29.01.2024 Aufrufe

MEDIAkompakt Ausgabe 35

Die Zeitung des Studiengangs Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart - www.mediapublishing.org Das Zeitungsprojekt im 7.Semester Mediapublishing beinhaltet alle Aufgaben einer Zeitungsredaktion: vom Recherchieren, Interviews führen, Artikel verfassen, Bildmotive selektieren und natürlich dem Akquirieren von Anzeigenkunden ist alles dabei.

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DIE ZEITUNG DES STUDIENGANGS MEDIAPUBLISHING<br />

DER HOCHSCHULE DER MEDIEN STUTTGART<br />

AUSGABE 01/2024 01.02.2024<br />

media<br />

kompakt


2 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

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01/ 2024<br />

SUCHE<br />

3<br />

Nächster Halt: Hoffnung<br />

Wenn im Winter Minusgrade herrschen, wird die Heizung aufgedreht.<br />

Jedoch haben nicht alle das Privileg, ein geschütztes Zuhause zu haben.<br />

Wo können obdachlose Menschen hin, wenn sie frieren?<br />

VON FELIX HERDER<br />

Der Atem wird zu sichtbarem Rauch.<br />

Ohne flauschige Handschuhe und<br />

dicker Jacke würde niemand freiwillig<br />

einen Fuß vor die Tür setzen. Warum<br />

auch? Es ist spät, stockdunkel<br />

und außerdem unendlich kalt. Die Adventszeit ist<br />

für die meisten eine Zeit voller Harmonie und<br />

Freude, für Obdachlose beginnt gleichzeitig ein<br />

Kampf ums Überleben. Allein in Stuttgart gibt es<br />

über 150 betroffene Menschen.<br />

Der Kältebus des Deutschen Roten Kreuz<br />

(DRK) fährt aktiv zu den Menschen, die in den<br />

kalten Monaten Hilfe benötigen. Auch in dieser<br />

Nacht rollt er durch Stuttgart. André Edlich hat einen<br />

langen beruflichen Werdegang beim DRK<br />

und ist schon viele Jahre ehrenamtlicher Helfer<br />

beim Kältebus: „Es geht vor allem um die positiven<br />

Reaktionen. Man merkt, wie hilfreich unsere<br />

Tätigkeit für die wohnungslosen Menschen ist. Es<br />

ist außerdem die Hauptaufgabe des DRK, sich um<br />

Menschen zu kümmern, die Hilfe brauchen.“ Der<br />

Bus fährt in täglich wechselnden Teams bei<br />

Temperaturen unter 0° Celsius von 22 bis ungefähr<br />

3 Uhr in der Nacht. Die Route besteht aus Stationen,<br />

die als Schlafplätze von wohnungslosen<br />

Menschen bekannt sind. Ab und zu wird das<br />

Team auch von aufmerksamen Passanten telefonisch<br />

auf Aufenthaltsorte hingewiesen.<br />

An einer der ersten Stationen freut sich ein<br />

älterer Herr: „Ich wusste nicht, dass ihr schon<br />

wieder fahrt. Das ist gut!“ Der Mann nimmt dankend<br />

Suppe und ein paar Snacks zu sich. Neben<br />

Verpflegung bietet der Kältebus auch eine Grundausrüstung<br />

für Obdachlose an. Diese besteht aus<br />

Winterkleidung wie Mützen, Schals und Socken,<br />

aber auch Dinge, die für den Schlaf wichtig sind,<br />

wie Decken, Schlafsäcke und Isomatten. Die<br />

ehrenamtlichen Helfenden dienen zudem als<br />

emotionale Stütze. Der ältere Herr beklagt sich,<br />

dass einige seiner Sachen gestohlen wurden. „Für<br />

die Obdachlosen ist es heutzutage nicht nur wichtig<br />

einen möglichst warmen, sondern auch einen<br />

sicheren Schlafplatz zu bekommen“, erklärt<br />

André Edlich. Gerade in den letzten Jahren fällt<br />

auf, dass Obdachlose immer mehr angegangen<br />

werden. Doch der Zusammenhalt untereinander<br />

ist ebenfalls groß, versichert eine der ehrenamtlichen<br />

Helferinnen. Dies zeigt sich später, als ein<br />

junger wohnungsloser Mann auf einen anderen<br />

Obdachlosen in der Nähe hinweist. Dieser wäre<br />

sonst nicht auffindbar gewesen.<br />

Das Team trifft während der Fahrt auch bekannte<br />

Gesichter. Diese sind mit den Abläufen<br />

vertraut und freuen sich sichtlich auf die Ankunft.<br />

Leider gibt es auch neue Betroffene. Manche liegen<br />

nur auf einer Matte und haben weder eine<br />

Decke noch einen Schlafsack. Sie erhalten die<br />

komplette Ausrüstung aus all den Dingen, die der<br />

Kältebus anbietet. Da es spät in der Nacht ist,<br />

schlafen ein paar der Obdachlosen bereits. Dem<br />

Team ist bekannt, wie schwer es ist unter diesen<br />

Bedingungen einzuschlafen. Deshalb wird niemand<br />

absichtlich geweckt und die Verpflegung<br />

sanft danebengelegt. Ein schlafender Mann ohne<br />

Decke wird liebevoll zugedeckt. Teilweise wachen<br />

die Menschen trotzdem auf, nehmen die angebotenen<br />

Sachen aber dankbar an. Es gibt aber auch<br />

Personen, die dankend ablehnen. Das hat<br />

verschiedene Gründe und sei völlig legitim. „Es ist<br />

wichtig, dass man den Menschen nichts aufzwingt,<br />

was sie nicht wollen“, meint eine weitere<br />

Helferin.<br />

Der Kältebus ist auf Spenden und den Einsatzwillen<br />

der Helfenden angewiesen. „Gerade jetzt in<br />

der Weihnachtszeit gibt es natürlich viel mehr<br />

Spenden“, bestätigt André Edlich und führt fort:<br />

„Es ist tatsächlich aber wichtiger, dass Menschen<br />

selbst aktiv werden und mithelfen.“ Das DRK<br />

bietet eine große Auswahl an flexiblen Möglichkeiten,<br />

sich in verschiedenen Bereichen ehrenamtlich<br />

einzusetzen. „Es ist eine große Hilfe für<br />

die Menschen da draußen. Es erdet einen aber<br />

auch selbst, immer mal wieder daran erinnert zu<br />

werden, was man alles so hat.“ Ein Dach über dem<br />

Kopf ist eben nicht selbstverständlich.<br />

Kältebus: 0711/219 54 776<br />

Wem in Stuttgart bei kalten Temperaturen<br />

eine obdachlose Person auffällt, kann gerne<br />

den Kältebus anrufen und eine genau e Ortsbeschreibung<br />

abgeben.<br />

Noch Fragen? Für weitere Informationen<br />

und Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden:<br />

E-Mail an sozialarbeit@drk-stuttgart.de.<br />

Bild: Felix Herder


4 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

Spürnase Lilly im Polizeidienst<br />

Ob bei der Verfolgung von Straftäter:innen oder der Suche nach Drogen – überall wird<br />

sie gebraucht: Die Polizeihundeführerstaffel Stuttgart. Marcel Barz, Diensthundeführer,<br />

gewährt einen Einblick in die Arbeit mit seiner vierbeinigen Partnerin Lilly.<br />

