />

Öffentlichkeit, Videos und der Besuch von Auftritten<br />

hat die Münchnerin sich einiges abgeschaut.<br />

Und genau dies wäre auch ihre Empfehlung<br />

für alle, die ebenfalls einen Fuß in die Drag-<br />

Szene setzen möchten.<br />

Abschließend kann Mäx nur allen raten:<br />

„Fangt einfach an, egal in welche Richtung ihr gehen<br />

wollt. Egal ob Queen, King, Alien oder sonst<br />

was!“<br />

I M P R E S S U M<br />

mediakompakt<br />

Zeitung des Studiengangs Mediapublishing<br />

Hochschule der Medien Stuttgart<br />

HERAUSGEBER<br />

Professor Christof Seeger<br />

Hochschule der Medien<br />

Nobelstraße 10, 70569 Stuttgart<br />

REDAKTION<br />

Bianca Menzel, Corinna Pehar (v.i.S.d.P.)<br />

menzelb@hdm-stuttgart.de, pehar@hdm-stuttgart.de<br />

TITELSEITE<br />

Nadine Weickert, Sarah Janzen, Maddalena Franco,<br />

Elena Roller, Meike Grees, Heidi Rogall<br />

PRODUKTION<br />

Alle<br />

ANZEIGENVERKAUF<br />

Julian Siller, Max Müller, Marilena Steiner, Julia Haas,<br />

Lilia Peter<br />

BLATTKRITIK<br />

Alexandra Ellinger, Ida Simon, Lea Sandkühler,<br />

Mirjam Völkle<br />

MEDIA NIGHT<br />

Julia Gramlich, Jenny Griffel, Sarah Kasumovic,<br />

Viola Steierwald, Yonca Kora Kocagöz, Vanessa Lehmann<br />

LEKTORAT<br />

Vanessa Hanke, Ann-Kathrin Gritzka, Lea Hünicke,<br />

Annika Regber, Katharina Michalewicz, Linda Müller,<br />

Selina Opp<br />

DRUCK<br />

Z-Druck Zentrale Zeitungsgesellschaft GmbH & Co. KG<br />

Böblinger Straße 70, 71065 Sindelfingen<br />

ERSCHEINUNGSWEISE<br />

Einmal im Semester zur MediaNight<br />

Copyright<br />

Stuttgart 2023<br />

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14 FREI<br />

mediakompakt<br />

„Das Leben war<br />

wie auf Standby“<br />

Bild: Unsplash<br />

Jugoslawienkrieg: Keine<br />

Freiheit, keine Sicherheit.<br />

Elira Gashi* berichtet von<br />

den Erfahrungen ihrer Familie<br />

und wie die Freiheit heute<br />

geschätzt wird, die damals<br />

vermisst wurde.<br />

VON SARAH KASUMOVIC<br />

Bis heute wissen wir nicht, was sie mit<br />

ihm gemacht haben. Seine Leiche<br />

wurde bis heute nicht gefunden. Er<br />

gehört zu den über 1.600 Menschen,<br />

die bis heute vermisst werden. Das ist<br />

für unsere gesamte Familie eine große Belastung“,<br />

berichtet Elira Gashi.<br />

Gashi ist 25 Jahre alt, in Deutschland geboren<br />

und studiert Lehramt. Obwohl sie selbst in Sicherheit<br />

aufwuchs, haben viele ihrer Familienmitglieder<br />

den Jugoslawienkrieg und seine Auswirkungen<br />

am eigenen Leib erfahren. Gashi erzählt von<br />

ihrem Opa mütterlicherseits, der sich dazu entschloss,<br />

das Land nicht zu verlassen und stattdessen<br />

in seinem Dorf bei seinem Haus und den Tieren<br />

in Vushtrri zurückzubleiben. Im Februar 1999<br />

wurde er von serbischen Soldaten entführt. Bis<br />

heute lebt ihre Familie in Ungewissheit über das<br />

Schicksal ihres Angehörigen. Viele ihrer Familienmitglieder,<br />

unter anderem ihr Vater, sahen sich<br />

bereits 1992 gezwungen, aufgrund der steigenden<br />

Spannungen auf dem Balkan nach Deutschland<br />

zu fliehen. Weitere Verwandte flohen während<br />

des Krieges nach Albanien oder in andere Städte<br />

des Kosovos. Doch nicht alle Angehörigen flohen.<br />

Einige wurden unter anderem im Massaker von<br />

Reçak ermordet. Die Auswirkungen des Krieges<br />

sind bis heute noch spürbar. „Der Alltag war wie<br />

gelähmt und von Angst bestimmt. Viele Familien<br />

flohen, so verschwanden regelmäßig Schulkinder<br />

und Arbeitsplätze blieben leer“, erwähnt Gashi.<br />

Ganze Regionen entschlossen sich gemeinsam zu<br />

fliehen, auch zu Fuß. Die Freiheit, selbst zu entscheiden,<br />

wo sie leben möchten, blieb ihnen verwehrt.<br />

Es gab massive Einschränkungen in ihrem<br />

Alltag. Einige Albaner:innen, die bei serbischen<br />

Unternehmen angestellt waren, legten ihre Arbeit<br />

nieder, um nicht für den Angreifer zu arbeiten.<br />

„Diejenigen, die allerdings weiter für sie arbeiteten,<br />

da sie auf das Geld angewiesen waren, wurden<br />

häufig schikaniert oder als Verräter bezeichnet“,<br />

erklärt Gashi. „Der Alltag lief gewissermaßen<br />

weiter, wenn doch ganz anders. Das Leben<br />

war wie auf Standby. Man machte sich Sorgen<br />

und hatte Angst und hoffte nur irgendwie zu<br />

überleben“, ergänzt Gashi.<br />

Die Menschen versuchten nach dem Krieg<br />

wieder ein Stück Normalität in ihr Leben zu bringen<br />

und ihre Freiheiten soweit es geht zurückzugewinnen.<br />

„Der Wille war groß und deswegen<br />

wurde viel dafür getan, eine Normalität aufzustellen.<br />

Kinder gingen wieder regelmäßig zur Schule,<br />

die Menschen arbeiteten“, meint Gashi. Da Kosovo<br />

bis zum Jahr 2008 noch offiziell als Teil Serbiens<br />

galt, vergingen noch einige Jahre, bis die gewünschte<br />

Freiheit erreicht wurde.<br />

Bei vielen Betroffenen haben die Erfahrungen<br />

des Krieges ein tiefes Bewusstsein für die Bedeutung<br />

von Sicherheit und Freiheit geschaffen.<br />

Auch das Recht, den eigenen Glauben frei auszuüben,<br />

wird von vielen Betroffenen als wertvoll erachtet.<br />

„Man muss auch sagen, dass Jugoslawien<br />

generell verschiedene Bevölkerungsgruppen unterdrückte.<br />

Auch Muslime, die slawisch waren,<br />

wurden in den Jugoslawienkriegen unterdrückt<br />

und ermordet, so auch in Bosnien. Der Wille war<br />

daher sehr groß, das Land in die Unabhängigkeit<br />

zu bringen und Freiheit zu erlangen. Man wollte<br />

eigene Institutionen, eigene Gesetze. Die Jugoslawienkriege<br />

haben dies alles nur noch weiter verstärkt“,<br />

verdeutlicht Gashi.<br />

Doch wie kann aus den Erfahrungen der Betroffenen<br />

gelernt und wie können Freiheit sowie<br />

Menschenrechte zukünftig geschützt werden?<br />

„Ich bin der Meinung, dass es sehr wichtig ist, die<br />

Menschen in der Gesellschaft über die Kriege im<br />

Balkan in den 1990er Jahren aufzuklären. Viele<br />

sind uninformiert darüber, was damals stattfand“,<br />

meint Gashi. Noch heute werden Genozide verleugnet,<br />

verharmlost und relativiert sowie Falschinformationen<br />

verbreitet. „Deshalb sollten die<br />

Kriege im Balkan und die Kriegsverbrechen in den<br />

Bildungsplan der Sekundarstufe aufgenommen<br />

werden. Zudem sollten Politiker aktiv werden und<br />

die serbische Regierung auffordern, unter anderem<br />

den Genozid an tausenden von Bosniaken in<br />

Srebrenica als solchen zu kennzeichnen“, fordert<br />

Gashi. Des Weiteren weist sie darauf hin, dass es<br />

wichtig sei, sich an die Vergangenheit zu erinnern<br />

und aus ihr zu lernen, um ähnliche Ereignisse in<br />

der Zukunft zu vermeiden.<br />

„Um Menschenrechte in Zukunft schützen zu<br />

können, müssen Menschenrechtsverletzungen in<br />

der Vergangenheit vorerst als solche gekennzeichnet<br />

werden“, betont Gashi.<br />

*Name von der Redaktion geändert


02/ 2023<br />

FREI<br />

15<br />

„Dein Opa war der Patriarch“<br />

Armut und fehlende Perspektiven<br />

prägten das Sizilien der<br />

1960er Jahre. Als Kind kam<br />

meine Mutter deshalb mit ihrer<br />

Familie nach Deutschland.<br />

Aber wie ist es, in einem fremden<br />

Land neu starten zu müssen?<br />

Rosa Gritzka erzählt über<br />

ihre Erfahrungen.<br />

VON ANN-KATHRIN GRITZKA<br />

Bild: Privat<br />

Bild: Unsplash<br />

Irgendwann war es so eng, dass ich mein Bett<br />

aus den zwei Wohnzimmersesseln basteln<br />

musste“, beschreibt meine Mutter Rosa die<br />

Wohnsituation ihrer Familie. Mit knapp vier<br />

Jahren zog sie von Barrafranca, einem kleinen<br />

Ort auf Sizilien, nach Worms. Was meine Familie<br />

sich durch diesen Schritt erhoffte: finanzielle<br />

Stabilität, ein besseres Leben. Sizilien war in den<br />

1950er und 1960er Jahren landwirtschaftlich geprägt.<br />

Wer kein eigenes Land besaß, verdiente<br />

sich als Tagelöhner sein Geld – so auch mein<br />

Großvater. „Es gab ja nichts anderes“, schildert<br />

meine Mutter. Eine fünfköpfige Familie ernähren<br />

konnte mein Opa damit allerdings nicht. „Irgendwann<br />

hat er die Reißleine gezogen.“ Meine Familie<br />

wanderte nach Deutschland aus. Zwei Zimmer<br />

teilten sie sich von nun an. Das Wohnzimmer<br />

wurde abends zum Schlafzimmer. „Goldig und<br />

gemütlich“, beschreibt meine Mutter die neue<br />

