MEDIAkompakt Ausgabe 34
Die Zeitung des Studiengangs Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart - www.mediapublishing.org
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DIE ZEITUNG DES STUDIENGANGS MEDIAPUBLISHING<br />
DER HOCHSCHULE DER MEDIEN STUTTGART<br />
AUSGABE 02/2023 29.06.2023<br />
media<br />
kompakt
2 FREI<br />
mediakompakt<br />
Und wann ist es<br />
bei euch so weit?<br />
Bild: Unsplash<br />
Egoistisch, verantwortungsscheu und karrierefixiert – diese<br />
Vorurteile kursieren auch im Jahr 2023 über gewollt kinderlose<br />
Frauen. Mit diesen Stereotypen räumt jetzt eine Studie der<br />
Dualen Hochschule Gera auf.<br />
VON LEA SANDKÜHLER<br />
Bekomm du erst einmal eigene Kinder,<br />
dann wirst du es lieben.“ „Eine<br />
Frau ohne Kind ist keine richtige<br />
Frau.“ „Und, wann ist es bei euch so<br />
weit?“ Diese Sprüche hören vermutlich<br />
viele Frauen mindestens einmal in ihrem Leben.<br />
Von Bekannten, der Familie, von Fremden<br />
oder im Bewerbungsgespräch. Sie sind persönlich,<br />
teils übergriffig. Und doch wollen sie einfach<br />
nicht aussterben. Etwa jede fünfte Frau bleibt in<br />
Deutschland laut dem Statistischen Bundesamt<br />
kinderlos. Bei vielen ist diese Kinderlosigkeit gewollt.<br />
Aus den unterschiedlichsten Gründen. Diese<br />
sind allerdings nicht, wie bisher angenommen,<br />
den Rahmenbedingungen der Gesellschaft geschuldet.<br />
Im Gegenteil: Laut einer Studie der<br />
sozial wissenschaftlichen Fakultät an der Dualen<br />
Hochschule Gera, an der 1.100 gewollt kinderlose<br />
Frauen teilgenommen haben, wird diese Entscheidung<br />
vor allem aus persönlichen Erfahrungen<br />
und Ansichten getroffen.<br />
Kinder nehmen viel Raum und Zeit ein. Ein<br />
Kind macht aus einer emanzipierten Frau schnell<br />
eine Mutter, die in alten Rollenbildern gefangen<br />
ist. Auch eine anonyme Umfrage an der Hochschule<br />
der Medien mit 22 Teilnehmerinnen verdeutlicht<br />
diese These. Die Antworten stützen zudem<br />
die Ergebnisse aus Gera. „Ich möchte keine<br />
solch große Verantwortung für einen anderen<br />
Menschen übernehmen und vor allem keine Kinder<br />
in eine solch unsichere Welt setzen“, antwortet<br />
eine 28-jährige Teilnehmerin. Doch der Gedanke<br />
an eigene Kinder ist oft auch positiv behaftet:<br />
„Ich habe es immer genossen von den Menschen,<br />
die ich liebe, umgeben zu sein. Das will ich<br />
gerne weiterführen und später meinen eigenen<br />
Kindern dieses Gefühl von Zugehörigkeit und Liebe<br />
weitergeben“, sagt eine weitere Probandin der<br />
Umfrage (22).<br />
Auch die Studie aus Gera zeigt, dass eine Entscheidung<br />
gegen Kinder bewusst getroffen wird,<br />
oft schon in jungen Jahren. Bei anderen war es ein<br />
längerer Prozess. Auf die Frage, wann sie sich gegen<br />
Kinder entschieden habe, sagt eine 27-jährige<br />
Teilnehmerin: „Vielleicht um die Zeit, als ich 20<br />
wurde und anfing, aktiv an mir selbst zu arbeiten.“<br />
Sogenannte „Früh-Entscheiderinnen“ sind<br />
auch laut den Ergebnissen aus Gera keine Seltenheit.<br />
Ganze 42 Prozent der 1.100 Frauen gehören<br />
dieser Gruppe an. Eine Rolle spielt hier auch die<br />
sich immer weiter zuspitzende Klimakrise: „Die<br />
Welt kollabiert und das passiert gerade jetzt. Ich<br />
bin so enttäuscht und mache mir solche Sorgen,<br />
dass ich beschlossen habe, keine Kinder in die<br />
Welt zu setzen“, sagt auch Blythe Pepino. Die britische<br />
Sängerin gilt als Gründerin des „Birth-Strike-Movement“<br />
– der „Gebärstreik-Bewegung“.<br />
Die Anhängerinnen der Bewegung verzichten fürs<br />
Klima auf Kinder – und berufen sich dabei auf eine<br />
Nachhaltigkeitsstudie aus Schweden. 2017 haben<br />
dort Forscher:innen die besten Maßnahmen gegen<br />
steigende Emissionen in Industriestaaten untersucht.<br />
Ihr Fazit: Keine weiteren Menschen in<br />
die Welt zu setzen ist die beste Maßnahme, die<br />
Menschen konkret ergreifen können. Der Verzicht<br />
auf ein Kind kann 177 Tonnen CO2 pro Jahr<br />
einsparen. Der Verzicht aufs Auto nur rund 5,3<br />
Tonnen. Aber nicht nur der Klimawandel spielt in<br />
der Entscheidung gegen Kinder eine Rolle. Sowohl<br />
in der Studie als auch in der Umfrage waren<br />
es vor allem persönliche Gründe, die genannt<br />
wurden. Das Konzept von Mutterschaft entspreche<br />
nicht ihren Zukunftsplänen, betont eine<br />
22-jährige Teilnehmerin der Umfrage. „Ich möchte<br />
beruflich Karriere machen und mir meine Unabhängigkeit<br />
in sämtlichen Lebensentscheidungen<br />
bewahren“, sagt sie. Sowohl die Umfrage als<br />
auch die Studie zeigen aber, dass Frauen sich immer<br />
noch rechtfertigen müssen, wenn sie keine<br />
Kinder möchten. Dass Kinder Einschränkungen<br />
in der Karriere, des Körpers und dem Finanziellen<br />
bedeuten können, wird ignoriert. „Ich bin nicht<br />
verantwortlich, ob sich jemand anderes mit meinen<br />
Entscheidungen wohlfühlt“, meint Marie-<br />
Catherine Schaller, Probandin aus Gera. Ob die<br />
übergriffigen Fragen zur Kinderthematik jemals<br />
aussterben werden, bleibt dennoch abzuwarten.<br />
Buchtipps zum Thema<br />
• Linn Strømsborg: Nie, Nie, Nie<br />
Dumont Buchverlag, 13 Euro<br />
• Nadine Pungs: Nichtmuttersein<br />
Piper Verlag, 18 Euro<br />
• Verena Kessler: Eva<br />
Hanser Verlag, 24 Euro<br />
• Caroline Schmitt: Liebewesen<br />
Eichborn, 20 Euro
02/ 2023 FREI<br />
3<br />
„Es liegt nicht an dir, es liegt an mir”<br />
Beinahe jeder hat diese bekannten<br />
Worte schon einmal<br />
gehört oder vielleicht sogar<br />
von sich gegeben. Lässt sich<br />
die derzeitige Generation als<br />
beziehungsunfähig einstufen?<br />
Eine Mediakompakt-Umfrage<br />
gibt einen Einblick.<br />
VON HEIDI ROGALL<br />
Das Problem, längerfristig eine Bindung<br />
zu einer anderen Person aufrechtzuerhalten,<br />
was auch als Beziehungsunfähigkeit<br />
definiert wird,<br />
oder sich immer wieder einen neuen<br />
Partner suchen zu müssen, macht vielen jungen<br />
Leuten aktuell zu schaffen. Doch was steckt eigentlich<br />
dahinter, dass heutzutage Bindungsängste<br />
zum Alltag gehören? Schließlich haben die<br />
Menschen mehr Freiheiten und Möglichkeiten als<br />
je zuvor. Vielleicht ist genau das der springende<br />
Punkt. Sich Hals über Kopf in jemanden zu verlieben<br />
ist wohl eines der schönsten Gefühle der<br />
Welt. Alles erscheint plötzlich besser, man hat weniger<br />
Sorgen und wahrlich die rosarote Brille auf.<br />
Falls das Objekt der Begierde dann sogar ähnlich<br />
empfindet, gibt es so gut wie kein Halten mehr.<br />
Doch was, wenn alles gar nicht so einfach ist wie<br />
gedacht? Wenn alles komplizierter gemacht wird,<br />
indem sich einer der beiden Auserwählten selbst<br />
im Weg steht? Dann verwandelt sich das verträumte<br />
Gefühl der Verliebtheit in etwas<br />
Schmerzhaftes, manchmal sogar Hässliches.<br />
Schließlich kann das, was man am liebsten hat,<br />
auch am ehesten verletzen. Das muss wahrscheinlich<br />
beinahe jeder Mensch einmal am eigenen<br />
Leib erfahren, wenn man den misslungenen Liebesgeschichten<br />
von Eltern, Großeltern, Freunden<br />
oder Bekannten lauscht.<br />
Laut einer Mediakompakt-Umfrage, passend<br />
zum Thema Beziehungsunfähigkeit, die unter<br />
Mittzwanzigern durchgeführt wurde, hatten 22<br />
der 37 Befragten schon mindestens einmal Angst<br />
davor, eine Beziehung einzugehen. Das wundert<br />
wohl kaum, da 28 Personen angaben, bereits<br />
schlechte Erfahrungen mit potenziellen oder bestehenden<br />
Partner:innen gemacht zu haben. Laut<br />
Gesellschaftskommentator Michael Nast sind<br />
manche Menschen konfliktscheu, erst recht,<br />
wenn Emotionen im Umlauf sind. Stellvertretend<br />
dafür hat sich in der Umfrage gezeigt, dass 26 Personen<br />
besonders davor zurückscheuen, in Sachen<br />
Liebe verletzt zu werden. Deshalb erscheint es einfacher,<br />
Probleme und Gedanken nicht zu adressieren<br />
und sich schlichtweg aus der Situation zu<br />
entfernen, sprich es gar nicht erst zu einer Beziehung<br />
kommen zu lassen. Als mögliche Lösung vor<br />
zu viel Ernsthaftigkeit bieten sich hier sogenannte<br />
„Situationships” an. Solche beschreiben ein Verhältnis,<br />
das mehr als Freundschaft, jedoch keine<br />
feste Beziehung darstellt. Mehr als 50 Prozent der<br />
Befragten hatten bereits ein solches Verhältnis im<br />
Laufe ihres Lebens und zusätzlich eine Grundangst<br />
davor verlassen zu werden.<br />
Psycholog:innen zufolge ist niemand unfähig<br />
zu lieben. Menschen besitzen von Natur aus ein<br />
Bedürfnis nach Bindung und Nähe. Und doch<br />
scheitern in Deutschland laut der Frauenzeitschrift<br />
„Bild der Frau” rund 40 Prozent der Ehen.<br />
Dafür kann es viele verschiedene Gründe geben.<br />
Dass zwei Menschen sich trennen oder gar nicht<br />
erst zusammenkommen, scheint demnach ein alltägliches<br />
Ereignis zu sein. Der sogenannten „Bindungstheorie”,<br />
nach John Bowlby und Mary Ainsworth,<br />
zufolge besitzen 30 bis 40 Prozent der<br />
Menschen allgemein einen unsicheren Bindungsstil<br />
und dies wirkt sich nicht nur auf Beziehungen,<br />
sondern auch auf die Vorstufe des Kennenlernens<br />
aus. Psychotherapeutin Stefanie Stahl ist sich sicher:<br />
aktive und passive Partner sind das Grundgerüst<br />
dieser Probleme. Während ein Partner<br />
klammert und immer mehr Nähe verlangt, zieht<br />
der andere sich zurück und benötigt seinen Freiraum.<br />
Dieser umgekehrte Magnetismus sorgt<br />
dann vermehrt für das Aus, bevor alles überhaupt<br />
so wirklich begonnen hat. Vergessen ist der letzte<br />
Fauxpas sowieso recht schnell, denn eine Auswahl<br />
an potenziellen Paarungswilligen gibt es Statista<br />
zufolge mit neun Millionen Nutzern:innen in<br />
Deutschland zuhauf. Somit zeigen bekannte Dating-Apps<br />
wie Tinder, Bumble und Co. schon das<br />
nächste nicht weit entfernte Match an. Und das<br />
gesamte Spiel beginnt von Neuem.<br />
Drei Schritte, um die Beziehungsunfähigkeit<br />
zu überwinden:<br />
1. In der Ruhe liegt die Kraft. Es ist in Ordnung,<br />
sich erst einmal langsam an die andere<br />
Person heranzutasten. Es existiert alle Zeit der<br />
Welt und nichts muss überstürzt werden.<br />
2. Kommunikation ist der Schlüssel. Damit<br />
andere Menschen einander verstehen können,<br />
muss man anfangen, über mögliche Triggerpunkte<br />
oder Ängste zu reden.<br />
3. Auf sich selbst achten. Um eine gesunde<br />
Beziehung führen zu können, ist es wichtig,<br />
sich um sich selbst zu kümmern. So wird kein<br />
möglich bestehender Ballast auf den neuen<br />
Partner oder die Partnerin übertragen.<br />
Bild: Unsplash
4 FREI<br />
mediakompakt<br />
Reichbach. Dabei mag sie Liebesgeschichten sehr<br />
gerne, kritisiert jedoch: „Romantik ist schon überall.“<br />
In Filmen, Fernsehsendungen und Werbung<br />
wird oft das Bild vermittelt, dass für ein glückliches<br />
Leben eine romantische Beziehung anzustreben<br />
ist. Dies führt zu einer Verstärkung der gesellschaftlichen<br />
Norm, die so auch zu einer Stigmatisierung<br />
von Menschen führt, die sich nicht in romantischen<br />
Beziehungen befinden, wie zum Beispiel<br />
Singles oder alleinerziehende Eltern.<br />
„Es bedarf nur eines kurzen Augenblicks des<br />
Nachdenkens, um zu erkennen, dass eine Paarbeziehung<br />
oder eine Ehe die Menschen nicht automatisch<br />
verantwortungsbewusster, erwachsener<br />
oder sogar glücklicher macht – manchmal ist sogar<br />
das Gegenteil der Fall“, erklärt die US-amerikanische<br />
Philosophie-Professorin Elizabeth Brake,<br />
auf die der Begriff Amatonormativität zurückzuführen<br />
ist.<br />
Die Annahme, eine romantische Beziehung<br />
sei das Wichtigste und Wertvollste im Leben, könne<br />
dazu führen, dass Beziehungsmissstände aus<br />
Angst, sonst alleine zu sein, ignoriert oder nicht<br />
ernst genommen werden.<br />
Liebe ist mehr<br />
Die Vorstellung, dass romantische Liebe<br />
und Partner:innenschaften die<br />
höchste Form von Beziehungen darstellen,<br />
wird oft als selbstverständlich<br />
betrachtet. Diese Annahme wird<br />
Amatonormativität genannt und hat weitreichende<br />
Auswirkungen auf unser Denken und<br />
Handeln.<br />
Auch die sich als asexuell identifizierende<br />
Studentin Jana Reichbach* hat sich bereits ausführlich<br />
mit dem Thema Amatonormativität auseinandergesetzt.<br />
Der Begriff wird von der asexuellen<br />
und aromantischen Community verwendet,<br />
um ihre Diskriminierungserfahrungen zu beschreiben.<br />
Die Vorherrschaft der romantischen<br />
Beziehungsnorm führt dazu, dass Menschen, die<br />
keine solchen Beziehungen eingehen möchten<br />
oder können, sich ausgegrenzt und unverstanden<br />
Illustration: Julia Gramlich<br />
Romantische Beziehungen werden in unserer Gesellschaft als<br />
der Inbegriff von Liebe und Glück angesehen. Doch was passiert,<br />
wenn man diesem Ideal nicht entspricht oder nicht entsprechen<br />
möchte?<br />
VON JULIA GRAMLICH<br />
fühlen. Im Interview erzählt die Medienstudentin<br />
von Unsicherheiten und Druck, die sie empfand,<br />
da sie keine romantische Beziehung führe und<br />
auch nicht anstrebe: „Gefühlt ist jeder in einer Beziehung<br />
und ich denke mir nur so okay, cool für<br />
euch.“ Ihr selbst habe die Identifizierung als asexuell<br />
geholfen, damit umzugehen: „Für mich<br />
nimmt dieses Label den Druck raus, sodass ich<br />
denke: Es ist okay, wie ich empfinde, und es ist<br />
nicht irgendwie, weil irgendetwas falsch ist.“<br />
Romantische Liebe ist überall<br />
Das Führen einer glücklichen romantischen<br />
Beziehung wird oft als der ultimative Lebensinhalt<br />
angesehen. Daher bildet diese oft den Hauptfokus<br />
in der Popkultur. In den Medien habe fast<br />
alles eine romantische Komponente, selbst wenn<br />
diese gar keinen Nutzen erfülle, verdeutlicht Jana<br />
Mehr Liebe ins Leben bringen<br />
Amatonormativität prägt die Vorstellungen<br />
von Glück und hat Auswirkungen auf die Art und<br />
Weise, wie Beziehungen eingegangen und gelebt<br />
werden. So werde durch die Annahme eines besonderen<br />
Werts von romantischer Liebe der Wert<br />
anderer liebevoller Beziehungen übersehen, analysiert<br />
Brake. Die Aussage „Wir sind ‚nur‘<br />
Freund:innen“ kennt fast jede:r. Dabei fällt oft<br />
nicht auf, dass dieser Satz schon wie eine Floskel<br />
automatisch mit dem Füllwort „nur“ gesagt wird,<br />
mit dem somit direkt eine Wertung vorgenommen<br />
wird.<br />
Die Bedeutung von Freund:innenschaften, Familie<br />
und anderen Formen von Beziehungen zu<br />
würdigen und zu unterstützen, indem man ein<br />
breiteres Verständnis von Beziehungen fördert<br />
und sich die existierende Beziehungsvielfalt bewusst<br />
macht, wäre wichtig, um die Auswirkungen<br />
der Amatonormativität zu verringern, betonen<br />
Fachleute wie Blake. So könne man ein inklusives<br />
Umfeld schaffen, in dem alle Menschen respektiert<br />
und wertgeschätzt werden. „Klar, feste Beziehungen<br />
sind schön, aber mein Leben ist nicht weniger<br />
schön, nur weil ich nicht in einer Beziehung<br />
bin. Ich habe viele gute Beziehungen, die nicht romantisch<br />
und mir sehr wichtig sind. Ich bin echt<br />
glücklich, so wie mein Leben jetzt ist“, sagt Jana<br />
Reichbach.<br />
Liebe und Verbindungen sind ein wesentlicher<br />
Bestandteil des menschlichen Lebens, jedoch<br />
konzentrieren sich Menschen oft auf romantische<br />
Verbindungen und reduzieren damit<br />
die Gesamtheit der Liebe in ihrem Leben. So<br />
schreibt auch die US-amerikanische Journalistin<br />
und Autorin Angela Chen in ihrem Buch „Ace:<br />
What Asexuality Reveals About Desire, Society,<br />
and the Meaning of Sex“ über ihren Glauben an<br />
eine Zukunft, die mehr Freude und Liebe für alle<br />
bereit hält, indem man sich von dieser Norm<br />
befreit.<br />
*Name von der Redaktion geändert
02/ 2023<br />
FREI<br />
5<br />
Einfach mal loslassen, die Kontrolle<br />
abgeben und sich unterwerfen.<br />
Eine Vorliebe, die<br />
meist hinter verschlossenen<br />
Türen bleibt und nicht offen<br />
kommuniziert und gelebt wird.<br />
Klopft man bei Domina und<br />
Bizarr-Ärztin Barbara von Stahl<br />
an, geht es richtig zur Sache.<br />
VON ELENA ROLLER<br />
Sei mein Sklave!<br />
Von einfachen Peitschen über Latex-<br />
Zwangsjacken bis zu Harnröhrenplugs<br />
– bei Barbara von Stahl hat die Kundschaft,<br />
im wahrsten Sinne des Wortes,<br />
die Qual der Wahl.<br />
Seit zehn Jahren praktiziert die erfahrene Domina<br />
in ihrem Studio Edelschmerz in der Nähe<br />
von Waiblingen. „Meine Kunden sprechen mich<br />
mit Herrin Barbara, Frau von Stahl oder in der Klinik<br />
mit Frau Doktor an“, erzählt sie.<br />
Ihr Klinik-Bereich ist besonders beliebt. Es<br />
handelt sich um ein weißes und steriles Zimmer.<br />
Die Ausstattung sorgt für eine Atmosphäre wie in<br />
einem richtigen Krankenhaus. Es gibt eine Liege<br />
für Patient:innen sowie eine Glasvitrine, die verschiedenes<br />
Spielzeug zur Schau stellt. In einer<br />
Kommode, wie man sie aus Arztpraxen kennt,<br />
sind verschiedene Hilfsmittel verstaut: Nadeln,<br />
Schläuche, Spielzeug für Electro Play und mehr.<br />
Das Highlight des Raumes ist jedoch der<br />
BDSM-Gynstuhl. Einmal darauf fixiert, ist der<br />
Sklave der Bizarr-Ärztin voll ausgeliefert. Fixierungsmöglichkeiten<br />
an Füßen, Händen und sogar<br />
am Kopf sorgen für eine komplette Einschränkung<br />
der Bewegungsfreiheit. Ein an der Decke angebrachter<br />
Spiegel ermöglicht es dem Kund:innen<br />
dabei, das Geschehen auch von oben zu betrachten.<br />
Beim Spiel in der Klinik können unter anderem<br />
Katheter gelegt werden. „Frau von Stahl“ ist<br />
dafür fachspezifisch ausgebildet. Wer gerne temporär<br />
seine Hoden modifizieren möchte, kann<br />
sich mit einer Kochsalzlösung den Hodensack<br />
„liften“ lassen. Bei ihrer Arbeit hat Hygiene oberste<br />
Priorität und es besteht kein gesundheitliches<br />
Risiko.<br />
Alternativ kann man sich von „Herrin Barbara“<br />
auch im schwarzen Salon erniedrigen lassen.<br />
Ausgestattet ist dieser mit allerlei Spielzeug und<br />
weiteren BDSM-Möbeln. Dazu zählen Peitschen,<br />
Dildos, Klemmen, Masken, ein Käfig sowie ein<br />
Sklavenstuhl. Was genau wie zum Einsatz kommt,<br />
bestimmt die Domina aber nicht alleine. Zuerst<br />
gibt es ein gemeinsames Gespräch: „Er darf mir<br />
von seinen Fantasien erzählen. Und ob es Tabus<br />
gibt, die für ihn gar nicht in Frage kommen.“ So<br />
kann sie individuell den Inhalt der jeweiligen Session<br />
anpassen. Im Schnitt verbringt die Klientel<br />
eineinhalb bis zwei Stunden in ihrem Studio. Der<br />
Preis dafür ist in der Regel fest. Werden die Wünsche<br />
ausgefallener und die Sessions länger, steigt<br />
Bild: Privat<br />
der Preis entsprechend. Wie passt BDSM in den<br />
Alltag? In vielen Beziehungen wird nicht ganz offen<br />
über sexuelle Vorlieben gesprochen. Während<br />
Frauen in den meisten Fällen einen Freiwilligen<br />
finden, der ihre intimen Wünsche erfüllt, erkaufen<br />
sich die meisten Männer diese Befriedigung.<br />
Zum Beispiel bei Barbara von Stahl. Ihre Klientel<br />
ist überwiegend männlich. „Fremdgehen ist das<br />
nicht“, sagt die Domina selbst. „Ich will ja nichts<br />
von meinen Kunden. Bin ja selber verheiratet.“<br />
Dennoch verschweigen die meisten ihrer Partnerin<br />
den Besuch in einem BDSM-Studio.<br />
Dass es auch anders geht, zeigt ein besonderes<br />
Erlebnis der Domina: Ein ehemaliger Stammkunde<br />
habe sie einmal gefragt, ob er es seiner Frau erzählen<br />
soll oder nicht. Es kam dann zu einem netten<br />
Telefonat zwischen Ehefrau und Domina – am<br />
Ende besuchte die Ehefrau sogar eine Session ihres<br />
Mannes. Da der Mann an Diabetes litt, war normaler<br />
Sex nicht mehr möglich. Seine Frau bekundete<br />
allerdings noch Interesse daran. „Sie haben<br />
dann einen Deal getroffen, den fand ich großartig:<br />
Wenn er bei mir einen Termin ausgemacht<br />
hat, war das so, dass er zuerst seine Frau in den<br />
Swinger Club gefahren hat.“ Nach der Session habe<br />
er sie wieder abgeholt. „Die beiden haben einen<br />
klasse Deal gefunden, ohne ihre Intimität als<br />
Ehepaar aufzugeben“, betont Barbara von Stahl.<br />
Das A und O einer glücklichen Beziehung ist und<br />
bleibt offene Kommunikation. Dieses Beispiel<br />
zeigt, dass es sich lohnt, verschlossene Türen zu<br />
öffnen und über persönliche Vorlieben zur reden.<br />
Was ist BDSM?<br />
BDSM steht für Bondage and Discipline, Sadism<br />
and Masochism. Es handelt sich dabei<br />
um eine erotische Spielart, bei der zwei oder<br />
mehrere Personen einvernehmlich in ein<br />
herbeigeführtes Machtgefälle steigen. Gegen<br />
Bezahlung kann man dies bei einer Domina<br />
oder einem Dominus erleben. Eine<br />
klassische Domina bleibt in ihrer Arbeit unberührbar.<br />
Das bedeutet, dass sie zwar die<br />
sexuellen Bedürfnisse ihrer Kunden befriedigt<br />
aber selbst keinen Sex anbietet.