VON JULIA HAIBLE<br />

Es ist ein kalter und nasser Morgen, der<br />

Besuch auf dem Trainingsplatz der<br />

Stuttgarter Hundeführerstaffel im Gewann<br />

Weidenbrunnen findet natürlich<br />

trotzdem statt. Schließlich müssen<br />

Lilly und ihr Hundeführer Marcel Barz mit allen<br />

Wetterlagen zurechtkommen.<br />

Der 43-jährige Polizeihauptmeister ist seit<br />

September 2020 Teil der Hundestaffel. Die Entscheidung,<br />

dieser speziellen Einheit beizutreten,<br />

war sein lang gehegter Traum: „Mein Ziel war es<br />

immer, in Richtung Hundestaffel zu gehen, weil<br />

das Aufgabengebiet einfach so weitreichend ist“,<br />

beschreibt der gut gelaunte Polizist.<br />

Seine vierbeinige Partnerin ist eine vier Jahre<br />

alte Belgische Schäferhündin, die er liebevoll Lilly<br />

nennt. Der Übungsplatz ist für die agile Hündin<br />

vertrautes Terrain, sie winselt leise und wedelt<br />

mit dem Schwanz, den Blick stets fest auf ihr Herrchen<br />

fixiert, da sie den Platz mit Arbeit verbindet.<br />

Bilder: Julia Haible<br />

„Für sie ist Arbeit ein Spiel. Alles Spiel, Spaß und<br />

Freude“, wie der Diensthundeführer erklärt.<br />

Lilly ist dual als Schutz- und Rauschgiftspürhündin<br />

ausgebildet und kann verschiedene Betäubungsmittel<br />

erschnüffeln. Dafür wurde sie auf<br />

den jeweiligen Duftstoff konditioniert. Bei ihren<br />

Einsätzen fahren sie zum Ort des Geschehens und<br />

werden je nach Bedarf entweder vom Drogendezernat<br />

oder den Beamten des Streifendienstes gerufen.<br />

Insbesondere nach Fahrzeugkontrollen, bei<br />

denen ein positiver Drogentest von Insassen vorliegt<br />

oder beispielsweise der Geruch von Marihuana<br />

wahrgenommen wurde.<br />

Als Schnüfflerin konnte Lilly bereits einen bedeutenden<br />

Fund in einem äußerst skurrilen Versteck<br />

vorweisen: „Es war ein sehr beengtes und<br />

vermülltes Zimmer.“ Barz entschied sich, die Kolleg:innen<br />

nach draußen zu schicken, um Platz zu<br />

schaffen. Dann folgt ein spezielles Ritual: Er legt<br />

Lilly immer zuerst in dem zu durchsuchenden<br />

Raum ab und sie bekommt ein schmales Halsband<br />

um. Dies dient als Signal für die Suche nach Betäubungsmitteln.<br />

Als Anreiz für die Suche nimmt er<br />

ein Leckerli in die Hand, zeigt es ihr, und tut so als<br />

ob er es versteckt. Mit einem Kommando beginnt<br />

Lilly dann ihre Suche. Während der Suchaktion<br />

lief sie ständig um ein Sofa herum, bis sie den<br />

Fund schließlich direkt lokalisierte. Als sie ihre<br />

Nase darauf streckte, wusste Barz sofort, dass dort<br />

etwas verborgen war. Dabei scharrt sie auch mal<br />

an der Stelle, bis ihr Herrchen reagiert und sie belohnt.<br />

Die Hündin entdeckte eine große Menge<br />

an Ecstasy in einem ausklappbaren Sofa, das vollständig<br />

mit Kleidung bedeckt war. Barz strahlt,<br />

wenn er über Lilly spricht,<br />

und es ist offensichtlich, wie<br />

stark die Bindung zwischen<br />

den beiden ist. „Der Hund ist<br />

ein Spiegel unserer Arbeit“,<br />

sagt er mit einem Lächeln.<br />

Bei langen Einsätzen oder<br />

bei heißem Wetter betont er<br />

auch die Bedeutung, aufmerksam<br />

auf ihren Zustand zu achten<br />

und ausreichende Pausen<br />

zu gewähren. Denn in letzter Zeit habe es vermehrt<br />

Einsätze gegeben, die von den Hunden längere<br />

Suchzeiten erforderten. Der Polizist betonte,<br />

wie stolz ihn jeder erfolgreiche Fund macht, doch<br />

er räumte ein, dass die Realität oft ernüchternd<br />

sei. Denn in etwa 70 bis 80 Prozent der Fälle werden<br />

keine bedeutenden Substanzen gefunden,<br />

höchstens minimale Rückstände. Doch selbst diese<br />

Spuren geben wertvolle Hinweise auf vergangene<br />

Aktivitäten. „Dennoch, wenn wir tatsächlich<br />

auf etwas stoßen, erfüllt uns das mit Stolz,“ fährt<br />

„Für sie ist Arbeit<br />

ein Spiel.<br />

Alles Spiel, Spaß<br />

und Freude.“<br />

er fort. Es sei ein Beweis dafür, dass die Trainingsmethoden<br />

Früchte tragen und die Ermittlungsarbeit<br />

voranbringen. Nach jedem Einsatz folgt eine<br />

feste Routine, gemeinsames<br />

Spiel und Streicheleinheiten<br />

sind jetzt angesagt.<br />

Nicht nur die Einsätze<br />

schweißen Barz und Lilly zusammen.<br />

Auch im privaten<br />

Leben sind die beiden untrennbar<br />

verbunden. „Sie ist<br />

ein Diensthund und entsprechend<br />

ausgebildet. Man<br />

muss schon sehr wachsam<br />

sein. Aber zu Hause ist Lilly einfach nur ein total<br />

verschmuster Hund“, erklärt Barz. Die Hündin als<br />

fremde Person zu streicheln, würde er dennoch<br />

nicht empfehlen, da sie zwischen gut und böse<br />

entscheiden muss, das könnte gefährlich enden.<br />

Im Dienst bleiben die Hunde in der Regel bis<br />

zu ihrem neunten oder zehnten Lebensjahr, abhängig<br />

von ihrer Gesundheit. Nach ihrer aktiven<br />

Dienstzeit wird Lilly bei dem Polizeihauptmeister<br />

in Pension gehen. „Lilly darf bis zu ihrem Tod bei<br />

mir bleiben“, sagt Marcel Barz mit Nachdruck.


01/ 2024<br />

SUCHE<br />

5<br />

Auf der Suche nach Vermissten<br />

erschweren Wald, Wasser<br />

und Feuer oft die Einsätze des<br />

Technischen Hilfswerks (THW).<br />

Wie mit schwierigem Terrain<br />

umgegangen wird und warum<br />

sich die Einsätze oft zwischen<br />

Leben und Tod bewegen,<br />

erzählt der THW-Helfer<br />

Magnus Illner.<br />

VON SIRA ILLNER<br />

Worst Case: Bergung<br />

Neben seinem Bett geht ein Alarm<br />

los. Es ist noch längst keine Zeit, um<br />

aufzustehen. Für Magnus Illner<br />

steht ein Einsatz an. Der 22-Jährige<br />

ist seit zwölf Jahren Helfer beim<br />

Technischen Hilfswerk. Er wird von dem Leitzentrum<br />

benachrichtigt und muss sich nun so<br />

schnell es geht in Bereitschaft bringen. Dazu fährt<br />

er in die Zentrale des THW in Breisach am Rhein<br />

und wartet dort auf die nächsten Informationen.<br />

Wie fühlt es sich an im Katastrophenfall zu<br />

helfen? Wie ist es in einen Einsatz zu gehen und<br />

nicht zu wissen, was einen erwarten wird? „Man<br />

kann sich nicht auf ein bestimmtes Szenario vorbereiten“,<br />

erzählt der gelernte Industriemechaniker.<br />

Das THW unterstützt in vielen verschiedenen<br />

Situationen: Personensuche, Bergung und Rettung<br />

bei Erdbeben oder als Unterstützung bei Unglücken.<br />

Viele Faktoren spielen in einen Einsatz<br />

mit rein und es gibt keine Standardlösung. Dennoch<br />

gibt es erprobte Vorgehensweisen.<br />

Illner erhält nun das Einsatzstichwort: „Waldbrand“.<br />

Vor Ort angekommen, dringt ihm ein intensiver<br />

Geruch von verkohltem Holz und Rauch<br />

in die Nase. Der Brand scheint von der Feuerwehr<br />

unter Kontrolle gebracht zu sein. Allerdings können<br />

sich in den dichten Wäldern noch weitere<br />

Glutnester befinden, die das Risiko eines erneuten<br />

Brandes enorm erhöhen. Für diesen Einsatz ist der<br />

Trupp UL (unbemannte Luftfahrtsysteme) vor<br />

Ort, dem auch Illner angehört. Die Helfer spezialisieren<br />

sich auf die Suche mithilfe von Drohnen.<br />

Diese sind mit Wärmebildkameras ausgestattet,<br />

die aus großer Entfernung Glut und Hitze aufzeichnen.<br />

Perfekt für diesen Einsatz. Als sichergestellt<br />

ist, dass keine weitere Gefahr für einen<br />

Waldbrand besteht, kann der Einsatz beendet<br />

werden. Illner bespricht sich danach mit seinem<br />

Team, um das Vorgehen zu reflektieren und die<br />

Strategie für kommende Einsätze anzupassen.<br />

Der junge Mann berichtet begeistert von einem<br />

weiteren Einsatz: Es wurde eine Fliegerbombe<br />

gefunden, die entschärft werden sollte. „Interessant<br />

daran war, dass das Ganze zeitlich sehr eng<br />

getaktet war.“ Der Sprengmeister hatte nur einen<br />

kurzen Moment, um die Bombe zu entschärfen.<br />

Illner sichert mit der Drohne den Sprengradius. So<br />

kann er gewährleisten, dass sich keine Personen<br />

mehr in der kritischen Zone aufhalten. Auch er<br />

Bild: Privat<br />

selbst muss schnell arbeiten. Für ihn gilt es so zügig<br />

wie möglich, mit der Technik zurück ins Auto<br />

zu steigen und aus dem Gefahrenradius zu fahren.<br />

Er schafft es noch rechtzeitig und die Entschärfung<br />

gelingt. Magnus Illner erzählt mit leicht bebender<br />

Stimme: „Ich bin immer erleichtert, wenn<br />

alles gut geht.“ Sein Aufatmen ist deutlich hörbar.<br />

Die Arbeit beim THW hat aber auch seine dunklen<br />

Seiten: „Wenn vorangekündigt wird, dass<br />

Leute sterben oder bereits verstorben sind, ist es<br />

kritisch.“ Beim Umgang mit noch lebenden Personen<br />

besteht dagegen immer die Gefahr, dass<br />

diese Personen noch während der Ortung oder<br />

Rettung versterben. Dann wird die Rettung zur<br />

Bergung. Gründe hierfür können zum Beispiel<br />

Nachbeben oder das Einstürzen von Gebäuden<br />

sein. Jeder Einsatz kann zur Belastungsprobe werden.<br />

Trümmer, Leid und sogar Leichen. Den emotionalen<br />

Aspekt, das Elend und Leid, dem er dabei<br />

gegenübersteht, muss Illner ausblenden können,<br />

auch wenn ihm das nicht immer leichtfällt. Die<br />

Helfenden werden darauf zwar fachlich vorberei-<br />

tet. Doch in der Praxis möchte das niemand erleben.<br />

Das Schlimmste, was passieren kann, ist dass<br />

jede Rettung zu spät kommt. „Du kommst zum<br />

Retten, aber am Schluss musst du bergen.“ Für Illner<br />

wäre das der Worst Case, den er glücklicherweise<br />

bisher noch nicht selbst erlebt hat.<br />

Nach traumatischen Einsätzen helfen die Mitarbeiter<br />

der Psychosozialen Notfallversorgung<br />

(PSNV). Mit ihnen kann offen über die erlebte Belastungssituation<br />

geredet werden. Es sollen jegliche<br />

Traumata besprochen werden, um die Helfenden<br />

des THW zu entlasten und besser auf ihre zukünftigen<br />

Einsätze vorzubereiten.<br />

Sicherheit und Eigenschutz stehen in brenzligen<br />

Situationen immer an erster Stelle. Nur so<br />

können die Such- und Rettungsaktionen erfolgreich<br />

durchgeführt werden. Magnus Illner ist<br />

sichtlich begeisterter Helfer beim Technischen<br />

Hilfswerk. Er geht mit voller Verantwortung an<br />

seine Arbeit heran. Stets in dem Bewusstsein, dass<br />

er bei jedem Einsatz an seine psychischen und<br />

körperlichen Grenzen gehen muss.