Wohnung, „nur zu klein für uns“, fügt sie lachend<br />

hinzu.<br />

„Deine Großeltern haben sich mit allen Gepflogenheiten<br />

des Landes vertraut gemacht.“ Sie<br />

erhielten Arbeit als Gastarbeiter:innen in einem<br />

Industriekonzern, die Kinder besuchten die Schule<br />

und den Kindergarten. Deutsch hat die Familie<br />

dort gelernt, erklärt meine Mutter. „Learning by<br />

doing durch die Gesellschaft“, nennt sie es. Es habe<br />

auch Betreuung und Hilfe durch entsprechende<br />

Ämter gegeben. Die größte Unterstützung waren<br />

jedoch andere Gastarbeiter:innenfamilien.<br />

„Es gab wie einen Verein in Worms. Daraus sind<br />

gute Freundschaften entstanden.“ Auch darüber<br />

hinaus hat sie viele Freundschaften geknüpft.<br />

„Die Kinder in unserer Gasse waren wie eine Clique.<br />

Das war die schönste Zeit.“<br />

Die Anfänge in Deutschland haben aber auch<br />

ihre Spuren hinterlassen. Zwar fehlte es den Kindern<br />

an nichts, denn sie hätten nie etwas verlangt.<br />

Doch es gab auch harte Zeiten. Mein Großvater<br />

führte häufig bis spät in die Nacht Nebenjobs<br />

aus. „Opa hat diesen großen Schritt für seine<br />

Familie gewagt und mit viel Stress, Sorgen und<br />

Ängsten gelebt“, erinnert sich meine Mutter, „das<br />

machte sein Verhalten unberechenbar.“ In manchen<br />

Momenten löste Aggressivität seine sonst<br />

liebevolle, großzügige Art ab. Für meine Oma wurde<br />

es immer belastender, Kinder, Haushalt und eine<br />

Vollzeitstelle unter einen Hut zu bekommen.<br />

Schon in jungen Jahren musste meine Mutter daher<br />

im Haushalt mit anpacken. „Für meinen kleinen<br />

Bruder war ich wie eine zweite Mama“, erzählt<br />

sie. An eine Situation erinnert sie sich besonders<br />

gut: „Eines Morgens klopfte es am Fensterladen<br />

und da standen zwei Polizisten und machten<br />

mich darauf aufmerksam, dass ich zur Schule<br />

muss.“ Eine Woche lang sei sie damals unent-<br />

schuldigt von der Schule weggeblieben, um auf<br />

ihren kleinen Bruder aufzupassen. „Das wussten<br />

Oma und Opa nicht, dass man das Kind entschuldigen<br />

muss. Woher auch?“ Heute kann sie darüber<br />

lachen. In die Schule ging meine Mutter nur,<br />

weil sie musste. Gefördert wurde sie nie. „Ich<br />

konnte nicht ahnen, dass Schule wichtig ist. Ich<br />

hatte ja keine Vorbilder“, denn mein Großvater<br />

hätte sie am liebsten zuhause gelassen. „Dein Opa<br />

war der Patriarch.“ Was er vorgab, war Gesetz.<br />

„Diese Pflichterfüllung hat mich aufgefressen“,<br />

sagt sie heute. Nur mit Mühe schloss meine Mutter<br />

die Hauptschule ab. „Wenn es nach deinem<br />

Opa gegangen wäre, hätte ich danach nichts mehr<br />

gemacht.“ Meine Mutter setze sich jedoch durch<br />

und stellte ihre eigenen Bedürfnisse voran. Trotz<br />

vieler Hürden absolvierte sie ihre Mittlere Reife<br />

und später eine Ausbildung zur Bürokauffrau. „Alles,<br />

was ich jetzt habe, habe ich mir erkämpft“,<br />

fasst sie zusammen.<br />

Trotz allem stand die Familie immer im Mittelpunkt:<br />

„Unser Zusammenhalt ist umso mehr gewachsen,<br />

eben weil wir in der Fremde waren. Wir<br />

waren eine Einheit.“ Meine Großeltern haben es<br />

geschafft, das anzunehmen, was sie hier geboten<br />

bekamen. Sie haben sich in Deutschland ein neues<br />

Leben aufgebaut. „Das war für uns eine gute<br />

Chance“, findet meine Mutter. Sie ist stolz auf ihre<br />

Eltern, dass sie diesen Schritt ins Ungewisse gewagt<br />

haben. Für sie war Deutschland immer ein<br />

Zuhause. „Ich könnte mir niemals vorstellen, woanders<br />

zu sein.“


16 FREI<br />

mediakompakt<br />

Bild: Unsplash<br />

munter mit ein. Doch in der DDR musste man<br />

heimlich auf das Westradio umschalten, um das<br />

Lied zu hören.<br />

Dies traute sich auch Rita Müller-Kochhan, bis<br />

sie von ihrem Vater dabei erwischt wurde. „Dann<br />

folgte die Gehirnwäsche. Er hörte erst damit auf,<br />

als ich es selbst glaubte“, berichtet die heute<br />

53-Jährige. „Sobald mein Vater empfand, dass ich<br />

mich nicht linientreu verhalten hatte, rief er mich<br />

in sein Zimmer.“ Zwei bis drei Stunden dauerte<br />

dann das tadelnde Gespräch. Es endete immer mit<br />

den Worten: „Sei zugeknöpft bis oben hin. Erzähl<br />

nichts von dir, man kann dich abhören. Die Partei<br />

hat immer recht.“<br />

Damit hat die gebürtige Thüringerin jedoch<br />

längst abgeschlossen. „Ich weiß bis heute nicht,<br />

ob er bei der Stasi war. Kontakt haben wir schon<br />

lange nicht mehr“, beschreibt sie. Für sie zählen<br />

die schönen Momente aus ihrer Kindheit und Jugend.<br />

„DDR-Dokus kann ich schon längst nicht<br />

mehr sehen. Ich bin nicht nostalgisch, aber oft<br />

wird alles zu einseitig dargestellt.“<br />

Aufwachsen in der DDR<br />

„Als Kind habe ich mich sicher und dankbar gefühlt.<br />

Erst als Jugendliche habe ich das System<br />

hinterfragt. Wäre die Wende nicht gekommen,<br />

dann hätte ich mich nicht genügend entfalten<br />

können“, erklärt die studierte Erzieherin. In der<br />

Schule warfen sie im Sport mit Handgranaten. Daraufhin<br />

sangen sie in Musik über den Frieden.<br />

Viele Widersprüche, viele unausgesprochene<br />

Regeln. Wörter wie „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“<br />

waren verboten, da sie vom „Klassenfeind“<br />

– dem Westen – stammten. Sagte man sie einmal,<br />

so verrieten sie: Du hast Westfernsehen geschaut.<br />

Trug man auffällige Klamotten, die einem aus<br />

dem Westen zugeschickt wurden, dann war dies<br />

Grund genug, um vom Schulleiter nach Hause geschickt<br />

zu werden.<br />

Keine Reisefreiheit, keine Meinungsfreiheit.<br />

Doch auf die Frage, durch was sie sich während<br />

der Zeit am meisten eingeschränkt fühlte, antwortet<br />

die vierfache Mutter: „Dass es so wenig gab.<br />

Aus Sorge etwas würde kaputt gehen, konnte ich<br />

vielen Hobbys nicht nachgehen. Es gab nichts<br />

zum Nachkaufen. Die Nähmaschine hätte ich gerne<br />

mal aus Spaß benutzt, aber weil keine Ersatznadeln<br />

erhältlich waren, durfte ich sie nie verwenden.“<br />

Egal ob Servietten, Knöpfe, benutzte Gläser<br />

oder Altpapier: Alles wurde wertgeschätzt, aufgehoben<br />

und einfallsreich wiederverwendet.<br />

Keine 99 Luftballons<br />

Spreewaldgurken, Stasi und<br />

gefährliche Grenzübergänge.<br />

Jeder assoziiert andere Dinge<br />

mit der DDR, aber jeder weiß:<br />

Die Freiheit fehlte. Doch wie<br />

sah das alltägliche Leben<br />

hinter der Mauer aus?<br />

VON LINDA MÜLLER<br />

Hast du etwas Zeit für mich? Dann<br />

singe ich ein Lied für dich“ – als Nena<br />

in den 80er-Jahren in „99 Luftballons“<br />

über den Kalten Krieg<br />

sang, stimmte ein Großteil der Welt<br />

Ein Stückchen Westen<br />

Ausgewählte Produkte konnte man in sogenannten<br />

„Intershops“ kaufen – sofern man Westgeld<br />

besaß. „Dort roch alles neu und besonders. Alles<br />

war bunter und schöner verpackt. Meine Sinne<br />

waren überflutet, da ich so wenig Farbe und Düfte<br />

gewohnt war.“<br />

Einmal schenkten westliche Verwandte der<br />

damals Jugendlichen etwas Geld. Davon kaufte<br />

sie mit ihrer Mutter eine Tafel Schokolade. Mit einem<br />

Lächeln erzählt die Erzieherin: „Süßigkeiten<br />

gab es selten und daher teilten wir sie über Monate<br />

auf. Doch dieses eine Mal konnten wir nicht widerstehen:<br />

Noch vor den Ausgangstüren des Ladens<br />

naschten wir die gesamte Tafel.“<br />

Bestehende Grenzen<br />

Die Gleichstellung der Frau wurde in der DDR<br />

propagiert. Jedoch begann erst nach Schichtende<br />

des Vollzeitjobs die Arbeit als Mutter und Hausfrau.<br />

„Meine Mutter ist ein Beispiel für viele Frauen<br />

in der DDR. Tag und Nacht hat sie für die Arbeit<br />

gelebt, 45 Jahre Vollzeit gearbeitet. Jetzt leidet<br />

sie unter gesundheitlichen Problemen und erhält<br />

eine so geringe Rente, dass ihr pro Woche 50 Euro<br />

zum Leben bleiben“, erläutert Müller- Kochhan.<br />

Es geht nicht nur ihr so: Nach einer Studie der<br />

Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2022 verdienen<br />

Beschäftigte in ostdeutschen Bundesländern<br />

bei gleicher Qualifikation weiterhin erheblich weniger.<br />

Die tatsächlich gezahlten Gehälter fallen<br />

im Osten um 14 Prozent niedriger aus als in Westdeutschland.