6 FREI<br />
mediakompakt<br />
Wischen,<br />
tippen,<br />
liken.<br />
Bild: Pexels<br />
Immer mehr Menschen verbringen ihre freie Zeit in den sozialen<br />
Medien. Content, der nie endet. Gefangen in einer endlosen<br />
Spirale von Kurzvideos und Fotos. Die Bildschirmzeit steigt und<br />
die Aufmerksamkeitsspanne sinkt.<br />
VON VIOLA STEIERWALD<br />
Allein in Deutschland nutzen fast 71<br />
Millionen Menschen Social Media,<br />
was 85 Prozent der Gesamtbevölkerung<br />
entspricht. „Ich nutze Social Media<br />
hauptsächlich zur Unterhaltung,<br />
wenn man sonst nichts anderes zu tun hat – in der<br />
Bahn, im Bus, auf dem Klo“, erklärt Pascal Müller,<br />
Student an der Hochschule Pforzheim. So nutzen<br />
es wohl die meisten Menschen. Es geht um den<br />
Zeitvertreib, wenn heutzutage die Zeit doch bei<br />
den meisten immer knapper wird, während man<br />
von Termin zu Termin rennt. Doch wann wird der<br />
Scroll zum Zeitvertreib zur Krankheit?<br />
Die sogenannte „Social Media Disorder Scale“,<br />
entworfen von den niederländischen Forscher:innen<br />
Regina J.J.M. van den Eijnden, Jeroen S. Lemmens<br />
und Patti M. Valkenburg, beinhaltet neun<br />
„Ja-Nein-Fragen“, basierend auf dem weltweit<br />
anerkannten Klassifikationssystem für psychische<br />
Störungen. Personen, die fünf oder mehr Fragen<br />
mit „ja“ beantworten, sollen ein problematisches<br />
Nutzungsverhalten haben. Es werden bekannte<br />
Muster von Suchterkrankungen in Bezug auf die<br />
Nutzung von sozialen Medien abgefragt. Dazu gehören<br />
einerseits Entzugserscheinungen wie Ärger,<br />
Traurigkeit oder Unruhe wenn der Zugang verwehrt<br />
wird, andererseits das Belügen von<br />
Freund:innen und Familienmitgliedern über den<br />
tatsächlichen Konsum. Aber auch die Flucht in<br />
die digitale Welt, um negative Gefühle zu bewältigen,<br />
gehört dazu.<br />
„Ich habe mir ein Zeitlimit von zwei Stunden<br />
pro Tag für manche Social-Media-Apps eingestellt,<br />
damit ich daran erinnert werde, wie viel Zeit<br />
ich dort schon verbracht habe“, berichtet die Digital-Media-Marketing-Studentin<br />
Laura Brodt.<br />
Laut einer Umfrage von YouGov, einer internationalen<br />
Data and Analytics Group aus Köln, empfinden<br />
60 Prozent der Befragten das Nutzen von<br />
Social Media als Zeitverschwendung. Ein tägliches<br />
Zeitlimit sei eine häufig genutzte Maßnahme, um<br />
die Zeitvergeudung zu minimieren. In der heutigen<br />
Zeit handeln die meisten Nachrichten von<br />
Klimakrise, Krieg oder Pandemie. Das könnte ein<br />
Grund dafür sein, wieso sich vor allem viele Kinder<br />
und Jugendliche lieber von Beauty-, Lifestyleoder<br />
Tiercontent berieseln lassen, denn laut einer<br />
DAK Studie aus dem Jahr 2017 nutzt jede:r dritte:r<br />
Befragte soziale Medien, um nicht an unangenehme<br />
Dinge denken zu müssen. Gemäß dieser vom<br />
Forsa-Institut durchgeführten Umfrage liegt die<br />
Nutzungszeit von Social Media bei Jungen und<br />
Mädchen zwischen zwölf und 17 Jahren durchschnittlich<br />
bei rund zweieinhalb Stunden täglich.<br />
Nach der „Social Media Disorder Scale“ erfüllen<br />
schon ungefähr 2,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen<br />
in Deutschland die Kriterien für eine<br />
Abhängigkeit.<br />
„Ich denke, Social-Media-Sucht ist ein ernst zu<br />
nehmendes Problem, da man nur noch in der<br />
Welt der sozialen Medien lebt und den Bezug zur<br />
Realität verliert“, kritisiert Pascal Müller. Menschen<br />
teilen auf Social Media immer nur den besten,<br />
interessantesten und „most intagrammable“<br />
Teil von ihrem Leben. Denn das gibt bekanntlich<br />
die meisten Klicks, Likes und Reposts. Laut einer<br />
Studie von Vocer, einem Institut für digitale Resilienz<br />
mit Sitz in Hamburg, erhoffen sich dadurch<br />
vor allem Instagramnutzer:innen eine Selbstbestätigung.<br />
„Auf Social Media denkt man sich schnell:<br />
Warum lebt eigentlich jeder so ein Leben, nur ich<br />
nicht? Jeder sieht so aus, nur ich nicht. Jeder ist so<br />
produktiv, nur ich nicht. Jeder unternimmt coole<br />
Sachen, nur ich nicht”, meint Sarah Kayser, Werkstudentin<br />
im Social-Media-Bereich. „Das, was<br />
dort dargestellt wird, ist ja meistens auch nur eine<br />
Momentaufnahme, teilweise auch etwas Konstruiertes,<br />
was nicht der Realität entspricht“, verdeutlicht<br />
Pascal Müller.<br />
Social Media ist heutzutage nicht mehr wegzudenken.<br />
Soziale Medien haben aber auch ihre guten<br />
Seiten, wie beispielsweise den Kontakt mit<br />
Freund:innen zu halten, Inspiration für Hobbys<br />
und Rezepte oder neue Ideen für Unternehmungen<br />
sammeln. „Ich finde, ich habe durch Social<br />
Media mehr Inspiration und mehr Mut, mich<br />
selbst auszudrücken“, teilt Sarah Kayser mit. Laut<br />
einer Studie von Vocer fühlen sich überwiegend<br />
Personen unter 30 nach der Nutzung sozialer<br />
Netzwerke inspirierter, motivierter und glücklicher.<br />
Trotzdem raten Expert:innen, darauf zu achten,<br />
dass man eine gesunde Balance zwischen echtem<br />
und digitalem Leben hält.<br />
Selbsttest<br />
Hast du im vergangenen Jahr …<br />
... regelmäßig feststellen können, dass du an<br />
nichts anderes mehr denken konntest als an<br />
den Moment, in dem du die sozialen Medien<br />
wieder nutzen kannst?<br />
... dich regelmäßig unzufrieden gefühlt,<br />
weil du mehr Zeit in sozialen Medien verbringen<br />
wolltest?<br />
... dich oft schlecht gefühlt, wenn du die sozialen<br />
Medien nicht nutzen konntest?<br />
... versucht, weniger Zeit in sozialen Medien<br />
zu verbringen, aber bist gescheitert?<br />
... oft andere Aktivitäten vernachlässigt,<br />
weil du soziale Medien nutzen wolltest?<br />
... regelmäßig Streit mit anderen wegen deiner<br />
Nutzung sozialer Medien gehabt?<br />
... deine Eltern oder Freund:innen regelmäßig<br />
darüber angelogen, wie viel Zeit du in<br />
den sozialen Medien verbringst?<br />
... häufig soziale Medien genutzt, um negativen<br />
Gefühlen zu entkommen?<br />
... einen ernsthaften Konflikt mit deinen Eltern<br />
oder deinen Geschwistern wegen deiner<br />
Social-Media-Nutzung gehabt?<br />
Hinweis: Werden mindestens fünf Fragen<br />
mit „ja“ beantwortet, liegt laut Fragebogen<br />
eine problematische Social-Media-Nutzung<br />
vor.<br />
Bei dem Selbsttest handelt es sich nicht um eine<br />
Diagnose. Bei Suchtverdacht sollte man einen<br />
Arzt aufsuchen.
02/ 2023<br />
FREI<br />
7<br />
„Heute sehe ich<br />
eine Kämpferin“<br />
Eine Profi-Ballerina zu werden – das war der größte Traum von<br />
Linda Müller. Dafür hat sie alles gegeben. Doch wie geht das Leben<br />
weiter, wenn der größte Lebenstraum zerplatzt?<br />
VON KATHARINA MICHALEWICZ<br />
Rosa Tutus und zauberhafte Musik –<br />
mit Ballett verbinden viele Leute eine<br />
heile Welt. Blickt man aber hinter<br />
die Kulissen des beliebten Bühnentanzes,<br />
sieht die Welt anders aus. Das<br />
hat die 23-jährige Linda Müller selbst erfahren<br />
müssen. Heute studiert sie Mediapublishing an<br />
der Hochschule der Medien Stuttgart und kann<br />
damit ihre Liebe zu Büchern ausleben. Die Zeit davor<br />
hat sie ausschließlich ihrem Lebenstraum gewidmet:<br />
eine Profi-Ballerina zu werden.<br />
Mit drei Jahren hat sie angefangen zu tanzen.<br />
Aus diesem Hobby entwickelte sich ihre große Leidenschaft<br />
zum Ballett. Prägend für die kommenden<br />
Jahre war ein Satz ihrer Tanzlehrerin: „Wenn<br />
du erfolgreich werden willst, musst du jede Sekunde<br />
dem Ballett widmen.“ Stundenlanges Training<br />
gehörte ebenso zum Alltag der Koblenzerin wie<br />
der Verzicht auf viele ihrer Hobbys. Auch auf die<br />
Ernährung musste sie strikt achten. „Ich habe<br />
Freunden abgesagt, um kein Eis essen zu müssen.“<br />
Mit 16 Jahren hat sie beschlossen, ihr Abitur<br />
am Ballett-Gymnasium Essen-Werden zu absolvieren.<br />
Dort ist es möglich, eine vorberufliche<br />
Tanzausbildung zu machen. Das Training ist jedoch<br />
kein Zuckerschlecken, was auch in einer „reporter“-Filmdoku<br />
von Tim Schrankel deutlich<br />
wird. In seiner Reportage „Ballett als Schulfach:<br />
tanzen, trainieren, verzichten“ zeigt er auf, dass<br />
dort an allen Schultagen bis zu drei Stunden trainiert<br />
wird, manchmal sogar fünf. Die Schüler:innen<br />
lernen für ihre Abiturprüfungen, während sie<br />
sich für das Tanztraining dehnen. „Gut ist nicht<br />
gut genug“, fasst Schrankel die Anforderungen<br />
des Gymnasiums zusammen. „Am Ende des Tages<br />
kämpft jeder für sich selbst.“<br />
Aber Linda Müller wusste, was sie erwarten<br />
würde und hat sich lange auf die Aufnahmeprüfung<br />
vorbereitet. Sie musste aber aufgrund eines<br />
Bänderrisses vor der Prüfung eine kleine Auszeit<br />
nehmen. Doch es war nicht die Verletzung, die<br />
ausschlaggebend dafür war, dass sie nicht am<br />
Gymnasium angenommen wurde. „Zu kleine Arme,<br />
zu kleine Beine“, sagte man ihr.<br />
„Ich war sauer, weil es gar nichts mit meinem<br />
Können zu tun hatte. Eine private Ballett-Ausbildung<br />
kam nicht infrage, weil ich sie selbst hätte finanzieren<br />
müssen.“ Sie hat ihren Traum jedoch<br />
nicht sofort aufgegeben. Nach ihrem Abitur hat<br />
sie angefangen, als Ballettlehrerin zu arbeiten.<br />
Doch der Unterricht war nicht so befriedigend wie<br />
das Tanzen selbst.<br />
Es waren viele kleine Aha-Momente, die dazu<br />
geführt haben, dass sie einen Schlussstrich gezogen<br />
hat. Freunde und Familie waren schockiert,<br />
aber die junge Frau hat sich dadurch nicht beirren<br />
lassen. „Ich habe gelernt, auf mich selbst zu hören<br />
und meine Grenzen zu respektieren. Ich wusste,<br />
dass ich noch mehr im Leben erreichen wollte.“<br />
Sie hat viele kleine Ziele erreicht, die sie heute<br />
mit ganz anderen Augen sieht. Sie hat Hauptrollen<br />
in Ballettstücken bekommen, Wettbewerbe<br />
gewonnen und selbst unterrichtet. Auch, wenn<br />
ihr damals ein Teil ihrer Identität genommen<br />
wurde, hat sie stets nach vorne geblickt. „Wenn<br />
sich eine Tür schließt, öffnen sich zwei neue. Ich<br />
glaube daran, dass alles gut wird – und dass es sogar<br />
noch besser werden kann.“<br />
Heute ist Linda Müller glücklich. Sie hat ihr<br />
ideales Studium gefunden und auch privat hat sie<br />
ein Hobby, das sie sehr begeistert: „Beim Schreiben<br />
kann ich reflektiert mit mir selbst umgehen.<br />
Es gibt keine festen Regeln oder Abläufe, an die<br />
ich mich halten muss wie beim Ballett.“ Das findet<br />
sie sehr befreiend.<br />
Wenn sie zurückblicke, sehe sie eine Kämpferin,<br />
die ihr Bestmögliches gegeben hat. „Auch,<br />
wenn sich mein Traum vom Ballett nicht erfüllt<br />
hat, habe ich ihn in anderen Formen gelebt und<br />
bin für jede Erfahrung dankbar. Jetzt habe ich viel<br />
mehr Freiheiten und Chancen in meinem Leben.“<br />
Für die Studentin ist der Weg das Ziel. Was am<br />
Ende dabei herauskommt, ist ihr nicht so wichtig<br />
wie das, was sie dabei erlebt und fühlt. Sie will sich<br />
nicht festlegen, sondern sich selbst in vielen Hinsichten<br />
selbst verwirklichen. „Erfolg sollte man<br />
nicht nur auf die Karriere beziehen. Man sollte<br />
sich sagen: Heute war ein guter Tag, weil ich<br />
glücklich war. Wir sollten die hohen Ansprüche<br />
in unserer Gesellschaft neu definieren.“<br />
Bilder: Privat Bild: privat
8 FREI<br />
mediakompakt<br />
Bild: Shutterstock<br />
Nie krank genug<br />
„Die will doch einfach nur dünn sein“ – ein häufiges Vorurteil gegenüber<br />
der Magersucht, doch es steckt viel mehr dahinter. Die<br />
Betroffenen Laura Jungk und Antonia Wesseling erzählen ihre<br />
Geschichten und ihren Weg aus der Krankheit.<br />
VON VANESSA HANKE UND YONCA KOCAGÖZ<br />
Das Leben ist nur noch ein Korsett aus<br />
Regeln und Zwängen, die die Essstörung<br />
einem auferlegt. Außerhalb dieses<br />
Korsetts gibt es nichts anderes<br />
mehr“, erklärt Laura Jungk, 23 Jahre<br />
alt. Jahrelang hat die Magersucht das Leben der<br />
Kölnerin kontrolliert. „Heute ist es umgekehrt<br />
und ich kontrolliere die Essstörung.“ Auch Antonia<br />
Wesseling hat eine lange Geschichte mit Magersucht<br />
hinter sich. Heute lebt die 23-Jährige<br />
ebenfalls in Köln und verwirklicht endlich die<br />
Träume, die sie schon seit ihrer Kindheit hat.<br />
Was dahintersteckt<br />
Im Laufe ihres Lebens erkranken etwa 14 von<br />
1.000 Mädchen und Frauen an Magersucht. Das<br />
besagt die Webseite der Bundeszentrale für gesundheitliche<br />
Aufklärung. Bei Jungen und Männern<br />
liegt diese Zahl bei durchschnittlich zwei<br />
von 1.000. Obwohl die Krankheit so weit verbreitet<br />
ist, weiß nicht jeder, was genau dahintersteckt.<br />
Vorurteile, wie zum Beispiel, dass Magersucht eine<br />
oberflächliche „Model-Krankheit“ ist, bei der<br />
es nur um äußere Schönheitsideale geht, sind<br />
nicht selten. Dabei geht es den Erkrankten eher<br />
um die Kontrolle, die sie über ihr Essverhalten erlangen<br />
wollen. Antonia Wesseling erinnert sich<br />
an das Gefühl, das ihr die Essstörung damals gab:<br />
„Ich kann mich kontrollieren, indem ich bestimme,<br />
was ich esse und damit zeigen, wie stark ich<br />
bin“. Der Ursprung liegt oft viel tiefer als man<br />
denkt. In ihrem Buch „Wie viel wiegt mein Leben?“<br />
schreibt die Autorin: „Bei psychischen<br />
Krankheiten ist es besonders wichtig, zwischen<br />
Auslöser und Ursache zu unterscheiden. Ein völlig<br />
gesunder und stabiler Mensch würde durch eine<br />
Diät niemals in eine Essstörung rutschen.“ Die
02/ 2023 FREI<br />
9<br />
Magersucht ist also in der Regel nur ein Teil des<br />
Problems und das Nicht-Essen nur ein Symptom.<br />
„Es ist eine Suchterkrankung – manche Leute erkranken<br />
an einer Alkoholsucht, andere eben an<br />
Magersucht“, erklärt Jungk.<br />
Das Leben mit der Krankheit<br />
Kalorien zählen, bloß nicht zu viel und bloß<br />
nichts „Schlechtes“ essen. Für Außenstehende ist<br />
das zwanghafte Verhalten nur<br />
schwer nachzuvollziehen. Beziehungen<br />
zu Freund:innen und Verwandten<br />
können dadurch schnell<br />
kaputt gehen. Auch Laura Jungk<br />
hatte damit zu kämpfen. Oft bekam<br />
sie zu hören, sie solle sich doch einfach<br />
zusammenreißen. Dabei geht<br />
es nicht darum, nicht zu wollen,<br />
sondern nicht zu können: „Wenn<br />
jemand den Arm gebrochen hat,<br />
sagt man ja auch nicht ‚reiß dich zusammen‘ – es<br />
geht halt nicht.“ Sie erzählt, dass ihr ganzes Leben<br />
von der Krankheit bestimmt wurde. Alles drehte<br />
sich für sie nur noch um das Thema Essen: „Es gibt<br />
nur noch diesen winzig kleinen Kosmos, in dem<br />
man irgendwie mit der Essstörung koexistiert.”<br />
Für Wesseling fühlt sich die Krankheit rückblickend<br />
wie ein Tunnel an, der aus ganz vielen Widersprüchen<br />
besteht. Dadurch fällt es ihr schwer,<br />
die essgestörten Gedanken zu erklären. Sie fühlte<br />
sich nie verstanden und hat sich von ihren<br />
Freund:innen zurückgezogen. Viele soziale Aktivitäten<br />
waren mit Essen verbunden und spontane<br />
Unternehmungen waren für sie generell nicht<br />
möglich. Sie erzählt auch, dass sich zeitweise ihr<br />
Charakter verändert hat: „Ich habe unheimlich<br />
viel gelogen in der Zeit, obwohl ich eigentlich ein<br />
sehr ehrlicher und direkter Mensch bin.“<br />
„Entweder ich mache jetzt so weiter<br />
und sterbe oder ich versuche, irgendwie<br />
wieder zu leben.“<br />
nimmt. Und selbst dann droht man immer wieder,<br />
diese Erkenntnis zu verlieren. Jungk rät Betroffenen,<br />
immer weiter gegen die Krankheit zu<br />
kämpfen und sich niemals sagen zu lassen, dass<br />
man es nicht mehr schaffen kann. Wesseling betont<br />
an der Stelle, dass es für Betroffene wichtig<br />
ist, die Verantwortung selbst zu übernehmen und<br />
nicht darauf zu warten, dass andere einen retten.<br />
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung<br />
erwähnt auf ihrer Webseite, dass ungefähr<br />
40 Prozent der Magersucht-Patient:innen geheilt<br />
werden. Etwa 25 bis 30 Prozent erzielen eingeschränkte<br />
Erfolge.<br />
Laura Jungk vermutet, dass die Chance auf Heilung<br />
unter anderem vom Krankheitsverlauf abhängt.<br />
Sie selbst war sechs Jahre lang krank. Obwohl<br />
sie sagt, dass sie die Essstörung wahrscheinlich<br />
nie wieder ganz loswerden wird, führt sie inzwischen<br />
ein ziemlich normales Leben: „Ich lebe<br />
heute einfach – ich kann verreisen, ich habe ein<br />
soziales Umfeld und gehe auf Partys.“<br />
Außer der Essstörung spielen bei Betroffenen oft<br />
auch noch andere psychische Krankheiten, wie<br />
Depressionen, eine Rolle. So ist es auch bei den<br />
beiden Kölnerinnen. Wesseling hat auch heute<br />
noch teilweise mit Depressionen zu kämpfen, berichtet<br />
aber: „Was die Essstörung angeht, würde<br />
ich mich als vollkommen geheilt bezeichnen.“<br />
Die beiden konnten aus der Essstörung<br />
und dem Heilungsweg auch<br />
etwas Positives ziehen. Jungk erzählt,<br />
dass sie durch die Therapien<br />
und die Jahre mit der Krankheit eine<br />
hohe Reflexionsfähigkeit gewonnen<br />
hat. „Die Krankheit hat<br />
mich zu der Person gemacht, die<br />
ich heute bin.“ Auch Wesseling<br />
hat in Therapie viel über sich gelernt.<br />
„Ich konnte mein Leben<br />
komplett umstrukturieren und zum Positiven ändern.”<br />
Du benötigst Hilfe? Erste Anlaufstellen können sein:<br />
ABAS – Anlaufstelle bei Essstörungen<br />
Telefon: 0711 30 56 85 40<br />
ANAD – Bundes Fachverband Essstörungen<br />
Telefon: 089 2199730<br />
Cinderella – Aktionskreis für Ess- und Magersucht<br />
Telefon: 089 502 12 12<br />
Der „Klick-Moment“<br />
Eine Sache, in der sich beide Autorinnen einig<br />