Bild: rawpixel.com<br />

6 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

Im Fadenkreuz der Täuschung<br />

Auf Instagram lockt ein<br />

Designer-Shop mit exklusiven<br />

Angeboten – für ein Mädchen<br />

wird der Traum zum Albtraum.<br />

Inmitten des Betrugs beginnt<br />

die Jagd der Kriminalpolizistin<br />

Anja* nach den Drahtzieher:innen,<br />

die ihre Opfer hinter<br />

virtuellen Masken täuschen.<br />

VON LAURA BÖHME<br />

Ein junges Mädchen scrollt durch Instagram,<br />

als ihr ein verlockender Beitrag<br />

ins Auge sticht. Ein scheinbar exklusiver<br />

Designer-Shop verspricht die neuesten<br />

Trends zu unschlagbaren Preisen.<br />

Mit ihrem hart verdienten Geld aus einem<br />

Nebenjob möchte sie sich etwas Besonderes gönnen.<br />

Die Website des Shops sieht auf den ersten<br />

Blick professionell aus und vermittelt ein Gefühl<br />

von Sicherheit. Das Mädchen stöbert durch die<br />

scheinbar endlosen Seiten von Produktanzeigen<br />

und kann nicht widerstehen. Sie bestellt schließlich,<br />

bezahlt und wartet gespannt auf ihre Lieferung.<br />

Die Tage vergehen, doch ihre Bestellung<br />

kommt nicht an. Besorgt wendet sie sich an den<br />

Kundenservice des Online-Shops, der jedoch<br />

nicht antwortet. Langsam wird ihr klar, dass sie<br />

wohl Opfer eines Betrugs geworden ist. Frustriert<br />

und enttäuscht beschließt das junge Mädchen<br />

nicht tatenlos zuzusehen. In ihrer Not wendet sie<br />

sich an die örtliche Polizei in Wiesbaden, die den<br />

Fall an Anja und ihr Team weiterleitet.<br />

Fast zeitgleich gehen bei der Polizei weitere<br />

Anzeigen zu diesem Betrugsfall ein. Anja macht<br />

sich an die Arbeit und nimmt zuerst den Account<br />

des betrügerischen Online-Shops unter die Lupe.<br />

Trotz intensiver Bemühungen kann sie keine<br />

handfesten Beweise sichern. Um den Drahtzieher:innen<br />

doch noch auf die Schliche zu kommen,<br />

führt sie gemeinsam mit ihrem Team eine<br />

Durchsuchung in der Wohnung der Tatverdächtigen<br />

durch.<br />

Es gelingt ihnen, ein Handy sicherzustellen,<br />

das die Chatverläufe der Betrüger:innen offenbart.<br />

Diese weisen den Weg zu sogenannten<br />

Strohmännern, die von den Drahtzieher:innen<br />

angeheuert werden, um Bankkonten zu eröffnen<br />

und als Zwischenstation für das erbeutete Geld zu<br />

fungieren. Die handfesten Beweise identifizieren<br />

schließlich die Täter:innen. Anja und ihr Team<br />

können die Betrüger:innen festnehmen und das<br />

Mädchen für ihren Verlust entschädigen.<br />

Anjas Weg in die Betrugswelt beginnt mit einem<br />

dreijährigen dualen Studium für den gehobenen<br />

Polizeivollzugsdienst. Ihre Entscheidung<br />

für den Schwerpunkt „Kriminalpolizei“ führt sie<br />

ins Fachkommissariat für Betrug in Wiesbaden.<br />

Das Sachgebiet für allgemeinen Betrug und Fälschungsdelikte,<br />

in dem sie arbeitet, ist ein<br />

Dschungel von Herausforderungen. „Morgens auf<br />

die Dienststelle zu kommen, bedeutet für mich,<br />

mich auf eine Vielzahl von Fällen vorzubereiten,<br />

die von persönlichen Täuschungen bis hin zu raffinierten<br />

Online-Betrügereien reichen“, sagt Anja.<br />

Doch es ist gerade diese Vielfalt, die Anja an ihrem<br />

Job fasziniert. „Es ist wie ein ständiges Lernen“,<br />

schwärmt sie. „Man kann nie sicher sein, was als<br />

Nächstes kommt.“<br />

Ihr Fokus liegt auf Täuschungen, die persönlich<br />

oder telefonisch erfolgen. Das Internet ist<br />

ebenfalls ein wichtiges Werkzeug für Betrüger:innen,<br />

weshalb es zu Überschneidungen in den<br />

Gebieten kommen kann. Bei solchen Ermittlungsverfahren<br />

sind klare Strukturen und Vorgehensweisen<br />

für Anja unerlässlich, um bei der Vielzahl<br />

von Vorgängen den Überblick zu behalten.<br />

Abfragesysteme, Internetrecherchen und Visualisierungssoftwares<br />

sind ihre Waffen im Kampf gegen<br />

Cyberkriminelle. Digitale Beweismittel spielen<br />

dabei eine zentrale Rolle. Von Digitalforensiker:innen<br />

lässt sich Anja Mobiltelefone oder andere<br />

Datenträger aufbereiten, um die darauf enthaltenen<br />

Daten anschließend auszuwerten.<br />

Angesichts der Tatsache, dass es im Jahr 2022<br />

über 130.000 Fälle von Cybercrime gab, ist es unerlässlich,<br />

sich als Gesellschaft auf diese wachsende<br />

Bedrohung einzustellen. Die Polizei reagiert<br />

darauf bereits mit einem neuen Schwerpunkt<br />

„Cybercrime“, für den sich angehende Kriminalpolizist:innen<br />

im Studium entscheiden können.<br />

Die Herausforderung besteht nun darin, die ältere<br />

und jüngere Generation zu schützen und gemeinsam<br />

gegen digitale Betrugsversuche vorzugehen.<br />

*Name wurde von der Redaktion geändert<br />

Anjas Tipps<br />

• Misstrauen ist oft der beste Ratgeber<br />

• Angebote, die zu gut erscheinen<br />

hinterfragen<br />

• Fehlendes Impressum auf einer Website<br />

dient als Warnzeichen<br />

• Im Online Shopping zuerst die Zahlungsmethoden<br />

checken<br />

• Bei Vorkasse misstrauisch werden<br />

• Sofortige Meldung des Betrugs<br />

bei der Polizei<br />

• Sicherung von Beweismitteln zur<br />

Identifizierung der Tatverdächtigen


01/ 2024 SUCHE<br />

7<br />

Auf aufgewärmten Fährten<br />

Morde, Vermisstenfälle, Verbrechen – doch was, wenn die Polizei<br />

keine Tatwaffe, Leiche oder gar die Täter:innen findet? Viele Cold<br />

Cases sind seit Jahrzehnten ungeklärt. Wie finden Ermittler:innen<br />

nach so langer Zeit noch neue Hinweise?<br />

VON EMILY KRUSE<br />

True Crime Formate boomen aktuell, ob<br />

als Podcasts, Serien oder Dokus. Auch<br />

Journalist Mike Mathis ist schon seit<br />

seiner Kindheit von Verbrechen fasziniert.<br />

Vor zwei Jahren hat er seinen<br />

Podcast „Licht ins Dunkel“ gestartet, um über<br />

Cold Cases zu berichten und seinem Gedanken<br />

„Irgendwas muss man da doch machen können“<br />

nachzukommen. Dem <strong>35</strong>-Jährigen ist wichtig,<br />

dass Medien nicht jedes grausame Detail einer Tat<br />

ausschmücken. Er verzichtet in seiner Sendung<br />

auf Spekulationen und sorgt für Informationen<br />

aus erster Hand. Seine Interviewpartner:innen<br />

sucht er gezielt aus Staatsanwaltschaft, Polizei<br />

und gelegentlich unter Hinterbliebenen. Dabei<br />

achtet er darauf, Betroffene nicht zu belasten und<br />

Anfragen nur zu stellen, wenn erkennbar ist, dass<br />

sie die Öffentlichkeit suchen.<br />

Regelmäßig führt Mathis Interviews mit erfahrenen<br />

Ermittlern wie Karsten Bettels. Als Kriminaldirektor<br />

der niedersächsischen Polizei beschäftigt<br />

sich Bettels seit über 20 Jahren verstärkt mit<br />

der Aufklärung von Vermissten- und Tötungsfällen.<br />

Vor rund zehn Jahren begann er zudem als<br />

Dozent an der Polizeiakademie Niedersachsen<br />

und rief dort ein mittlerweile internationales<br />

Cold Case Analyseprojekt ins Leben. Hier werden<br />

Studierende dazu angeleitet, Aktenberge von bis<br />

zu 40.000 Seiten zu durchforsten und nach neuen<br />

Impulsen für ungelöste Fälle zu suchen. Diese<br />

werden dann der Staatsanwaltschaft präsentiert.<br />

Bettels berichtet: „Es gibt keinen Fall, wo wir keine<br />

neuen Erkenntnisse gewonnen haben.“<br />

Es gibt vielschichtige Aspekte, die bei den Ermittlungen<br />

eine Rolle spielen. Forensische Möglichkeiten<br />

ändern sich mit der Zeit. Ein spannender<br />

Ansatz aus den USA ist beispielsweise die investigative<br />

genetische Genealogie (IGG), bei der<br />

in Ahnen-Forschungsdatenbanken gesucht wird,<br />

um Personen zu identifizieren. Neben den forensischen<br />

und technologischen Fortschritten, wie<br />

der Handyortung, spielen auch persönliche Beziehungen<br />

der Beteiligten eine Rolle. Insbesondere<br />

wenn Beziehungen zerbrechen, kann es beispielsweise<br />

vorkommen, dass ein Alibi zurückgenommen<br />

wird.<br />

Die Polizei steht oft vor der Herausforderung,<br />

Cold Cases neben aktuellen Fällen zu bearbeiten<br />

und das bei einer chronischen Unterbesetzung.<br />

Mathis bestätigt: „Da gilt neu vor alt, das höre ich<br />

immer wieder.“ Durch seine Recherchen sieht er<br />

die Fälle oft mit anderen Augen. Rückschauend ist<br />

es leicht, das Vorgehen der Polizei zu verurteilen.<br />

Doch er betont: „Ich bin sicher, dass kein Ermittler<br />

absichtlich einen Fehler macht.“ Er berichtet<br />

davon, Mordermittler:innen getroffen zu haben,<br />

die sich wochenlang im Büro eingeschlossen haben,<br />

um Fälle zu bearbeiten und dabei kaum geschlafen<br />

und gegessen haben.<br />

Der Beruf ist herausfordernd und emotional<br />

belastend. Wichtig ist laut Bettels, einen gewissen<br />

Abstand zu wahren und Fälle nicht zu sehr an sich<br />

heranzulassen. Das bedeutet nicht, dass jegliche<br />

Emotionalität fehlen sollte, sondern vielmehr,<br />

dass man eine positive Umleitung finden sollte,<br />

indem man sein Bestes in die Arbeit steckt. „Ich<br />

könnte natürlich auch sagen, jetzt ist Schluss und<br />

vorbei, aber ich mache es nicht. Vielleicht ist das<br />

Bild: Pexels<br />

eine Art von persönlicher Verarbeitung“, bedenkt<br />

er in Bezug auf sich selbst. Der Beruf erfordert aus<br />

seiner Sicht ein großes Durchhaltevermögen und<br />

den Willen, immer wieder neue Anläufe zu starten,<br />

um einer Lösung näher zu kommen. Seiner<br />

Erfahrung nach ist nicht unbedingt die Verurteilung<br />

der Täter:innen das Wichtigste, sondern die<br />

Beantwortung der Fragen von Angehörigen und<br />

die Gewissheit, dass die Fälle nicht vergessen werden.<br />

Der Medienberichterstattung steht der 62-Jährige<br />

grundsätzlich positiv gegenüber. Er sieht das<br />

Potenzial, über die Medien Hinweise aus der Bevölkerung<br />

zu erhalten, Botschaften an Täter:innen<br />

zu senden oder alte Fälle wieder ins Licht zu<br />

rücken. „Ohne die Medien wären manche Fälle<br />

wirklich nicht geklärt worden“, betont er. Seiner<br />

Meinung nach sollten diese jedoch nicht nur zufällig<br />

zur Klärung von Fällen beitragen. Es sei die<br />

Aufgabe der Polizei, gemeinsam mit den Medien<br />

Produkte wie beispielsweise Dokumentationen zu<br />

schaffen und gegebenenfalls aktiv auf sie zuzugehen.<br />

Am Ende solle jeder ungelöste Fall die Chance<br />

auf Aufklärung bekommen.