02/ 2023<br />

FREI<br />

17<br />

„Wir hörten die Hunde bellen”<br />

Was Maschinenpistolen, Micky-Maus-Hefte und ein jugoslawischer<br />

Fischer mit einer Kindheit in West-Berlin zu tun haben?<br />

Katharina Simon erzählt davon in diesem Porträt.<br />

VON IDA SIMON<br />

Es ist 1978. Der blaue VW Bulli ist voll<br />

beladen mit allem, was eine sechsköpfige<br />

Familie für den Sommerurlaub<br />

braucht. Sonnencreme, Badeanzüge,<br />

Lesestoff und Handtücher. Die damals<br />

neunjährige Katharina Simon sitzt neben ihren<br />

Geschwistern auf der Rückbank und die Vorfreude<br />

ist groß. So beginnt eine Kindheitserinnerung<br />

der heute 54-Jährigen. Sie erzählt davon, als sie<br />

danach gefragt wird, wann sie das erste Mal wahrgenommen<br />

hat, dass ihre Heimat von einer Mauer<br />

umgeben ist.<br />

Katharina Simon wird 1969 im Berliner Ortsteil<br />

Marienfelde geboren, der direkt an der Grenze<br />

zur DDR liegt. Die Mauer gehört selbstverständlich<br />

zum Stadtbild. Eine Zeit ohne diese Begrenzung<br />

kennt sie nicht, denn zum Zeitpunkt ihrer<br />

Geburt steht die Mauer schon seit acht Jahren.<br />

155 Kilometer Grenze trennen das Mädchen und<br />

mehr als zwei Millionen West-Berliner:innen vom<br />

Rest der Welt. Doch für die Bevölkerung West-Berlins<br />

war sie durch das Transitabkommen von 1971<br />

nicht mehr unüberwindbar.<br />

Ging es für die Familie damals in den Urlaub,<br />

mussten sie jedes Mal die Kontrollstelle Drei -<br />

linden überqueren. Sie erinnert sich daran, dass<br />

die Stimmung in dieser Situation immer sehr angespannt<br />

war: „Meine Eltern hatten immer Angst,<br />

dass unser VW-Bus auseinandergenommen<br />

wird.” Das Radio wurde abgestellt, die Micky-<br />

Mouse-Hefte der Brüder versteckt, Gespräche eingestellt.<br />

Die Eltern fürchteten, von den DDR-<br />

Grenzbeamt:innen herausgezogen zu werden.<br />

Dann hätten diese „das Auto tatsächlich komplett<br />

auseinander genommen, da wäre ja wirklich in jede<br />

Ritze geguckt worden.” Bei einer Durchsuchung<br />

an der Grenze sei es damals üblich gewesen,<br />

dass nicht nur Insassen und Gepäck kontrolliert<br />

wurden. Sogar die Verkleidung des Autos und<br />

die Sitzbänke hätten entfernt werden müssen, um<br />

sicherzustellen, dass keine weiteren Personen<br />

oder Schmuggelgut versteckt wurden.<br />

An der Grenze hält die Familie also den Atem<br />

an, meidet den Blickkontakt mit den mürrischen<br />

Grenzbeamt:innen. Bloß nicht provozieren. Wer<br />

durchgewinkt wurde, durfte die Transitstrecke befahren,<br />

von denen es in der DDR insgesamt vier<br />

gab. Die Familie von Katharina Simon hat Glück<br />

und darf passieren. Die Fahrt durch die DDR war<br />

dann vor allem eines: lang und monoton. Katharina<br />

Simon erinnert sich, dass von der Transitstrecke<br />

aus nicht viel zu sehen war. Von dort aus bekam<br />

man keinen Einblick in das Leben in der<br />

DDR. „Du kommst da nie durch eine Stadt durch.<br />

Es war für mich irgendwie so ein grauer Fleck. Und<br />

das, was ich wusste, war von Erwachsenen erzählt<br />

und natürlich auch eingefärbt. In diesen Erzählungen<br />

war da drüben alles schlecht.” Sogar an<br />

den Raststätten gab es separate Bereiche für die<br />

BRD-Reisenden, Kontakt zu Ostdeutschen war<br />

von Seiten der SED-Führung nicht erwünscht.<br />

Es ist auch dieser Urlaub Ende der Siebziger:<br />

Die Familie kommt in Jugoslawien mi t einem Fischer<br />

ins Gespräch, der überzeugt ist, in Berlin gäbe<br />

es keine Mauer. „Wir haben uns als Kinder darüber<br />

köstlich amüsiert. Der war so sicher. Und<br />

dass jemand auf die Idee kommt, dass um Berlin<br />

keine Mauer drum ist, das war für mich absurd.”<br />

Die Mauer spielt auch im Alltag eine aktive<br />

Rolle in Katharina Simons Kindheit, denn durch<br />

die Nähe ihres Wohnortes zur Grenze war diese<br />

für sie allgegenwärtig. Von ihrem Elternhaus bis<br />

zur Mauer waren es nicht einmal 15 Minuten, so<br />

ist sie mit ihrem Fahrrad „immer an diesem Mauerstreifen<br />

lang gefahren und da ging es halt nicht<br />

weiter.” An der Grenze selbst sei die Gefahr auch<br />

auf der Westseite spürbar gewesen. „Wir hörten<br />

die Hunde bellen. Wir haben den Stacheldraht gesehen<br />

und es war klar, da stehen Soldaten und die<br />

schießen auch. Da standen immer welche mit Maschinenpistolen.”<br />

Doch auf ihrer Seite habe sie<br />

sich sicher gefühlt, merkt Katharina Simon an.<br />

Als die Mauer fällt, ist sie 20 Jahre alt. Heute,<br />

über 30 Jahre später, sagt sie im Rückblick auf ihre<br />

Kindheit im geteilten Berlin, dass Freiheit für sie<br />

bedeutet „loslaufen zu können, ohne an eine<br />

Mauer zu stoßen. Etwas, das damals einfach nicht<br />

möglich war.”<br />

Bild: Privat


18 FREI<br />

mediakompakt<br />

Stadt. Land. Freiheit?<br />

Alle drei Minuten eine U-Bahn – ein Gefühl von Unabhängigkeit?<br />

Grüne Felder und Wiesen lassen das Herz höherschlagen?<br />

Eine Großstädterin und ein Dorfkind erzählen, warum sie sich<br />

an ihrem Wohn ort frei fühlen.<br />

VON MADDALENA FRANCO UND VANESSA LEHMANN<br />

Die Mehrheit der Menschen lebt in der<br />

Großstadt. So auch die 25-jährige Rebecca<br />

Eirich, die in Stuttgart aufgewachsen<br />

ist und derzeit dual an der<br />

DHBW Wirtschaftsingenieurwesen<br />

Facility Management studiert. „Ich würde niemals<br />

von hier wegziehen“, offenbart die Studentin. Im<br />

Interview erzählt sie, warum sie das Leben in der<br />

Großstadt liebt und wieso sie sich dort frei fühlt.<br />

Menschenmassen, Stress, Chaos – die Großstadtklischees<br />

Großstädte werden meist mit typischen Vorurteilen<br />

assoziiert: Städte sind eng, überfüllt und man<br />

hat kaum Freiräume. Aber was ist an diesen Aussagen<br />

eigentlich dran? Die Stuttgarterin erläutert ihre<br />

Ansicht: „Für viele erscheint das Leben in einer<br />

Großstadt so. Das zeigt aber nur eine Perspektive,<br />

denn trotzdem gibt es viele Freiflächen und Rückzugsorte.<br />

Wenn man raus aus dem Trubel will,<br />

kann man zu einem der vielen Parks gehen.“<br />

Rebecca Eirich liebt es zum Beispiel am Killesberg<br />

spazieren zu gehen oder auf der Wiese am<br />

Max-Eyth-See zu liegen. Auch die Homepage der<br />

Stadt Stuttgart veranschaulicht, dass fast die Hälfte<br />

der Region aus Waldflächen und Parks besteht.<br />

Somit zeigt sich, dass nicht alle Stadt-Stereotypen<br />

berechtigt sind. Großstädte haben sowohl turbulente<br />

als auch ruhige Seiten.<br />

Vielfältige Kultur- und Freizeitangebote<br />

„In Stuttgart wird es niemals langweilig“, sagt die<br />

Städterin. Museen, Theater, Schlösser, Cafés und<br />

Restaurants – die Auswahl sei so gigantisch, dass<br />

man das ganze Jahr lang jeden Tag woanders hingehen<br />

könnte. „Ich liebe die Geschwindigkeit der<br />

Stadt, den Trubel und die Vielfalt der Menschen.<br />

Die Verfügbarkeit von allem, wonach ich mich<br />

sehne. Ich fühle mich hier frei, das zu machen,<br />

worauf ich Lust habe“, ergänzt Rebecca Erich.<br />

Wer in einer Großstadt wohnt, sollte also Veränderungen<br />

lieben. Alles ist ständig im Wandel<br />

und es gibt immer wieder etwas Spannendes zu<br />

entdecken.<br />

Diverse Bildungsmöglichkeiten und hoher Arbeitsmarkt<br />

„Mich faszinieren die vielen Möglichkeiten, die<br />

mir hier zur Verfügung stehen“, äußert Rebecca<br />

Eirich. Sie hat das Gefühl, sich hier in der Stadt frei<br />

entfalten zu können, ihre Potenziale auszubauen<br />

und verschiedene Perspektiven anzustreben.<br />

Schließlich zählt Stuttgart mit seinen etlichen<br />

Hochschulen zu dem bedeutendsten Bildungsstandort<br />

in Baden-Württemberg.<br />

Typisch für eine Großstadt ist ebenso der große<br />

Arbeitsmarkt. Stadtbewohner:innen haben<br />

zahlreiche Chancen und Aussichten auf unterschiedliche<br />

Arbeitsbereiche. Die Studentin Rebecca<br />

Eirich sieht diesen Aspekt auch als zentralen<br />

Grund an, weiterhin in der Großstadt zu leben:<br />

„Die Stadt gibt mir ein sicheres Lebensgefühl, dass<br />

mir nach meinem Studium unendlich viele Optionen<br />

zu Füßen liegen werden.“ Besonders im<br />

Vergleich zum Landleben gibt es in der Stadt diverse<br />

Möglichkeiten und einen viel größeren Entfaltungsfreiraum.<br />

Bild: Pixabay<br />

Bild: Pexels/Darya Sannikova<br />

Großstädte haben eine effiziente Infrastruktur<br />

„Mir gefällt es total, dass ich zu jeder Tages- und<br />

Nachtzeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren<br />

kann. Das gibt mir ein unabhängiges freies<br />

Gefühl, dass ich zum Beispiel auch mal mittwochs<br />

nachts um drei aus dem Club nach Hause komme“,<br />

sagt die 25-jährige Stuttgarterin.<br />

S-Bahnen, U-Bahnen, Regionale Züge und<br />

Busverbindungen – urbane Räume bieten einfach<br />

ein gut ausgebautes Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln.<br />

Im Gegensatz zum Landleben ist es<br />

nicht zwingend notwendig, ein Auto zu besitzen.<br />

Auch E-Scooter, die man an jeder Ecke in der Stadt<br />

entdeckt, sind sehr praktisch und nützlich. Im Interview<br />

erzählt Rebecca Eirich, dass sie diese öfters<br />

mal für den Weg zur Uni verwendet.


02/ 2023 FREI<br />

19<br />

Bild: Gemeindeverwaltung Bad Rippoldsau<br />

Ganz anders sieht es bei Shari Schmid aus. Sie ist<br />

ein Dorfkind und lebt in einer kleinen Gemeinde<br />

im Schwarzwald, die weniger als 800 Einwohner<br />

zählt. „Wenn man keinen Führerschein hat, ist es<br />

schwierig irgendwo hinzukommen”, weiß Shari<br />

aus eigener Erfahrung. Die öffentlichen Verkehrsmittel<br />

seien in den Städten viel besser. „Bei uns<br />

fährt vielleicht alle drei Stunden mal ein Bus und<br />

der kommt auch nicht immer.“<br />

Tauschen würde die 27-Jährige trotzdem<br />

nicht: „Ich fühle mich deswegen nicht eingeschränkt.<br />

Zur Not kann ich mich immer noch aufs<br />

Fahrrad schwingen und losdüsen.” Das entschleunige,<br />

man würde die Zeit wieder mehr zu schätzen<br />

wissen.<br />

Den Wald als Nachbarn<br />

Shari ist auf dem Land aufgewachsen. „Ich fühle<br />

mich hier frei, bin glücklich”, schwärmt sie. Rund<br />

15 Prozent aller Menschen in Deutschland würden<br />

ihrer Aussage wohl zustimmen: Sie leben in<br />

Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern.<br />

Doch woran liegt es, dass sich Menschen auf dem<br />

Land frei fühlen?<br />

„Ich gehe aus der Haustüre raus, laufe keine<br />

paar Meter und bin direkt im Wald”, antwortet<br />

Shari. Auch der Schlaf sei für sie auf dem Land viel<br />

erholsamer: „Nachts hat man seine Ruhe, man<br />

kann das Fenster aufmachen, bekommt frische<br />

Luft und kann einfach gut schlafen.” Ein weiterer<br />

Pluspunkt für sie: das Gemeinschaftsgefühl. Die<br />

Anonymität, durch die sich viele Stadtmenschen<br />

erst frei fühlen, sei nichts für sie. „Das Miteinander<br />

finde ich einfach viel besser im Dorf.“ Bei einem<br />

kleinen Spaziergang durch die Ortsmitte<br />

trifft sie oft bekannte Gesichter, die für ein kurzes<br />

Gespräch anhalten. „Man ist ständig auf dem Laufenden<br />

bei uns, der Dorftratsch geht an niemandem<br />

vorbei“, verrät sie lachend.<br />

„Ich gehe aus der<br />

Haustüre raus, laufe<br />

keine paar Meter und<br />

bin direkt im Wald“<br />

Der Naturforscher und Weltreisende Alexander<br />

von Humboldt sagte einmal: „Die Natur aber<br />

ist das Reich der Freiheit.“ Auch Shari weiß, welche<br />

positiven Auswirkungen die Natur auf ihr<br />

Stresslevel hat. Laut einer Studie des Max-Planck-<br />

Instituts für Bildungsforschung aus dem Jahr<br />

2022 nimmt nach einem einstündigen Spaziergang<br />

in der Natur die Aktivität in Gehirnregionen<br />

ab, die an der Stressverarbeitung beteiligt sind.<br />

Wenn Shari in der Natur unterwegs ist, lässt sie<br />

auch ihr Handy zu Hause. Auf diese Weise kann<br />

sie sich für eine Weile von den alltäglichen Sorgen<br />

befreien und zurück zu ihren Wurzeln kommen.<br />

„Man hört nur Vögel, fühlt den Wind im Haar,<br />

das find ich schön.“ Gerade im Frühling, wenn alles<br />

blüht, zieht es Shari verstärkt in die Natur. „Die<br />

Luft, der Duft von Blumen, das ist schon toll –<br />

auch wenn man sich öfter die Nase putzen muss“,<br />

erzählt sie fröhlich.<br />

Stadtflucht als neuer Trend?<br />

Trotz der Verstädterung in Deutschland beobachten<br />

Statistiker:innen einen auffälligen Trend:<br />

Stadtflucht. Laut einer Metastudie zu Stadt-Land-<br />

Beziehungen im Auftrag der Zeit-Stiftung Ebelin<br />

und Gerd Bucerius aus dem Jahr 2021 will jede:r<br />

dritte Großstädter:in aufs Land ziehen. Kein<br />

Wunder, immerhin denken 85 Prozent der Deutschen<br />

beim Thema ländliche Regionen an Erholung,<br />

Freiheit und Natur. Für Shari ist klar: Sie<br />

möchte auf dem Land bleiben. „Meine Kinder sollen<br />

in der Natur und so unbeschwert wie möglich<br />

aufwachsen – genau wie ich.“<br />

Egal, ob Freiheit nun bedeutet, jederzeit überall<br />

hinzukommen oder absolute Stille zu genießen:<br />

Es bleibt eine Typfrage. Zum Glück kann<br />

man selbst entscheiden, ob man dafür in die Stadt<br />

oder aufs Land ziehen möchte – genau wie Rebecca<br />

Eirich und Shari Schmid.


