MEDIAkompakt Ausgabe 34
Die Zeitung des Studiengangs Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart - www.mediapublishing.org
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6 FREI<br />
mediakompakt<br />
Wischen,<br />
tippen,<br />
liken.<br />
Bild: Pexels<br />
Immer mehr Menschen verbringen ihre freie Zeit in den sozialen<br />
Medien. Content, der nie endet. Gefangen in einer endlosen<br />
Spirale von Kurzvideos und Fotos. Die Bildschirmzeit steigt und<br />
die Aufmerksamkeitsspanne sinkt.<br />
VON VIOLA STEIERWALD<br />
Allein in Deutschland nutzen fast 71<br />
Millionen Menschen Social Media,<br />
was 85 Prozent der Gesamtbevölkerung<br />
entspricht. „Ich nutze Social Media<br />
hauptsächlich zur Unterhaltung,<br />
wenn man sonst nichts anderes zu tun hat – in der<br />
Bahn, im Bus, auf dem Klo“, erklärt Pascal Müller,<br />
Student an der Hochschule Pforzheim. So nutzen<br />
es wohl die meisten Menschen. Es geht um den<br />
Zeitvertreib, wenn heutzutage die Zeit doch bei<br />
den meisten immer knapper wird, während man<br />
von Termin zu Termin rennt. Doch wann wird der<br />
Scroll zum Zeitvertreib zur Krankheit?<br />
Die sogenannte „Social Media Disorder Scale“,<br />
entworfen von den niederländischen Forscher:innen<br />
Regina J.J.M. van den Eijnden, Jeroen S. Lemmens<br />
und Patti M. Valkenburg, beinhaltet neun<br />
„Ja-Nein-Fragen“, basierend auf dem weltweit<br />
anerkannten Klassifikationssystem für psychische<br />
Störungen. Personen, die fünf oder mehr Fragen<br />
mit „ja“ beantworten, sollen ein problematisches<br />
Nutzungsverhalten haben. Es werden bekannte<br />
Muster von Suchterkrankungen in Bezug auf die<br />
Nutzung von sozialen Medien abgefragt. Dazu gehören<br />
einerseits Entzugserscheinungen wie Ärger,<br />
Traurigkeit oder Unruhe wenn der Zugang verwehrt<br />
wird, andererseits das Belügen von<br />
Freund:innen und Familienmitgliedern über den<br />
tatsächlichen Konsum. Aber auch die Flucht in<br />
die digitale Welt, um negative Gefühle zu bewältigen,<br />
gehört dazu.<br />
„Ich habe mir ein Zeitlimit von zwei Stunden<br />
pro Tag für manche Social-Media-Apps eingestellt,<br />
damit ich daran erinnert werde, wie viel Zeit<br />
ich dort schon verbracht habe“, berichtet die Digital-Media-Marketing-Studentin<br />
Laura Brodt.<br />
Laut einer Umfrage von YouGov, einer internationalen<br />
Data and Analytics Group aus Köln, empfinden<br />
60 Prozent der Befragten das Nutzen von<br />
Social Media als Zeitverschwendung. Ein tägliches<br />
Zeitlimit sei eine häufig genutzte Maßnahme, um<br />
die Zeitvergeudung zu minimieren. In der heutigen<br />
Zeit handeln die meisten Nachrichten von<br />
Klimakrise, Krieg oder Pandemie. Das könnte ein<br />
Grund dafür sein, wieso sich vor allem viele Kinder<br />
und Jugendliche lieber von Beauty-, Lifestyleoder<br />
Tiercontent berieseln lassen, denn laut einer<br />
DAK Studie aus dem Jahr 2017 nutzt jede:r dritte:r<br />
Befragte soziale Medien, um nicht an unangenehme<br />
Dinge denken zu müssen. Gemäß dieser vom<br />
Forsa-Institut durchgeführten Umfrage liegt die<br />
Nutzungszeit von Social Media bei Jungen und<br />
Mädchen zwischen zwölf und 17 Jahren durchschnittlich<br />
bei rund zweieinhalb Stunden täglich.<br />
Nach der „Social Media Disorder Scale“ erfüllen<br />