sind, ist, dass man sich als betroffene Person niemals<br />
krank genug fühlt. „Das war einer meiner<br />
prägendsten Gedanken während der Krankheit”,<br />
erzählt Wesseling. „Der Gedanke, dass man selbst<br />
die Hilfe nicht wert ist und sie sich erst verdienen<br />
muss.“ Die meisten Magersüchtigen wollen gar<br />
nicht für immer krank und dünn sein. Sie arbeiten<br />
auf einen Punkt hin, an dem sie „krank genug”<br />
sind, um Hilfe zu verdienen. Wesseling erinnert<br />
sich an die Worte ihres Therapeuten: „Auf diesen<br />
Klick-Moment zu warten ist tödlich. Viele Betroffene<br />
haben diesen Moment nicht einmal, wenn<br />
sie im Sterben liegen.“<br />
Auch für Laura Jungk kam dieser Zeitpunkt nie.<br />
Selbst am Tiefpunkt ihres Krankheitsverlaufs hat<br />
sie sich nicht krank genug gefühlt. Zu der Zeit hatten<br />
sogar manche Ärzte schon die Hoffnung auf<br />
eine Heilung aufgegeben. „Irgendwann war wirklich<br />
die Frage: Entweder ich mache jetzt so weiter<br />
und sterbe oder ich versuche, irgendwie wieder zu<br />
leben.“<br />
Der Weg in die Freiheit<br />
Mit dem Beschluss, das Leben wieder zurückzuerlangen,<br />
ist der Kampf noch lange nicht gewonnen.<br />
Erst einmal muss man zu der Einsicht kommen,<br />
dass die Magersucht einem das Leben<br />
Antonia Wesseling<br />
Antonia Wesseling ist 23 Jahre alt und lebt<br />
in Köln. Im Alter von 14 Jahren ist sie an<br />
Magersucht erkrankt und litt insgesamt<br />
fünf Jahre darunter. Mittlerweile hat sie sich<br />
ihren Kindheitstraum erfüllt und arbeitet<br />
als Autorin. 2020 erschien ihr Buch „Wie<br />
viel wiegt mein Leben?“, in dem sie ihre Geschichte<br />
mit der Krankheit erzählt.<br />
Laura Jungk<br />
Bilder: Privat<br />
Die 23-jährige Laura Jungk wohnt mit ihrem<br />
Hund in Köln. Dort hat sie vor Kurzem<br />
ihre Schauspielausbildung beendet. Sie erkrankte<br />
im Alter von 13 Jahren an Magersucht<br />
und veröffentlichte 2020 ihr Buch<br />
„Wie ich verschwand“. Darin schildert die<br />
Autorin, wie sie in die Essstörung geriet und<br />
wie sie wieder hinausfand.<br />
Bilder: Privat
10 FREI<br />
mediakompakt<br />
Vom Koma zum Comeback<br />
Vor zehn Jahren erlitt Florian<br />
Häußermann ein schweres<br />
Schädel-Hirn-Trauma. Rund<br />
neun Monate verbrachte er in<br />
verschiedenen Kliniken und<br />
kämpfte sich wieder zurück in<br />
sein normales Leben.<br />
VON JENNY GRIFFEL<br />
Der 20. Juli 2013 ist ein perfekter Sommertag,<br />
30 Grad, Sonnenschein. Florian<br />
Häußermann stattet seiner Heimatstadt<br />
Winnenden einen Besuch<br />
ab. Gemeinsam mit ein paar Freunden<br />
möchte der Wahl-Münchner den Tag in einer<br />
Kneipe ausklingen lassen. Doch der Abend nimmt<br />
ein abruptes Ende.<br />
Der 27-Jährige stürzt eine zwölf-stufige Treppe<br />
hinunter, schlägt auf seinen Hinterkopf auf und<br />
bleibt regungslos auf dem Boden liegen. „Meine<br />
Freunde haben gemerkt, dass ich nicht nur hingeflogen<br />
bin. Sie haben direkt den Notruf gewählt“,<br />
berichtet Florian Häußermann. Noch im Krankenwagen<br />
führen die Sanitäter:innen ihm zur Beatmung<br />
einen Schlauch in die Lunge ein und versetzen<br />
ihn in ein künstliches Koma. Bei der Untersuchung<br />
im Klinikum Ludwigsburg die Schock-<br />
Diagnose: Schweres Schädel-Hirn-Trauma mit<br />
Hirnschwellungen und Blutungen. Zur Überwachung<br />
kommt der Verletzte auf die Intensivstation,<br />
doch sein Zustand verschlechtert sich von Tag<br />
zu Tag.<br />
Am 23. Juli ist der Druck auf dem Gehirn zu<br />
groß und es muss eine Hemikraniektomie durchgeführt<br />
werden, bei der die linke Schädeldecke<br />
entfernt wird. Die Operation verläuft problemlos.<br />
Nach zehn Tagen im künstlichen Koma atmet der<br />
Patient wieder selbstständig, fünf Tage später erfolgt<br />
die Verlegung auf die Überwachungsstation.<br />
An das „Erwachen“ aus dem Koma kann sich Florian<br />
Häußermann nicht erinnern, erst als ihn seine<br />
Familie und Freund:innen im Krankenhaus besuchen:<br />
„Mit ihrer Unterstützung war ich mir sicher,<br />
dass alles wieder so wird wie zuvor.“ Für die<br />
anschließende Therapie wird er in eine Spezialklinik<br />
nach Allensbach verlegt. „Anfangs war ich etwas<br />
verwirrt. So meinte ich zum Beispiel zu meiner<br />
Mutter, dass ich Hansi Hinterseer mag, obwohl<br />
das überhaupt nicht meine Musik ist“, erklärt<br />
der Metallica-Fan lachend. „Für die Leute um<br />
mich herum war es viel schlimmer als für mich, da<br />
keiner wusste, ob der Zustand vielleicht für immer<br />
bleiben würde.“<br />
Anfang Oktober wird ihm der Knochendeckel<br />
reimplantiert. „Mein entnommener Schädelknochen<br />
wurde mit einem Plastikstück ersetzt. Nach<br />
der Operation merkte ich auch gleich einen großen<br />
Sprung in die positive Richtung“, erzählt er<br />
freudig. Trotz der Herausforderungen macht der<br />
Diplomphysiker in der Reha jeden Tag Fortschritte.<br />
„Es gab nie einen Punkt, an dem ich die Motivation<br />
verlor. Als ich einen Arzt fragte, ob ich wieder<br />
Snowboard fahren könnte, meinte er, dass das<br />
problemlos möglich wäre. Ich wusste, dass es aber<br />
eine längere Zeit dauern würde.“<br />
Ende Oktober wird Florian Häußermann aus<br />
der Klinik entlassen. Obwohl er teilweise mit<br />
Wortfindungsstörungen zu kämpfen hat, lernt er<br />
damit umzugehen und versucht die Wörter zu<br />
umschreiben. Da bei dem Unfall vor allem seine<br />
linke Gehirnhälfte verletzt wurde, hat er Schwierigkeiten<br />
mit seiner rechten Hand.<br />
„Als ich mit meiner Familie in einem asiatischen<br />
Restaurant essen war, bemerkte ich, dass<br />
ich nicht mehr wie früher mit Stäbchen essen<br />
konnte. Erst ein dreiviertel Jahr nach dem Unfall<br />
war meine Feinmotorik wieder hergestellt“, erinnert<br />
sich der Rechtshänder. Nachdem er acht Monate<br />
krankgeschrieben war, kann der Berechnungsingenieur<br />
endlich wieder langsam seinem<br />
Job nachgehen.<br />
Bild: Pixabay/ LegendaryWolf<br />
Knapp ein Jahr später erlebt Florian Häußermann<br />
einen epileptischen Anfall, daraufhin bekommt<br />
er Lamotrigin verschrieben. Er blickt zurück:<br />
„Trotz Einnahme des Medikaments hatte ich<br />
noch vier weitere Anfälle. Mein Körper warnte<br />
mich aber immer, ich höre dann eine fremde<br />
Stimme in meinem Kopf. So war ich beim zweiten<br />
und dritten Mal auch nicht überrascht. Jetzt hatte<br />
ich Jahre lang keinen Anfall mehr.“<br />
Dieses Jahr ist der Unfall schon zehn Jahre her.<br />
Bis auf die Epilepsie geht es Florian Häußermann<br />
wie vor dem Unglück, laut seinen Bekannten habe<br />
er sich auch nicht verändert. „Ich kann mir nur<br />
von Leuten, die ich nicht so oft sehe, die Namen<br />
zum Teil nicht mehr merken“, sagt d er mittlerweile<br />
37-Jährige. Im Hinblick auf die Schwere seiner<br />
Verletzungen sei dies aber nur noch eine Kleinigkeit<br />
und er könne von großem Glück reden,<br />
dass alles ein gutes Ende gefunden hat. Auf die<br />
Frage, was er aus der Erfahrung lernte, meint er:<br />
„Es sind Sekunden, die alles verändern können.<br />
Daher sollte man das Hier und Jetzt genießen.“
02/ 2023<br />
FREI<br />
11<br />
Auf einen Schlag ist alles anders<br />
Bild: unsplash<br />
Von einem auf den anderen<br />
Tag nicht mehr laufen, die<br />
Arme heben oder sprechen<br />
können – ein Schlaganfall reißt<br />
Betroffene aus ihrem Alltag.<br />
Wie man zurück ins Leben<br />
findet und wieder sprechen<br />
lernt, erklärt Logopädin Lea<br />
Bökle.<br />
VON LEA HÜNICKE<br />
Ein heftiger Schmerz zieht in den Kopf,<br />
die Hand kann plötzlich nicht mehr<br />
nach der Tasse greifen oder es kommt<br />
kein Satz mehr raus – wie Betroffene<br />
den Moment des Schlaganfalls erleben,<br />
ist verschieden und hängt davon ab, welcher Teil<br />
des Gehirns betroffen ist. Auch die Folgen, die der<br />
Ausfall von Gehirnfunktionen hervorbringt, fallen<br />
unterschiedlich aus. In den meisten Fällen<br />
wird das alltägliche Leben jedoch durch Lähmungen,<br />
Seh- oder Sprachstörungen erschwert und<br />
kann vorerst nicht mehr eigenständig bewältigt<br />
werden. „Wenn ein Knie kaputt ist nach einem<br />
Unfall, hat jeder Verständnis. Man hat eine Krücke<br />
und die eingeschränkten Fähigkeiten sind<br />
vielleicht laufen, rennen und bücken. Es ist eher<br />
spürbar, während es dem Kopf erst mal nicht anzusehen<br />
ist“, veranschaulicht Lea Bökle. Als Logopädin<br />
arbeitet sie unter anderem mit Schlaganfallpatient:innen<br />
daran, deren Beeinträchtigungen<br />
beim Schlucken und Sprechen zu verbessern. Für<br />
Betroffene sei es im Gegensatz zu einer Knieverletzung<br />
deswegen auch schwieriger, damit umzugehen<br />
und beispielsweise feststellen zu müssen, dass<br />
sie nicht mehr lesen können.<br />
Die Logopädin erklärt: „Sprache muss man<br />
verstehen, sprechen, lesen und schreiben können.“<br />
Alles Dinge, die man im Kindesalter lernt<br />
und die von da an einfach funktionieren. Wenn<br />
man ein paar Buchstaben sieht, setzt das Gehirn<br />
sie dank seiner Fähigkeit des Synthetisierens automatisch<br />
zu dem richtigen Wort zusammen. Dieser<br />
Mechanismus kann allerdings wegfallen, was zur<br />
Folge hat, dass beim Lesen falsche Wörter herauskommen.<br />
„Das Sprachverständnis kann so stark<br />
eingeschränkt sein, dass man Betroffenen etwas<br />
sagt und sie nicht wissen, was man von ihnen<br />
möchte“, verdeutlicht Bökle, wie ausgeprägt die<br />
Sprachstörung sein kann. Das sei auch für Angehörige<br />
besonders schwierig.<br />
Neben der Normalität geht durch die Beeinträchtigungen<br />
nach einem Schlaganfall auch ein<br />
Stück der Identität verloren. „Sich in seiner Person<br />
nicht mehr ganz ausleben zu können wie zuvor,<br />
schränkt ein und sich nicht so ausdrücken zu können,<br />
wie man gerne möchte, nimmt etwas von der<br />
Person“, erklärt die Logopädin. So komme es immer<br />
wieder vor, dass sprachliche Besonderheiten,<br />
wie der Wortwitz einer Person, nach<br />
einem Schlaganfall weg seien. Vielen nimmt es<br />
auch das Selbstbewusstsein, wenn die Wörter fehlen<br />
und das Sprechen vor Menschen oder Anrufe<br />
werden mit Scham verbunden. Es ist ein anstrengender<br />
Prozess, sich die Selbstständigkeit nach<br />
einem Schlaganfall zurückzuholen. Manchmal<br />
funktioniert es – durch verschiedene Faktoren<br />
bedingt – auch nicht. Wenn sich nicht genau<br />
bestimmen lässt, woran es liegt, ist das besonders<br />
frustrierend. Immer wieder bemerke man jedoch<br />
Verbesserungen und Patient:innen werde<br />
bewusst, dass sie durch das Üben etwas bewirken<br />
können, wie Lea Bökle hervorhebt. Zu sehen, wie<br />
sie teilweise im hohen Alter Bewundernswertes<br />
leisten und die Erfolgserlebnisse mitzuerleben, sei<br />
für sie das Schöne an ihrem Beruf. Abschließend<br />
betont sie: „Wenn Betroffene sich durch ihren<br />
Einsatz Freiheiten wieder zurückerlangen, ist das<br />
etwas ganz Besonderes, weil man auf den Weg<br />
dorthin zurückblicken kann und weiß, was man<br />
geschafft hat. Und darauf kann man stolz sein.“<br />
FAST-Test<br />
Bei einem Schlaganfall ist jede Minute entscheidend,<br />
weshalb schnelle Hilfe überlebenswichtig<br />
ist. Besteht der Verdacht auf einen<br />
Schlaganfall, lässt sich dies folgendermaßen<br />
überprüfen:<br />
Face: Person bitten, zu lächeln. Hängt ein<br />
Mundwinkel runter?<br />
Arms: Person bitten, beide Arme nach vorne<br />
zu strecken und die Handflächen nach<br />
oben zu drehen. Ist sie dazu nicht in der Lage<br />
oder sinkt/dreht sich ein Arm?<br />
Speech: Person bitten, einen einfachen Satz<br />
nachzusprechen. Klingt ihre Stimme verwaschen<br />
oder kann sie nicht antworten?<br />
Time: Nicht zögern! Den Notarzt rufen und<br />
die Symptome schildern.<br />
Quelle: Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe
12 Frei<br />
mediakompakt<br />
Queens, Kings und Aliens<br />
Drag machen doch nur<br />
schwule Männer, oder nicht?<br />
Doch Queens sind nicht die<br />
einzigen Perlen der Community.<br />
Drag King Tenu erzählt,<br />
welche Erfahrungen er in der<br />
Szene macht.<br />
VON MARILENA STEINER<br />
Bilder: King Tenu<br />
Drag Queens kennt jeder. In der breiten<br />
Masse sind vor allem die homosexuellen<br />
Männer, die die Kunst der<br />
Travestie ausüben, bekannt. Doch<br />
die Welt des Drags bietet sehr viel<br />
mehr. Schon lange sind es nicht nur Männer, die<br />
sich in überspitzter Form als Königinnen präsentieren.<br />
King Tenu ist ein junger Drag King, der sich<br />
in den letzten eineinhalb Jahren in der Münchner<br />
Drag-Community etabliert hat. Verkörpert wird<br />
er von der 21-jährigen non-binären Münchnerin<br />
Mäx.<br />
Die Drag-Szene befindet sich im Wandel. Die<br />
allseits bekannten Queens stehen nun nicht mehr<br />
alleine im Rampenlicht. Und dabei etablieren sich<br />
neben Kings auch viele andere Formen in der Szene.<br />
Jede interessierte Person kann sich frei entfalten.<br />
Mäx ist der Ansicht, dass Geschlechter -<br />
klischees in der Community längst keine Rolle<br />
mehr spielen. Die lesbische Frau stellt den King<br />
und der schwule Mann die Frau dar. Das ist ein<br />
längst überholtes Schubladendenken. Es muss<br />
nicht unbedingt das entgegengesetzte Geschlecht<br />
stereotypisch präsentiert werden. „Was hätte ich<br />
darstellen sollen, wenn ich als nicht binäre Person<br />
das Gegenteil auf die Spitze treibe?“, wirft Mäx<br />
ein. Sie wollte zu ihrer sonst weiblichen Erscheinung<br />
die männlichen Privilegien als Extrem für<br />
sich austesten. Es bietet ihr einen guten Ausgleich<br />
zu ihrem Alltag, in dem sie sich auch frei als Mann<br />
bewegen kann. Mit Konfrontation hat sie dabei<br />
weniger Erfahrungen gemacht. Queens haben im<br />
Alltag oft mit Gegenwind zu kämpfen, während<br />
Menschen in der Öffentlichkeit vor den Kings mit<br />
ihrer markanten Gangart und dem sehr maskulinem<br />
Auftreten eher zurückweichen.<br />
Als Mäx vor einiger Zeit in die Welt des Drag<br />
eingetaucht ist, war die Corona-Pandemie ein<br />
großes Thema in der Gesellschaft. Viele Treffen<br />
und Veranstaltungen haben nicht stattgefunden.<br />
So hat sich die junge Münchnerin zunächst viel<br />
auf Social-Media-Plattformen, wie TikTok, Instagram<br />
und YouTube umgesehen und Hilfe für den<br />
Einstieg gesucht. Schnell hat sie festgestellt, dass<br />
Drag Queens die größte repräsentative Gruppe der<br />
Community sind. „Ich war schon sehr oft auf<br />
Christopher Street Days (CSD) und ich fand auch<br />
immer die Drag Queens mega mega cool und habe<br />
mir auch sehr oft schon gedacht: Hey! Es wäre<br />
doch voll cool, wenn es nicht nur Drag Queens gäbe,<br />
sondern noch viel mehr Geschlechter in übertriebener<br />
Form dargestellt werden würden“, berichtet<br />
Mäx. So stand von Anfang an ihr Wunsch<br />
fest, einen Drag King zu inszenieren. Diese Entscheidung<br />
hat noch immer Bestand und die junge<br />
Münchnerin hat diese nie angezweifelt. Sie fühlt<br />
sich nicht nur sehr wohl und selbstbewusst in ihrer<br />
Rolle, sondern kann sich frei im selbst gewählten<br />
Image als „Fuckboy“ auf der Bühne präsentieren.<br />
Doch was tun Travestie-Künstler:innen während<br />
ihrer Performances? Der einfachste Einsteig<br />
in die Welt des Drag sind Lip-Sync-Battles. Hier<br />
inszenieren die Künstler:innen eine Show zu Playback-Musik<br />
und bewegen dabei die Lippen zum<br />
Text. Und genau an so einem hat der junge King<br />
im Herbst 2021 teilgenommen. Sehr spontan und<br />
ohne viel eingeprobte Choreografie wagte sich Tenu<br />
ein erstes Mal auf die Bühne und kämpfte sich<br />
alleine über mehrere Runden zum Sieg. Im Nachhinein<br />
betrachtet, hat dieser Start das Selbstbewusstsein<br />
und die Überzeugung des jungen Drag<br />
Kings enorm gesteigert. Dieses Erfolgserlebnis<br />
brachte Tenu großen Zuspruch in der Community<br />
ein. Folgebuchungen für weitere Veranstaltungen<br />
ließen nicht lange auf sich warten und so ist<br />
King Tenu heute ein gefragter Künstler. Sein bisher<br />
größter Auftritt ist auf der großen CSD-Bühne<br />
auf dem Münchner Marienplatz gewesen. Er ist<br />
sehr stolz diesen Auftritt gemeistert zu haben. „So<br />
richtig Lampenfieber habe ich eigentlich nicht,<br />
aber auf dem CSD war es anders. Die große Bühne<br />
mit Übertragung auf die riesige LED-Leinwand<br />
hat mich schon sehr nervös gemacht“, erklärt<br />
Mäx.<br />
Das heutige Styling von King Tenu erinnert<br />
noch immer an den ersten Auftritt auf der Halloween<br />
Party. Eine große Narbe im Gesicht, rote<br />
nach oben gestylte Haare, starkes Contouring und<br />
ein Bandana gehören zu seinen Erkennungsmerkmalen.<br />
In der Vergangenheit hat sich Mäx bereits<br />
mit Cosplay beschäftigt. Daraus hat sie einige Erfahrung<br />
im Umgang mit Make-Up und Perücken<br />
gewonnen, die sie jetzt weiter ausbaut. Außerdem<br />
hat sie bereits einige Jahre Tanzerfahrung gesammelt,<br />
die ihr nun ebenfalls sehr zu Gute kommen.<br />
Feste Choreografien für ihre Auftritte möchte sie<br />
sich allerdings nicht zurechtlegen. „Andere<br />
Künstler:innen brauchen das. Mich würde ein falscher<br />
Schritt komplett aus der Fassung bringen.<br />
Im Zweifelsfall ziehe ich einfach viele Schichten<br />
übereinander und fange an, eine nach der anderen<br />
passend zur Musik abzulegen“, sagt die<br />
Münchnerin. Und es zahlt sich aus. Ihr Talent im
02/ 2023 Frei 13<br />
Improvisieren hat ihr in einem ihrer schlimmsten<br />
Bühnenmomente geholfen. Zwei Personen sind<br />
plötzlich auf die Bühne gesprungen und wollten<br />
den Auftritt stören. King Tenu war zunächst überfordert.<br />
Der Druck war hoch, man sollte ihm<br />