20 FREI<br />

mediakompakt<br />

Den Job im Rucksack<br />

Die Welt entdecken, in einer Hängematte liegen und den Wellen lauschen – was für viele nach<br />

einem perfekten Urlaub klingt, war für Manuel Stamm und Simea Merki Berufsalltag. Wie ist es,<br />

als digitale Nomad:innen im Paradies zu arbeiten?<br />

VON MIRJAM VÖLKLE<br />

Bild: Manuel Stamm<br />

Ein aufgeklappter Laptop steht auf dem<br />

Tisch. Es macht „Pling“ und eine Mail<br />

trudelt in das Email-Postfach ein. Meeting<br />

in zwei Stunden. Headset und<br />

Maus liegen griffbereit daneben und<br />

weiter rechts dampft Kaffee aus einer Tasse. Ein<br />

ganz normaler Arbeitsplatz – oder nicht? Doch im<br />

Hintergrund rauschen Wellen, eine Palme spiegelt<br />

sich im Bildschirm des Laptops und die warme<br />

Brise verrät die Nähe zum Meer. Arbeitsalltag<br />

in Thailand. Das Land gilt als das weltweit beliebteste<br />

Zielland für digitale Nomad:innen.<br />

Ob von der Hängematte am Strand, dem Co-<br />

Working-Space in der Stadt oder dem Wohnzimmer<br />

des Airbnbs – digitale Nomad:innen sind<br />

Menschen, die ortsunabhängig digital arbeiten.<br />

Dabei bereisen sie die Welt. Die einzige Voraussetzung<br />

bei der Wahl des Arbeitsplatzes: Eine stabile<br />

Internetverbindung. Digitales Nomaden-Dasein<br />

kann unterschiedlich gelebt werden: Es gibt Menschen,<br />

die alle paar Wochen ihren Standort wechseln,<br />

andere haben mehrere Wohnsitze an verschiedenen<br />

Orten. Sogenannte Teilzeit-Nomad:innen<br />

haben eine Basis im Heimatland und<br />

gehen punktuell für längere Zeiträume auf Reisen.<br />

Wenn Manuel Stamm auf seine Reise zurückblickt,<br />

fällt ihm als Lieblings-Arbeitsplatz ein Café<br />

an der neuseeländischen Küste ein. „So haben wir<br />

es uns vorgestellt: Ein cooler Drink, arbeiten und<br />

Blick aufs Meer“, sagt der <strong>34</strong>-Jährige. 2018 ging<br />

Manuel Stamm mit seiner Freundin Daniela<br />

Christen für 15 Monate auf Weltreise. Währenddessen<br />

arbeitete er aus dem Homeoffice für seinen<br />

Arbeitgeber in der Schweiz weiter. Zur Reise inspirierten<br />

das Paar Erfahrungen anderer digitaler Nomad:innen<br />

im Internet. Doch zunächst stand Manuel<br />

Stamm dem Vorhaben skeptisch gegenüber:<br />

„Haben wir überall Internet? Was ist, wenn der<br />

Laptop gestohlen wird?“ Zudem sei die Arbeit aus<br />

dem Homeoffice zu diesem Zeitpunkt noch nicht<br />

etabliert gewesen. Doch beide haben Berufe, die<br />

für solch ein Projekt prädestiniert gewesen seien,<br />

erklärt der Grafikdesigner. Nach einer überraschend<br />

positiven Reaktion des Chefs kam das Paar<br />

zum Schluss, das Abenteuer zu wagen, und buchte<br />

ein Oneway-Ticket nach Neuseeland.<br />

Im Gegensatz zu Manuel Stamm ist die Mehrheit<br />

der digitalen Nomad:innen weltweit selbstständig<br />

tätig. Oft arbeiten sie im Bereich der IT,<br />

Marketing und PR, Finanzen und Buchhaltung<br />

oder bieten kreative Dienstleitungen an. Die Corona-Pandemie<br />

und die damit einhergehende<br />

Entwicklung zum mobilen Arbeiten hat dem Digitalen<br />

Nomadentum einen besonders großen<br />

Schub verliehen: Die Zahl der digitalen Nomad:innen<br />

hat sich mehr als verdreifacht. Hilfreich<br />

sind auch spezielle „Digital Nomad-Visa“,<br />

die das Arbeiten im Ausland vereinfachen. Diese<br />

gibt es weltweit in 45 Ländern. Auch die Hotelbranche<br />

geht auf die wachsende Bewegung der digitalen<br />

Nomad:innen ein. Hotelketten wie „Selina“<br />

und „Outpost“ bieten zusätzlich zu einem<br />

klassischen Hotelzimmer auch einen Co-Working-Bereich.<br />

„Für uns war es die Möglichkeit, eine<br />

Weltreise zu machen, die wir uns sonst wahrscheinlich<br />

nicht hätten leisten können“, erzählt<br />

Simea Merki. Die 23-Jährige ist gemeinsam mit ihrem<br />

Mann Joshy Merki selbstständig in der Medienbranche<br />

tätig. Das Paar war insgesamt sechs<br />

Monate unterwegs. Je nach Zeitzone passte die<br />

Schweizerin ihren Arbeitstag an und setzte sich in<br />

Nicaragua schon früh morgens an den Laptop<br />

und in Kambodscha erst gegen Mittag. Die restliche<br />

freie Zeit galt klassischen Urlaubsaktivitäten.<br />

Als Herausforderung nennt die Projektmanagerin<br />

das Trennen von Arbeit und Reise: „Wenn man<br />

zwischen den Koffern sitzend arbeitet, kommt<br />

man gar nicht richtig in den Fokus rein.“ Geholfen<br />

habe der Besuch von Co-Working-Spaces und<br />

das Einhalten von „Fokuszeiten“ – Zeit, in der sich<br />

aktiv nur auf die Arbeit konzentriert wird. „Das<br />

war für mich auch ein Durchbruch in meiner Produktivität“,<br />

reflektiert Simea Merki.<br />

Sowohl Manuel Stamm als auch Simea Merki<br />

sind heute wieder zurück in ihren Heimatorten in<br />

der Schweiz. Von der Erfahrung als „Vollzeit-Nomad:innen“<br />

ist bei beiden die Lust auf mehr solcher<br />

Reisen geblieben – jedoch nicht zwingend in<br />

diesem Ausmaß. Beide hängen nun an den klassischen<br />

Jahresurlaub ein paar Wochen „Work -<br />

ation“ ran. Simea Merki resümiert: „Es ist eine Art<br />

Wegkommen vom Alltag, ohne alles stehen und<br />

liegen lassen zu müssen.“


02/ 2023 FREI<br />

21<br />

Auf und davon!<br />

Den sicheren Job aufgeben und ein Jahr im Ausland verbringen:<br />

Elena Klausmann erzählt von ihrer Auszeit in Australien, wie<br />

diese sich auf ihre Beziehung ausgewirkt hat und wie sie sich<br />

ihre Zukunft vorstellt.<br />

VON JULIA HAAS<br />

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Kannst du kurz beschreiben, wo ich dich gerade erreiche?<br />

Nach zehn Monaten Australien sind wir vor<br />

drei Ta gen in Neuseeland gelandet. Ich sitze gerade<br />

im Flughafen Auckland und fliege in ein paar<br />

Stunden auf die Südinsel nach Christchurch. Die<br />

nächsten zwei Monate werde ich durch Neuseeland,<br />

Vietnam und Thailand reisen.<br />

Du bist aber nicht alleine unterwegs, stimmt’s?<br />

Genau, mein Freund sitzt gerade neben mir.<br />

Wir sind jetzt seit sechs Jahren zusammen und haben<br />

uns gemeinsam für diesen Schritt entschieden.<br />

Lass uns doch einmal von vorne beginnen. Wie kam es<br />

dazu, für ein Jahr ins Ausland zu ziehen?<br />

Ursprünglich wollte ich schon 2020 eine Auszeit<br />

im Ausland nehmen. Mein Job im Hotel hat<br />

mich körperlich und mental sehr herausgefordert.<br />

Ich war damit einfach nicht mehr glücklich und<br />

wusste, es muss sich etwas ändern. Durch die Pandemie<br />

haben wir es erst 2022 nach Australien geschafft.<br />

Wie schwer ist es dir gefallen, deinen Job zu kündigen?<br />

Nach sechs Jahren Hotel- und Gaststättenbranche<br />

war es einfach Zeit für eine Auszeit. Kündigen<br />

ist mir also nicht besonders schwergefallen.<br />

Warum Australien?<br />

Das Land und seine Vielfältigkeit haben mich,<br />

beziehungsweise uns, schon immer interessiert.<br />

Sei es die atemberaubende Natur, die Tierwelt<br />

oder der Lifestyle. Für einen dreiwöchigen Urlaub<br />

war es mir einfach zu weit weg und zu teuer. Also<br />

war es realistischer, für mehrere Monate dort hinzuziehen<br />

und das Land und die Kultur zu entdecken.<br />

War das Auslandsjahr vorher detailliert geplant oder<br />

wurde eher spontan entschieden, wo es als nächstes<br />

hingeht?<br />

Wir sind generell spontan, daher war das auch<br />

für die Reise geplant. Der erste Stopp war Sydney.<br />

Dort war es uns mit 15 Grad im Juli aber einfach<br />

zu kalt. Also sind wir nach ein paar Tagen Richtung<br />

Norden nach Cairns geflogen. Wenn man<br />

zehn Monate vor sich hat, macht es Sinn, spontan<br />

zu sein. Wir wussten, wir werden uns eventuell<br />

anderen Backpackern anschließen, daher wollten<br />

wir nichts im Vorhinein buchen.<br />

Gab es Momente während der letzten Monate, in denen<br />

du das Auslandsjahr bereut hast?<br />

Nein, wir haben die Entscheidung kein einziges<br />

Mal bereut. Für uns war es genau der richtige<br />

Moment, diesen Traum zu erfüllen.<br />

Kam zwischenzeitlich auch Heimweh auf?<br />

Tatsächlich nicht! Dadurch, dass wir unsere<br />

gemeinsame Wohnung in Deutschland aufgelöst<br />

haben, war unser Zuhause eh nicht mehr vorhanden.<br />

Außerdem ist mein Freund mein Zuhause<br />

und den hatte ich ja immer bei mir.<br />

Ihr seid schon lange zusammen. Wie hat sich dieser gemeinsame<br />

Schritt auf eure Beziehung ausgewirkt? Was<br />

hat sich verändert?<br />

Wir haben unsere Beziehung noch mehr gefestigt<br />

und sind beide erwachsener geworden. Es tauchen<br />

ja immer Probleme auf. Wären wir zu Hause,<br />

hätten wir uns vermutlich eher gestritten und wären<br />

uns aus dem Weg gegangen. Auf unsere Reise<br />

war das aber keine Option. Wir mussten direkt eine<br />

Lösung finden und damit umgehen können.<br />

Wenn du die vergangenen Monate in einem Wort zusammenfassen<br />

könntest, welches wäre das?<br />

Ich kann mich unmöglich auf ein Wort beschränken.<br />

Ich würde mich für „einmalig“ und<br />

„unglaublich“ entscheiden. Der Abstand von zu<br />

Hause hat mir einen neuen Blick auf meine Zukunft<br />

gegeben. Mir ist klar geworden, was ich für<br />

mein Leben möchte und was eben nicht.<br />

Was genau ist dir klar geworden? Wie stellst du dir deine<br />

Zukunft vor?<br />

Ich möchte auf jeden Fall wieder in der Hotelund<br />

Gaststättenbranche arbeiten. Wo genau, will<br />

ich entscheiden, wenn ich zurück in Deutschland<br />

bin. Ich möchte aber mehr auf meine Work-Life-<br />

Balance achten. Meine neue Arbeitsstelle soll<br />

mich nicht mehr so beanspruchen, dass keine Zeit<br />

für Privatleben und Freizeit bleibt. Außerdem haben<br />

mein Freund und ich Bouldern für uns entdeckt.<br />

Das wollen wir definitiv zuhause als gemeinsames<br />

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22 FREI<br />

mediakompakt<br />

Bild: Privat<br />

Zwischen Jetlag und Brüllaffen<br />

Hoch oben auf den Maya-Pyramiden oder tief unten am Korallenriff – da ist Freiheit. Aber wo<br />

liegen die Grenzen des Glücks, wenn Frauen allein die Welt erobern? Antonia Reichmann und<br />