8 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

Tauben in Not<br />

Obwohl sie ein Symbol für Frieden sind, werden Tauben in Städten häufig als Plage<br />

angesehen. Dass sie Hilfe brauchen, sehen nur wenige Menschen. Doch Julia Bischoff<br />

und ihr Team vom Stadttaubenprojekt Stuttgart sind für die Vögel in Not da.<br />

VON ISABELL RICHTER<br />

Verletzt. Schwach. Ignoriert. Eine hilfsbedürftige<br />

Taube fällt den wenigsten<br />

Menschen auf. Für sie gibt es kaum eine<br />

Chance, zu überleben. Allein richtiges<br />

Futter wäre eine große Hilfe für das<br />

Tier. Doch in Stuttgart ist das Füttern der Tauben<br />

an öffentlichen Plätzen verboten. Damit soll der<br />

Bestand dieser Vogelart in der Stadt reduziert werden.<br />

„Trotzdem sind überall Tauben“, erklärt Julia<br />

Bischoff, Projektleitern des Stadttaubenprojekts<br />

in Stuttgart. Das Verbot hilft den Tieren also<br />

nicht.<br />

Bevor Bischoff 2016 zum Projekt kam, wusste<br />

sie nicht viel über die Tiere. „Sie waren halt da<br />

und ich war da“, beschreibt sie ihr voriges Verhältnis<br />

zu den Vögeln. Ihren ersten Kontakt mit<br />

Tauben in Not hatte Bischoff auf ihrem eigenen<br />

Balkon. Bald darauf stieß sie auf die Stelle beim<br />

Stadttaubenprojekt und nach mittlerweile sieben<br />

Jahren kümmert sie sich immer noch um die notbedürftigen<br />

Tiere.<br />

Doch warum gibt es so viele Tauben in den<br />

Städten? Ein Großteil dieser Vögel stammt von<br />

domestizierten Felsentauben ab. Zuerst wurden<br />

sie als Nutztiere gezüchtet, später dienten sie als<br />

Nachrichtenüberbringer in Kriegen. Nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg wurden viele freigelassen und<br />

vermehrten sich weiter. Dennoch gibt es heute etliche<br />

Brieftaubenzüchter. Aufgrund von Schwäche<br />

oder Verletzungen schaffen es unzählige der<br />

losgesandten Vögel nicht zurück und stranden in<br />

Städten. Domestizierte Tauben besitzen Gene, die<br />

sie das ganze Jahr brüten lassen. So kommt es<br />

schnell zur Überpopulation in urbanen Gegenden.<br />

Für viele Menschen sind sie deswegen eine<br />

Plage.<br />

Fakt ist: Die Vögel brauchen Hilfe. Das Stadttaubenprojekt<br />

zielt darauf ab, den Bestand zu reduzieren,<br />

neue Taubenschläge zu bauen und Verständnis<br />

für die Tiere zu wecken. „Keiner muss<br />

Tauben lieben, aber man kann sie wenigstens mit<br />

Respekt behandeln. Jedes Tier hat auch nur ein Leben.<br />

So wie wir“, bekräftigt Bischoff. Da die Vögel<br />

als verwilderte Haustiere eingestuft werden, sind<br />

sie für Futter auf den Menschen angewiesen. Deswegen<br />

sorgen die 40 Mitarbeitenden für die<br />

Vögel.<br />

Derzeit unterhalten sie 16 Taubenhäuser und<br />

drei Brutwägen in Stuttgart. Die Unterkünfte haben<br />

allerdings nur punktuell Erfolg, da Tauben<br />

sehr standorttreu sind. Darum sollen die Schläge<br />

so attraktiv wie möglich sein. Die Tiere finden<br />

hier Rückzugsorte, bessere Brutplätze und werden<br />

täglich mit Futter und Wasser versorgt. Als Folge<br />

halten sie sich weniger an öffentlichen Plätzen<br />

auf und stören keine Menschen.<br />

Zudem werden Eier mit Attrappen ausgetauscht.<br />

Dies geschieht ein bis zwei Tage nach<br />

dem Legen, da zu diesem Zeitpunkt noch keine<br />

Babys darin wachsen. „Wir wollen keine Küken.<br />

Wir haben genug mit denen zu tun, die außerhalb<br />

unserer Taubenschläge schlüpfen“, beschreibt die<br />

Projektleiterin diese Maßnahme. Bis Ende 2022<br />

wurden 45 000 Eier gewechselt, womit der Taubenbestand<br />

deutlich minimiert wurde.<br />

Dann gibt es noch den Notfallbereich. „Tauben<br />

werden häufig eingesperrt, weil es Menschen<br />

egal ist oder sie unaufmerksam sind“, kritisiert<br />

Bischoff. Im Notfallbereich sind zwei ehrenamtliche<br />

Mitarbeitende die ganze Woche erreichbar.<br />

Sie organisieren die Abholung der notbedürftigen<br />

Vögel. Dabei wird immer, um etwas Zeit gebeten.<br />

„Wir kriegen manchmal zehn Meldungen von<br />

Notfalltauben. Wir brauchen ein bisschen Zeit,<br />

bis man eine Abholung organisieren kann“, erklärt<br />

die Projektleiterin, die schon selbst viele Rettungen<br />

durchgeführt hat.<br />

Wer das Projekt unterstützen möchte, kann<br />

das am besten als ehrenamtliche Hilfskraft tun.<br />

Diese kümmern sich am Wochenende für kurze<br />

Zeit um einen Taubenschlag, helfen beim Eiertausch<br />

oder holen eine Taube in Not ab. „Es ist ein<br />

kleines Investment, bring in dem Moment aber<br />

wirklich viel“, erklärt Bischoff.<br />

Wer Interesse an einer Mitarbeit hat, einfach<br />

unter taubenteam-stuttgart@gmx.de melden.<br />

Was tun, bei einer Taube<br />

in Not?<br />

Hilfe beim lokalen Stadttaubenprojekt, Tierschutzverein<br />

oder in der Facebook-Gruppe<br />

„Tauben-Notfallmeldung-Das Original.“<br />

suchen.<br />

Verletzte Tauben immer mitnehmen. Transport<br />

am besten in Stoffeinkaufsbeuteln.<br />

Feuerwehr hilft, wenn Tauben nicht allein erreichbar<br />

sind. Immer über Einsatzleitungsnummer<br />

anrufen, nicht die Notrufnummer.<br />

Nicht den städtischen Tiernotdienst oder<br />

eine Taubenabwehrfirma rufen.<br />

Bild: Unsplash


01/ 2024 SUCHE<br />

9<br />

Vom Fund<br />

zum Büro<br />

Bild: Pixabay<br />

Smartphones, Sexpuppen oder eine Streichholzschachtel voller Diamanten –<br />

ein Blick in die Schränke des Fundbüros am Stuttgarter Flughafen zeigt, was<br />