schließlich nichts anmerken. Was sollte er tun?<br />
Doch seine Nervosität wandelte er gekonnt in eine<br />
Improvisation um: Die Störenfriede wurden<br />
einfach in die Performance eingebunden. So war<br />
der Schreckmoment erst mal überwunden. „Das<br />
Publikum hatte zum Glück nichts bemerkt und<br />
die beiden Personen konnten letztendlich von der<br />
Bühne entfernt werden“, berichtet der junge Drag<br />
King, der aus diesem Moment einiges mitnehmen<br />
konnte. Sein Talent hat ihm den nötigen Beistand<br />
gegeben. Außerdem war sofort jemand zur Stelle,<br />
der ihm geholfen hat. Die Hilfe und den Zusammenhalt<br />
in der Community weiß King Tenu sehr<br />
zu schätzen.<br />
Die größte Unterstützung ist allerdings seine<br />
sogenannte „adoptive Drag Mum“, die King Tenu<br />
in seiner Entwicklung sehr unter die Arme greift.<br />
Durch den Mangel an Kings, hat sich die Queen<br />
den jungen Tenu zur Brust genommen und begleitet<br />
ihn durch verschiedene Prozesse und bietet<br />
Hilfestellungen. Außerdem bieten einem Freunde<br />
in der Community die Möglichkeit, passende Orte<br />
zum Austausch zu finden. So gibt es ganze Häuser,<br />
Clubs und Bars, aber auch Drag-Flohmärkte.<br />
Die Darsteller:innen der Szene sehen sich gegenseitig<br />
nicht als Konkurrenz. Auch nicht zwischen<br />
den verschiedenen Darstellungsformen des Drag.<br />
In der Community hat King Tenu schon einige<br />
verschiedene Drags kennengelernt. „Von Jung bis<br />
Alt ist alles dabei! Die jüngste Queen, die ich kenne<br />
ist 18 Jahre, aber ich habe auch schon einige<br />
getroffen die weitaus älter sind. Nach oben gibt es<br />
keine Grenze!“, erzählt Mäx.<br />
Durch Beobachtungen von Menschen in der<br />
Öffentlichkeit, Videos und der Besuch von Auftritten<br />
hat die Münchnerin sich einiges abgeschaut.<br />
Und genau dies wäre auch ihre Empfehlung<br />
für alle, die ebenfalls einen Fuß in die Drag-<br />
Szene setzen möchten.<br />
Abschließend kann Mäx nur allen raten:<br />
„Fangt einfach an, egal in welche Richtung ihr gehen<br />
wollt. Egal ob Queen, King, Alien oder sonst<br />
was!“<br />
I M P R E S S U M<br />
mediakompakt<br />
Zeitung des Studiengangs Mediapublishing<br />
Hochschule der Medien Stuttgart<br />
HERAUSGEBER<br />
Professor Christof Seeger<br />
Hochschule der Medien<br />
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REDAKTION<br />
Bianca Menzel, Corinna Pehar (v.i.S.d.P.)<br />
menzelb@hdm-stuttgart.de, pehar@hdm-stuttgart.de<br />
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Elena Roller, Meike Grees, Heidi Rogall<br />
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Julia Gramlich, Jenny Griffel, Sarah Kasumovic,<br />
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Annika Regber, Katharina Michalewicz, Linda Müller,<br />
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14 FREI<br />
mediakompakt<br />
„Das Leben war<br />
wie auf Standby“<br />
Bild: Unsplash<br />
Jugoslawienkrieg: Keine<br />
Freiheit, keine Sicherheit.<br />
Elira Gashi* berichtet von<br />
den Erfahrungen ihrer Familie<br />
und wie die Freiheit heute<br />
geschätzt wird, die damals<br />
vermisst wurde.<br />
VON SARAH KASUMOVIC<br />
Bis heute wissen wir nicht, was sie mit<br />
ihm gemacht haben. Seine Leiche<br />
wurde bis heute nicht gefunden. Er<br />
gehört zu den über 1.600 Menschen,<br />
die bis heute vermisst werden. Das ist<br />
für unsere gesamte Familie eine große Belastung“,<br />
berichtet Elira Gashi.<br />
Gashi ist 25 Jahre alt, in Deutschland geboren<br />
und studiert Lehramt. Obwohl sie selbst in Sicherheit<br />
aufwuchs, haben viele ihrer Familienmitglieder<br />
den Jugoslawienkrieg und seine Auswirkungen<br />
am eigenen Leib erfahren. Gashi erzählt von<br />
ihrem Opa mütterlicherseits, der sich dazu entschloss,<br />
das Land nicht zu verlassen und stattdessen<br />
in seinem Dorf bei seinem Haus und den Tieren<br />
in Vushtrri zurückzubleiben. Im Februar 1999<br />
wurde er von serbischen Soldaten entführt. Bis<br />
heute lebt ihre Familie in Ungewissheit über das<br />
Schicksal ihres Angehörigen. Viele ihrer Familienmitglieder,<br />
unter anderem ihr Vater, sahen sich<br />
bereits 1992 gezwungen, aufgrund der steigenden<br />
Spannungen auf dem Balkan nach Deutschland<br />
zu fliehen. Weitere Verwandte flohen während<br />
des Krieges nach Albanien oder in andere Städte<br />
des Kosovos. Doch nicht alle Angehörigen flohen.<br />
Einige wurden unter anderem im Massaker von<br />
Reçak ermordet. Die Auswirkungen des Krieges<br />
sind bis heute noch spürbar. „Der Alltag war wie<br />
gelähmt und von Angst bestimmt. Viele Familien<br />
flohen, so verschwanden regelmäßig Schulkinder<br />
und Arbeitsplätze blieben leer“, erwähnt Gashi.<br />
Ganze Regionen entschlossen sich gemeinsam zu<br />
fliehen, auch zu Fuß. Die Freiheit, selbst zu entscheiden,<br />
wo sie leben möchten, blieb ihnen verwehrt.<br />
Es gab massive Einschränkungen in ihrem<br />
Alltag. Einige Albaner:innen, die bei serbischen<br />
Unternehmen angestellt waren, legten ihre Arbeit<br />
nieder, um nicht für den Angreifer zu arbeiten.<br />
„Diejenigen, die allerdings weiter für sie arbeiteten,<br />
da sie auf das Geld angewiesen waren, wurden<br />
häufig schikaniert oder als Verräter bezeichnet“,<br />
erklärt Gashi. „Der Alltag lief gewissermaßen<br />
weiter, wenn doch ganz anders. Das Leben<br />
war wie auf Standby. Man machte sich Sorgen<br />
und hatte Angst und hoffte nur irgendwie zu<br />
überleben“, ergänzt Gashi.<br />
Die Menschen versuchten nach dem Krieg<br />
wieder ein Stück Normalität in ihr Leben zu bringen<br />
und ihre Freiheiten soweit es geht zurückzugewinnen.<br />
„Der Wille war groß und deswegen<br />
wurde viel dafür getan, eine Normalität aufzustellen.<br />
Kinder gingen wieder regelmäßig zur Schule,<br />
die Menschen arbeiteten“, meint Gashi. Da Kosovo<br />
bis zum Jahr 2008 noch offiziell als Teil Serbiens<br />
galt, vergingen noch einige Jahre, bis die gewünschte<br />
Freiheit erreicht wurde.<br />
Bei vielen Betroffenen haben die Erfahrungen<br />
des Krieges ein tiefes Bewusstsein für die Bedeutung<br />
von Sicherheit und Freiheit geschaffen.<br />
Auch das Recht, den eigenen Glauben frei auszuüben,<br />
wird von vielen Betroffenen als wertvoll erachtet.<br />
„Man muss auch sagen, dass Jugoslawien<br />
generell verschiedene Bevölkerungsgruppen unterdrückte.<br />
Auch Muslime, die slawisch waren,<br />
wurden in den Jugoslawienkriegen unterdrückt<br />
und ermordet, so auch in Bosnien. Der Wille war<br />
daher sehr groß, das Land in die Unabhängigkeit<br />
zu bringen und Freiheit zu erlangen. Man wollte<br />
eigene Institutionen, eigene Gesetze. Die Jugoslawienkriege<br />
haben dies alles nur noch weiter verstärkt“,<br />
verdeutlicht Gashi.<br />
Doch wie kann aus den Erfahrungen der Betroffenen<br />
gelernt und wie können Freiheit sowie<br />
Menschenrechte zukünftig geschützt werden?<br />
„Ich bin der Meinung, dass es sehr wichtig ist, die<br />
Menschen in der Gesellschaft über die Kriege im<br />
Balkan in den 1990er Jahren aufzuklären. Viele<br />
sind uninformiert darüber, was damals stattfand“,<br />
meint Gashi. Noch heute werden Genozide verleugnet,<br />
verharmlost und relativiert sowie Falschinformationen<br />
verbreitet. „Deshalb sollten die<br />
Kriege im Balkan und die Kriegsverbrechen in den<br />
Bildungsplan der Sekundarstufe aufgenommen<br />
werden. Zudem sollten Politiker aktiv werden und<br />
die serbische Regierung auffordern, unter anderem<br />
den Genozid an tausenden von Bosniaken in<br />
Srebrenica als solchen zu kennzeichnen“, fordert<br />
Gashi. Des Weiteren weist sie darauf hin, dass es<br />
wichtig sei, sich an die Vergangenheit zu erinnern<br />
und aus ihr zu lernen, um ähnliche Ereignisse in<br />
der Zukunft zu vermeiden.<br />
„Um Menschenrechte in Zukunft schützen zu<br />
können, müssen Menschenrechtsverletzungen in<br />
der Vergangenheit vorerst als solche gekennzeichnet<br />
werden“, betont Gashi.<br />
*Name von der Redaktion geändert
02/ 2023<br />
FREI<br />
15<br />
„Dein Opa war der Patriarch“<br />
Armut und fehlende Perspektiven<br />
prägten das Sizilien der<br />
1960er Jahre. Als Kind kam<br />
meine Mutter deshalb mit ihrer<br />
Familie nach Deutschland.<br />
Aber wie ist es, in einem fremden<br />
Land neu starten zu müssen?<br />
Rosa Gritzka erzählt über<br />
ihre Erfahrungen.<br />
VON ANN-KATHRIN GRITZKA<br />
Bild: Privat<br />
Bild: Unsplash<br />
Irgendwann war es so eng, dass ich mein Bett<br />
aus den zwei Wohnzimmersesseln basteln<br />
musste“, beschreibt meine Mutter Rosa die<br />
Wohnsituation ihrer Familie. Mit knapp vier<br />
Jahren zog sie von Barrafranca, einem kleinen<br />
Ort auf Sizilien, nach Worms. Was meine Familie<br />
sich durch diesen Schritt erhoffte: finanzielle<br />
Stabilität, ein besseres Leben. Sizilien war in den<br />
1950er und 1960er Jahren landwirtschaftlich geprägt.<br />
Wer kein eigenes Land besaß, verdiente<br />
sich als Tagelöhner sein Geld – so auch mein<br />
Großvater. „Es gab ja nichts anderes“, schildert<br />
meine Mutter. Eine fünfköpfige Familie ernähren<br />
konnte mein Opa damit allerdings nicht. „Irgendwann<br />
hat er die Reißleine gezogen.“ Meine Familie<br />
wanderte nach Deutschland aus. Zwei Zimmer<br />
teilten sie sich von nun an. Das Wohnzimmer<br />
wurde abends zum Schlafzimmer. „Goldig und<br />
gemütlich“, beschreibt meine Mutter die neue<br />
Wohnung, „nur zu klein für uns“, fügt sie lachend<br />
hinzu.<br />
„Deine Großeltern haben sich mit allen Gepflogenheiten<br />
des Landes vertraut gemacht.“ Sie<br />
erhielten Arbeit als Gastarbeiter:innen in einem<br />
Industriekonzern, die Kinder besuchten die Schule<br />
und den Kindergarten. Deutsch hat die Familie<br />
dort gelernt, erklärt meine Mutter. „Learning by<br />
doing durch die Gesellschaft“, nennt sie es. Es habe<br />
auch Betreuung und Hilfe durch entsprechende<br />
Ämter gegeben. Die größte Unterstützung waren<br />
jedoch andere Gastarbeiter:innenfamilien.<br />
„Es gab wie einen Verein in Worms. Daraus sind<br />
gute Freundschaften entstanden.“ Auch darüber<br />
hinaus hat sie viele Freundschaften geknüpft.<br />
„Die Kinder in unserer Gasse waren wie eine Clique.<br />
Das war die schönste Zeit.“<br />
Die Anfänge in Deutschland haben aber auch<br />
ihre Spuren hinterlassen. Zwar fehlte es den Kindern<br />
an nichts, denn sie hätten nie etwas verlangt.<br />
Doch es gab auch harte Zeiten. Mein Großvater<br />
führte häufig bis spät in die Nacht Nebenjobs<br />
aus. „Opa hat diesen großen Schritt für seine<br />
Familie gewagt und mit viel Stress, Sorgen und<br />
Ängsten gelebt“, erinnert sich meine Mutter, „das<br />
machte sein Verhalten unberechenbar.“ In manchen<br />
Momenten löste Aggressivität seine sonst<br />
liebevolle, großzügige Art ab. Für meine Oma wurde<br />
es immer belastender, Kinder, Haushalt und eine<br />
Vollzeitstelle unter einen Hut zu bekommen.<br />
Schon in jungen Jahren musste meine Mutter daher<br />
im Haushalt mit anpacken. „Für meinen kleinen<br />
Bruder war ich wie eine zweite Mama“, erzählt<br />
sie. An eine Situation erinnert sie sich besonders<br />
gut: „Eines Morgens klopfte es am Fensterladen<br />
und da standen zwei Polizisten und machten<br />
mich darauf aufmerksam, dass ich zur Schule<br />
muss.“ Eine Woche lang sei sie damals unent-<br />
schuldigt von der Schule weggeblieben, um auf<br />
ihren kleinen Bruder aufzupassen. „Das wussten<br />
Oma und Opa nicht, dass man das Kind entschuldigen<br />
muss. Woher auch?“ Heute kann sie darüber<br />
lachen. In die Schule ging meine Mutter nur,<br />
weil sie musste. Gefördert wurde sie nie. „Ich<br />
konnte nicht ahnen, dass Schule wichtig ist. Ich<br />
hatte ja keine Vorbilder“, denn mein Großvater<br />
hätte sie am liebsten zuhause gelassen. „Dein Opa<br />
war der Patriarch.“ Was er vorgab, war Gesetz.<br />
„Diese Pflichterfüllung hat mich aufgefressen“,<br />
sagt sie heute. Nur mit Mühe schloss meine Mutter<br />
die Hauptschule ab. „Wenn es nach deinem<br />
Opa gegangen wäre, hätte ich danach nichts mehr<br />
gemacht.“ Meine Mutter setze sich jedoch durch<br />
und stellte ihre eigenen Bedürfnisse voran. Trotz<br />
vieler Hürden absolvierte sie ihre Mittlere Reife<br />
und später eine Ausbildung zur Bürokauffrau. „Alles,<br />
was ich jetzt habe, habe ich mir erkämpft“,<br />
fasst sie zusammen.<br />
Trotz allem stand die Familie immer im Mittelpunkt:<br />
„Unser Zusammenhalt ist umso mehr gewachsen,<br />
eben weil wir in der Fremde waren. Wir<br />
waren eine Einheit.“ Meine Großeltern haben es<br />
geschafft, das anzunehmen, was sie hier geboten<br />
bekamen. Sie haben sich in Deutschland ein neues<br />
Leben aufgebaut. „Das war für uns eine gute<br />
Chance“, findet meine Mutter. Sie ist stolz auf ihre<br />
Eltern, dass sie diesen Schritt ins Ungewisse gewagt<br />
haben. Für sie war Deutschland immer ein<br />
Zuhause. „Ich könnte mir niemals vorstellen, woanders<br />
zu sein.“
16 FREI<br />
mediakompakt<br />
Bild: Unsplash<br />
munter mit ein. Doch in der DDR musste man<br />
heimlich auf das Westradio umschalten, um das<br />
Lied zu hören.<br />
Dies traute sich auch Rita Müller-Kochhan, bis<br />
sie von ihrem Vater dabei erwischt wurde. „Dann<br />
folgte die Gehirnwäsche. Er hörte erst damit auf,<br />
als ich es selbst glaubte“, berichtet die heute<br />
53-Jährige. „Sobald mein Vater empfand, dass ich<br />
mich nicht linientreu verhalten hatte, rief er mich<br />
in sein Zimmer.“ Zwei bis drei Stunden dauerte<br />
dann das tadelnde Gespräch. Es endete immer mit<br />
den Worten: „Sei zugeknöpft bis oben hin. Erzähl<br />
nichts von dir, man kann dich abhören. Die Partei<br />
hat immer recht.“<br />
Damit hat die gebürtige Thüringerin jedoch<br />
längst abgeschlossen. „Ich weiß bis heute nicht,<br />
ob er bei der Stasi war. Kontakt haben wir schon<br />
lange nicht mehr“, beschreibt sie. Für sie zählen<br />
die schönen Momente aus ihrer Kindheit und Jugend.<br />
„DDR-Dokus kann ich schon längst nicht<br />
mehr sehen. Ich bin nicht nostalgisch, aber oft<br />
wird alles zu einseitig dargestellt.“<br />
Aufwachsen in der DDR<br />
„Als Kind habe ich mich sicher und dankbar gefühlt.<br />
Erst als Jugendliche habe ich das System<br />
hinterfragt. Wäre die Wende nicht gekommen,<br />
dann hätte ich mich nicht genügend entfalten<br />
können“, erklärt die studierte Erzieherin. In der<br />
Schule warfen sie im Sport mit Handgranaten. Daraufhin<br />
sangen sie in Musik über den Frieden.<br />
Viele Widersprüche, viele unausgesprochene<br />
Regeln. Wörter wie „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“<br />
waren verboten, da sie vom „Klassenfeind“<br />
– dem Westen – stammten. Sagte man sie einmal,<br />
so verrieten sie: Du hast Westfernsehen geschaut.<br />
Trug man auffällige Klamotten, die einem aus<br />
dem Westen zugeschickt wurden, dann war dies<br />
Grund genug, um vom Schulleiter nach Hause geschickt<br />
zu werden.<br />
Keine Reisefreiheit, keine Meinungsfreiheit.<br />
Doch auf die Frage, durch was sie sich während<br />
der Zeit am meisten eingeschränkt fühlte, antwortet<br />
die vierfache Mutter: „Dass es so wenig gab.<br />
Aus Sorge etwas würde kaputt gehen, konnte ich<br />
vielen Hobbys nicht nachgehen. Es gab nichts<br />
zum Nachkaufen. Die Nähmaschine hätte ich gerne<br />
mal aus Spaß benutzt, aber weil keine Ersatznadeln<br />
erhältlich waren, durfte ich sie nie verwenden.“<br />
Egal ob Servietten, Knöpfe, benutzte Gläser<br />
oder Altpapier: Alles wurde wertgeschätzt, aufgehoben<br />
und einfallsreich wiederverwendet.<br />
Keine 99 Luftballons<br />
Spreewaldgurken, Stasi und<br />
gefährliche Grenzübergänge.<br />
Jeder assoziiert andere Dinge<br />
mit der DDR, aber jeder weiß:<br />
Die Freiheit fehlte. Doch wie<br />
sah das alltägliche Leben<br />
hinter der Mauer aus?<br />
VON LINDA MÜLLER<br />
Hast du etwas Zeit für mich? Dann<br />
singe ich ein Lied für dich“ – als Nena<br />
in den 80er-Jahren in „99 Luftballons“<br />
über den Kalten Krieg<br />
sang, stimmte ein Großteil der Welt<br />
Ein Stückchen Westen<br />
Ausgewählte Produkte konnte man in sogenannten<br />
„Intershops“ kaufen – sofern man Westgeld<br />
besaß. „Dort roch alles neu und besonders. Alles<br />
war bunter und schöner verpackt. Meine Sinne<br />
waren überflutet, da ich so wenig Farbe und Düfte<br />
gewohnt war.“<br />
Einmal schenkten westliche Verwandte der<br />
damals Jugendlichen etwas Geld. Davon kaufte<br />
sie mit ihrer Mutter eine Tafel Schokolade. Mit einem<br />
Lächeln erzählt die Erzieherin: „Süßigkeiten<br />
gab es selten und daher teilten wir sie über Monate<br />
auf. Doch dieses eine Mal konnten wir nicht widerstehen:<br />
Noch vor den Ausgangstüren des Ladens<br />
naschten wir die gesamte Tafel.“<br />
Bestehende Grenzen<br />
Die Gleichstellung der Frau wurde in der DDR<br />
propagiert. Jedoch begann erst nach Schichtende<br />
des Vollzeitjobs die Arbeit als Mutter und Hausfrau.<br />
„Meine Mutter ist ein Beispiel für viele Frauen<br />
in der DDR. Tag und Nacht hat sie für die Arbeit<br />
gelebt, 45 Jahre Vollzeit gearbeitet. Jetzt leidet<br />
sie unter gesundheitlichen Problemen und erhält<br />
eine so geringe Rente, dass ihr pro Woche 50 Euro<br />
zum Leben bleiben“, erläutert Müller- Kochhan.<br />
Es geht nicht nur ihr so: Nach einer Studie der<br />
Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2022 verdienen<br />
Beschäftigte in ostdeutschen Bundesländern<br />
bei gleicher Qualifikation weiterhin erheblich weniger.<br />
Die tatsächlich gezahlten Gehälter fallen<br />
im Osten um 14 Prozent niedriger aus als in Westdeutschland.