Annika Ederer erzählen von ihren Reisen nach Tansania und Mexiko.<br />

VON ALEXANDRA ELLINGER<br />

Wir waren im Nirgendwo und um<br />

uns herum brannten Buschfeuer.<br />

Ich dachte sofort: ‚Ach du Scheiße,<br />

ist das heiß!‘“ Höllentrip statt<br />

Traumurlaub? Für Frauen wie die<br />

22-jährige Annika Ederer kann es allein auf Reisen<br />

besonders brenzlig werden.<br />

Laut einer Umfrage von HolidayCheck reisten<br />

42 Prozent der deutschen Frauen bereits solo. So<br />

auch die gleichaltrige Antonia Reichmann, die<br />

fünf Wochen bei einem Tauchprojekt in Tansania<br />

arbeitete. Annika Ederer schwärmt: „Dieses Reisefieber,<br />

dieses Kribbeln, dass du wegmusst – das habe<br />

ich von meinen Großeltern.“ Die Planungen<br />

für eine gemeinsame Reise nach Mexiko liefen auf<br />

Hochtouren, als ihr Großvater starb. „Meine Oma<br />

meinte, ‚Opa wollte unbedingt die Reise mit dir<br />

machen‘, und ich habe vorgeschlagen, ‚Das können<br />

wir doch machen‘.“<br />

„Ich brauchte bei so viel Kriminalität einen Rückhalt.“<br />

Interessiert sich eine Frau für eine Reise, taucht<br />

schnell die Frage nach der Sicherheit auf. Das Auswärtige<br />

Amt informiert über Reiseziele. In Tansania<br />

und Mexiko wird vor der Kriminalitätsrate gewarnt,<br />

in Mexiko auch vor Gewalt gegen Frauen.<br />

„Ich kann die Sprache nicht und ich brauchte in<br />

einem Land mit so viel Kriminalität einen Rückhalt“,<br />

begründet Annika Ederer die Entscheidung<br />

für eine Reiseleitung. Antonia Reichmann war in<br />

Tansania die meiste Zeit auf sich gestellt. Gestohlen<br />

wurden ihr die Kopfhörer – und das aus der eigenen<br />

Unterkunft. „Danach habe ich immer gewissenhaft<br />

abgeschlossen“, berichtet sie lachend.<br />

„Jeder ist froh, wenn er Arbeit findet – auch Kinder.“<br />

Kriminalität und Armut gehen Hand in Hand. Antonia<br />

Reichmann schildert den Normalzustand in<br />

Tansania: „Die meisten Menschen leben auf der<br />

Straße. Manche unter einer Plane, die sie im Müll<br />

gefunden haben. Einige haben nicht mal Kleider.<br />

Jeder ist froh, wenn er Arbeit findet – auch Kinder.“<br />

Annika Ederer sah in Mexiko neben den touristischen<br />

Regionen auch das Leben der Einheimischen:<br />

„Der Tourismus ist die einzige Geldquelle.<br />

Mit dem Bus sind wir oft durch arme Dörfer gefahren.<br />

Ich weiß nicht, was die Menschen in der Regenzeit<br />

machen. In den Häusern gibt es keine Türen<br />

oder Fenster.“<br />

„Einheimische haben mich zum Essen eingeladen.“<br />

Eine Reise ist gelungen, wenn tolle Erinnerungen<br />

bleiben. Antonia Reichmann machte in Tansania<br />

ihren Tauchschein und rettete Korallen. Sie ging<br />

auf Märkte und baute sogar an einer Lehmhütte<br />

mit. Ein Highlight war die Einladung zum Abendessen<br />

bei einer tansanischen Familie, wo sie den<br />

Maisbrei Ugali probieren durfte.<br />

Annika Ederer und ihre Oma starteten in Mexiko<br />

hingegen etwas holprig. Beide kämpften um<br />

Schlaf, die Oma mit Jetlag und die 22-jährige Studentin<br />

mit Brüllaffen: „Unser Hotel war neben<br />

dem Dschungel und die haben morgens um vier<br />

Uhr gebrüllt.“<br />

Auf der anschließenden Rundreise begeisterten<br />

sie die Ausgrabungsstätten der Maya: „Ich saß<br />

in Edzná auf den Stufen der Pyramide und alles<br />

war still. Du fühlst dich da oben ganz klein und<br />

denkst dir ‚krass‘.“<br />

Neben schönen Momenten gibt es auch Schattenseiten.<br />

„Wir sind an Buschfeuern vorbeigefahren,<br />

als wäre es das Normalste auf der Welt. Es wurde<br />

auch irgendwann normal, weil es so viele gab“,<br />

berichtet Annika Ederer.<br />

Antonia Reichmann erinnert sich an ihre Zeit<br />

in Tansania: „Man sticht natürlich hervor mit der<br />

hellen Haut. Auf Märkten kann es unangenehm<br />

sein, wenn dich Verkäufer in ihre Stände ziehen<br />

wollen. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass mir jemand<br />

etwas Böses will. Auch Frauen können allein<br />

in solche Länder reisen.“<br />

„Man sollte nichts verteufeln, was man nicht selbst<br />

ausprobiert hat.“<br />

Für viele Frauen bleibt die Frage offen: Ist eine Solo-Reise<br />

das Richtige für mich? Annika Ederer<br />

warnt vor überstürzter Begeisterung: „Man muss<br />

sich erst einmal dazu überwinden.“<br />

Antonia Reichmann rät allen reisebegeisterten<br />

Frauen: „Wenn das Interesse da ist: Unbedingt<br />

ausprobieren. Man sollte nichts verteufeln, was<br />

man nicht selbst ausprobiert hat. Am Ende ist es<br />

vielleicht ein blöd gelaufener Urlaub, aber vielleicht<br />

ist es auch der beste deines Lebens.“<br />

Tipps für Solo-Reisen<br />

1. Mit kleinen Zielen starten<br />

2. Sicherheit schaffen, etwa mit Trillerpfeife<br />

3. Plan B haben


02/ 2023 FREI<br />

23<br />

Von Bischkek nach Berlin<br />

Beim Rätseln auf die Frage „Woher kommst du?“ war Aleksandr Aleksin schon Däne, Pole und<br />

Schwede. Dass er nicht aus Deutschland kommt, macht sich an seinem Akzent bemerkbar –<br />