Reisende in der Hektik gerne mal verlieren.<br />

VON JOSEPHIN SCHWEISS<br />

Die Rollen unzähliger Koffer klackern<br />

über den Boden, Stimmengewirr aus<br />

aller Welt ertönt und ein knisternder<br />

Ton erinnert Passagiere, den letzten<br />

Aufruf ihres Fluges nicht zu verpassen.<br />

In dem hektischen Treiben des Stuttgarter<br />

Flughafenlebens gehen zahlreiche Gegenstände<br />

verloren und werden wiedergefunden. Aber was<br />

passiert mit diesen unzähligen Dingen, wie<br />

finden sie ihren Besitzer wieder und was haben<br />

Diamanten damit zu tun? Fatih Zorluer,<br />

Mitarbeiter der Flughafenwache, erzählt von<br />

seinen Erlebnissen im Fundbüro.<br />

In den Sommermonaten werden einige<br />

Gegenstände am Stuttgarter Flughafen zurückgelassen,<br />

„Wer mehr reist, verliert in der Regel<br />

auch viel“, sagt Zorluer. Die Dinge finden dann<br />

übergangsweise in der Flughafenwache ein neues<br />

Zuhause. Der Mitarbeiter öffnet die deckenhohen<br />

Schrankwände, in denen gefundene Objekte mit<br />

Datum und Fundort versehen sind. In den<br />

Wintermonaten seien die Schubladen eher leerer,<br />

nur ein paar AirPods, Handys und Uhren liegen in<br />

den Regalen. In einem Zeitraum von vier bis sechs<br />

Wochen werden Objekte auf der Dienststelle<br />

aufbewahrt, bevor sie an das Leinfelden-Echterdingen<br />

Fundbüro weitergegeben werden. Dort haben<br />

die Besitzer sechs Monate Zeit, um die Gegenstände<br />

abzuholen, bevor sie gespendet oder versteigert<br />

werden. Allein dieses Jahr sind rund 3.700<br />

verloren geglaubte Objekte auf der Wache<br />

eingegangen. „Leider schaffen wir es nicht, dass<br />

alle Gegenstände wieder an die Besitzer<br />

übergeben werden, aber wir versuchen unser<br />

Bestes“, meint der Mitarbeiter, der seit 13 Jahren<br />

im Fundbüro arbeitet. Auf der Wache landen<br />

hauptsächlich Dinge, die bei der Sicherheitskontrolle<br />

verloren gegangen, sind oder beim<br />

Fliegen nicht mitgeführt werden dürfen.<br />

Unter den Fundgegenständen tummeln sich<br />

nicht nur alltägliche Gegenstände wie elektronische<br />

Geräte, Kleidung, Brillen, Schmuck,<br />

Geldbeutel und Ausweise, sondern auch eine<br />

skurrile Auswahl an Sexspielzeug und Gummipuppen.<br />

„Diese werden aber selten abgeholt.<br />

Zu groß ist die Scham, obwohl diese sehr diskret<br />

ausgehändigt werden“, versichert der Angestellte.<br />

Eine Sache, die dem Mitarbeiter besonders in<br />

Erinnerung geblieben ist, ist der Diamantenfund:<br />

„Ein Taxifahrer kam auf die Wache und bat darum,<br />

eine kleine Streichholzschachtel abgeben zu<br />

dürfen.“ Als die Mitarbeiter die Schachtel öffnen,<br />

staunen sie nicht schlecht, als sich darin mehrere<br />

funkelnde Diamanten befinden. Der Taxifahrer<br />

versicherte, dass diese auf der Rückbank seines<br />

Taxis vergessen wurden. „Die Diamanten haben<br />

wir dann der Polizeibehörde übergeben. Ob der<br />

Schatz wieder zu den Besitzern zurückgekehrt ist,<br />

wissen wir leider nicht“, erklärt der Fundbüro-<br />

Mitarbeiter. Das Team versucht sein Bestes, um<br />

den Eigentümer ausfindig zu machen. Das sei aber<br />

nur möglich, wenn der Name oder die Adresse<br />

irgendwo auf dem Gegenstand zu erkennen ist.<br />

„Gerade bei Handys, die ein Passwort besitzen,<br />

ist das besonders schwer“, sagt Zorluer. Wer sein<br />

Smartphone zurückhaben möchte, muss es genau<br />

beschreiben können, vom kleinsten Kratzer auf<br />

dem Display bis zur Beschreibung der Handyhülle,<br />

alle Informationen helfen bei der Rückgabe.<br />

Erst dann, wenn die Mitarbeiter sich sicher<br />

sein können, dass der Besitzer wirklich der Richtige<br />

ist, werden die Wertsachen ausgehändigt.<br />

Zwischen Wertsachen, Sexpuppen und<br />

Diamanten wundert sich Zorluer aber auch über<br />

den achtlosen Umgang mit Geld: „Wir haben<br />

auch schon mal 10. 000 Euro gefunden, die<br />

einfach so am Flughafen vergessen wurden.“<br />

Auf die Frage, ob er Tipps hätte, um weniger<br />

Sachen zu verlieren, gibt er den Rat: „Zeit lassen,<br />

schließlich fliegt man in den Urlaub zur<br />

Entspannung und nicht zum Stress.“


10 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

Allein,<br />

aber<br />

nicht<br />

samenlos<br />

Bild: Unsplash<br />

Die Entscheidung, Mutter zu werden, markiert oft einen Wendepunkt<br />

im Leben einer Frau. Was passiert, wenn man keinen Partner<br />

an seiner Seite hat? Polly Freytag, wie sich die Solomutter aus<br />

Hessen auf Instagram nennt, erzählt vom Abenteuer Samenspende.<br />

VON ALESSIA BRUNETTO<br />

In einer Welt, die sich ständig weiterentwickelt<br />

und neue Definitionen von Familie<br />

hervorbringt, werden die Geschichten von<br />

Frauen lauter, die den traditionellen Pfad<br />

der Mutterschaft verlassen haben. Frauen,<br />

die allein eine Familie gründen, nennen sich Solomütter,<br />

im Englischen „Single Mom by Choice“.<br />

Sie bekommen ihr Kind mithilfe einer Samenspende,<br />

ganz ohne Partner:in. Polly Freytag ist genau<br />

so eine Solomutter.<br />

Als sie noch verheiratet ist und sich gemeinsam<br />

mit ihrem Partner mit der zukünftigen Familienplanung<br />

beschäftigt, merkt Polly Freytag: „Es<br />

wird alles zu meinen Lasten sein. Während das Leben<br />

meines Partners genau gleich bleiben wird,<br />

wird sich mein Leben komplett verändern.“ Ab<br />

diesem Zeitpunkt merkt die Hessin, dass sie sich<br />

immer wieder in eine solche Abhängigkeit mit einem<br />

Partner begeben würde. „Ich habe in keiner<br />

heteronormativen Beziehung, in keinem Modell,<br />

durch kein Vorbild gesehen, dass die Familienplanung<br />

nicht zu einem Ungleichgewicht geführt<br />

hat, das immer zulasten der Frau war. Auf der anderen<br />

Seite war mir klar, ich will auf jeden Fall<br />

Kinder. Das Thema Samenspende fiel mir dann<br />

einfach in den Schoß“, beschreibt Polly Freytag.<br />

Daniela Dahms, Diplom-Pädagogin bei Pro Familia<br />

Pforzheim, empfiehlt: „Wenn eine Frau sich<br />

entscheidet, allein Mutter zu werden, muss sie<br />

sich zuvor viele Fragen stellen und diese positiv<br />

beantworten. Die Person wird sich vorher mit sich<br />

selbst und ihren eigenen Kapazitäten, finanziell<br />

und psychisch, auseinandersetzen müssen.“<br />

Die heute <strong>35</strong>-Jährige entscheidet sich dazu,<br />

über ihre Kinderwunschklinik mit einer dänischen<br />

Samenbank zu kooperieren, denn deutsche<br />

Samenbanken gäben deutlich weniger Details<br />

über die Spender preis. „Sucht die Frau den Spender<br />

zum Beispiel online bei einer Samenbank in<br />

Dänemark aus, muss sie sich die Frage stellen, welche<br />

biologischen Merkmale zu ihr passen und<br />

welche das Kind haben soll. Möchte sie einen<br />

Spender mit weißer Hautfarbe oder einen mit<br />

dunkler Hautfarbe? Welche Augenfarbe, welche<br />

Bild: Privat<br />

Körpergröße, welche Blutgruppe soll der biologische<br />

Vater haben?“, erklärt Daniela Dahms. Neben<br />

den optischen Merkmalen haben die Frauen<br />

Zugang zu der gesamten Gesundheitsgeschichte.<br />

„Man trifft eine lebenswirksame Entscheidung für<br />

einen anderen Menschen, den man noch nicht<br />

kennt. Es ist ein sehr bewusster und emotionaler<br />

Prozess, der gleichzeitig so nüchtern ist“, offenbart<br />

die Solomutter.<br />

Polly Freytag achtet bei der Suche nach einem<br />

passenden biologischen Vater auf mögliche Ähnlichkeiten<br />

zu ihren Nichten und zu sich selbst.<br />

„Am Ende hatte ich eine Auswahl von vier Spendern.<br />

Die letzte Entscheidung fiel dann nur nach<br />

Bauchgefühl“, erzählt die Hessin. Trotzdem hat<br />

die <strong>35</strong>-Jährige kein Interesse, den Spender persönlich<br />

zu kennen: „Ich kenne keinen Namen, nur eine<br />

Spendernummer. Ich kann ihn nicht suchen,<br />

weil das nicht mein Recht ist. Das Recht, Kenntnis<br />

über die eigene Abstammung zu haben, ist das<br />

Recht meines Kindes. Der Spender wiederum hat<br />

kein Anrecht auf das Kind.“ Mit Blick auf die Zukunft<br />

bekräftigt Polly Freytag: „Ich möchte bei<br />

meinem Kind nicht diese Sehnsucht erwecken,<br />

dass da vielleicht ein Vater ist. Da ist kein Vater,<br />

wir haben keinen Papa, wir haben einen Spender.“<br />

Aus familientherapeutischer Sicht sei es laut<br />

der Diplom-Pädagogin wichtig, dass das Kind<br />

Kenntnis über den Samenspender hat, denn Familiengeheimnisse<br />

bleiben oft nicht geheim.<br />

Polly Freytag hatte eine komplexe Schwangerschaft,<br />

die körperlich und gesundheitlich viel von<br />

ihr abverlangt hat, trotzdem stell sie klar: „Ich habe<br />

es nie bereut. Ich muss nicht über Erziehungsfragen<br />

mit jemandem diskutieren und bin nicht<br />

abhängig davon, dass jemand anderes abends<br />

nach Hause kommt und mir hilft. Ich bin es gewohnt,<br />

es allein zu machen.“ Auf die Frage, was<br />

sie anderen Frauen in der gleichen Lebenssituation<br />

raten würde, entgegnet die Solomutter: „Ich<br />

kann sagen, dass dieses Leben unglaublich viele<br />

Facetten und Einflüsse hat. Und wenn man sich<br />

darüber Gedanken macht, dieses Leben zu gehen,<br />

dann sollte man sich alle Facetten anschauen und<br />

nicht die Augen verschließen.“ Polly Freytag betont,<br />

dass es erforderlich sei, hinzuschauen. Das<br />

sei die wichtigste Realisation, die es braucht.