02/ 2023<br />
FREI<br />
17<br />
„Wir hörten die Hunde bellen”<br />
Was Maschinenpistolen, Micky-Maus-Hefte und ein jugoslawischer<br />
Fischer mit einer Kindheit in West-Berlin zu tun haben?<br />
Katharina Simon erzählt davon in diesem Porträt.<br />
VON IDA SIMON<br />
Es ist 1978. Der blaue VW Bulli ist voll<br />
beladen mit allem, was eine sechsköpfige<br />
Familie für den Sommerurlaub<br />
braucht. Sonnencreme, Badeanzüge,<br />
Lesestoff und Handtücher. Die damals<br />
neunjährige Katharina Simon sitzt neben ihren<br />
Geschwistern auf der Rückbank und die Vorfreude<br />
ist groß. So beginnt eine Kindheitserinnerung<br />
der heute 54-Jährigen. Sie erzählt davon, als sie<br />
danach gefragt wird, wann sie das erste Mal wahrgenommen<br />
hat, dass ihre Heimat von einer Mauer<br />
umgeben ist.<br />
Katharina Simon wird 1969 im Berliner Ortsteil<br />
Marienfelde geboren, der direkt an der Grenze<br />
zur DDR liegt. Die Mauer gehört selbstverständlich<br />
zum Stadtbild. Eine Zeit ohne diese Begrenzung<br />
kennt sie nicht, denn zum Zeitpunkt ihrer<br />
Geburt steht die Mauer schon seit acht Jahren.<br />
155 Kilometer Grenze trennen das Mädchen und<br />
mehr als zwei Millionen West-Berliner:innen vom<br />
Rest der Welt. Doch für die Bevölkerung West-Berlins<br />
war sie durch das Transitabkommen von 1971<br />
nicht mehr unüberwindbar.<br />
Ging es für die Familie damals in den Urlaub,<br />
mussten sie jedes Mal die Kontrollstelle Drei -<br />
linden überqueren. Sie erinnert sich daran, dass<br />
die Stimmung in dieser Situation immer sehr angespannt<br />
war: „Meine Eltern hatten immer Angst,<br />
dass unser VW-Bus auseinandergenommen<br />
wird.” Das Radio wurde abgestellt, die Micky-<br />
Mouse-Hefte der Brüder versteckt, Gespräche eingestellt.<br />
Die Eltern fürchteten, von den DDR-<br />
Grenzbeamt:innen herausgezogen zu werden.<br />
Dann hätten diese „das Auto tatsächlich komplett<br />
auseinander genommen, da wäre ja wirklich in jede<br />
Ritze geguckt worden.” Bei einer Durchsuchung<br />
an der Grenze sei es damals üblich gewesen,<br />
dass nicht nur Insassen und Gepäck kontrolliert<br />
wurden. Sogar die Verkleidung des Autos und<br />
die Sitzbänke hätten entfernt werden müssen, um<br />
sicherzustellen, dass keine weiteren Personen<br />
oder Schmuggelgut versteckt wurden.<br />
An der Grenze hält die Familie also den Atem<br />
an, meidet den Blickkontakt mit den mürrischen<br />
Grenzbeamt:innen. Bloß nicht provozieren. Wer<br />
durchgewinkt wurde, durfte die Transitstrecke befahren,<br />
von denen es in der DDR insgesamt vier<br />
gab. Die Familie von Katharina Simon hat Glück<br />
und darf passieren. Die Fahrt durch die DDR war<br />
dann vor allem eines: lang und monoton. Katharina<br />
Simon erinnert sich, dass von der Transitstrecke<br />
aus nicht viel zu sehen war. Von dort aus bekam<br />
man keinen Einblick in das Leben in der<br />
DDR. „Du kommst da nie durch eine Stadt durch.<br />
Es war für mich irgendwie so ein grauer Fleck. Und<br />
das, was ich wusste, war von Erwachsenen erzählt<br />
und natürlich auch eingefärbt. In diesen Erzählungen<br />
war da drüben alles schlecht.” Sogar an<br />
den Raststätten gab es separate Bereiche für die<br />
BRD-Reisenden, Kontakt zu Ostdeutschen war<br />
von Seiten der SED-Führung nicht erwünscht.<br />
Es ist auch dieser Urlaub Ende der Siebziger:<br />
Die Familie kommt in Jugoslawien mi t einem Fischer<br />
ins Gespräch, der überzeugt ist, in Berlin gäbe<br />
es keine Mauer. „Wir haben uns als Kinder darüber<br />
köstlich amüsiert. Der war so sicher. Und<br />
dass jemand auf die Idee kommt, dass um Berlin<br />
keine Mauer drum ist, das war für mich absurd.”<br />
Die Mauer spielt auch im Alltag eine aktive<br />
Rolle in Katharina Simons Kindheit, denn durch<br />
die Nähe ihres Wohnortes zur Grenze war diese<br />
für sie allgegenwärtig. Von ihrem Elternhaus bis<br />
zur Mauer waren es nicht einmal 15 Minuten, so<br />
ist sie mit ihrem Fahrrad „immer an diesem Mauerstreifen<br />
lang gefahren und da ging es halt nicht<br />
weiter.” An der Grenze selbst sei die Gefahr auch<br />
auf der Westseite spürbar gewesen. „Wir hörten<br />
die Hunde bellen. Wir haben den Stacheldraht gesehen<br />
und es war klar, da stehen Soldaten und die<br />
schießen auch. Da standen immer welche mit Maschinenpistolen.”<br />
Doch auf ihrer Seite habe sie<br />
sich sicher gefühlt, merkt Katharina Simon an.<br />
Als die Mauer fällt, ist sie 20 Jahre alt. Heute,<br />
über 30 Jahre später, sagt sie im Rückblick auf ihre<br />
Kindheit im geteilten Berlin, dass Freiheit für sie<br />
bedeutet „loslaufen zu können, ohne an eine<br />
Mauer zu stoßen. Etwas, das damals einfach nicht<br />
möglich war.”<br />
Bild: Privat
18 FREI<br />
mediakompakt<br />
Stadt. Land. Freiheit?<br />
Alle drei Minuten eine U-Bahn – ein Gefühl von Unabhängigkeit?<br />
Grüne Felder und Wiesen lassen das Herz höherschlagen?<br />
Eine Großstädterin und ein Dorfkind erzählen, warum sie sich<br />
an ihrem Wohn ort frei fühlen.<br />
VON MADDALENA FRANCO UND VANESSA LEHMANN<br />
Die Mehrheit der Menschen lebt in der<br />
Großstadt. So auch die 25-jährige Rebecca<br />
Eirich, die in Stuttgart aufgewachsen<br />
ist und derzeit dual an der<br />
DHBW Wirtschaftsingenieurwesen<br />
Facility Management studiert. „Ich würde niemals<br />
von hier wegziehen“, offenbart die Studentin. Im<br />
Interview erzählt sie, warum sie das Leben in der<br />
Großstadt liebt und wieso sie sich dort frei fühlt.<br />
Menschenmassen, Stress, Chaos – die Großstadtklischees<br />
Großstädte werden meist mit typischen Vorurteilen<br />
assoziiert: Städte sind eng, überfüllt und man<br />
hat kaum Freiräume. Aber was ist an diesen Aussagen<br />
eigentlich dran? Die Stuttgarterin erläutert ihre<br />
Ansicht: „Für viele erscheint das Leben in einer<br />
Großstadt so. Das zeigt aber nur eine Perspektive,<br />
denn trotzdem gibt es viele Freiflächen und Rückzugsorte.<br />
Wenn man raus aus dem Trubel will,<br />
kann man zu einem der vielen Parks gehen.“<br />
Rebecca Eirich liebt es zum Beispiel am Killesberg<br />
spazieren zu gehen oder auf der Wiese am<br />
Max-Eyth-See zu liegen. Auch die Homepage der<br />
Stadt Stuttgart veranschaulicht, dass fast die Hälfte<br />
der Region aus Waldflächen und Parks besteht.<br />
Somit zeigt sich, dass nicht alle Stadt-Stereotypen<br />
berechtigt sind. Großstädte haben sowohl turbulente<br />
als auch ruhige Seiten.<br />
Vielfältige Kultur- und Freizeitangebote<br />
„In Stuttgart wird es niemals langweilig“, sagt die<br />
Städterin. Museen, Theater, Schlösser, Cafés und<br />
Restaurants – die Auswahl sei so gigantisch, dass<br />
man das ganze Jahr lang jeden Tag woanders hingehen<br />
könnte. „Ich liebe die Geschwindigkeit der<br />
Stadt, den Trubel und die Vielfalt der Menschen.<br />
Die Verfügbarkeit von allem, wonach ich mich<br />
sehne. Ich fühle mich hier frei, das zu machen,<br />
worauf ich Lust habe“, ergänzt Rebecca Erich.<br />
Wer in einer Großstadt wohnt, sollte also Veränderungen<br />
lieben. Alles ist ständig im Wandel<br />
und es gibt immer wieder etwas Spannendes zu<br />
entdecken.<br />
Diverse Bildungsmöglichkeiten und hoher Arbeitsmarkt<br />
„Mich faszinieren die vielen Möglichkeiten, die<br />
mir hier zur Verfügung stehen“, äußert Rebecca<br />
Eirich. Sie hat das Gefühl, sich hier in der Stadt frei<br />
entfalten zu können, ihre Potenziale auszubauen<br />
und verschiedene Perspektiven anzustreben.<br />
Schließlich zählt Stuttgart mit seinen etlichen<br />
Hochschulen zu dem bedeutendsten Bildungsstandort<br />
in Baden-Württemberg.<br />
Typisch für eine Großstadt ist ebenso der große<br />
Arbeitsmarkt. Stadtbewohner:innen haben<br />
zahlreiche Chancen und Aussichten auf unterschiedliche<br />
Arbeitsbereiche. Die Studentin Rebecca<br />
Eirich sieht diesen Aspekt auch als zentralen<br />
Grund an, weiterhin in der Großstadt zu leben:<br />
„Die Stadt gibt mir ein sicheres Lebensgefühl, dass<br />
mir nach meinem Studium unendlich viele Optionen<br />
zu Füßen liegen werden.“ Besonders im<br />
Vergleich zum Landleben gibt es in der Stadt diverse<br />
Möglichkeiten und einen viel größeren Entfaltungsfreiraum.<br />
Bild: Pixabay<br />
Bild: Pexels/Darya Sannikova<br />
Großstädte haben eine effiziente Infrastruktur<br />
„Mir gefällt es total, dass ich zu jeder Tages- und<br />
Nachtzeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren<br />
kann. Das gibt mir ein unabhängiges freies<br />
Gefühl, dass ich zum Beispiel auch mal mittwochs<br />
nachts um drei aus dem Club nach Hause komme“,<br />
sagt die 25-jährige Stuttgarterin.<br />
S-Bahnen, U-Bahnen, Regionale Züge und<br />
Busverbindungen – urbane Räume bieten einfach<br />
ein gut ausgebautes Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln.<br />
Im Gegensatz zum Landleben ist es<br />
nicht zwingend notwendig, ein Auto zu besitzen.<br />
Auch E-Scooter, die man an jeder Ecke in der Stadt<br />
entdeckt, sind sehr praktisch und nützlich. Im Interview<br />
erzählt Rebecca Eirich, dass sie diese öfters<br />
mal für den Weg zur Uni verwendet.
02/ 2023 FREI<br />
19<br />
Bild: Gemeindeverwaltung Bad Rippoldsau<br />
Ganz anders sieht es bei Shari Schmid aus. Sie ist<br />
ein Dorfkind und lebt in einer kleinen Gemeinde<br />
im Schwarzwald, die weniger als 800 Einwohner<br />
zählt. „Wenn man keinen Führerschein hat, ist es<br />
schwierig irgendwo hinzukommen”, weiß Shari<br />
aus eigener Erfahrung. Die öffentlichen Verkehrsmittel<br />
seien in den Städten viel besser. „Bei uns<br />
fährt vielleicht alle drei Stunden mal ein Bus und<br />
der kommt auch nicht immer.“<br />
Tauschen würde die 27-Jährige trotzdem<br />
nicht: „Ich fühle mich deswegen nicht eingeschränkt.<br />
Zur Not kann ich mich immer noch aufs<br />
Fahrrad schwingen und losdüsen.” Das entschleunige,<br />
man würde die Zeit wieder mehr zu schätzen<br />
wissen.<br />
Den Wald als Nachbarn<br />
Shari ist auf dem Land aufgewachsen. „Ich fühle<br />
mich hier frei, bin glücklich”, schwärmt sie. Rund<br />
15 Prozent aller Menschen in Deutschland würden<br />
ihrer Aussage wohl zustimmen: Sie leben in<br />
Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern.<br />
Doch woran liegt es, dass sich Menschen auf dem<br />
Land frei fühlen?<br />
„Ich gehe aus der Haustüre raus, laufe keine<br />
paar Meter und bin direkt im Wald”, antwortet<br />
Shari. Auch der Schlaf sei für sie auf dem Land viel<br />
erholsamer: „Nachts hat man seine Ruhe, man<br />
kann das Fenster aufmachen, bekommt frische<br />
Luft und kann einfach gut schlafen.” Ein weiterer<br />
Pluspunkt für sie: das Gemeinschaftsgefühl. Die<br />
Anonymität, durch die sich viele Stadtmenschen<br />
erst frei fühlen, sei nichts für sie. „Das Miteinander<br />
finde ich einfach viel besser im Dorf.“ Bei einem<br />
kleinen Spaziergang durch die Ortsmitte<br />
trifft sie oft bekannte Gesichter, die für ein kurzes<br />
Gespräch anhalten. „Man ist ständig auf dem Laufenden<br />
bei uns, der Dorftratsch geht an niemandem<br />
vorbei“, verrät sie lachend.<br />
„Ich gehe aus der<br />
Haustüre raus, laufe<br />
keine paar Meter und<br />
bin direkt im Wald“<br />
Der Naturforscher und Weltreisende Alexander<br />
von Humboldt sagte einmal: „Die Natur aber<br />
ist das Reich der Freiheit.“ Auch Shari weiß, welche<br />
positiven Auswirkungen die Natur auf ihr<br />
Stresslevel hat. Laut einer Studie des Max-Planck-<br />
Instituts für Bildungsforschung aus dem Jahr<br />
2022 nimmt nach einem einstündigen Spaziergang<br />
in der Natur die Aktivität in Gehirnregionen<br />
ab, die an der Stressverarbeitung beteiligt sind.<br />
Wenn Shari in der Natur unterwegs ist, lässt sie<br />
auch ihr Handy zu Hause. Auf diese Weise kann<br />
sie sich für eine Weile von den alltäglichen Sorgen<br />
befreien und zurück zu ihren Wurzeln kommen.<br />
„Man hört nur Vögel, fühlt den Wind im Haar,<br />
das find ich schön.“ Gerade im Frühling, wenn alles<br />
blüht, zieht es Shari verstärkt in die Natur. „Die<br />
Luft, der Duft von Blumen, das ist schon toll –<br />
auch wenn man sich öfter die Nase putzen muss“,<br />
erzählt sie fröhlich.<br />
Stadtflucht als neuer Trend?<br />
Trotz der Verstädterung in Deutschland beobachten<br />
Statistiker:innen einen auffälligen Trend:<br />
Stadtflucht. Laut einer Metastudie zu Stadt-Land-<br />
Beziehungen im Auftrag der Zeit-Stiftung Ebelin<br />
und Gerd Bucerius aus dem Jahr 2021 will jede:r<br />
dritte Großstädter:in aufs Land ziehen. Kein<br />
Wunder, immerhin denken 85 Prozent der Deutschen<br />
beim Thema ländliche Regionen an Erholung,<br />
Freiheit und Natur. Für Shari ist klar: Sie<br />
möchte auf dem Land bleiben. „Meine Kinder sollen<br />
in der Natur und so unbeschwert wie möglich<br />
aufwachsen – genau wie ich.“<br />
Egal, ob Freiheit nun bedeutet, jederzeit überall<br />
hinzukommen oder absolute Stille zu genießen:<br />
Es bleibt eine Typfrage. Zum Glück kann<br />
man selbst entscheiden, ob man dafür in die Stadt<br />
oder aufs Land ziehen möchte – genau wie Rebecca<br />
Eirich und Shari Schmid.