diesen trägt er mit Stolz. Die Antwort lautet: Kirgistan.<br />

VON LILIA PETER<br />

Aleksandr Aleksin ist in Kirgistan geboren,<br />

einem asiatischen Land mit rund<br />

sechs Millionen Einwohner:innen.<br />

Nun lebt er 6000 Kilometer entfernt<br />

mit seiner Familie in Berlin. Seine Verwandtschaft<br />

hat Ursprünge in Russland und Kirgistan,<br />

aber keine Vorfahren aus Deutschland.<br />

Wie seine Eltern ist er russischsprachig aufgewachsen.<br />

In der Schule wurde Deutsch als Fremdsprache<br />

angeboten. Flüssig sprechen konnte Aleksin<br />

es zu der Zeit nicht. Diese ersten Berührungspunkte<br />

sollten ihn aber zu seinem heutigen Leben<br />

führen: „Es hat sich so angefühlt, als wollte das<br />

Schicksal, dass ich Deutsch lerne“, erzählt der<br />

heute 44-Jährige. Als Aleksin sein Studium der<br />

Rechtswissenschaften in Bischkek, der kirgisischen<br />

Hauptstadt, antrat, hatte er erneut die Möglichkeit<br />

Deutsch zu lernen – dieses Mal in einem<br />

kleinen Intensivkurs. Damit konnte er seine<br />

Sprachkenntnisse mit dem international anerkannten<br />

Goethe-Institut-Zertifikat nachweisen.<br />

Selbst in seiner Freizeit begegnete Aleksin Menschen,<br />

die von einem utopischen Deutschland erzählten.<br />

„Das Ausland, Deutschland, war was<br />

komplett Neues“, erinnert er sich.<br />

Für Aleksin war klar: Er würde sich ein eigenes<br />

Bild von diesem „Traumland“ machen. Um einen<br />

Sommer in Deutschland verbringen zu können,<br />

hat er sich beim Deutschen Akademischen Austauschdienst<br />

(DAAD) für ein dreimonatiges Stipendium<br />

beworben. Zwei Jahre war er erfolglos,<br />

bis im Jahr 2001 die Zusage für ein einjähriges Absolventen-Stipendium<br />

kam. „Die Urkunde habe<br />

ich immer noch“, lacht er.<br />

Mit 23 Jahren verließ Aleksin sein Heimatland<br />

und lernte das deutsche Studentenleben kennen.<br />

An der Universität Bremen hatte er die Chance,<br />

ein Masterprogramm in Rechtswissenschaften für<br />

ausländische Studierende zu belegen. Deutschland<br />

war bunt, der Alltag herausfordernd. Aber<br />

nun konnte sich Aleksin mit der Sprache und dem<br />

Studentendasein vertraut machen. Noch heute<br />

begeistert er sich für die deutschen Universitätsbibliotheken.<br />

„Klar gab es in Kirgistan Bibliotheken<br />

und Bücher. Nur leider waren die meisten Bücher,<br />

die man gebraucht hat, vergriffen.“ Das Auslandsjahr<br />

endete mit einer deutschen Abschlussarbeit<br />

und einer Wahl: Entweder konnte Aleksin mit<br />

idealen Berufsaussichten nach Kirgistan zurückkehren<br />

oder in Deutschland einen Doktorgrad erlangen.<br />

Als Jurist des kirgisischen Rechts schlug er<br />

einen anderen Weg ein: das deutsche Jurastudium.<br />

Damit setzte er den Grundstein für sein neues<br />

Leben in Deutschland. Heute ist Aleksin selbstständig<br />

als Rechtsanwalt in Berlin tätig.<br />

Seit 2009 trägt der gebürtige Kirgise die deutsche<br />

Staatsbürgerschaft – Deutsch auf Papier. In<br />

der Realität balanciert er zwei Identitäten. Je nach<br />

Situation wechselt er zwischen den Sprachen. Er<br />

denkt und träumt in beiden. „Ich habe zwei Gesichter,<br />

russisch und deutsch, die miteinander<br />

sprechen.“ Seinen Kindern möchte er beides vermitteln.<br />

Sie wachsen zweisprachig auf. „Meine<br />

Frau spricht mit den Kindern auf Deutsch. Ich rede<br />

zu Hause nur auf Russisch. Meine Kinder antworten<br />

lieber auf Deutsch“, lacht der Rechtsanwalt.<br />

Für Aleksin bedeuten Sprachen neue Möglichkeiten.<br />

Sie sind „Türöffner“ im Leben.<br />

„Jede Sprache bringt uns weiter. Wenn ich die<br />

Möglichkeit hätte, die Zeit zurückzudrehen, hätte<br />

ich noch die kirgisische Sprache gelernt.“ Aleksins<br />

Lebensweg ist durch seine Mehrsprachigkeit zutiefst<br />

geprägt. Schließlich hat ihm die deutsche<br />

Sprache einen Weg nach Deutschland geebnet.<br />

Aber auch seine Muttersprache hilft ihm heute im<br />

Arbeitsalltag. Russischsprachige Mandant:innen<br />

aus aller Welt suchen nach gleichsprachigen Anwälten.<br />

Dabei betreut er sie zum deutschen Recht.<br />

So berichtet er von Situationen, in denen er in seinem<br />

Berliner Büro mit einem Iraner aus der Ukraine<br />

auf Russisch sprechen musste. Obwohl Aleksins<br />

Wurzeln in Kirgistan sind, kann er sich ein<br />

Leben dort nicht mehr vorstellen. Mittlerweile leben<br />

viele Verwandte und Freund:innen in verschiedenen<br />

Teilen Europas. Auch sie haben ein<br />

anderes Land zu ihrer Heimat gemacht. Für Aleksin<br />

ist Deutschland sein Zuhause.<br />

Bild: Privat<br />

Bild: Pexels


24 FREI<br />

mediakompakt<br />

Freiheit neu geschrieben<br />

Nicht überall ist die Meinungsfreiheit so selbstverständlich wie<br />

hier in Deutschland . Khalil Khalil, heute Redakteur beim SWR,<br />

ist 2015 von Syrien nach Deutschland geflohen. In seinem<br />

Heimatland hätte er seinen Wunschberuf als Journalist nicht<br />

frei ausüben können.<br />

VON MAX MÜLLER<br />

Journalismus lebt von Freiheit und wenn<br />

man diese Meinungsfreiheit als Journalist<br />

nicht hat, dann ergibt es auch keinen<br />

Sinn, diesen Beruf auszuüben“, betont<br />

Khalil Khalil, der heute als Redakteur für<br />

das SWR-Format Kaffee oder Tee arbeitet und unter<br />

anderem Inhalte für die Live-Sendung vorbereitet.<br />

Redaktionell und journalistisch ist Khalil<br />

noch nicht sehr lange tätig. Eigentlich wollte er<br />

schon als junger Erwachsener eine Ausbildung<br />

zum Journalisten anfangen. Doch in Syrien bot eine<br />

journalistische Ausbildung keine guten Aussichten.<br />

Das Regime unter Präsident Baschar Al-<br />

Assad kontrolliert die Medien im Land. Alle Publikationen<br />

werden auf politische Inhalte geprüft.<br />

Gerade junge Menschen haben es nicht leicht<br />

in Syrien. Seit 2011 herrscht im Land Bürgerkrieg.<br />

Die Regierung zieht dafür junge Männer ein. Wer<br />

sich weigert, als Soldat zu dienen, wird verhaftet<br />

oder erschossen. Wer sich nicht der Regierung<br />

beugt, muss fliehen.<br />

Da der Journalismus keine Option für Khalil<br />

war, entschied er sich für ein Jura-Studium. Nach<br />

erfolgreichem Abschluss des Bachelors, fing der<br />

heutige Redakteur einen Master an. Der Krieg war<br />

damals bereits im vollen Gange. Im zweiten Jahr<br />

des Masterstudiums verschärften sich die Zustände<br />

in Syrien weiter. Wie vielen Studierenden, wurden<br />

auch Khalil jegliche Recherchearbeiten verboten.<br />

Als junger Mann wurde er zudem von der<br />

Regierung verfolgt. Khalil entschied sich, das<br />

Land zu verlassen und nach Deutschland zu<br />

flüchten. Von seiner Flucht 2015 erzählt er heute<br />

nicht mehr gerne.<br />

„Es ist zwar schön darüber zu erzählen, aber du<br />

kommst zu einem Punkt, an dem du denkst, ich<br />

will mich einfach von diesem Begriff ‚Flüchtling‘<br />

befreien. Du willst die Vergangenheit hinter dir<br />

lassen, das verarbeiten und neu anfangen.“<br />

Seine Familie blieb in Syrien zurück. Den Kontakt<br />

zu ihnen konnte Khalil halten, allerdings nur<br />

sehr unregelmäßig. Strom und Telefonnetz fallen<br />

in vielen Teilen Syriens immer wieder über längere<br />

Zeit aus. Durch die Erdbeben Anfang Februar<br />

diesen Jahres wurde die Lebenssituation in vielen<br />

Orten noch schlechter. In Kriegsgebieten bekamen<br />

die Menschen kaum Hilfe von außerhalb.<br />

Khalil arbeitete sich in Deutschland hoch zum Redakteur.<br />

Anfangs wäre eine berufliche Tätigkeit<br />

als Jurist oder Journalist aufgrund der Sprachbarriere<br />

schwer gewesen. Beim SWR fing er deshalb<br />

eine Ausbildung als Mediengestalter an. Damit<br />

hat er sich aber nicht zufriedengegeben und sich<br />

weiter qualifiziert. Die Sprachbarriere hat Khalil<br />

überwunden. Er gibt jetzt sogar Nachhilfe in deutscher<br />

Sprache sowie im schwäbischen und badischen<br />

Dialekt.<br />

Als nun freier Journalist mit syrischem Hintergrund<br />

nimmt Khalil viele Rechte und Begebenheiten<br />

in Deutschland ganz besonders wahr. „In<br />

Deutschland sagt man‚ ‚die Gedanken sind frei,<br />

wer kann sie erraten?‘. Bei uns war es, ‚die Wände<br />

haben Ohren‘.“ Für Querdenker:innen und andere<br />

Verschwörungstheoretiker:innen in Deutschland<br />

hat er nur wenig Verständnis. Was sie über<br />

die deutsche Regierung behaupten, hat Khalil tatsächlich<br />

erlebt: „Leute, wenn ihr in einer Diktatur<br />

wärt, wärt ihr schon lange weggesperrt. Allein<br />

dass ihr das öffentlich sagt, zeigt, ihr seid nicht in<br />

einer Diktatur.“<br />

Neben seiner Karriere beim SWR half Khalil<br />

jahrelang bei der Aufklärung über Flucht und Integration<br />

an Schulen. Vor kurzem absolvierte er<br />

einen Master in Medienrecht. Die Entscheidung<br />

sein Heimatland zu verlassen, bereut er nicht. Mit<br />

seinen Artikeln und Vorträgen konnte er bereits<br />

viele Menschen inspirieren. Khalil hat sich nicht<br />

aufhalten oder beirren lassen und kann heute seinen<br />

Traumberuf frei ausüben.<br />

Bild: Pexels/Darya Sannikova<br />

Bild: Privat


02/ 2023<br />

FREI<br />

25<br />

„Ich kann nicht nicht kreativ sein“<br />

Bilder: Unsplash<br />

Freiheit durch Kunst hat nicht nur eine politische Bedeutung,<br />

sondern auch eine ganz persönliche. Musikstudent Dennis<br />

Schlienz und Hobby-Schriftstellerin Inka Riedel berichten,<br />

was ihre Kunst für sie bedeutet und wie sich das auf ihr Leben<br />

auswirkt.<br />

VON ANNIKA REGBER<br />

Es fühlt sich manchmal so an, als ob ich<br />

es machen muss, weil ich es nicht<br />

nicht machen kann”, sagt Inka Riedel<br />

auf die Frage, was Freiheit durch Kunst<br />

für sie bedeutet. Es ist wie ein Drang,<br />

etwas Kreatives zu machen, den sie nicht ignorieren<br />

kann. „Wenn ich es eine lange Zeit nicht mache,<br />

dann fehlt es mir extrem.” Vor allem neben<br />

dem analytischen Umfeld ihres Physikstudiums<br />

ist das Eintauchen in andere Welten, die sie selbst<br />

so kreieren kann wie sie möchte, sehr befreiend.<br />

Sie kann sich nahezu problemlos in den kreativen<br />

Prozess fallen lassen und stundenlang darin versinken.<br />

Ganz im Gegenteil zu Rechenaufgaben<br />

oder Protokollen, die sie für ihr Studium erledigen<br />

muss.<br />

Für Dennis Schlienz entsteht wahre Kunst erst<br />

dann, wenn individuelle Ideen und Gefühle dazukommen.<br />

In seinem Studium wird Musik meist<br />

nur möglichst perfekt reproduziert. Von Musiker:innen<br />

wird heutzutage oft eine entsprechende<br />

fachliche Ausbildung erwartet. Das ist für Dennis<br />

Schlienz unverständlich. Für ihn und viele seiner<br />

Kommiliton:innen ist der Fokus auf Noten im Studium<br />

nicht mit künstlerischer Freiheit zu vereinbaren.<br />

„Die besten Stücke haben wir angetrunken<br />

auf irgendwelchen Festen gesungen”, erinnert<br />

sich der Musikstudent. Erst durch den Spaß und<br />

die Freiheit beim Musizieren entstehen für ihn die<br />

Gänsehaut-Momente, die Musik so besonders machen.<br />

Er schätzt die Kompetenzen, die er im Studium<br />

erlernt hat. Dennoch ist er der Meinung, dass<br />

ein Kunststudium niemandem tatsächlich dabei<br />

hilft, erfolgreich zu werden. Paul McCartney kann<br />

beispielsweise keine Noten lesen und die anderen<br />

Mitglieder der Beatles konnten es auch nicht.<br />

Künstler:innen und ihre Werke werden häufig<br />

von anderen Menschen mystifiziert und dadurch<br />

an eine höhere Position außerhalb der Gesellschaft<br />

gestellt. Viele ignorieren schlichtweg die<br />

harte und langwierige Arbeit, die von Künstler:innen<br />

geleistet wird. Für den kreativen Prozess ist<br />

nach Musikwissenschaftlerin Claudia Bullerjahn<br />

die intrinsische Motivation von Bedeutung. Diese<br />

ist ein innerer Antrieb, der ohne äußere Einflüsse<br />

entsteht. Dem gegenüber steht die extrinsische<br />

Motivation, also der Antrieb durch äußere Reize<br />

wie Belohnungen oder Vermeiden von Strafen.<br />

Extrinsische Motivation kann der Kreativität<br />

in vielen Fällen schaden, da die Aufmerksamkeit<br />

zwischen den äußeren Zielen und der kreativen<br />

Aufgabe geteilt werden muss. Für Inka Riedel ist<br />

Kunst – ob Schreiben, Malen oder Musik – ausschließlich<br />

ein Hobby. Sie hat dafür keine externen<br />

Antriebe, außer die Anzahl der Leser:innen<br />

ihrer Geschichten zu steigern. Aber davon lässt sie<br />

nicht wirklich beeinflussen, was sie schreiben<br />

will. „Wenn du selber nicht zufrieden bist mit<br />

dem, was du machst, dann ist extrinsische Motivation<br />

eh wertlos.” Seit sie angefangen hat, nur<br />

das zu schreiben, was sie will, fällt es ihr deutlich<br />

leichter. Der einzige Druck beim kreativen Schreiben<br />

stammt von ihrem eigenen Perfektionismus.<br />

Damit kommt sie aber durch den Spaß an der Sache<br />

und ihre starke innere Motivation für ihr<br />

Hobby gut klar.<br />

Dennis Schlienz schätzt die intrinsische Motivation<br />

auch sehr hoch. Er erkennt zwar den Mehrwert,<br />

den er durch externe Inspirationen und Anregungen<br />

im Studium erhält. „Aber im Endeffekt<br />

bist du die Quelle, die diese Kunst schaffen kann.<br />

Du kannst das nur zu 100 Prozent schaffen, wenn<br />

es zu 100 Prozent von dir kommt.”<br />

Wie die beiden Interviewpartner:innen aufgezeigt<br />

haben, ist eine starke intrinsische Motivation<br />

gerade für kreative Projekte sehr wichtig. Äußere<br />

Einflüsse können helfen, Menschen das erste<br />

Mal auf eine kreative Aufgabe aufmerksam zu machen<br />

und Inspiration zu liefern.<br />

Dennoch ist für das tatsächliche Erzeugen von<br />

Kunst ein innerer Antrieb nötig. Wenn alles richtig<br />

zusammenspielt, können sich Künstler:innen<br />

durch ihre eigenen Kreationen Freiheit schaffen<br />

und so ihr Leben bereichern.