01/ 2024 SUCHE<br />

11<br />

My body, your choice?<br />

Frausein ist gleich Muttersein. So veraltet diese Vorstellung wirkt,<br />

so verankert ist sie. Frauen, die sich davon abwenden, haben es<br />

immer noch schwer. Auch Julia Carp musste viel Gegenwind<br />

aushalten. Die 25-jährige erzählt von ihrem langen Weg zur<br />

Sterilisation.<br />

VON NEDIRA BÖHLER<br />

Bild: Privat<br />

Ach, warte erst mal ein paar Jahre ab,<br />

das ändert sich noch!” ist der Standardsatz,<br />

den junge Frauen zu hören<br />

bekommen, sobald sie sich gegen<br />

Nachwuchs aussprechen. Eine Reaktion,<br />

die zeigt, wie unbegreiflich die Vorstellung einer<br />

gebärfähigen Person ohne Kinderwunsch<br />

auch heute noch zu sein scheint. Wie groß der<br />

Druck und wie klein die Selbstbestimmung dadurch<br />

sein kann, wurde für Julia Carp spürbar. Für<br />

ihren Wunsch, kinderlos zu leben, musste die<br />

Wahlkölnerin hart kämpfen und viel Ablehnung<br />

ertragen.<br />

Dreieinhalb Jahre ist sie nun her, ihre Sterilisation.<br />

Doch angefangen hat alles bereits im Kindesalter,<br />

berichtet die 25-jährige Medienwissenschaftlerin.<br />

Schon damals stand für Carp fest: „Ich<br />

möchte niemals Kinder kriegen“. Geändert habe<br />

sich das nie, bis heute nicht. Richtig präsent wurde<br />

das Thema dann mit 16 Jahren, dem ersten<br />

Freund und der Frage nach Verhütung. Die Lösung<br />

damals: Pille schlucken. „Gut war damit aber<br />

noch lange nicht alles“, erzählt sie im Interview.<br />

Neben schweren depressiven Verstimmungen leidet<br />

sie unter einer permanenten Schwangerschaftsangst.<br />

„Zu Höchstzeiten habe ich dann<br />

mehrere Schwangerschaftstests in der Woche gemacht,<br />

einfach nur um sicher zu sein.“ Ihr Leidensdruck<br />

ist groß, die Hilflosigkeit noch größer.<br />

Nach drei Jahren geht die Beziehung zu Ende<br />

und damit vorerst auch die Angststörung. Die<br />

Aussichtslosigkeit bleibt. Bis sie im März 2019 auf<br />

eine Doku über eine junge Frau mit Sterilisationswunsch<br />

stößt. „Es war für mich, als hätte ich einen<br />

heiligen Gral gefunden“, erinnert sich Carp<br />

euphorisch. Schnell steht für die 22-jährige Studentin<br />

fest: Sie möchte die Sterilisation. Gezweifelt<br />

habe sie an ihrem Entschluss seither nie. „Für<br />

mich war es das, was ich gesucht habe, ohne zu<br />

wissen, dass es existiert“.<br />

Aufseiten der Gynäkolog:innen sieht das anders<br />

aus. Der Konsens der Ärzt:innen: Für einen<br />

solchen Eingriff sei sie zu jung. Entmutigen lässt<br />

sich die Anfang 20-jährige dennoch nicht. So beginnt<br />

sie im Dezember 2019 nicht nur eine neue<br />

Beziehung, sondern auch einen Kampf um Selbstbestimmung.<br />

Sechs Monate verbringt sie mit frustrierenden<br />

Telefongesprächen und abweisenden<br />

Arztbesuchen – erfolglos. Bei professioneller Ablehnung<br />

bleibt es jedoch nicht. „Sie werden einsam<br />

sterben” und „Wollen sie wirklich riskieren,<br />

am Ende ohne Mann dazustehen?” sind nur einige<br />

der schlimmen Vorwürfe, die der Studentin an<br />

den Kopf geworfen werden. Ihr Wunsch scheint<br />

unerreichbar.<br />

Harte Zurückweisung ist in den Praxen eher<br />

Standard als Ausnahme, bestätigt auch Gynäkologin<br />

Sandra Behrndt. Besonders bei jungen Frauen<br />

unter 30 werde eine Sterilisation kritisch bewertet,<br />

ordnet die Fachärztin ein. „Aus medizinischer<br />

Sicht ist der operative Eingriff natürlich mit Risiken<br />

verbunden“, betont sie, “das sollte nicht unterschätzt<br />

werden”. Eine Sterilisation wird deshalb<br />

nur bei medizinischer Notwendigkeit oder<br />

abgeschlossener Familienplanung in Betracht gezogen.<br />

„Zwar gilt das auch für jüngere Frauen,<br />

aber das Risiko, dass sich diese Haltung mit einem<br />

neuen Partner oder mit den Jahren verändert, ist<br />

vielen Ärzt:innen zu hoch“, erklärt Dr. Behrndt.<br />

Wichtig ist deshalb ein umfassendes Aufklärungsgespräch,<br />

bei dem sowohl persönliche Umstände<br />

als auch Risiken betrachtet werden.<br />

Am Ende zahlt sich Carps Hartnäckigkeit aus.<br />

Mithilfe von “Selbstbestimmt steril e.V.“, einem<br />

Verein, der sich für mehr Transparenz und Selbstbestimmung<br />

bei diesem sensiblen Thema einsetzt,<br />

findet sie eine unterstützende Praxis. Der 4.<br />

Juni 2020 wird fortan zum Wendepunkt in ihrem<br />

Leben. „Der Tag der OP war einer der schönsten<br />

überhaupt für mich“, erinnert sich die junge Frau<br />

lachend. Heute ist sie stolz darauf, ihre Stimme gefunden<br />

zu haben. Und in diesem entscheidenden<br />

Punkt sind sich Julia Carp und Sandra Behrndt einig:<br />

Über den eigenen Körper entscheidet letztlich<br />

jede:r selbst. Ob Mitte 40 oder Anfang 20.<br />

Bild: Unsplash<br />

Was ist eine Sterilisation?<br />

Unter einer Sterilisation versteht man das<br />

Verschweißen oder Durchtrennen der Eileiter<br />

bei Personen mit Uterus. Die Unterbrechung<br />

verhindert, dass Spermien in die Gebärmutter<br />

eindringen und dort Eizellen befruchten.<br />

Eine Rekonstruktion des Eileiters<br />

und künstliche Befruchtungen sind weiterhin<br />

möglich.


12 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

Mit Mäusen gegen Alzheimer<br />

Bild: unsplash<br />

Bild: privat<br />

Die 24 Jahre alte Medizinstudentin<br />

Sarah Sassenfeld<br />

geht als Gastforscherin auf das<br />

King’s College in London, das<br />

größte Lernzentrum für das<br />

Gesundheitswesen in Europa.<br />

Ihr Forschungsgegenstand:<br />

Die Alzheimer-Krankheit.<br />

VON JULIA STAPF<br />

Eigentlich hatte Sassenfeld Jura studieren<br />

wollen, aber jetzt schlägt sie sich<br />

mit den Zollbestimmungen zur Einführung<br />

von Mäusegehirnen nach<br />

England herum. Diese müssen in Methanol<br />

eingelegt sein, was giftig und leicht entflammbar<br />

ist. „Außerdem sind die Mäuse biologisches<br />

Material der Kategorie B, also potenziell infektiös.<br />

Das ganze Paket ist eine Gefahrenquelle<br />

und es ist noch fraglich, wie das durch den Zoll<br />

geht“, sagt Sassenfeld.<br />

Schuld an ihrem medizinischen Interesse war<br />

ihr damaliger Biolehrer, der in ihrem Auslandsjahr<br />

in den USA Themen durchgenommen hat,<br />

die sogar in den Anfängen eines Medizinstudiums<br />

behandelt werden. Sassenfeld fing Feuer und hatte<br />

auch noch das Glück, dass der Notenschnitt ihres<br />

Abiturs gepasst hat. „Mit 1,2 bin ich in der Medizin<br />

schon fast ein Loser“, sagt sie und lacht.<br />

Sassenfeld ist eine durchsetzungsstarke junge<br />

Frau mit einer Arbeitsmoral, die einem Bienenvolk<br />

gleicht. Sie ist 24 Jahre alt und im fünften<br />

Jahr ihres Medizinstudiums an der Heinrich-Heine-Universität<br />

Düsseldorf (HHU). Neben dem Studium<br />

schreibt sie ihre Doktorarbeit und hat drei<br />

Nebenjobs. Ob sie sich da nicht einmal erholen<br />

müsse? „Das brauche ich gar nicht, meine Arbeit<br />

macht mir Spaß. Wenn du weißt, was du machen<br />

möchtest, fällt es dir leichter das Durchhaltevermögen<br />

zu zeigen. Und wenn man einmal die<br />

ersten Semester hinter sich hat, wird es besser“,<br />

sagt sie.<br />

Diese Passion hatte auch ihre Doktormutter<br />

Dr. Abdel-Hafiz schnell erkannt, als Sassenfeld<br />

Erstsemestern beibrachte, wie man Körperspenden<br />

seziert. Noch im Präparationssaal bietet sie<br />

ihr eine Doktorstelle an. Seit zwei Jahren arbeiten<br />

die beiden intensiv zusammen: Nicht nur für die<br />

Doktorarbeit, sondern auch im Rahmen des Kollaborationsprojektes<br />

zwischen der Anatomieabteilung<br />

der HHU und dem King’s College.<br />

Dr. Abdel-Hafiz schlug ihrem Schützling vor,<br />

dass sie sich doch für den Austausch nach England<br />

bewerben solle. „Der Bewerbungsprozess war<br />

sehr schwierig“, sagt Sassenfeld, „ich bin ein visiting<br />

research experience Student, der keinen Abschluss<br />

bekommt, aber hier forschen darf. Die haben<br />

davon nicht besonders viele und alle waren<br />

mit der Bürokratie bei der Bewerbung überfordert.<br />

Das war anstrengend, es konnte mir auch keiner<br />

helfen.“ All das hat sie alleine gestemmt. Unzählige<br />

Mails später sitzt sie für drei Monate in London.<br />

Auch für die Nachwuchsförderung der HHU, die<br />

ihren Lebensunterhalt in der teuren Metropole<br />

mit 1500 Euro monatlich unterstützt, hatte sie<br />

sich beworben. „Das war schon nervenaufreibend,<br />

ob das alles klappt“, erzählt die Studentin.<br />

Zurück zu den Mäusegehirnen: In Deutschland<br />

hatte Sassenfeld Experimente an Mäusen gemacht<br />

und ihre Gehirne eingefroren. In einem<br />

Mikroskop möchte sie sich einen Rezeptor anschauen,<br />

ein Sinnesorgane der Zellen, das Informationen<br />

empfangen kann. Sassenfeld untersucht,<br />

ob er einen Einfluss auf die Alzheimertherapie<br />

beim Menschen haben könnte. Sollte das der<br />

Fall sein, wäre es der erste Schritt für ein Medikament<br />

gegen die Alzheimer- Krankheit. Im King’s<br />

College steht dafür das Lichtscheibenmikroskop,<br />

ein kostspieliges High-Tech Gerät, das 3D-Visualisierung<br />

der Gehirne ermöglicht. Weil das Gerät so<br />

teuer ist und die Mitarbeiter:innen eine spezielle<br />

Einarbeitung benötigen, kollaboriert das College<br />

mit anderen Universitäten, um diese Technik zugänglich<br />

zu machen.<br />

Ob wir wohl bald gegen Alzheimer gewappnet<br />

sind? Sassenfeld lacht: „Bisher ist das nur Basisforschung<br />

an Tieren. Bis die Forschung klinisch wird,<br />

also am Menschen durchgeführt wird, dauert es<br />

noch.“ Aber es bleibt spannend. Genauso wie ihre<br />

berufliche Zukunft.<br />

Dabei steht das Beenden von Studium und<br />

Doktorarbeit an erster Stelle. Später möchte sie als<br />

Neurologin in einem Klinikum arbeiten und<br />

gleichzeitig forschen. Um die Abwechslung im<br />

Alltag zu erhalten, hat sie vor, die Notarztausbildung<br />

zu machen und nebenher als Notärztin zu<br />

fahren. Falls ihr dabei eine Maus aus der Sanitätertasche<br />

fallen sollte, darf man sich also nicht<br />

wundern.