20 FREI<br />
mediakompakt<br />
Den Job im Rucksack<br />
Die Welt entdecken, in einer Hängematte liegen und den Wellen lauschen – was für viele nach<br />
einem perfekten Urlaub klingt, war für Manuel Stamm und Simea Merki Berufsalltag. Wie ist es,<br />
als digitale Nomad:innen im Paradies zu arbeiten?<br />
VON MIRJAM VÖLKLE<br />
Bild: Manuel Stamm<br />
Ein aufgeklappter Laptop steht auf dem<br />
Tisch. Es macht „Pling“ und eine Mail<br />
trudelt in das Email-Postfach ein. Meeting<br />
in zwei Stunden. Headset und<br />
Maus liegen griffbereit daneben und<br />
weiter rechts dampft Kaffee aus einer Tasse. Ein<br />
ganz normaler Arbeitsplatz – oder nicht? Doch im<br />
Hintergrund rauschen Wellen, eine Palme spiegelt<br />
sich im Bildschirm des Laptops und die warme<br />
Brise verrät die Nähe zum Meer. Arbeitsalltag<br />
in Thailand. Das Land gilt als das weltweit beliebteste<br />
Zielland für digitale Nomad:innen.<br />
Ob von der Hängematte am Strand, dem Co-<br />
Working-Space in der Stadt oder dem Wohnzimmer<br />
des Airbnbs – digitale Nomad:innen sind<br />
Menschen, die ortsunabhängig digital arbeiten.<br />
Dabei bereisen sie die Welt. Die einzige Voraussetzung<br />
bei der Wahl des Arbeitsplatzes: Eine stabile<br />
Internetverbindung. Digitales Nomaden-Dasein<br />
kann unterschiedlich gelebt werden: Es gibt Menschen,<br />
die alle paar Wochen ihren Standort wechseln,<br />
andere haben mehrere Wohnsitze an verschiedenen<br />
Orten. Sogenannte Teilzeit-Nomad:innen<br />
haben eine Basis im Heimatland und<br />
gehen punktuell für längere Zeiträume auf Reisen.<br />
Wenn Manuel Stamm auf seine Reise zurückblickt,<br />
fällt ihm als Lieblings-Arbeitsplatz ein Café<br />
an der neuseeländischen Küste ein. „So haben wir<br />
es uns vorgestellt: Ein cooler Drink, arbeiten und<br />
Blick aufs Meer“, sagt der <strong>34</strong>-Jährige. 2018 ging<br />
Manuel Stamm mit seiner Freundin Daniela<br />
Christen für 15 Monate auf Weltreise. Währenddessen<br />
arbeitete er aus dem Homeoffice für seinen<br />
Arbeitgeber in der Schweiz weiter. Zur Reise inspirierten<br />
das Paar Erfahrungen anderer digitaler Nomad:innen<br />
im Internet. Doch zunächst stand Manuel<br />
Stamm dem Vorhaben skeptisch gegenüber:<br />
„Haben wir überall Internet? Was ist, wenn der<br />
Laptop gestohlen wird?“ Zudem sei die Arbeit aus<br />
dem Homeoffice zu diesem Zeitpunkt noch nicht<br />
etabliert gewesen. Doch beide haben Berufe, die<br />
für solch ein Projekt prädestiniert gewesen seien,<br />
erklärt der Grafikdesigner. Nach einer überraschend<br />
positiven Reaktion des Chefs kam das Paar<br />
zum Schluss, das Abenteuer zu wagen, und buchte<br />
ein Oneway-Ticket nach Neuseeland.<br />
Im Gegensatz zu Manuel Stamm ist die Mehrheit<br />
der digitalen Nomad:innen weltweit selbstständig<br />
tätig. Oft arbeiten sie im Bereich der IT,<br />
Marketing und PR, Finanzen und Buchhaltung<br />
oder bieten kreative Dienstleitungen an. Die Corona-Pandemie<br />
und die damit einhergehende<br />
Entwicklung zum mobilen Arbeiten hat dem Digitalen<br />
Nomadentum einen besonders großen<br />
Schub verliehen: Die Zahl der digitalen Nomad:innen<br />
hat sich mehr als verdreifacht. Hilfreich<br />
sind auch spezielle „Digital Nomad-Visa“,<br />
die das Arbeiten im Ausland vereinfachen. Diese<br />
gibt es weltweit in 45 Ländern. Auch die Hotelbranche<br />
geht auf die wachsende Bewegung der digitalen<br />
Nomad:innen ein. Hotelketten wie „Selina“<br />
und „Outpost“ bieten zusätzlich zu einem<br />
klassischen Hotelzimmer auch einen Co-Working-Bereich.<br />
„Für uns war es die Möglichkeit, eine<br />
Weltreise zu machen, die wir uns sonst wahrscheinlich<br />
nicht hätten leisten können“, erzählt<br />
Simea Merki. Die 23-Jährige ist gemeinsam mit ihrem<br />
Mann Joshy Merki selbstständig in der Medienbranche<br />
tätig. Das Paar war insgesamt sechs<br />
Monate unterwegs. Je nach Zeitzone passte die<br />
Schweizerin ihren Arbeitstag an und setzte sich in<br />
Nicaragua schon früh morgens an den Laptop<br />
und in Kambodscha erst gegen Mittag. Die restliche<br />
freie Zeit galt klassischen Urlaubsaktivitäten.<br />
Als Herausforderung nennt die Projektmanagerin<br />
das Trennen von Arbeit und Reise: „Wenn man<br />
zwischen den Koffern sitzend arbeitet, kommt<br />
man gar nicht richtig in den Fokus rein.“ Geholfen<br />
habe der Besuch von Co-Working-Spaces und<br />
das Einhalten von „Fokuszeiten“ – Zeit, in der sich<br />
aktiv nur auf die Arbeit konzentriert wird. „Das<br />
war für mich auch ein Durchbruch in meiner Produktivität“,<br />
reflektiert Simea Merki.<br />
Sowohl Manuel Stamm als auch Simea Merki<br />
sind heute wieder zurück in ihren Heimatorten in<br />
der Schweiz. Von der Erfahrung als „Vollzeit-Nomad:innen“<br />
ist bei beiden die Lust auf mehr solcher<br />
Reisen geblieben – jedoch nicht zwingend in<br />
diesem Ausmaß. Beide hängen nun an den klassischen<br />
Jahresurlaub ein paar Wochen „Work -<br />
ation“ ran. Simea Merki resümiert: „Es ist eine Art<br />
Wegkommen vom Alltag, ohne alles stehen und<br />
liegen lassen zu müssen.“
02/ 2023 FREI<br />
21<br />
Auf und davon!<br />
Den sicheren Job aufgeben und ein Jahr im Ausland verbringen:<br />
Elena Klausmann erzählt von ihrer Auszeit in Australien, wie<br />
diese sich auf ihre Beziehung ausgewirkt hat und wie sie sich<br />
ihre Zukunft vorstellt.<br />
VON JULIA HAAS<br />
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Kannst du kurz beschreiben, wo ich dich gerade erreiche?<br />
Nach zehn Monaten Australien sind wir vor<br />
drei Ta gen in Neuseeland gelandet. Ich sitze gerade<br />
im Flughafen Auckland und fliege in ein paar<br />
Stunden auf die Südinsel nach Christchurch. Die<br />
nächsten zwei Monate werde ich durch Neuseeland,<br />
Vietnam und Thailand reisen.<br />
Du bist aber nicht alleine unterwegs, stimmt’s?<br />
Genau, mein Freund sitzt gerade neben mir.<br />
Wir sind jetzt seit sechs Jahren zusammen und haben<br />
uns gemeinsam für diesen Schritt entschieden.<br />
Lass uns doch einmal von vorne beginnen. Wie kam es<br />
dazu, für ein Jahr ins Ausland zu ziehen?<br />
Ursprünglich wollte ich schon 2020 eine Auszeit<br />
im Ausland nehmen. Mein Job im Hotel hat<br />
mich körperlich und mental sehr herausgefordert.<br />
Ich war damit einfach nicht mehr glücklich und<br />
wusste, es muss sich etwas ändern. Durch die Pandemie<br />
haben wir es erst 2022 nach Australien geschafft.<br />
Wie schwer ist es dir gefallen, deinen Job zu kündigen?<br />
Nach sechs Jahren Hotel- und Gaststättenbranche<br />
war es einfach Zeit für eine Auszeit. Kündigen<br />
ist mir also nicht besonders schwergefallen.<br />
Warum Australien?<br />
Das Land und seine Vielfältigkeit haben mich,<br />
beziehungsweise uns, schon immer interessiert.<br />
Sei es die atemberaubende Natur, die Tierwelt<br />
oder der Lifestyle. Für einen dreiwöchigen Urlaub<br />
war es mir einfach zu weit weg und zu teuer. Also<br />
war es realistischer, für mehrere Monate dort hinzuziehen<br />
und das Land und die Kultur zu entdecken.<br />
War das Auslandsjahr vorher detailliert geplant oder<br />
wurde eher spontan entschieden, wo es als nächstes<br />
hingeht?<br />
Wir sind generell spontan, daher war das auch<br />
für die Reise geplant. Der erste Stopp war Sydney.<br />
Dort war es uns mit 15 Grad im Juli aber einfach<br />
zu kalt. Also sind wir nach ein paar Tagen Richtung<br />
Norden nach Cairns geflogen. Wenn man<br />
zehn Monate vor sich hat, macht es Sinn, spontan<br />
zu sein. Wir wussten, wir werden uns eventuell<br />
anderen Backpackern anschließen, daher wollten<br />
wir nichts im Vorhinein buchen.<br />
Gab es Momente während der letzten Monate, in denen<br />
du das Auslandsjahr bereut hast?<br />
Nein, wir haben die Entscheidung kein einziges<br />
Mal bereut. Für uns war es genau der richtige<br />
Moment, diesen Traum zu erfüllen.<br />
Kam zwischenzeitlich auch Heimweh auf?<br />
Tatsächlich nicht! Dadurch, dass wir unsere<br />
gemeinsame Wohnung in Deutschland aufgelöst<br />
haben, war unser Zuhause eh nicht mehr vorhanden.<br />
Außerdem ist mein Freund mein Zuhause<br />
und den hatte ich ja immer bei mir.<br />
Ihr seid schon lange zusammen. Wie hat sich dieser gemeinsame<br />
Schritt auf eure Beziehung ausgewirkt? Was<br />
hat sich verändert?<br />
Wir haben unsere Beziehung noch mehr gefestigt<br />
und sind beide erwachsener geworden. Es tauchen<br />
ja immer Probleme auf. Wären wir zu Hause,<br />
hätten wir uns vermutlich eher gestritten und wären<br />
uns aus dem Weg gegangen. Auf unsere Reise<br />
war das aber keine Option. Wir mussten direkt eine<br />
Lösung finden und damit umgehen können.<br />
Wenn du die vergangenen Monate in einem Wort zusammenfassen<br />
könntest, welches wäre das?<br />
Ich kann mich unmöglich auf ein Wort beschränken.<br />
Ich würde mich für „einmalig“ und<br />
„unglaublich“ entscheiden. Der Abstand von zu<br />
Hause hat mir einen neuen Blick auf meine Zukunft<br />
gegeben. Mir ist klar geworden, was ich für<br />
mein Leben möchte und was eben nicht.<br />
Was genau ist dir klar geworden? Wie stellst du dir deine<br />
Zukunft vor?<br />
Ich möchte auf jeden Fall wieder in der Hotelund<br />
Gaststättenbranche arbeiten. Wo genau, will<br />
ich entscheiden, wenn ich zurück in Deutschland<br />
bin. Ich möchte aber mehr auf meine Work-Life-<br />
Balance achten. Meine neue Arbeitsstelle soll<br />
mich nicht mehr so beanspruchen, dass keine Zeit<br />
für Privatleben und Freizeit bleibt. Außerdem haben<br />
mein Freund und ich Bouldern für uns entdeckt.<br />
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22 FREI<br />
mediakompakt<br />
Bild: Privat<br />
Zwischen Jetlag und Brüllaffen<br />
Hoch oben auf den Maya-Pyramiden oder tief unten am Korallenriff – da ist Freiheit. Aber wo<br />
liegen die Grenzen des Glücks, wenn Frauen allein die Welt erobern? Antonia Reichmann und<br />
Annika Ederer erzählen von ihren Reisen nach Tansania und Mexiko.<br />
VON ALEXANDRA ELLINGER<br />
Wir waren im Nirgendwo und um<br />
uns herum brannten Buschfeuer.<br />
Ich dachte sofort: ‚Ach du Scheiße,<br />
ist das heiß!‘“ Höllentrip statt<br />
Traumurlaub? Für Frauen wie die<br />
22-jährige Annika Ederer kann es allein auf Reisen<br />
besonders brenzlig werden.<br />
Laut einer Umfrage von HolidayCheck reisten<br />
42 Prozent der deutschen Frauen bereits solo. So<br />
auch die gleichaltrige Antonia Reichmann, die<br />
fünf Wochen bei einem Tauchprojekt in Tansania<br />
arbeitete. Annika Ederer schwärmt: „Dieses Reisefieber,<br />
dieses Kribbeln, dass du wegmusst – das habe<br />
ich von meinen Großeltern.“ Die Planungen<br />
für eine gemeinsame Reise nach Mexiko liefen auf<br />
Hochtouren, als ihr Großvater starb. „Meine Oma<br />
meinte, ‚Opa wollte unbedingt die Reise mit dir<br />
machen‘, und ich habe vorgeschlagen, ‚Das können<br />
wir doch machen‘.“<br />
„Ich brauchte bei so viel Kriminalität einen Rückhalt.“<br />
Interessiert sich eine Frau für eine Reise, taucht<br />
schnell die Frage nach der Sicherheit auf. Das Auswärtige<br />
Amt informiert über Reiseziele. In Tansania<br />
und Mexiko wird vor der Kriminalitätsrate gewarnt,<br />
in Mexiko auch vor Gewalt gegen Frauen.<br />
„Ich kann die Sprache nicht und ich brauchte in<br />
einem Land mit so viel Kriminalität einen Rückhalt“,<br />
begründet Annika Ederer die Entscheidung<br />
für eine Reiseleitung. Antonia Reichmann war in<br />
Tansania die meiste Zeit auf sich gestellt. Gestohlen<br />
wurden ihr die Kopfhörer – und das aus der eigenen<br />
Unterkunft. „Danach habe ich immer gewissenhaft<br />
abgeschlossen“, berichtet sie lachend.<br />
„Jeder ist froh, wenn er Arbeit findet – auch Kinder.“<br />
Kriminalität und Armut gehen Hand in Hand. Antonia<br />
Reichmann schildert den Normalzustand in<br />
Tansania: „Die meisten Menschen leben auf der<br />
Straße. Manche unter einer Plane, die sie im Müll<br />
gefunden haben. Einige haben nicht mal Kleider.<br />
Jeder ist froh, wenn er Arbeit findet – auch Kinder.“<br />
Annika Ederer sah in Mexiko neben den touristischen<br />
Regionen auch das Leben der Einheimischen:<br />
„Der Tourismus ist die einzige Geldquelle.<br />
Mit dem Bus sind wir oft durch arme Dörfer gefahren.<br />
Ich weiß nicht, was die Menschen in der Regenzeit<br />
machen. In den Häusern gibt es keine Türen<br />
oder Fenster.“<br />
„Einheimische haben mich zum Essen eingeladen.“<br />
Eine Reise ist gelungen, wenn tolle Erinnerungen<br />
bleiben. Antonia Reichmann machte in Tansania<br />
ihren Tauchschein und rettete Korallen. Sie ging<br />
auf Märkte und baute sogar an einer Lehmhütte<br />
mit. Ein Highlight war die Einladung zum Abendessen<br />
bei einer tansanischen Familie, wo sie den<br />
Maisbrei Ugali probieren durfte.<br />
Annika Ederer und ihre Oma starteten in Mexiko<br />
hingegen etwas holprig. Beide kämpften um<br />
Schlaf, die Oma mit Jetlag und die 22-jährige Studentin<br />
mit Brüllaffen: „Unser Hotel war neben<br />
dem Dschungel und die haben morgens um vier<br />
Uhr gebrüllt.“<br />
Auf der anschließenden Rundreise begeisterten<br />
sie die Ausgrabungsstätten der Maya: „Ich saß<br />
in Edzná auf den Stufen der Pyramide und alles<br />
war still. Du fühlst dich da oben ganz klein und<br />
denkst dir ‚krass‘.“<br />
Neben schönen Momenten gibt es auch Schattenseiten.<br />
„Wir sind an Buschfeuern vorbeigefahren,<br />
als wäre es das Normalste auf der Welt. Es wurde<br />
auch irgendwann normal, weil es so viele gab“,<br />
berichtet Annika Ederer.<br />
Antonia Reichmann erinnert sich an ihre Zeit<br />
in Tansania: „Man sticht natürlich hervor mit der<br />
hellen Haut. Auf Märkten kann es unangenehm<br />
sein, wenn dich Verkäufer in ihre Stände ziehen<br />
wollen. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass mir jemand<br />
etwas Böses will. Auch Frauen können allein<br />
in solche Länder reisen.“<br />
„Man sollte nichts verteufeln, was man nicht selbst<br />
ausprobiert hat.“<br />
Für viele Frauen bleibt die Frage offen: Ist eine Solo-Reise<br />
das Richtige für mich? Annika Ederer<br />
warnt vor überstürzter Begeisterung: „Man muss<br />
sich erst einmal dazu überwinden.“<br />
Antonia Reichmann rät allen reisebegeisterten<br />
Frauen: „Wenn das Interesse da ist: Unbedingt<br />
ausprobieren. Man sollte nichts verteufeln, was<br />
man nicht selbst ausprobiert hat. Am Ende ist es<br />
vielleicht ein blöd gelaufener Urlaub, aber vielleicht<br />
ist es auch der beste deines Lebens.“<br />
Tipps für Solo-Reisen<br />
1. Mit kleinen Zielen starten<br />
2. Sicherheit schaffen, etwa mit Trillerpfeife<br />
3. Plan B haben
02/ 2023 FREI<br />
23<br />
Von Bischkek nach Berlin<br />
Beim Rätseln auf die Frage „Woher kommst du?“ war Aleksandr Aleksin schon Däne, Pole und<br />
Schwede. Dass er nicht aus Deutschland kommt, macht sich an seinem Akzent bemerkbar –<br />
diesen trägt er mit Stolz. Die Antwort lautet: Kirgistan.<br />
VON LILIA PETER<br />
Aleksandr Aleksin ist in Kirgistan geboren,<br />
einem asiatischen Land mit rund<br />
sechs Millionen Einwohner:innen.<br />
Nun lebt er 6000 Kilometer entfernt<br />
mit seiner Familie in Berlin. Seine Verwandtschaft<br />
hat Ursprünge in Russland und Kirgistan,<br />
aber keine Vorfahren aus Deutschland.<br />
Wie seine Eltern ist er russischsprachig aufgewachsen.<br />
In der Schule wurde Deutsch als Fremdsprache<br />
angeboten. Flüssig sprechen konnte Aleksin<br />
es zu der Zeit nicht. Diese ersten Berührungspunkte<br />
sollten ihn aber zu seinem heutigen Leben<br />
führen: „Es hat sich so angefühlt, als wollte das<br />
Schicksal, dass ich Deutsch lerne“, erzählt der<br />
heute 44-Jährige. Als Aleksin sein Studium der<br />
Rechtswissenschaften in Bischkek, der kirgisischen<br />
Hauptstadt, antrat, hatte er erneut die Möglichkeit<br />
Deutsch zu lernen – dieses Mal in einem<br />
kleinen Intensivkurs. Damit konnte er seine<br />
Sprachkenntnisse mit dem international anerkannten<br />
Goethe-Institut-Zertifikat nachweisen.<br />
Selbst in seiner Freizeit begegnete Aleksin Menschen,<br />
die von einem utopischen Deutschland erzählten.<br />
„Das Ausland, Deutschland, war was<br />
komplett Neues“, erinnert er sich.<br />
Für Aleksin war klar: Er würde sich ein eigenes<br />
Bild von diesem „Traumland“ machen. Um einen<br />
Sommer in Deutschland verbringen zu können,<br />
hat er sich beim Deutschen Akademischen Austauschdienst<br />
(DAAD) für ein dreimonatiges Stipendium<br />
beworben. Zwei Jahre war er erfolglos,<br />
bis im Jahr 2001 die Zusage für ein einjähriges Absolventen-Stipendium<br />
kam. „Die Urkunde habe<br />
ich immer noch“, lacht er.<br />
Mit 23 Jahren verließ Aleksin sein Heimatland<br />