schon ungefähr 2,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen<br />
in Deutschland die Kriterien für eine<br />
Abhängigkeit.<br />
„Ich denke, Social-Media-Sucht ist ein ernst zu<br />
nehmendes Problem, da man nur noch in der<br />
Welt der sozialen Medien lebt und den Bezug zur<br />
Realität verliert“, kritisiert Pascal Müller. Menschen<br />
teilen auf Social Media immer nur den besten,<br />
interessantesten und „most intagrammable“<br />
Teil von ihrem Leben. Denn das gibt bekanntlich<br />
die meisten Klicks, Likes und Reposts. Laut einer<br />
Studie von Vocer, einem Institut für digitale Resilienz<br />
mit Sitz in Hamburg, erhoffen sich dadurch<br />
vor allem Instagramnutzer:innen eine Selbstbestätigung.<br />
„Auf Social Media denkt man sich schnell:<br />
Warum lebt eigentlich jeder so ein Leben, nur ich<br />
nicht? Jeder sieht so aus, nur ich nicht. Jeder ist so<br />
produktiv, nur ich nicht. Jeder unternimmt coole<br />
Sachen, nur ich nicht”, meint Sarah Kayser, Werkstudentin<br />
im Social-Media-Bereich. „Das, was<br />
dort dargestellt wird, ist ja meistens auch nur eine<br />
Momentaufnahme, teilweise auch etwas Konstruiertes,<br />
was nicht der Realität entspricht“, verdeutlicht<br />
Pascal Müller.<br />
Social Media ist heutzutage nicht mehr wegzudenken.<br />
Soziale Medien haben aber auch ihre guten<br />
Seiten, wie beispielsweise den Kontakt mit<br />
Freund:innen zu halten, Inspiration für Hobbys<br />
und Rezepte oder neue Ideen für Unternehmungen<br />
sammeln. „Ich finde, ich habe durch Social<br />
Media mehr Inspiration und mehr Mut, mich<br />
selbst auszudrücken“, teilt Sarah Kayser mit. Laut<br />
einer Studie von Vocer fühlen sich überwiegend<br />
Personen unter 30 nach der Nutzung sozialer<br />
Netzwerke inspirierter, motivierter und glücklicher.<br />
Trotzdem raten Expert:innen, darauf zu achten,<br />
dass man eine gesunde Balance zwischen echtem<br />
und digitalem Leben hält.<br />
Selbsttest<br />
Hast du im vergangenen Jahr …<br />
... regelmäßig feststellen können, dass du an<br />
nichts anderes mehr denken konntest als an<br />
den Moment, in dem du die sozialen Medien<br />
wieder nutzen kannst?<br />
... dich regelmäßig unzufrieden gefühlt,<br />
weil du mehr Zeit in sozialen Medien verbringen<br />
wolltest?<br />
... dich oft schlecht gefühlt, wenn du die sozialen<br />
Medien nicht nutzen konntest?<br />
... versucht, weniger Zeit in sozialen Medien<br />
zu verbringen, aber bist gescheitert?<br />
... oft andere Aktivitäten vernachlässigt,<br />
weil du soziale Medien nutzen wolltest?<br />
... regelmäßig Streit mit anderen wegen deiner<br />
Nutzung sozialer Medien gehabt?<br />
... deine Eltern oder Freund:innen regelmäßig<br />
darüber angelogen, wie viel Zeit du in<br />
den sozialen Medien verbringst?<br />
... häufig soziale Medien genutzt, um negativen<br />
Gefühlen zu entkommen?<br />
... einen ernsthaften Konflikt mit deinen Eltern<br />
oder deinen Geschwistern wegen deiner<br />
Social-Media-Nutzung gehabt?<br />
Hinweis: Werden mindestens fünf Fragen<br />
mit „ja“ beantwortet, liegt laut Fragebogen<br />
eine problematische Social-Media-Nutzung<br />
vor.<br />
Bei dem Selbsttest handelt es sich nicht um eine<br />
Diagnose. Bei Suchtverdacht sollte man einen<br />
Arzt aufsuchen.