01/ 2024<br />

SUCHE<br />

13<br />

Dunkelheit, lila Vorhänge und eine<br />

Kristallkugel auf der Tischplatte. Die<br />

Luft ist schwer und stickig, das Atmen<br />

fällt schwer. Die Räucherstäbchen<br />

haben dem Raum einen beißenden<br />

Geruch gegeben. Gegenüber der Tischplatte<br />

blickt eine Frau mit einem lila Kopftuch<br />

konzentriert auf ihre bunten Karten.<br />

In etwa dieses Bild wird vor dem inneren Auge<br />

sichtbar, wenn Tarotkarten erwähnt werden. Es<br />

klingt verlockend, mehr über die Zukunft zu erfahren.<br />

Kartenlegen ist eine Kunst, die schon aus<br />

dem 14. Jahrhundert bekannt ist. Lange Zeit wurde<br />

sie als negativ gesehen, da die Kirche Hexerei<br />

nicht duldete. Jana Braungardt ist erfreut, dass<br />

Frauen den Begriff Hexe wieder positiv für sich beanspruchen,<br />

als Symbol für Selbstständigkeit, Intelligenz<br />

und Eigensinnigkeit.<br />

Wie kommt man allerdings von dem Beruf als<br />

Strategin zum Kartenlegen? „Es sind zwei Herzen<br />

in meiner Brust“, gesteht Jana Braungardt, die in<br />

ihrem anderen Leben in einer Werbeagentur arbeitet.<br />

Einerseits sei sie ein analytisch denkender<br />

Mensch, der sich mit Zahlen und Fakten auskennt.<br />

Aber auch Menschen, die rational denken,<br />

sollten offen sein für Neues. Es gibt in ihren Augen<br />

nicht nur logische Erklärungen: „Manches<br />

Bild: Unsplash<br />

Die Macht der Karten<br />

Tarotkarten sagen die Zukunft voraus – ist Wahrsagerei in der<br />

heutigen Zeit jedoch noch dasselbe, wie das, der alten Jahr -<br />

märkte? Die moderne Hexe Jana Braungardt veranschaulicht<br />

die Kunst des Kartenlegens.<br />

VON MARIKA RAUCH<br />

können wir einfach nicht begreifen und wir sollten<br />

versuchen, uns diese Dinge auf verschiedene<br />

Wege zu erklären.“<br />

Die Suche nach Antworten<br />

„Wenn man an Tarot glaubt, glaubt man auch,<br />

das die Erde eine Scheibe sei.“ Dieses Vorurteil sei<br />

ihr schon öfter begegnet. Jedoch sei sie der Ansicht,<br />

dass Tarot nicht bedeute, an alten Vorstellungen<br />

festzuhalten. Es sei vielmehr eine Möglichkeit,<br />

sich selbst besser zu verstehen.<br />

Zum Tarot kam die moderne Hexe durch die<br />

Astrologie und das Interesse für Sternzeichen, später<br />

dann zur Magie der Karten. Nach dem Kauf des<br />

klassischen A. E. Waite Tarots begann sie, für sich<br />

selbst Karten zu legen. Das Tarot besteht aus 78<br />

Karten, davon gehören die ersten 22 Karten zum<br />

großen Arkana, dessen Karten jeweils eine übergreifende<br />

größere Bedeutung haben. Die restlichen<br />

56 Karten werden das kleine Arkana genannt<br />

und bestehen aus vier Elementen: Stäbe, Kelche,<br />

Schwerter und Münzen. Diese Karten können einzeln<br />

gezogen werden, oder den Karten des großen<br />

Arkanas genauere Deutungen hinzufügen. Jana<br />

hat das Tarot in ihre tägliche Routine mit aufgenommen.<br />

„Die Karten geben mir manchmal Impulse<br />

für Entscheidungen, die ich innerlich schon<br />

kenne, aber mir noch der Schritt fehlt sie auszuführen.“<br />

Wenn die moderne Hexe ihren Bekannten<br />

oder Freund:innen die Karten legt, können Karten<br />

wie „der Tod“ Angst machen. Aber darüber muss<br />

man sich laut Jana keinesfalls sorgen: „Diese Karten<br />

zeigen nicht den baldigen Tod, sondern die<br />

Veränderungen im Leben. Es geht darum, die Vergangenheit<br />

hinter sich zu lassen und mit anstehenden<br />

Veränderungen voranzukommen.“ Jana<br />

betont, dass Tarot völlig grundlos so negativ belegt<br />

sei. Beim Tarot gibt es ihrer Ansicht nach keine<br />

schlechten Vorhersagen, es handelt sich nur<br />

um Handlungsempfehlungen für offene Fragen.<br />

zu sein und sich Zeit für sich selbst zu nehmen.<br />

Im Jahr 2021 passierte etwas Besonderes: Im<br />

April zog sie eine Karte, die auf Krankheit hindeutete.<br />

Tatsächlich war dies der Monat, an dem sie<br />

zum ersten Mal an Corona erkrankt war.<br />

Sie stellt ihren Karten keine Fragen, die eine<br />

klare Antwort erfordern, sondern offene Fragen,<br />

die durch die Karten möglicherweise in eine bestimmte<br />

Richtung gelenkt werden können: „Was<br />

erwartet mich im nächsten Jahr?“ Zuerst reinigt<br />

sie ihre Karte mit einem Palo-Santos-Holz, das sie<br />

anzündet. Danach legt sie die Karten in ihre linke<br />

Hand, hält sie an ihr Herz und konzentriert sich<br />

auf ihre Frage. Dann werden die Karten falsch herum<br />

auf dem Tisch verteilt. Wenn sie ihre linke,<br />

herznahe Hand über die Karten schweifen lässt,<br />

versucht sie dem ersten Impuls nachzugeben und<br />

durch ein Kribbeln oder eine Wärme die richtige<br />

Karte auszuwählen. Wenn sie das Kribbeln spürt,<br />

nimmt sie die Karte auf und schlägt in ihrem Buch<br />

die Bedeutung ihrer Karte nach.<br />

Diese Rituale bieten Jana Braungardt nicht nur<br />

eine Auszeit vom stressigen Alltag, sondern schaffen<br />

auch eine Atmosphäre der Selbstreflexion und<br />

Intuition.<br />

Die vier Elemente<br />

Stäbe, auch bekannt als die Karten des Feuers<br />

bedeuten Kraft, Wille, Vorstellung und<br />

Intuition. Wer diese Karten gelegt bekommt,<br />

sollte sofort anfangen zu handeln<br />

und auf sich selbst zu hören.<br />

Kelche, das Element des Wassers. Hier sind<br />

vorrangig Gefühle und Instinkte wichtig.<br />

Man sollte sich nicht in Angelegenheiten<br />

einmischen, die einen nicht betreffen, sondern<br />

den Weg des geringsten Widerstands<br />

gehen.<br />

Das besondere Ritual des Jahres<br />

Ihr liebstes Ritual sind Jahres-Legungen in den<br />

Raunächten, die von Weihnachten bis in den Januar<br />

reichen. Diese zwölf Nächte verkörpern jeweils<br />

einen Monat des kommenden Jahres. An<br />

diesen Tagen wird eine Karte gezogen, die den jeweiligen<br />

Monat repräsentiert. In ihrem Notizbuch<br />

notiert Jana Braungardt die Karte und ihre Interpretation<br />

für den Monat. Diese Deutung wird am<br />

Ende des nächsten Jahres gelesen und die Geschehnisse<br />

werden mit den Karten verglichen. An<br />

dieser Zeit sei es besonders schön für sie zu Hause<br />

Schwerter verkörpern die Luft und sprechen<br />

den Geist und Intellekt an. Intelligentes<br />

Handeln und sorgfältig durchdachte Entscheidungen<br />

sind hier angebracht.<br />

Münzen stehen für die Erde, das Element das<br />

hauptsächlich Fakten und praktische Entscheidungen<br />

empfiehlt. Veränderungen<br />

werden langfristig stattfinden und auch<br />

mehrfache Versuche erforderlich sein.


14 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

Brücken bauen<br />

Bild: Pixabay<br />

Deutschland zählt rund 80.000<br />

Menschen mit Hörschädigung,<br />

die auf dem Arbeitsmarkt vor<br />

besonderen Herausforderungen<br />

stehen. Ein innovatives Social<br />

Franchise aus Österreich<br />

zeigt mit seinen Kompetenzzentren,<br />

wie Inklusion durch<br />

Erwachsenenbildung auch in<br />

anderen Städten funktionieren<br />

kann.<br />

VON HANNA GUTKNECHT<br />

Wien im Jahr 2004. Damals fing für<br />

Monika Haider eine bahnbrechende<br />

Reise an. Als Lehrerin am<br />

Gehörloseninstitut hat sie gehörlose<br />

Kinder unterrichtet. Zum damaligen<br />

Zeitpunkt war es so, dass in Österreich sowie<br />

auch in Deutschland die Gebärdensprache<br />

nicht staatlich anerkannt war. Gehörlose wurden<br />

noch in Lautsprache unterrichtet. Der Zugang zu<br />

Bildung und Berufsfeldern war stark eingeschränkt.<br />

Erst 2005 wurde die Gebärdensprache<br />

als Minderheitensprache in der österreichischen<br />

Verfassung verankert, in Deutschland bereits<br />

2002.<br />

Die Kinder am Gehörloseninstitut haben sich<br />

in den Pausen stets in Gebärdensprache unterhalten,<br />

unter anderem auch mit der einzigen gehörlosen<br />

Putzkraft Lotte. Sie spielt für Monika Haider<br />

eine entscheidende Rolle. Sie bringt ihr die Gebärdensprache<br />

bei. Inspiriert von der Notwendigkeit,<br />

Gehörlosen eine angemessene Bildung zu ermöglichen,<br />

gründet Monika Haider das Bildungsinstitut<br />

Equalizent in Wien. „Unser wichtigster Stan-<br />

dard ist die Überzeugung, dass jeder Mensch ein<br />

Recht auf Bildung hat und dass jeder Mensch etwas<br />

lernen kann“, sagt Monika Haider.<br />

Im Kompetenzzentrum werden Gebärdensprachkurse<br />

im Bereich Erwachsenenbildung angeboten.<br />

Gehörlose haben dort zum ersten Mal<br />

Zugang zu Bildung in Gebärdensprache erhalten.<br />

Equalizent hat demnach nicht nur Bildungsmöglichkeiten<br />

geschaffen, sondern auch die Tür zu<br />

verschiedenen Berufsfeldern geöffnet. Diese<br />

schienen vorher für Gehörlose unerreichbar zu<br />

sein.<br />

Equalizent habe in den letzten Jahren nicht<br />

nur die Bildung für Gehörlose in Österreich verbessert,<br />

sondern auch ein umfassendes Social<br />

Franchise-System entwickelt. Das Ziel: in vielen<br />

Regionen Deutschlands ein Kompetenzzentrum<br />

aufzubauen. Die Organisationen und Städte bekommen<br />

dabei von Equalizent Unterstützung, in<br />

Form eines Business Modells sowie einen Bauplan<br />

für die Gründung eines eigenen Kompetenzzentrums.<br />

Das Paket umfasst zudem Schulungsmaterialien,<br />

darunter digitale und analoge Methodenblätter,<br />

Anleitungen sowie Kurskonzepte. Die digitalen<br />

Bildungsangebote setzen dabei auf innovative<br />

und spielerische Formate, wie zum Beispiel<br />

ein dreidimensionales Memory. Dieses setzt sich<br />

aus Gebärden, Worten und Bildern, die miteinander<br />

kombiniert werden, zusammen. Damit wird<br />

der Lernprozess auf unterhaltsame und spielerische<br />

Weise gefördert. Die Spiele befinden sich auf<br />

einer eigens dafür entwickelten digitalen Spieleplattform.<br />

Ein Standort in Stuttgart?<br />

Im Gespräch mit der Landesbehindertenbeauftragten<br />

Simone Fischer geht hervor,dass sich der<br />

Sitz des Landesverbandes der Gehörlosen Baden-<br />

Württemberg in Stuttgart befindet. Zusammen<br />

mit der Paulinenpflege in Winnenden, wo Menschen<br />

mit einer Hörschädigung eine Ausbildung<br />

machen können, könnte in der Region ein Kom-<br />

petenzzentrum aufgebaut werden. Laut Simone<br />

Fischer ist Erwachsenenbildung ein wichtiger<br />

Schritt zur Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen:<br />

„Das Beispiel aus Österreich zeigt,<br />

wie der Zugang zu Gebärdensprache gelingen<br />

kann und wichtige Schritte zur Verbesserung der<br />

Bildungschancen und der Teilhabe von Menschen<br />

mit Hörbeeinträchtigung am Arbeitsmarkt<br />

eröffnet werden“, verdeutlicht die Landesbehindertenbeauftragte.<br />

Situation für Menschen mit Behinderung in Baden-<br />

Württemberg<br />

Aktuell wird der Landesaktionsplan zur Umsetzung<br />

der UN-Behindertenrechtskonvention Baden-Württemberg<br />

überarbeitet. Bei der Durchführung<br />

des Beteiligungsprozess sind verschiedene<br />

Akteur:innen zu Wort gekommen. Menschen mit<br />

Behinderungen hatten dabei die Möglichkeit, ihre<br />

Forderungen und Anliegen über eine Online-Beteiligungsplattform<br />

einzubringen. Der Landesaktionsplan<br />

wurde in enger Zusammenarbeit mit<br />

dem Landesbeirat für Menschen mit Behinderungen<br />

und Simone Fischer gestaltet. In diesem Prozess<br />

haben sie entsprechende Forderungen und<br />

Anliegen eingebracht. Dadurch konnte sichergestellt<br />

werden, dass die Bedürfnisse von Menschen<br />

mit Behinderungen angemessen berücksichtigt<br />

wurden.<br />

Der Beteiligungsprozess ist mittlerweile abgeschlossen<br />

und die Ergebnisse liegen vor. Simone<br />

Fischer setzt sich dafür ein, dass die ausgearbeiteten<br />

Vorschläge in den Landesaktionsplan aufgenommen<br />

werden und die Landesregierung diese<br />

umsetzt. Sie betont, dass sie in ihrer Aufgabe als<br />

Landesbehindertenbeauftragte bei der Gesetzgebung<br />

und beim Anpassen von Gesetzen Stellung<br />

beziehen kann. Dies schließt auch Verordnungen<br />

ein. „Im letzten Sommer konnten wir das Thema<br />

bei der Fachkräfteallianz platzieren und damit erreichen,<br />

dass das Anliegen, Beschäftigung von<br />

Menschen mit Behinderungen, thematisiert<br />

wird“, erzählt Simone Fischer im Gespräch.