und lernte das deutsche Studentenleben kennen.<br />
An der Universität Bremen hatte er die Chance,<br />
ein Masterprogramm in Rechtswissenschaften für<br />
ausländische Studierende zu belegen. Deutschland<br />
war bunt, der Alltag herausfordernd. Aber<br />
nun konnte sich Aleksin mit der Sprache und dem<br />
Studentendasein vertraut machen. Noch heute<br />
begeistert er sich für die deutschen Universitätsbibliotheken.<br />
„Klar gab es in Kirgistan Bibliotheken<br />
und Bücher. Nur leider waren die meisten Bücher,<br />
die man gebraucht hat, vergriffen.“ Das Auslandsjahr<br />
endete mit einer deutschen Abschlussarbeit<br />
und einer Wahl: Entweder konnte Aleksin mit<br />
idealen Berufsaussichten nach Kirgistan zurückkehren<br />
oder in Deutschland einen Doktorgrad erlangen.<br />
Als Jurist des kirgisischen Rechts schlug er<br />
einen anderen Weg ein: das deutsche Jurastudium.<br />
Damit setzte er den Grundstein für sein neues<br />
Leben in Deutschland. Heute ist Aleksin selbstständig<br />
als Rechtsanwalt in Berlin tätig.<br />
Seit 2009 trägt der gebürtige Kirgise die deutsche<br />
Staatsbürgerschaft – Deutsch auf Papier. In<br />
der Realität balanciert er zwei Identitäten. Je nach<br />
Situation wechselt er zwischen den Sprachen. Er<br />
denkt und träumt in beiden. „Ich habe zwei Gesichter,<br />
russisch und deutsch, die miteinander<br />
sprechen.“ Seinen Kindern möchte er beides vermitteln.<br />
Sie wachsen zweisprachig auf. „Meine<br />
Frau spricht mit den Kindern auf Deutsch. Ich rede<br />
zu Hause nur auf Russisch. Meine Kinder antworten<br />
lieber auf Deutsch“, lacht der Rechtsanwalt.<br />
Für Aleksin bedeuten Sprachen neue Möglichkeiten.<br />
Sie sind „Türöffner“ im Leben.<br />
„Jede Sprache bringt uns weiter. Wenn ich die<br />
Möglichkeit hätte, die Zeit zurückzudrehen, hätte<br />
ich noch die kirgisische Sprache gelernt.“ Aleksins<br />
Lebensweg ist durch seine Mehrsprachigkeit zutiefst<br />
geprägt. Schließlich hat ihm die deutsche<br />
Sprache einen Weg nach Deutschland geebnet.<br />
Aber auch seine Muttersprache hilft ihm heute im<br />
Arbeitsalltag. Russischsprachige Mandant:innen<br />
aus aller Welt suchen nach gleichsprachigen Anwälten.<br />
Dabei betreut er sie zum deutschen Recht.<br />
So berichtet er von Situationen, in denen er in seinem<br />
Berliner Büro mit einem Iraner aus der Ukraine<br />
auf Russisch sprechen musste. Obwohl Aleksins<br />
Wurzeln in Kirgistan sind, kann er sich ein<br />
Leben dort nicht mehr vorstellen. Mittlerweile leben<br />
viele Verwandte und Freund:innen in verschiedenen<br />
Teilen Europas. Auch sie haben ein<br />
anderes Land zu ihrer Heimat gemacht. Für Aleksin<br />
ist Deutschland sein Zuhause.<br />
Bild: Privat<br />
Bild: Pexels
24 FREI<br />
mediakompakt<br />
Freiheit neu geschrieben<br />
Nicht überall ist die Meinungsfreiheit so selbstverständlich wie<br />
hier in Deutschland . Khalil Khalil, heute Redakteur beim SWR,<br />
ist 2015 von Syrien nach Deutschland geflohen. In seinem<br />
Heimatland hätte er seinen Wunschberuf als Journalist nicht<br />
frei ausüben können.<br />
VON MAX MÜLLER<br />
Journalismus lebt von Freiheit und wenn<br />
man diese Meinungsfreiheit als Journalist<br />
nicht hat, dann ergibt es auch keinen<br />
Sinn, diesen Beruf auszuüben“, betont<br />
Khalil Khalil, der heute als Redakteur für<br />
das SWR-Format Kaffee oder Tee arbeitet und unter<br />
anderem Inhalte für die Live-Sendung vorbereitet.<br />
Redaktionell und journalistisch ist Khalil<br />
noch nicht sehr lange tätig. Eigentlich wollte er<br />
schon als junger Erwachsener eine Ausbildung<br />
zum Journalisten anfangen. Doch in Syrien bot eine<br />
journalistische Ausbildung keine guten Aussichten.<br />
Das Regime unter Präsident Baschar Al-<br />
Assad kontrolliert die Medien im Land. Alle Publikationen<br />
werden auf politische Inhalte geprüft.<br />
Gerade junge Menschen haben es nicht leicht<br />
in Syrien. Seit 2011 herrscht im Land Bürgerkrieg.<br />
Die Regierung zieht dafür junge Männer ein. Wer<br />
sich weigert, als Soldat zu dienen, wird verhaftet<br />
oder erschossen. Wer sich nicht der Regierung<br />
beugt, muss fliehen.<br />
Da der Journalismus keine Option für Khalil<br />
war, entschied er sich für ein Jura-Studium. Nach<br />
erfolgreichem Abschluss des Bachelors, fing der<br />
heutige Redakteur einen Master an. Der Krieg war<br />
damals bereits im vollen Gange. Im zweiten Jahr<br />
des Masterstudiums verschärften sich die Zustände<br />
in Syrien weiter. Wie vielen Studierenden, wurden<br />
auch Khalil jegliche Recherchearbeiten verboten.<br />
Als junger Mann wurde er zudem von der<br />
Regierung verfolgt. Khalil entschied sich, das<br />
Land zu verlassen und nach Deutschland zu<br />
flüchten. Von seiner Flucht 2015 erzählt er heute<br />
nicht mehr gerne.<br />
„Es ist zwar schön darüber zu erzählen, aber du<br />
kommst zu einem Punkt, an dem du denkst, ich<br />
will mich einfach von diesem Begriff ‚Flüchtling‘<br />
befreien. Du willst die Vergangenheit hinter dir<br />
lassen, das verarbeiten und neu anfangen.“<br />
Seine Familie blieb in Syrien zurück. Den Kontakt<br />
zu ihnen konnte Khalil halten, allerdings nur<br />
sehr unregelmäßig. Strom und Telefonnetz fallen<br />
in vielen Teilen Syriens immer wieder über längere<br />
Zeit aus. Durch die Erdbeben Anfang Februar<br />
diesen Jahres wurde die Lebenssituation in vielen<br />
Orten noch schlechter. In Kriegsgebieten bekamen<br />
die Menschen kaum Hilfe von außerhalb.<br />
Khalil arbeitete sich in Deutschland hoch zum Redakteur.<br />
Anfangs wäre eine berufliche Tätigkeit<br />
als Jurist oder Journalist aufgrund der Sprachbarriere<br />
schwer gewesen. Beim SWR fing er deshalb<br />
eine Ausbildung als Mediengestalter an. Damit<br />
hat er sich aber nicht zufriedengegeben und sich<br />
weiter qualifiziert. Die Sprachbarriere hat Khalil<br />
überwunden. Er gibt jetzt sogar Nachhilfe in deutscher<br />
Sprache sowie im schwäbischen und badischen<br />
Dialekt.<br />
Als nun freier Journalist mit syrischem Hintergrund<br />
nimmt Khalil viele Rechte und Begebenheiten<br />
in Deutschland ganz besonders wahr. „In<br />
Deutschland sagt man‚ ‚die Gedanken sind frei,<br />
wer kann sie erraten?‘. Bei uns war es, ‚die Wände<br />
haben Ohren‘.“ Für Querdenker:innen und andere<br />
Verschwörungstheoretiker:innen in Deutschland<br />
hat er nur wenig Verständnis. Was sie über<br />
die deutsche Regierung behaupten, hat Khalil tatsächlich<br />
erlebt: „Leute, wenn ihr in einer Diktatur<br />
wärt, wärt ihr schon lange weggesperrt. Allein<br />
dass ihr das öffentlich sagt, zeigt, ihr seid nicht in<br />
einer Diktatur.“<br />
Neben seiner Karriere beim SWR half Khalil<br />
jahrelang bei der Aufklärung über Flucht und Integration<br />
an Schulen. Vor kurzem absolvierte er<br />
einen Master in Medienrecht. Die Entscheidung<br />
sein Heimatland zu verlassen, bereut er nicht. Mit<br />
seinen Artikeln und Vorträgen konnte er bereits<br />
viele Menschen inspirieren. Khalil hat sich nicht<br />
aufhalten oder beirren lassen und kann heute seinen<br />
Traumberuf frei ausüben.<br />
Bild: Pexels/Darya Sannikova<br />
Bild: Privat
02/ 2023<br />
FREI<br />
25<br />
„Ich kann nicht nicht kreativ sein“<br />
Bilder: Unsplash<br />
Freiheit durch Kunst hat nicht nur eine politische Bedeutung,<br />
sondern auch eine ganz persönliche. Musikstudent Dennis<br />
Schlienz und Hobby-Schriftstellerin Inka Riedel berichten,<br />
was ihre Kunst für sie bedeutet und wie sich das auf ihr Leben<br />
auswirkt.<br />
VON ANNIKA REGBER<br />
Es fühlt sich manchmal so an, als ob ich<br />
es machen muss, weil ich es nicht<br />
nicht machen kann”, sagt Inka Riedel<br />
auf die Frage, was Freiheit durch Kunst<br />
für sie bedeutet. Es ist wie ein Drang,<br />
etwas Kreatives zu machen, den sie nicht ignorieren<br />
kann. „Wenn ich es eine lange Zeit nicht mache,<br />
dann fehlt es mir extrem.” Vor allem neben<br />
dem analytischen Umfeld ihres Physikstudiums<br />
ist das Eintauchen in andere Welten, die sie selbst<br />
so kreieren kann wie sie möchte, sehr befreiend.<br />
Sie kann sich nahezu problemlos in den kreativen<br />
Prozess fallen lassen und stundenlang darin versinken.<br />
Ganz im Gegenteil zu Rechenaufgaben<br />
oder Protokollen, die sie für ihr Studium erledigen<br />
muss.<br />
Für Dennis Schlienz entsteht wahre Kunst erst<br />
dann, wenn individuelle Ideen und Gefühle dazukommen.<br />
In seinem Studium wird Musik meist<br />
nur möglichst perfekt reproduziert. Von Musiker:innen<br />
wird heutzutage oft eine entsprechende<br />
fachliche Ausbildung erwartet. Das ist für Dennis<br />
Schlienz unverständlich. Für ihn und viele seiner<br />
Kommiliton:innen ist der Fokus auf Noten im Studium<br />
nicht mit künstlerischer Freiheit zu vereinbaren.<br />
„Die besten Stücke haben wir angetrunken<br />
auf irgendwelchen Festen gesungen”, erinnert<br />
sich der Musikstudent. Erst durch den Spaß und<br />
die Freiheit beim Musizieren entstehen für ihn die<br />
Gänsehaut-Momente, die Musik so besonders machen.<br />
Er schätzt die Kompetenzen, die er im Studium<br />
erlernt hat. Dennoch ist er der Meinung, dass<br />
ein Kunststudium niemandem tatsächlich dabei<br />
hilft, erfolgreich zu werden. Paul McCartney kann<br />
beispielsweise keine Noten lesen und die anderen<br />
Mitglieder der Beatles konnten es auch nicht.<br />
Künstler:innen und ihre Werke werden häufig<br />
von anderen Menschen mystifiziert und dadurch<br />
an eine höhere Position außerhalb der Gesellschaft<br />
gestellt. Viele ignorieren schlichtweg die<br />
harte und langwierige Arbeit, die von Künstler:innen<br />
geleistet wird. Für den kreativen Prozess ist<br />
nach Musikwissenschaftlerin Claudia Bullerjahn<br />
die intrinsische Motivation von Bedeutung. Diese<br />
ist ein innerer Antrieb, der ohne äußere Einflüsse<br />
entsteht. Dem gegenüber steht die extrinsische<br />
Motivation, also der Antrieb durch äußere Reize<br />
wie Belohnungen oder Vermeiden von Strafen.<br />
Extrinsische Motivation kann der Kreativität<br />
in vielen Fällen schaden, da die Aufmerksamkeit<br />
zwischen den äußeren Zielen und der kreativen<br />
Aufgabe geteilt werden muss. Für Inka Riedel ist<br />
Kunst – ob Schreiben, Malen oder Musik – ausschließlich<br />
ein Hobby. Sie hat dafür keine externen<br />
Antriebe, außer die Anzahl der Leser:innen<br />
ihrer Geschichten zu steigern. Aber davon lässt sie<br />
nicht wirklich beeinflussen, was sie schreiben<br />
will. „Wenn du selber nicht zufrieden bist mit<br />
dem, was du machst, dann ist extrinsische Motivation<br />
eh wertlos.” Seit sie angefangen hat, nur<br />
das zu schreiben, was sie will, fällt es ihr deutlich<br />
leichter. Der einzige Druck beim kreativen Schreiben<br />
stammt von ihrem eigenen Perfektionismus.<br />
Damit kommt sie aber durch den Spaß an der Sache<br />
und ihre starke innere Motivation für ihr<br />
Hobby gut klar.<br />
Dennis Schlienz schätzt die intrinsische Motivation<br />
auch sehr hoch. Er erkennt zwar den Mehrwert,<br />
den er durch externe Inspirationen und Anregungen<br />
im Studium erhält. „Aber im Endeffekt<br />
bist du die Quelle, die diese Kunst schaffen kann.<br />
Du kannst das nur zu 100 Prozent schaffen, wenn<br />
es zu 100 Prozent von dir kommt.”<br />
Wie die beiden Interviewpartner:innen aufgezeigt<br />
haben, ist eine starke intrinsische Motivation<br />
gerade für kreative Projekte sehr wichtig. Äußere<br />
Einflüsse können helfen, Menschen das erste<br />
Mal auf eine kreative Aufgabe aufmerksam zu machen<br />
und Inspiration zu liefern.<br />
Dennoch ist für das tatsächliche Erzeugen von<br />
Kunst ein innerer Antrieb nötig. Wenn alles richtig<br />
zusammenspielt, können sich Künstler:innen<br />
durch ihre eigenen Kreationen Freiheit schaffen<br />
und so ihr Leben bereichern.
26 FREI<br />
mediakompakt<br />
Vom Hörsaal zum Business<br />
Für junge Menschen wirkt die<br />
Idee der Unternehmensgründung<br />
oft abschreckend. Doch<br />
was passiert, wenn man diesen<br />
Schritt wagt?<br />
Eine der Gründer:innen des KI<br />
Start-ups AdaLab berichtet<br />
über ihren Alltag als junge Unternehmerin.<br />
VON MEIKE GREES<br />
Ein Altbau im Herzen Hamburgs, fünfter<br />
Stock: Hier befindet sich das Hauptquartier<br />
von AdaLab. Auf den ersten<br />
Blick ein Büroraum wie jeder andere,<br />
fünf Schreibtische mit Bildschirmen,<br />
Kabelsalat. AdaLab ist aber kein beliebiges Startup.<br />
Das Hauptprodukt ist ein KI-Modell, mit dem<br />
automatisch Musikvideos generiert werden können.<br />
Mit dem entstandenen Tool kann zu einem<br />
Musikstück ein Video mit bestimmten visuellen<br />
Vorgaben ausgespielt werden. Alle Mitarbeitenden<br />
sind unter 35 Jahren, auch die drei Gründungsmitglieder<br />
Pia Čuk, Anton Wiehe und Florian<br />
Woeste.<br />
Čuk ist seit vier Jahren Wahlhamburgerin und<br />
hat ihren Master in Intelligent Adaptive Systems<br />
an der dortigen Universität im Jahr 2022 als Jahrgangsbeste<br />
abgeschlossen. Ihre beiden Gründungskollegen<br />
von AdaLab hat die 25-Jährige bereits<br />
während des Masterstudiums kennengelernt.<br />
„Anton und Florian haben schon ein Jahr vorher<br />
angefangen und hatten den Traum von der eigenen<br />
Firma zuerst. Die beiden haben mich dann<br />
so ein bisschen angeworben“, erzählt Čuk. So entstand<br />
die eigentliche Idee, dass Unternehmensgründung<br />
eine machbare Option für sie sein<br />
könnte.<br />
Auf die Frage, wie es sich anfühlt, als junge<br />
Frau in einem männlich dominierten Feld zu arbeiten,<br />
muss sie schmunzeln. „Man gewöhnt sich<br />
schon während des Studiums im naturwissenschaftlich-technischen<br />
Bereich daran, immer in<br />
der Unterzahl zu sein.“ Sie habe gelernt, sich davon<br />
nicht einschüchtern zu lassen. „Wenn dann<br />
aber ein männlicher Kunde mir erklären will, wie<br />
mein Job geht und der Satz schon mit ‚Du als Frau<br />
…‘ losgeht, bin ich raus.“ Glücklicherweise stärken<br />
Čuks Teammitglieder ihr in solchen Situationen<br />
den Rücken und es wird eine gemeinsame Lösung<br />
für den Umgang gefunden.<br />
Die größte Herausforderung am Start-up-Alltag<br />
ist für Čuk die schlechte Planbarkeit. „Teilweise<br />
weiß ich nicht mal, was ich nächste Woche machen<br />
werde. Gleichzeitig ist der Moment, wo mir<br />
die Zeit ausgeht, der Moment, an dem das Unternehmen<br />
bankrott ist. Unsere Zeit ist unser größtes<br />
Kapital. Das war besonders am Anfang gewöhnungsbedürftig“,<br />
sagt die Informatikerin. Nachdem<br />
AdaLab seit inzwischen drei Jahren läuft, habe<br />
aber alles schon mehr Routine. „Du lernst mit<br />
der Zeit, dass sich viele deiner Sorgen einfach von<br />
allein erledigen“, erklärt Čuk.<br />
Im Gespräch wird auch schnell klar, dass die<br />
positiven Seiten des selbstständigen Daseins deutlich<br />
überwiegen. Die Freiheit, nach eigenem besten<br />
Wissen und Gewissen Entscheidungen zu treffen<br />
„ist wirklich das coolste daran“, berichtet Čuk<br />
über ihren Alltag. Man sei eben nicht seinem Arbeitgeber<br />
verpflichtet, sondern könne das tun,<br />
was man persönlich für richtig halte.<br />
Auch zu sehen, wie viele Menschen tatsächlich<br />
praktischen Bedarf für das selbst entwickelte<br />
Produkt haben, sei sehr erfüllend. Gerade kleinere<br />
Künstler, die bisher ihre Musik ohne visuelle Unterstützung<br />
veröffentlicht hatten, profitieren von<br />
AdaLabs Musikvideo-Tool. „Für echte Menschen<br />
zu entwickeln ist definitiv das, was mir an meinem<br />
Job am meisten Spaß macht. Es ist so schön<br />
zu sehen, wenn dafür dann positive Rückmeldungen<br />
kommen.“<br />
Für alle, die jetzt auf den Geschmack des eigenen<br />
Unternehmens gekommen sind, hat Čuk<br />
noch einige Tipps zum Gründen. „Einfach probieren,<br />
denn es wird nie den richtigen Moment geben,<br />
wo du alles weißt und gleichzeitig kein Risiko<br />
und keine Verantwortung hast.“ Es helfe enorm,<br />
das Thema Gründung nicht als lebensentscheidende<br />
Aufgabe zu sehen.<br />
Trotzdem sei es auch wichtig, sich bewusst zu<br />
sein, dass gerade am Anfang viele Fehler passieren.<br />
Wenn man aber bereit ist, aus diesen zu lernen,<br />
daran zu wachsen und den Lernprozess anzunehmen,<br />
ist die eigene Firma zu gründen ein<br />
Prozess, der einen persönlich und professionell<br />
nur bereichert.<br />
Namensgeberin von AdaLab<br />
Bild: AdaLab<br />
AdaLab ist nach Ada Lovelace benannt. Sie<br />
war eine britische Mathematikerin, die als<br />
erste Programmiererin der Welt gilt. Lovelace<br />
war an der Entwicklung eines Vorläufers des<br />
modernen Computers beteiligt und schrieb<br />
den ersten Algorithmus für eine Maschine.