26 FREI<br />

mediakompakt<br />

Vom Hörsaal zum Business<br />

Für junge Menschen wirkt die<br />

Idee der Unternehmensgründung<br />

oft abschreckend. Doch<br />

was passiert, wenn man diesen<br />

Schritt wagt?<br />

Eine der Gründer:innen des KI<br />

Start-ups AdaLab berichtet<br />

über ihren Alltag als junge Unternehmerin.<br />

VON MEIKE GREES<br />

Ein Altbau im Herzen Hamburgs, fünfter<br />

Stock: Hier befindet sich das Hauptquartier<br />

von AdaLab. Auf den ersten<br />

Blick ein Büroraum wie jeder andere,<br />

fünf Schreibtische mit Bildschirmen,<br />

Kabelsalat. AdaLab ist aber kein beliebiges Startup.<br />

Das Hauptprodukt ist ein KI-Modell, mit dem<br />

automatisch Musikvideos generiert werden können.<br />

Mit dem entstandenen Tool kann zu einem<br />

Musikstück ein Video mit bestimmten visuellen<br />

Vorgaben ausgespielt werden. Alle Mitarbeitenden<br />

sind unter 35 Jahren, auch die drei Gründungsmitglieder<br />

Pia Čuk, Anton Wiehe und Florian<br />

Woeste.<br />

Čuk ist seit vier Jahren Wahlhamburgerin und<br />

hat ihren Master in Intelligent Adaptive Systems<br />

an der dortigen Universität im Jahr 2022 als Jahrgangsbeste<br />

abgeschlossen. Ihre beiden Gründungskollegen<br />

von AdaLab hat die 25-Jährige bereits<br />

während des Masterstudiums kennengelernt.<br />

„Anton und Florian haben schon ein Jahr vorher<br />

angefangen und hatten den Traum von der eigenen<br />

Firma zuerst. Die beiden haben mich dann<br />

so ein bisschen angeworben“, erzählt Čuk. So entstand<br />

die eigentliche Idee, dass Unternehmensgründung<br />

eine machbare Option für sie sein<br />

könnte.<br />

Auf die Frage, wie es sich anfühlt, als junge<br />

Frau in einem männlich dominierten Feld zu arbeiten,<br />

muss sie schmunzeln. „Man gewöhnt sich<br />

schon während des Studiums im naturwissenschaftlich-technischen<br />

Bereich daran, immer in<br />

der Unterzahl zu sein.“ Sie habe gelernt, sich davon<br />

nicht einschüchtern zu lassen. „Wenn dann<br />

aber ein männlicher Kunde mir erklären will, wie<br />

mein Job geht und der Satz schon mit ‚Du als Frau<br />

…‘ losgeht, bin ich raus.“ Glücklicherweise stärken<br />

Čuks Teammitglieder ihr in solchen Situationen<br />

den Rücken und es wird eine gemeinsame Lösung<br />

für den Umgang gefunden.<br />

Die größte Herausforderung am Start-up-Alltag<br />

ist für Čuk die schlechte Planbarkeit. „Teilweise<br />

weiß ich nicht mal, was ich nächste Woche machen<br />

werde. Gleichzeitig ist der Moment, wo mir<br />

die Zeit ausgeht, der Moment, an dem das Unternehmen<br />

bankrott ist. Unsere Zeit ist unser größtes<br />

Kapital. Das war besonders am Anfang gewöhnungsbedürftig“,<br />

sagt die Informatikerin. Nachdem<br />

AdaLab seit inzwischen drei Jahren läuft, habe<br />

aber alles schon mehr Routine. „Du lernst mit<br />

der Zeit, dass sich viele deiner Sorgen einfach von<br />

allein erledigen“, erklärt Čuk.<br />

Im Gespräch wird auch schnell klar, dass die<br />

positiven Seiten des selbstständigen Daseins deutlich<br />

überwiegen. Die Freiheit, nach eigenem besten<br />

Wissen und Gewissen Entscheidungen zu treffen<br />

„ist wirklich das coolste daran“, berichtet Čuk<br />

über ihren Alltag. Man sei eben nicht seinem Arbeitgeber<br />

verpflichtet, sondern könne das tun,<br />

was man persönlich für richtig halte.<br />

Auch zu sehen, wie viele Menschen tatsächlich<br />

praktischen Bedarf für das selbst entwickelte<br />

Produkt haben, sei sehr erfüllend. Gerade kleinere<br />

Künstler, die bisher ihre Musik ohne visuelle Unterstützung<br />

veröffentlicht hatten, profitieren von<br />

AdaLabs Musikvideo-Tool. „Für echte Menschen<br />

zu entwickeln ist definitiv das, was mir an meinem<br />

Job am meisten Spaß macht. Es ist so schön<br />

zu sehen, wenn dafür dann positive Rückmeldungen<br />

kommen.“<br />

Für alle, die jetzt auf den Geschmack des eigenen<br />

Unternehmens gekommen sind, hat Čuk<br />

noch einige Tipps zum Gründen. „Einfach probieren,<br />

denn es wird nie den richtigen Moment geben,<br />

wo du alles weißt und gleichzeitig kein Risiko<br />

und keine Verantwortung hast.“ Es helfe enorm,<br />

das Thema Gründung nicht als lebensentscheidende<br />

Aufgabe zu sehen.<br />

Trotzdem sei es auch wichtig, sich bewusst zu<br />

sein, dass gerade am Anfang viele Fehler passieren.<br />

Wenn man aber bereit ist, aus diesen zu lernen,<br />

daran zu wachsen und den Lernprozess anzunehmen,<br />

ist die eigene Firma zu gründen ein<br />

Prozess, der einen persönlich und professionell<br />

nur bereichert.<br />

Namensgeberin von AdaLab<br />

Bild: AdaLab<br />

AdaLab ist nach Ada Lovelace benannt. Sie<br />

war eine britische Mathematikerin, die als<br />

erste Programmiererin der Welt gilt. Lovelace<br />

war an der Entwicklung eines Vorläufers des<br />

modernen Computers beteiligt und schrieb<br />

den ersten Algorithmus für eine Maschine.


02/ 2023 FREI<br />

27<br />

Bild: Unsplash<br />

Geld regiert die Welt<br />

Reisen, ein Auslandssemester oder einer Geschäftsidee nachgehen. Alles Freiheiten und jede<br />

davon benötigt dasselbe – Geld. Wie stehen Freiheit und Geld zueinander? Und was, wenn man<br />

keines hat?<br />

VON JULIAN SILLER<br />

Die Welt hat eine Pandemie hinter<br />

sich gebracht. Kurz darauf folgt der<br />

Krieg in der Ukraine. In Deutschland<br />

schießen die Energiepreise in bisher<br />

nicht gekannte Höhen. Die Inflation<br />

steigt, Wohnungsmieten sind hoch. Lebensmittelpreise<br />

kennen nur eine Richtung – nach oben.<br />

Trotz Energiepreispauschale und staatlicher Hilfen<br />

sind viele Bundesbürger:innen an ihrem finanziellen<br />

Limit angekommen. Laut ARD-<br />

Deutschlandtrend gaben im Herbst 2022 57 Prozent<br />

an, dass sie Sorge haben ihre Rechnungen<br />

nicht mehr bezahlen zu können.<br />

„Geld schafft Möglichkeiten. Das gilt im privaten,<br />

wie im geschäftlichen Bereich“, erklärt Timo<br />

Breig, studierter Bankbetriebswirt und Kundenberater<br />

bei einer Sparkasse. „Daneben schafft es Zukunft<br />

und eine realistische Vorstellung sein Leben<br />

so zu gestalten, wie man das möchte. Es lässt Geschäfte<br />

und Arbeitsplätze entstehen. Im Optimalfall<br />

hilft Geld dem Fortkommen einer Gesellschaft,“<br />

ergänzt er.<br />

Klingt erst einmal gut. Geld wird investiert<br />

und soll so neue Arbeitsplätze und innovative<br />

Produkte schaffen. Allerdings zeigt laut einer aktuellen<br />

Studie der Hans-Böckler-Stiftung, dass<br />

trotz hoher Gewinne vieler Konzerne in Deutschland,<br />

die <strong>Ausgabe</strong>n für Investitionen bei weitem<br />

nicht im selben Maße mitgestiegen sind. Ebenfalls<br />

geht aus der Studie hervor, dass Gewinne und Investitionen<br />

mittlerweile stark entkoppelt seien.<br />

Die Gewinne werden auf Investoren verteilt, die<br />

Mehrheit der Bevölkerung schaue ins Leere.<br />

Das wirkt sich mittlerweile aus. Laut dem<br />

Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung<br />

(DIW) und deren Chef Marcel Fratzscher haben<br />

40 Prozent der Deutschen keinerlei Rücklagen.<br />

Das gesamte Geld werde für das monatliche Auskommen<br />

benötigt. In Europa sieht die Lage nicht<br />

besser aus. 49 Prozent aller Europäer:innen geben<br />

an, dass sie ihre Rechnungen nicht mehr fristgerecht<br />

bezahlen können. Auf Luxus, wie Urlaub<br />

wird von vielen mittlerweile verzichtet.<br />

Auf die Frage, ob es für junge Generationen<br />

schwieriger geworden ist, sich etwas aufzubauen,<br />

antwortet Breig: „Es ist schon so, dass es ohne finanziellen<br />

Background, wie beispielsweise aus<br />

dem Elternhaus, nicht einfach ist.“ Er fügt an,<br />

dass sich Lebensrealitäten auch verschoben hätten.<br />

„Damals ist man früher ins Berufsleben gestartet<br />

und zusammengezogen als heute. Viele<br />

Kosten konnten somit früh auf zwei Schultern<br />

verteilt werden.“<br />

Ein Problem, was er sehe, sei, dass bei vielen<br />

das langfristige Denken in Bezug auf Geld fehle<br />

und Prioritäten falsch gesetzt werden. Der Banker<br />

erzählt: „Was ich immer wieder mitbekomme ist,<br />

dass viele Leute nicht mal wissen, dass sie einen<br />

monatlichen Kredit bedienen oder wie hoch ihre<br />

<strong>Ausgabe</strong>n tatsächlich sind. Der Fernseher und der<br />

Thermomix, den ich auf Raten bei Mediamarkt<br />

kaufe, ist auch ein Kredit.“ Ein Darlehen sei immer<br />

ein stückweit Abhängigkeit und somit auch<br />

Unfreiheit. Oftmals fehle den Leuten eine finanzielle<br />

Bildung, die zu falschen Entscheidungen<br />

führe, setzt er fort.<br />

Reichtum und damit verbundene Privilegien<br />

werden in Deutschland vererbt. Armut ebenfalls.<br />

Wer aus einem schwierigen finanziellen Umfeld<br />

stammt, wird es schwer haben sich daraus zu lösen.<br />

Die Wahrscheinlichkeit, dass der Weg in der<br />

Armut fortgesetzt wird, ist hoch.<br />

Wer arm ist, werde oftmals diskriminiert, sagt<br />

Breig. Das fange als Kind in der Schule an. „Man<br />

hat weniger Freunde und ein kleineres soziales<br />

Umfeld. Die Bildung ist schlechter und es wird auf<br />

Dauer extrem schwer den gesellschaftlichen Anschluss<br />

zu halten.“ Hinzu käme, dass man ohne<br />

Geld viel schwerer einen Kredit erhalte, um sich<br />

etwas aufzubauen. Von freier Entfaltung könne<br />

hier dann keine Rede mehr sein.<br />

Auch wenn die Lage aktuell schwierig ist, sollte<br />

man nicht verzweifeln, denn, ermutigt Breig:<br />

„Der größte Hebel in Bezug auf Geld ist man<br />

selbst. Insbesondere Bildung ermöglicht ein finanzielles<br />

Fortkommen und es ist etwas, das einem<br />

nicht weggenommen werden kann.“


28 FREI<br />

mediakompakt<br />

Unperfekt? Perfekt!<br />

Da bin ich perfektionistisch. Diesen Satz hat vermutlich<br />

jeder schon mal gehört oder selbst gedacht. Doch was steckt<br />

eigentlich dahinter: Eine einfache Floskel oder eine große<br />

Belastung, die viel Zeit und Anstrengung kostet?<br />

VON SELINA OPP<br />

Bild: Unsplash<br />

Schnell eine Abgabe für die Universität<br />

erledigen, bei der Arbeit kurz eine<br />

wichtige E-Mail schreiben und zwischendrin<br />

noch das Geburtstagsgeschenk<br />

für eine Freundin basteln. Nebenher<br />

klingelt das Telefon, die Kaffeetasse ist leer<br />

und es warten noch 20 weitere To-Dos. Man sitzt<br />

vor seiner Aufgabe und gibt sein Bestes, doch für<br />

das eigene Empfinden ist nichts gut genug. Man<br />

ist einfach nicht zufrieden. Es ist nicht perfekt. Es<br />

nimmt immer mehr Zeit in Anspruch, doch man<br />

kommt nicht voran. Einfach loslassen und die<br />

Aufgabe als erledigt ansehen, ist keine Option. Es<br />

muss wenigstens annähernd perfekt werden.<br />

Der Begriff Perfektionismus wird im Allgemeinen<br />

oft dafür verwendet, dass die eigenen Ziele<br />

sehr hoch gesteckt<br />

sind und hohe Ansprüche<br />

an sich<br />

selbst gelten. Die<br />

Dinge sollen so gut<br />

wie nur möglich erledigt<br />

werden, am<br />

besten perfekt. „Immer<br />

besser sein wollen<br />

als notwendig“, gibt eine der 16 Befragten in<br />

einer anonymen Mediakompakt-Umfrage an. „Bis<br />

ins kleinste Detail alles perfekt machen zu wollen,<br />

auch wenn es vielleicht übertrieben ist und keine<br />

nennenswerte Verbesserung hervorbringt“, antwortet<br />

eine Interviewte auf die Frage, was Perfektionismus<br />

für sie bedeutet.<br />

Laut dem Duden bedeutet das Wort Perfektionismus<br />

das übertriebene Streben nach Perfektion.<br />

Perfektionistisch zu sein kann Vorteile haben, wie<br />

zum Beispiel das Erbringen von sehr guten Leistungen<br />

und erfolgreich zu sein. Allerdings gibt es<br />

auch viele Nachteile, die einen starken Leistungsdruck,<br />

die Angst vor dem Versagen, ein schnelles<br />

Gefühl von Unzufriedenheit und viel Stress mit<br />

sich bringen können.<br />

Die Mediakompakt-Umfrage hat ergeben, dass<br />

die 16 Teilnehmer:innen vor allem bei den Aufgaben<br />

und Tätigkeiten im Studium perfektionistisch<br />

sind. „Dass man bewertet wird, erhöht den<br />

Druck“, stellt eine der Befragten fest. Auch bei der<br />

Arbeit, bei kreativen Aufgaben und Hobbys und<br />

bei Selbstgemachtem, wie zum Beispiel Geschenken,<br />

sind einige der Teilnehmenden perfektionistisch.<br />

Von den 16 Teilnehmer:innen geben 13 an,<br />

dass sie sich durch ihren Perfektionismus manchmal<br />

eingeschränkt oder belastet fühlen. Auf die<br />

Frage, inwiefern sie sich so fühlen, antworten die<br />

meisten, dass ihr Perfektionismus sie viel Zeit kostet.<br />

„Manchmal beginnt man die Dinge aufzuschieben“,<br />

sagt eine der Befragten, „weil sie im<br />

Kopf schwieriger und ausführlicher scheinen, als<br />

sie eigentlich sind.“<br />

Das wird bestätigt durch die Aussage einer anderen<br />

Teilnehmerin, die sich in ihrer Produktivität<br />

gehindert fühle, da sie manche Aufgaben aufgrund<br />

ihrer hohen Erwartungen gar nicht starte.<br />

Einige der Teilnehmenden sagen, dass sie sich<br />

manchmal unnötig gestresst fühlen. „Ich setze<br />

mich selbst stark unter Druck, um zu leisten und<br />

andere denken ich würde übertreiben“, antwortet<br />

eine andere Teilnehmerin. Zudem berichtet eine<br />

Befragte von einem leidenden Selbstwertgefühl.<br />

Es gibt einige Tricks und Wege, um gegen den<br />

eigenen Perfektionismus anzukommen. Manchmal<br />

hilft es schon,<br />

„Ich setze mich selbst<br />

stark unter Druck, um zu<br />

leisten und andere denken<br />

ich würde übertreiben“<br />

sich<br />

klarzumachen,<br />

dass kein Mensch auf<br />

dieser Welt perfekt<br />

ist. Aber: Perfektionismus<br />

kann krank<br />

machen. Das bestätigt<br />

die Psychologin<br />

Christine Altstötter-<br />

Gleich. Wenn das Streben nach der Perfektion zu<br />

groß werde, dann könne es zu Depressionen, einem<br />

Burn-out oder zu sozialen Ängsten kommen.<br />

Deswegen sei es wichtig, sich bei zu großer Belastung<br />

professionelle Hilfe zu suchen.<br />

Sechs Tipps, um perfekt<br />

unperfekt zu werden:<br />

1. Einfach anfangen und nicht zu lange<br />

überlegen und alles komplizierter machen,<br />

als es ist.<br />

2. Keine Angst davor haben, Fehler zu machen<br />

oder zu scheitern.<br />

3. Sich selbst nicht zu hart bewerten und<br />

liebevoll mit sich umgehen.<br />

4. Nicht mit anderen vergleichen.<br />

5. Versuchen loszulassen und auf sich selbst<br />

zu vertrauen.<br />

6. Das große Ganze betrachten und sich<br />

nicht in Kleinigkeiten und Details verlieren.


02/ 2023 FREI<br />

29<br />

Dinge, die schon damals hätten psychologisch behandelt<br />

werden müssen. Er versuchte, die Erlebnisse<br />

seiner Kindheit mit Alkohol zu verdrängen<br />

und dadurch wurde er immer aggressiver. Sein<br />

Verhalten ist natürlich nicht zu entschuldigen, jedoch<br />

habe ich ihn durch seine Vergangenheit immer<br />

in Schutz genommen.<br />

Hast du mit dem Gedanken gespielt, ihn zu verlassen?<br />

Ich habe oft mit dem Gedanken gespielt, jedoch<br />

habe ich mich nicht getraut.<br />

Warum nicht?<br />

Ich wäre ganz alleine mit meinen Kindern gewesen<br />

und zum damaligen Zeitpunkt waren Scheidungen<br />

so gut wie unmöglich. Sie wurden nicht<br />

gern von der Gesellschaft gesehen und mein Elternhaus<br />

stand ebenfalls nicht hinter mir. Als ich<br />

wieder schwanger wurde und wir unser Eigenheim<br />

planten, verlor ich diesen Gedanken auch<br />

schnell wieder.<br />

Bild: pixabay<br />

Hast du dich irgendwann an die Umstände gewöhnt?<br />

Nach so vielen Höhen und Tiefen gewöhnt man<br />

sich an die Situation und es besteht auch eine gewisse<br />

Abhängigkeit. Ich musste oft den Schein<br />

wahren, da Außenstehende nicht mitbekommen<br />

sollten, wie es eigentlich in unserer Ehe aussah.<br />

Es war meine Pflicht<br />

zu bleiben<br />

Eine Liebe fürs Leben zu finden und eine Familie zu gründen war<br />

der größte Wunsch meiner Großmutter Gisela Nemet. Doch ihr<br />

Traum wurde schnell zum Albtraum, da man sich 1956 noch<br />

nicht so einfach scheiden lassen konnte.<br />

VON NADINE WEICKERT<br />

Wurde es im Laufe der Jahre besser?<br />

Nachdem wir unser Eigenheim bezogen hatten<br />

und unser drittes Kind geboren wurde, verbesserte<br />

sich unsere Ehe.<br />

Wie geht es dir jetzt ohne ihn?<br />

Auch wenn es nicht immer leicht für mich war,<br />

gab es auch schöne Zeiten und nach 56 Jahren<br />

Ehe vermisst man seinen Partner. Ich habe aber<br />

auch gelernt, ohne einen Partner an meiner Seite<br />

das Leben zu genießen. Als alte Frau mit 87 Jahren<br />

brauche ich jetzt auch keinen Mann mehr an meiner<br />

Seite.<br />

Wie lange wart Ihr verheiratet?<br />

Wir waren 56 Jahre verheiratet, bis mein Mann<br />

2012 verstarb.<br />

War es eine Hochzeit aus Liebe?<br />

Wir haben uns beim Tanzen kennengelernt und<br />

ich wusste, dass er der Mann ist, mit dem ich mir<br />

meine Zukunft vorstellen konnte. Trotz der Vorurteile<br />

seitens meines Elternhauses haben wir<br />

1956 geheiratet.<br />

Was gab es denn für ein Problem?<br />

Meine Eltern waren von Anfang an gegen meinen<br />

Mann, sie wollten einen reichen Bauern an meiner<br />

Seite sehen, da sie selbst einen landwirtschaftlichen<br />

Betrieb hatten. Ein weiteres Problem war,<br />

dass sie nicht wollten, dass ich mit meinem Mann<br />

wegziehe. Zum damaligen Zeitpunkt war es sehr<br />

schwer, eine Wohnung zu finden und wir mussten<br />

bei meinen Schwiegereltern in die Wohnung<br />

ziehen. Wir lebten dort mit vier weiteren Personen<br />

und unserem ersten Kind auf engstem Raum,<br />

was nicht sehr förderlich für unsere Ehe war.<br />

Schon nach kürzester Zeit fingen die ersten Streitigkeiten<br />

an. Als wir endlich nach vier Jahren eine<br />

neue Wohnung für unsere kleine Familie gefunden<br />

hatten, dachte ich, die Probleme werden weniger<br />

– doch sie wurden eher immer schlimmer.<br />

Mein Mann traf sich jeden Abend nach der Arbeit<br />

mit Freunden zum Kartenspielen in einer Gaststätte<br />

und kam erst spät in der Nacht zurück. Sein<br />

Verhalten hatte mich sehr verletzt, da ich mich<br />

völlig überfordert mit einem Kleinkind fühlte und<br />

selbst berufstätig war. Die Situation spitzte sich<br />

immer mehr zu, bis er mir gegenüber das erste Mal<br />

handgreiflich wurde.<br />

Inwiefern?<br />

Ich kann mir sein aggressives Verhalten nur damit<br />

erklären, dass er als Kind als Volksdeutscher damals<br />

in einem jugoslawischen Vernichtungslager<br />

aufgewachsen ist. Dort erlebte er die schlimmsten<br />

Bild: Privat


30 FREI<br />

mediakompakt<br />

Anstoß<br />

ins Leben<br />

„Ich mach‘ mir die Welt, widde<br />

widde wie sie mir gefällt.“<br />

Das Lied der berühmten Pippi<br />

Langstrumpf kennt vermutlich<br />

jeder. Wie Kinder ihre Welt<br />

tatsächlich gestalten und wie<br />

sie dabei unterstützt werden,<br />

erklärt die Erzieherin Olivia<br />

Maurer.<br />

VON SARAH JANZEN<br />

Bild: Arekt Socha/Pixabay<br />

Im Kindergarten herrscht reges Treiben. Die<br />

eine Gruppe von Kindern tobt über die Wiese.<br />

Die andere macht ein wildes Wettrennen<br />

mit ihren Bobbycars. „Wenn die Kinder so<br />

fröhlich und unbedacht spielen, verzichten<br />

wir öfter mal auf das Zusammenkommen im<br />

Stuhlkreis“, sagt die pädagogische Fachkraft Olivia<br />

Maurer. „Für uns steht bedürfnis- und interessenorientiertes<br />

Arbeiten an erster Stelle. Die Kinder<br />

dürfen ihren Alltag weitgehend selbst gestalten,<br />

selbstwirksam werden. Dabei unterstützen<br />

wir sie.“<br />

Den Kindern wird der Freiraum gegeben, den<br />

sie brauchen, um Neues zu entdecken, sich auszuprobieren<br />

und persönlich weiterzuentwickeln.<br />

Dazu haben sie vor allem in der Freispielzeit Gelegenheit,<br />

das tun zu können, worauf sie gerade am<br />

meisten Lust haben: am Maltisch ein neues Bild<br />

für ihre Eltern entwerfen, in der Bauecke den<br />

höchsten aller Türme bauen oder im Ruheraum<br />

entspannt einem Hörspiel lauschen.<br />

Olivia Maurer macht deutlich, dass es nicht<br />

immer einfach sei, allen Ansprüchen der Jungen<br />

und Mädchen gerecht<br />

zu werden. Die Interessen<br />

und der Betreuungsaufwand<br />

von<br />

zwei- bis dreijährigen<br />

Eingewöhnungskindern<br />

unterscheide<br />

sich enorm von dem<br />

der sechsjährigen Vorschulkindern. Sie fügt hinzu:<br />

„Zum einen ist es unsere Aufgabe, jedes Kind<br />

individuell zu stärken, zum anderen aber auch,<br />

das ‚Wir‘ innerhalb der Gruppe zu kräftigen.“ Dafür<br />

gibt es selbstverständlich auch die ein oder andere<br />

Regel, an die sich die Kinder halten müssen.<br />

Doch was passiert, wenn ein Kind eine Grenze<br />

überschreitet? Auch darauf hat die Erzieherin eine<br />

Antwort: „Wir erarbeiten die Umgangsregeln mit<br />

den Kindern zusammen und erklären ihnen genau,<br />

warum etwas falsch oder richtig ist. Wenn sie<br />

die Regeln verstehen und selbst mitgestalten dürfen,<br />

fällt es ihnen leichter, diese zu akzeptieren.<br />

„Viele von ihnen haben<br />

schon eine richtig starke<br />

Persönlichkeit.“<br />

Darüber hinaus lernen sie, Kompromisse einzugehen<br />

und wertschätzend miteinander umzugehen.“<br />

Selbstverständlich sind Olivia Maurer und die<br />

anderen Fachkräfte für die Kinder da, wenn diese<br />

sie brauchen. Wenn ein Kind interessehalber eine<br />

Frage stellt, sei es aber wichtig, diese nicht sofort<br />

zu beantworten, erklärt die 22-Jährige. Am besten<br />

sei es, das Kind erst einmal selbst zum Nachdenken<br />

anzuregen. Die Erzieherin beschreibt ein kleines<br />

Experiment: „Gibt man den Kindern eine<br />

Schale voller Wasser und den Anstoß, herauszufinden,<br />

was man alles<br />

mit dieser machen<br />

kann, dauert es nicht<br />

lange, bis sie Verschiedenes<br />

ausprobieren.<br />

Wenn sie dann<br />

beispielsweise beobachten,<br />

dass ein<br />

Ahornblatt auf der Oberfläche schwimmt und ein<br />

Kieselstein hinunter sinkt, legen sie sich ihre eigenen<br />

Erklärungen dafür zurecht.“<br />

Der Kindergartenalltag lebt von der blühenden<br />

Fantasie und Kreativität der Mädchen und<br />

Jungen, was neben dem Experimentieren vor allem<br />

beim Rollenspiel ans Licht kommt. Die Kinder<br />

haben dabei viele Ideen, die sie alleine oder gemeinsam<br />

mit anderen weiterentwickeln. Gerade<br />

in solchen Spielephasen merke man gut, wie<br />

selbstständig einige Kinder schon seien, beschreibt<br />

Olivia Maurer. Mit strahlenden Augen<br />

fügt sie hinzu: „Viele von ihnen haben schon eine<br />

richtig starke Persönlichkeit.“ Solange die Kinder<br />

wissen, dass die pädagogischen Fachkräfte in der<br />

Nähe sind, können sie sich in ihrer geschützten<br />

Umgebung gut alleine beschäftigen und wollen<br />

oft nicht gestört werden. Sie leben in den Moment<br />

hinein und haben beim Spielen die Möglichkeit,<br />

frei zu sein, sich zu entfalten und zu verwirklichen.<br />

Dazu meint die Erzieherin: „Kinder sind<br />

den meisten Dingen gegenüber viel offener als Erwachsene.<br />

Wir sollten uns ein Beispiel an ihnen<br />

nehmen.“<br />

*Name von der Redaktion geändert<br />

Der Wert des Spielens<br />

Die Diplompädagogin Gabriele Pohl erklärt in<br />

ihrem Buch „Kindheit – Aufs Spiel gesetzt“,<br />

welchen Wert das Spielen für die Entwicklung<br />

von Kindern hat: „Kinder brauchen das freie<br />

Spiel, ob drinnen oder draußen, um ihre sozialen<br />

und emotionalen Kompetenzen zu erweitern,<br />

sie brauchen Erfahrungen aus erster<br />

Hand.“<br />

Das Spiel solle den Jungen und Mädchen<br />

helfen, ihre eigenen Wahrnehmungs- und<br />

Wirkungsmöglichkeiten zu entdecken. Die<br />

Pädagogin ergänzt: „Spiel ist das Mittel, alle<br />

Fähigkeiten, körperliche, soziale, emotionale<br />

und intellektuelle, zur Entfaltung zu bringen.<br />

Auf der Grundlage des Spiels baut die gesamte<br />

menschliche Erfahrungswelt auf.“


02/ 2023 FREI<br />

31<br />

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