02/ 2023 FREI<br />
27<br />
Bild: Unsplash<br />
Geld regiert die Welt<br />
Reisen, ein Auslandssemester oder einer Geschäftsidee nachgehen. Alles Freiheiten und jede<br />
davon benötigt dasselbe – Geld. Wie stehen Freiheit und Geld zueinander? Und was, wenn man<br />
keines hat?<br />
VON JULIAN SILLER<br />
Die Welt hat eine Pandemie hinter<br />
sich gebracht. Kurz darauf folgt der<br />
Krieg in der Ukraine. In Deutschland<br />
schießen die Energiepreise in bisher<br />
nicht gekannte Höhen. Die Inflation<br />
steigt, Wohnungsmieten sind hoch. Lebensmittelpreise<br />
kennen nur eine Richtung – nach oben.<br />
Trotz Energiepreispauschale und staatlicher Hilfen<br />
sind viele Bundesbürger:innen an ihrem finanziellen<br />
Limit angekommen. Laut ARD-<br />
Deutschlandtrend gaben im Herbst 2022 57 Prozent<br />
an, dass sie Sorge haben ihre Rechnungen<br />
nicht mehr bezahlen zu können.<br />
„Geld schafft Möglichkeiten. Das gilt im privaten,<br />
wie im geschäftlichen Bereich“, erklärt Timo<br />
Breig, studierter Bankbetriebswirt und Kundenberater<br />
bei einer Sparkasse. „Daneben schafft es Zukunft<br />
und eine realistische Vorstellung sein Leben<br />
so zu gestalten, wie man das möchte. Es lässt Geschäfte<br />
und Arbeitsplätze entstehen. Im Optimalfall<br />
hilft Geld dem Fortkommen einer Gesellschaft,“<br />
ergänzt er.<br />
Klingt erst einmal gut. Geld wird investiert<br />
und soll so neue Arbeitsplätze und innovative<br />
Produkte schaffen. Allerdings zeigt laut einer aktuellen<br />
Studie der Hans-Böckler-Stiftung, dass<br />
trotz hoher Gewinne vieler Konzerne in Deutschland,<br />
die <strong>Ausgabe</strong>n für Investitionen bei weitem<br />
nicht im selben Maße mitgestiegen sind. Ebenfalls<br />
geht aus der Studie hervor, dass Gewinne und Investitionen<br />
mittlerweile stark entkoppelt seien.<br />
Die Gewinne werden auf Investoren verteilt, die<br />
Mehrheit der Bevölkerung schaue ins Leere.<br />
Das wirkt sich mittlerweile aus. Laut dem<br />
Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung<br />
(DIW) und deren Chef Marcel Fratzscher haben<br />
40 Prozent der Deutschen keinerlei Rücklagen.<br />
Das gesamte Geld werde für das monatliche Auskommen<br />
benötigt. In Europa sieht die Lage nicht<br />
besser aus. 49 Prozent aller Europäer:innen geben<br />
an, dass sie ihre Rechnungen nicht mehr fristgerecht<br />
bezahlen können. Auf Luxus, wie Urlaub<br />
wird von vielen mittlerweile verzichtet.<br />
Auf die Frage, ob es für junge Generationen<br />
schwieriger geworden ist, sich etwas aufzubauen,<br />
antwortet Breig: „Es ist schon so, dass es ohne finanziellen<br />
Background, wie beispielsweise aus<br />
dem Elternhaus, nicht einfach ist.“ Er fügt an,<br />
dass sich Lebensrealitäten auch verschoben hätten.<br />
„Damals ist man früher ins Berufsleben gestartet<br />
und zusammengezogen als heute. Viele<br />
Kosten konnten somit früh auf zwei Schultern<br />
verteilt werden.“<br />
Ein Problem, was er sehe, sei, dass bei vielen<br />
das langfristige Denken in Bezug auf Geld fehle<br />
und Prioritäten falsch gesetzt werden. Der Banker<br />
erzählt: „Was ich immer wieder mitbekomme ist,<br />
dass viele Leute nicht mal wissen, dass sie einen<br />
monatlichen Kredit bedienen oder wie hoch ihre<br />
<strong>Ausgabe</strong>n tatsächlich sind. Der Fernseher und der<br />
Thermomix, den ich auf Raten bei Mediamarkt<br />
kaufe, ist auch ein Kredit.“ Ein Darlehen sei immer<br />
ein stückweit Abhängigkeit und somit auch<br />
Unfreiheit. Oftmals fehle den Leuten eine finanzielle<br />
Bildung, die zu falschen Entscheidungen<br />
führe, setzt er fort.<br />
Reichtum und damit verbundene Privilegien<br />
werden in Deutschland vererbt. Armut ebenfalls.<br />
Wer aus einem schwierigen finanziellen Umfeld<br />
stammt, wird es schwer haben sich daraus zu lösen.<br />
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Weg in der<br />
Armut fortgesetzt wird, ist hoch.<br />
Wer arm ist, werde oftmals diskriminiert, sagt<br />
Breig. Das fange als Kind in der Schule an. „Man<br />
hat weniger Freunde und ein kleineres soziales<br />
Umfeld. Die Bildung ist schlechter und es wird auf<br />
Dauer extrem schwer den gesellschaftlichen Anschluss<br />
zu halten.“ Hinzu käme, dass man ohne<br />
Geld viel schwerer einen Kredit erhalte, um sich<br />
etwas aufzubauen. Von freier Entfaltung könne<br />
hier dann keine Rede mehr sein.<br />
Auch wenn die Lage aktuell schwierig ist, sollte<br />
man nicht verzweifeln, denn, ermutigt Breig:<br />
„Der größte Hebel in Bezug auf Geld ist man<br />
selbst. Insbesondere Bildung ermöglicht ein finanzielles<br />
Fortkommen und es ist etwas, das einem<br />
nicht weggenommen werden kann.“
28 FREI<br />
mediakompakt<br />
Unperfekt? Perfekt!<br />
Da bin ich perfektionistisch. Diesen Satz hat vermutlich<br />
jeder schon mal gehört oder selbst gedacht. Doch was steckt<br />
eigentlich dahinter: Eine einfache Floskel oder eine große<br />
Belastung, die viel Zeit und Anstrengung kostet?<br />
VON SELINA OPP<br />
Bild: Unsplash<br />
Schnell eine Abgabe für die Universität<br />
erledigen, bei der Arbeit kurz eine<br />
wichtige E-Mail schreiben und zwischendrin<br />
noch das Geburtstagsgeschenk<br />
für eine Freundin basteln. Nebenher<br />
klingelt das Telefon, die Kaffeetasse ist leer<br />
und es warten noch 20 weitere To-Dos. Man sitzt<br />
vor seiner Aufgabe und gibt sein Bestes, doch für<br />
das eigene Empfinden ist nichts gut genug. Man<br />
ist einfach nicht zufrieden. Es ist nicht perfekt. Es<br />
nimmt immer mehr Zeit in Anspruch, doch man<br />
kommt nicht voran. Einfach loslassen und die<br />
Aufgabe als erledigt ansehen, ist keine Option. Es<br />
muss wenigstens annähernd perfekt werden.<br />
Der Begriff Perfektionismus wird im Allgemeinen<br />
oft dafür verwendet, dass die eigenen Ziele<br />
sehr hoch gesteckt<br />
sind und hohe Ansprüche<br />
an sich<br />
selbst gelten. Die<br />
Dinge sollen so gut<br />
wie nur möglich erledigt<br />
werden, am<br />
besten perfekt. „Immer<br />
besser sein wollen<br />
als notwendig“, gibt eine der 16 Befragten in<br />
einer anonymen Mediakompakt-Umfrage an. „Bis<br />
ins kleinste Detail alles perfekt machen zu wollen,<br />
auch wenn es vielleicht übertrieben ist und keine<br />
nennenswerte Verbesserung hervorbringt“, antwortet<br />
eine Interviewte auf die Frage, was Perfektionismus<br />
für sie bedeutet.<br />
Laut dem Duden bedeutet das Wort Perfektionismus<br />
das übertriebene Streben nach Perfektion.<br />
Perfektionistisch zu sein kann Vorteile haben, wie<br />
zum Beispiel das Erbringen von sehr guten Leistungen<br />
und erfolgreich zu sein. Allerdings gibt es<br />
auch viele Nachteile, die einen starken Leistungsdruck,<br />
die Angst vor dem Versagen, ein schnelles<br />
Gefühl von Unzufriedenheit und viel Stress mit<br />
sich bringen können.<br />
Die Mediakompakt-Umfrage hat ergeben, dass<br />
die 16 Teilnehmer:innen vor allem bei den Aufgaben<br />
und Tätigkeiten im Studium perfektionistisch<br />
sind. „Dass man bewertet wird, erhöht den<br />
Druck“, stellt eine der Befragten fest. Auch bei der<br />
Arbeit, bei kreativen Aufgaben und Hobbys und<br />
bei Selbstgemachtem, wie zum Beispiel Geschenken,<br />
sind einige der Teilnehmenden perfektionistisch.<br />
Von den 16 Teilnehmer:innen geben 13 an,<br />
dass sie sich durch ihren Perfektionismus manchmal<br />
eingeschränkt oder belastet fühlen. Auf die<br />
Frage, inwiefern sie sich so fühlen, antworten die<br />
meisten, dass ihr Perfektionismus sie viel Zeit kostet.<br />
„Manchmal beginnt man die Dinge aufzuschieben“,<br />
sagt eine der Befragten, „weil sie im<br />
Kopf schwieriger und ausführlicher scheinen, als<br />
sie eigentlich sind.“<br />
Das wird bestätigt durch die Aussage einer anderen<br />
Teilnehmerin, die sich in ihrer Produktivität<br />
gehindert fühle, da sie manche Aufgaben aufgrund<br />
ihrer hohen Erwartungen gar nicht starte.<br />
Einige der Teilnehmenden sagen, dass sie sich<br />
manchmal unnötig gestresst fühlen. „Ich setze<br />
mich selbst stark unter Druck, um zu leisten und<br />
andere denken ich würde übertreiben“, antwortet<br />
eine andere Teilnehmerin. Zudem berichtet eine<br />
Befragte von einem leidenden Selbstwertgefühl.<br />
Es gibt einige Tricks und Wege, um gegen den<br />
eigenen Perfektionismus anzukommen. Manchmal<br />
hilft es schon,<br />
„Ich setze mich selbst<br />
stark unter Druck, um zu<br />
leisten und andere denken<br />
ich würde übertreiben“<br />
sich<br />
klarzumachen,<br />
dass kein Mensch auf<br />
dieser Welt perfekt<br />
ist. Aber: Perfektionismus<br />
kann krank<br />
machen. Das bestätigt<br />
die Psychologin<br />
Christine Altstötter-<br />
Gleich. Wenn das Streben nach der Perfektion zu<br />
groß werde, dann könne es zu Depressionen, einem<br />
Burn-out oder zu sozialen Ängsten kommen.<br />
Deswegen sei es wichtig, sich bei zu großer Belastung<br />
professionelle Hilfe zu suchen.<br />
Sechs Tipps, um perfekt<br />
unperfekt zu werden:<br />
1. Einfach anfangen und nicht zu lange<br />
überlegen und alles komplizierter machen,<br />
als es ist.<br />
2. Keine Angst davor haben, Fehler zu machen<br />
oder zu scheitern.<br />
3. Sich selbst nicht zu hart bewerten und<br />
liebevoll mit sich umgehen.<br />
4. Nicht mit anderen vergleichen.<br />
5. Versuchen loszulassen und auf sich selbst<br />
zu vertrauen.<br />
6. Das große Ganze betrachten und sich<br />
nicht in Kleinigkeiten und Details verlieren.
02/ 2023 FREI<br />
29<br />
Dinge, die schon damals hätten psychologisch behandelt<br />
werden müssen. Er versuchte, die Erlebnisse<br />
seiner Kindheit mit Alkohol zu verdrängen<br />
und dadurch wurde er immer aggressiver. Sein<br />
Verhalten ist natürlich nicht zu entschuldigen, jedoch<br />
habe ich ihn durch seine Vergangenheit immer<br />
in Schutz genommen.<br />
Hast du mit dem Gedanken gespielt, ihn zu verlassen?<br />
Ich habe oft mit dem Gedanken gespielt, jedoch<br />
habe ich mich nicht getraut.<br />
Warum nicht?<br />
Ich wäre ganz alleine mit meinen Kindern gewesen<br />
und zum damaligen Zeitpunkt waren Scheidungen<br />
so gut wie unmöglich. Sie wurden nicht<br />
gern von der Gesellschaft gesehen und mein Elternhaus<br />
stand ebenfalls nicht hinter mir. Als ich<br />
wieder schwanger wurde und wir unser Eigenheim<br />
planten, verlor ich diesen Gedanken auch<br />
schnell wieder.<br />
Bild: pixabay<br />
Hast du dich irgendwann an die Umstände gewöhnt?<br />
Nach so vielen Höhen und Tiefen gewöhnt man<br />
sich an die Situation und es besteht auch eine gewisse<br />
Abhängigkeit. Ich musste oft den Schein<br />
wahren, da Außenstehende nicht mitbekommen<br />
sollten, wie es eigentlich in unserer Ehe aussah.<br />
Es war meine Pflicht<br />
zu bleiben<br />
Eine Liebe fürs Leben zu finden und eine Familie zu gründen war<br />
der größte Wunsch meiner Großmutter Gisela Nemet. Doch ihr<br />
Traum wurde schnell zum Albtraum, da man sich 1956 noch<br />
nicht so einfach scheiden lassen konnte.<br />
VON NADINE WEICKERT<br />
Wurde es im Laufe der Jahre besser?<br />
Nachdem wir unser Eigenheim bezogen hatten<br />
und unser drittes Kind geboren wurde, verbesserte<br />
sich unsere Ehe.<br />
Wie geht es dir jetzt ohne ihn?<br />
Auch wenn es nicht immer leicht für mich war,<br />
gab es auch schöne Zeiten und nach 56 Jahren<br />
Ehe vermisst man seinen Partner. Ich habe aber<br />
auch gelernt, ohne einen Partner an meiner Seite<br />
das Leben zu genießen. Als alte Frau mit 87 Jahren<br />
brauche ich jetzt auch keinen Mann mehr an meiner<br />
Seite.<br />
Wie lange wart Ihr verheiratet?<br />
Wir waren 56 Jahre verheiratet, bis mein Mann<br />
2012 verstarb.<br />
War es eine Hochzeit aus Liebe?<br />
Wir haben uns beim Tanzen kennengelernt und<br />
ich wusste, dass er der Mann ist, mit dem ich mir<br />
meine Zukunft vorstellen konnte. Trotz der Vorurteile<br />
seitens meines Elternhauses haben wir<br />
1956 geheiratet.<br />
Was gab es denn für ein Problem?<br />
Meine Eltern waren von Anfang an gegen meinen<br />
Mann, sie wollten einen reichen Bauern an meiner<br />
Seite sehen, da sie selbst einen landwirtschaftlichen<br />
Betrieb hatten. Ein weiteres Problem war,<br />
dass sie nicht wollten, dass ich mit meinem Mann<br />
wegziehe. Zum damaligen Zeitpunkt war es sehr<br />
schwer, eine Wohnung zu finden und wir mussten<br />
bei meinen Schwiegereltern in die Wohnung<br />
ziehen. Wir lebten dort mit vier weiteren Personen<br />
und unserem ersten Kind auf engstem Raum,<br />
was nicht sehr förderlich für unsere Ehe war.<br />
Schon nach kürzester Zeit fingen die ersten Streitigkeiten<br />
an. Als wir endlich nach vier Jahren eine<br />
neue Wohnung für unsere kleine Familie gefunden<br />
hatten, dachte ich, die Probleme werden weniger<br />
– doch sie wurden eher immer schlimmer.<br />
Mein Mann traf sich jeden Abend nach der Arbeit<br />
mit Freunden zum Kartenspielen in einer Gaststätte<br />
und kam erst spät in der Nacht zurück. Sein<br />
Verhalten hatte mich sehr verletzt, da ich mich<br />
völlig überfordert mit einem Kleinkind fühlte und<br />
selbst berufstätig war. Die Situation spitzte sich<br />
immer mehr zu, bis er mir gegenüber das erste Mal<br />
handgreiflich wurde.<br />
Inwiefern?<br />
Ich kann mir sein aggressives Verhalten nur damit<br />
erklären, dass er als Kind als Volksdeutscher damals<br />
in einem jugoslawischen Vernichtungslager<br />
aufgewachsen ist. Dort erlebte er die schlimmsten<br />
Bild: Privat
30 FREI<br />
mediakompakt<br />
Anstoß<br />
ins Leben<br />
„Ich mach‘ mir die Welt, widde<br />
widde wie sie mir gefällt.“<br />
Das Lied der berühmten Pippi<br />
Langstrumpf kennt vermutlich<br />
jeder. Wie Kinder ihre Welt<br />
tatsächlich gestalten und wie<br />
sie dabei unterstützt werden,<br />
erklärt die Erzieherin Olivia<br />
Maurer.<br />
VON SARAH JANZEN<br />
Bild: Arekt Socha/Pixabay<br />
Im Kindergarten herrscht reges Treiben. Die<br />
eine Gruppe von Kindern tobt über die Wiese.<br />
Die andere macht ein wildes Wettrennen<br />
mit ihren Bobbycars. „Wenn die Kinder so<br />
fröhlich und unbedacht spielen, verzichten<br />
wir öfter mal auf das Zusammenkommen im<br />
Stuhlkreis“, sagt die pädagogische Fachkraft Olivia<br />
Maurer. „Für uns steht bedürfnis- und interessenorientiertes<br />
Arbeiten an erster Stelle. Die Kinder<br />
dürfen ihren Alltag weitgehend selbst gestalten,<br />
selbstwirksam werden. Dabei unterstützen<br />
wir sie.“<br />
Den Kindern wird der Freiraum gegeben, den<br />
sie brauchen, um Neues zu entdecken, sich auszuprobieren<br />
und persönlich weiterzuentwickeln.<br />
Dazu haben sie vor allem in der Freispielzeit Gelegenheit,<br />
das tun zu können, worauf sie gerade am<br />
meisten Lust haben: am Maltisch ein neues Bild<br />
für ihre Eltern entwerfen, in der Bauecke den<br />
höchsten aller Türme bauen oder im Ruheraum<br />
entspannt einem Hörspiel lauschen.<br />
Olivia Maurer macht deutlich, dass es nicht<br />
immer einfach sei, allen Ansprüchen der Jungen<br />
und Mädchen gerecht<br />
zu werden. Die Interessen<br />
und der Betreuungsaufwand<br />
von<br />
zwei- bis dreijährigen<br />
Eingewöhnungskindern<br />
unterscheide<br />
sich enorm von dem<br />
der sechsjährigen Vorschulkindern. Sie fügt hinzu:<br />
„Zum einen ist es unsere Aufgabe, jedes Kind<br />
individuell zu stärken, zum anderen aber auch,<br />
das ‚Wir‘ innerhalb der Gruppe zu kräftigen.“ Dafür<br />
gibt es selbstverständlich auch die ein oder andere<br />
Regel, an die sich die Kinder halten müssen.<br />
Doch was passiert, wenn ein Kind eine Grenze<br />
überschreitet? Auch darauf hat die Erzieherin eine<br />
Antwort: „Wir erarbeiten die Umgangsregeln mit<br />
den Kindern zusammen und erklären ihnen genau,<br />
warum etwas falsch oder richtig ist. Wenn sie<br />
die Regeln verstehen und selbst mitgestalten dürfen,<br />
fällt es ihnen leichter, diese zu akzeptieren.<br />
„Viele von ihnen haben<br />
schon eine richtig starke<br />
Persönlichkeit.“<br />
Darüber hinaus lernen sie, Kompromisse einzugehen<br />
und wertschätzend miteinander umzugehen.“<br />
Selbstverständlich sind Olivia Maurer und die<br />
anderen Fachkräfte für die Kinder da, wenn diese<br />
sie brauchen. Wenn ein Kind interessehalber eine<br />
Frage stellt, sei es aber wichtig, diese nicht sofort<br />
zu beantworten, erklärt die 22-Jährige. Am besten<br />
sei es, das Kind erst einmal selbst zum Nachdenken<br />
anzuregen. Die Erzieherin beschreibt ein kleines<br />
Experiment: „Gibt man den Kindern eine<br />
Schale voller Wasser und den Anstoß, herauszufinden,<br />
was man alles<br />
mit dieser machen<br />
kann, dauert es nicht<br />
lange, bis sie Verschiedenes<br />
ausprobieren.<br />
Wenn sie dann<br />
beispielsweise beobachten,<br />
dass ein<br />
Ahornblatt auf der Oberfläche schwimmt und ein<br />
Kieselstein hinunter sinkt, legen sie sich ihre eigenen<br />
Erklärungen dafür zurecht.“<br />
Der Kindergartenalltag lebt von der blühenden<br />
Fantasie und Kreativität der Mädchen und<br />
Jungen, was neben dem Experimentieren vor allem<br />
beim Rollenspiel ans Licht kommt. Die Kinder<br />
haben dabei viele Ideen, die sie alleine oder gemeinsam<br />
mit anderen weiterentwickeln. Gerade<br />
in solchen Spielephasen merke man gut, wie<br />
selbstständig einige Kinder schon seien, beschreibt<br />
Olivia Maurer. Mit strahlenden Augen<br />
fügt sie hinzu: „Viele von ihnen haben schon eine<br />
richtig starke Persönlichkeit.“ Solange die Kinder<br />
wissen, dass die pädagogischen Fachkräfte in der<br />
Nähe sind, können sie sich in ihrer geschützten<br />
Umgebung gut alleine beschäftigen und wollen<br />
oft nicht gestört werden. Sie leben in den Moment<br />
hinein und haben beim Spielen die Möglichkeit,<br />
frei zu sein, sich zu entfalten und zu verwirklichen.<br />
Dazu meint die Erzieherin: „Kinder sind<br />
den meisten Dingen gegenüber viel offener als Erwachsene.<br />
Wir sollten uns ein Beispiel an ihnen<br />
nehmen.“<br />
*Name von der Redaktion geändert<br />
Der Wert des Spielens<br />
Die Diplompädagogin Gabriele Pohl erklärt in<br />
ihrem Buch „Kindheit – Aufs Spiel gesetzt“,<br />
welchen Wert das Spielen für die Entwicklung<br />
von Kindern hat: „Kinder brauchen das freie<br />
Spiel, ob drinnen oder draußen, um ihre sozialen<br />
und emotionalen Kompetenzen zu erweitern,<br />
sie brauchen Erfahrungen aus erster<br />
Hand.“<br />
Das Spiel solle den Jungen und Mädchen<br />
helfen, ihre eigenen Wahrnehmungs- und<br />
Wirkungsmöglichkeiten zu entdecken. Die<br />
Pädagogin ergänzt: „Spiel ist das Mittel, alle<br />
Fähigkeiten, körperliche, soziale, emotionale<br />
und intellektuelle, zur Entfaltung zu bringen.<br />
Auf der Grundlage des Spiels baut die gesamte<br />
menschliche Erfahrungswelt auf.“
02/ 2023 FREI<br />
31<br />
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