01/ 2024<br />

SUCHE<br />

15<br />

Samira Voss hat sich oft gewundert,<br />

warum sie sich trotz<br />

festen Willens nicht gut konzentrieren<br />

kann und Dinge gerne<br />

auf den letzten Drücker erledigt.<br />

Doch mit 20 Jahren findet<br />

sie ihr fehlendes Puzzleteil<br />

und bekommt die Diagnose<br />

ADHS.<br />

VON LEONIE NELE GANN<br />

Bild: Unsplash<br />

Popcorn<br />

im Kopf<br />

Der erste Verdacht kam Samira Voss*<br />

durch eine Freundin, die ADHS hat<br />

und zu der sie viele Parallelen entdeckt<br />

hat. Beide können sich ihre<br />

Zeit nicht gut einteilen: „Wenn wir<br />

uns treffen, ist eine von uns immer zu spät. Oder<br />

Liv sagt, ich fahre in zehn Minuten los, und ich<br />

weiß, sie fährt erst in einer Stunde los.“ Zudem<br />

fühlt sie sich häufig von Impulsen geleitet. Kürzlich<br />

habe sie auf dem Flohmarkt spontan zehn Bücher<br />

gekauft, ohne einmal an die vierstündige<br />

Zugfahrt zu denken, auf die sie die Bücher anschließend<br />

mitschleppen musste.<br />

Mit 16 Jahren begibt sich die Stuttgarterin aufgrund<br />

von Depressionen in Therapie. Beim Vergleich<br />

mit ihren Mischüler:innen fiel ihr auf, dass<br />

diese im Unterricht viel fokussierter seien als sie.<br />

Sie habe sich zum Beispiel überlegt, wie sie das<br />

Klassenzimmer einrichten würde, während die<br />

anderen konzentriert in eine Aufgabe vertieft gewesen<br />

waren. Ihr Selbstwertgefühl hat stark unter<br />

dem Gefühl gelitten, in der Luft zu hängen und<br />

nicht so gut zu funktionieren wie andere. „Menschen<br />

mit unerkannter ADHS-Diagnose bekommen<br />

oft jahrelang negatives Feedback aus dem<br />

Umfeld und spüren ihr Anderssein in der Regel<br />

deutlich. Mangels Erklärung werten sie sich selbst<br />

ab, wodurch ein negatives, verzerrtes Selbstbild<br />

entsteht“, bekräftigt die Psychotherapeutin Martina<br />

Starck. Dies könne in Depressionen münden.<br />

Im Alter von 20 Jahren bekommt sie dann die<br />

Diagnose. ADHS fühlt sich für sie „wie Popcorn<br />

im Kopf“ an. Ihr schießen dann 10.000 Gedanken<br />

auf einmal durch den Kopf. Zudem fühlt sich die<br />

Studentin häufig unter Strom und innerlich unruhig:<br />

„Wenn der Professor in der Vorlesung eine<br />

Pause ankündigt, springe ich immer sofort auf,<br />

um mich zu bewegen“, verdeutlicht sie.<br />

Samira Voss ist es wichtig, dass das Thema<br />

ADHS ernst genommen wird, weil damit ein großer<br />

Leidensdruck einhergehe. Vor allem wenn<br />

man nicht wisse, dass man ADHS habe. Sie<br />

kommt oft zu spät, weil ihr irgendetwas dazwischengekommen<br />

ist oder sie vergisst, was ihr jemand<br />

erzählt hat. Das können andere nicht immer<br />

nachvollziehen.<br />

„Ich versuche immer mit einzuplanen, dass<br />

ich ADHS habe“, meint sie. Die 20-Jährige hat viele<br />

Strategien entwickelt, um sich im Alltag und<br />

Studium gut zu strukturieren. Sie hat immer ein<br />

Notizbuch neben sich liegen. Wenn ihr ablenkende<br />

Ideen und Fragen kommen, denen sie unbedingt<br />

nachgehen will, schreibt sie diese auf und<br />

legt das Notizbuch dann zur Seite. So behält sie<br />

den Fokus und weiß, dass sie sich auch noch später<br />

darum kümmern kann.<br />

Ihre Diagnose hätte die Studentin gerne früher<br />

bekommen, um mehr Verständnis für sich selbst<br />

zu haben. Heute weiß sie, dass ADHS nichts mit<br />

Faulheit zu tun hat, sondern ihr Gehirn einfach<br />

anders funktioniert. In ihrem Gehirn herrscht ein<br />

Mangel an Dopamin und Noradrenalin. Diese Botenstoffe<br />

sorgen normalerweise dafür, dass man<br />

motiviert ist und die Aufmerksamkeit zuverlässig<br />

steuern kann.<br />

Psychotherapeutin Martina Starck führt dazu<br />

auf: „ADHS-Betroffenen fällt es schwer zu priorisieren,<br />

Impulse zu bremsen, Emotionen zu regulieren,<br />

ablenkende Reize zu filtern, sowie Langeweile<br />

und Leerlaufzeiten auszuhalten.“<br />

ADHS habe für Samira Voss aber auch viele positive<br />

Seiten. Die Stuttgarterin ist sehr kreativ,<br />

spontan, sensibel, fühlt Emotionen stark und hat<br />

oft sehr viel Energie. „Wenn mich dann was interessiert,<br />

kann ich mich da richtig reinfuchsen und<br />

mich stundenlang darauf konzentrieren, zum Bei-<br />

spiel wenn ich Sims spiele. Dann vergesse ich alles<br />

um mich herum“, erzählt sie.<br />

* Name wurde von der Redaktion geändert<br />

ADHS<br />

Laut dem ADHS-Infoportal der Universität<br />

zu Köln sind in Deutschland circa 4,7 Prozent<br />

der Erwachsenen von einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung<br />

(ADHS) betroffen. ADHS beginnt in der<br />

Kindheit und kann bis ins Erwachsenenalter<br />

bestehen bleiben. Verschiedene neurobiologische,<br />

psychosoziale und genetische<br />

Faktoren sind für die Entstehung von ADHS<br />

verantwortlich.<br />

ADHS zeichnet sich durch drei<br />

Kernsymptome aus:<br />

• Durchgehende Unaufmerksamkeit<br />

• Mangelnde Impulskontrolle<br />

• Starke körperliche Unruhe (mit oder ohne<br />

Hyperaktivität)


16 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

Verloren im eigenen Geist<br />

Bild: Privat<br />

Unruhe. Vergesslichkeit.<br />

Gereiztheit. Das sind nur<br />

wenige der vielen Symptome,<br />

die Klara Wahl jahrelang<br />

begleiteten, bis endlich die<br />

entscheidende Diagnose<br />

kommt: Demenz.<br />

VON AMELIE OSTWALD<br />

Ein langer Holztisch steht in einem<br />

warmen Wohnzimmer. Links davon<br />

befindet sich ein großes U-förmiges<br />

Sofa in einem schönen Grauton.<br />

Darauf hellblaue Kissen – passend zu<br />

den Stühlen, die um den Tisch verteilt stehen. Dahinter<br />

eine deckenhohe Wohnwand mit einem<br />

Fernseher und persönlichen Bildern. Der Duft von<br />

Kaffee steigt in die Nase, umhüllt von frisch gebackenen<br />

Petit Fours. Daniela Wahl stellt ein Glas<br />

Wasser ab, während sich Klara Wahl einen<br />

Schluck Milch in den Kaffee schüttet. Klara Wahl,<br />

Rentnerin, 77 Jahre, 1946 geboren und Mutter<br />

von vier Kindern. Ein Strahlen ist in ihrem<br />

Gesicht, denn sie erzählt gerne. Schon immer – sei<br />

es über ihr traumhaftes, altes Leben auf der<br />

Kuchalb oder über ihre herzliche Familie. Teller<br />

und Besteck klirren laut. Kurz darauf wird duftendes<br />

Gebäck an alle verteilt.<br />

Die Wäschenbeurerin schwelgt in Erinnerungen<br />

als sie beginnt von ihrem früheren Leben zu<br />

erzählen. Wenn die 77-Jährige über ihr vergangenes<br />

Leben spricht, wirkt sie selbstsicher und lässt<br />

sich ihre Krankheit nicht anmerken. Sie ging wie<br />

alle Kinder zur Schule und machte einen Ab-<br />

schluss. Durch die chronische Gelenkrheumatitis<br />

der Mutter, musste sie ihre Lehre als Hauswirtschafterin<br />

nach kurzer Zeit abbrechen. Anstelle zu<br />

erlernen, wie man hauswirtschaftet und Personen<br />

richtig betreut, pflegt sie ihre Mutter und kümmert<br />

sich mit ihren Brüdern um den Familienhof.<br />

Wenig später lernt sie dort ihren zukünftigen<br />

Mann kennen. Ein neuer Hof. Vier Kinder. „Sie<br />

hat es geliebt, jeden Tag frisch für die Familie zu<br />

kochen und sich um alles zu kümmern“, erzählt<br />

ihre jüngste Tochter Carola Wahl mit einem<br />

breiten Schmunzeln.<br />

Klara Wahl erinnert sich an einen Sommer<br />

zurück. An eine Sehminderung. Ein unscharfes<br />

Sehen – eine Thrombose im Auge. Nachdem sie<br />

im Winter genesen war, kehrt die Thrombose im<br />

Sommer wieder zurück. Ein weiterer Tiefpunkt in<br />

ihrem Leben, so erzählt die Seniorin, war der Tod<br />

ihres geliebten Mannes und Papa ihrer Kinder.<br />

Die Last der Verantwortung schien übermächtig<br />

und Entscheidungen nicht treffbar. Seit diesem<br />

Zeitpunkt muss Klara Wahl alleine wohnen.<br />

Glücklicherweise leben über ihr ihr Sohn Josef,<br />

seine Frau Daniela und die vier Kinder. Carola<br />

Wahl schildert eine prägende Zeit ihrer Mutter,<br />

die eine vorerst unerklärliche Transformation<br />

durchlaufen musste. Termine wurden vergessen,<br />

Schübe von Gereiztheit sind aufgetreten, begleitet<br />

von innerer Unruhe. Auch das Gefühl, nicht mehr<br />

zu Hause zu sein, drängt die Hausfrau zu unzähligen<br />

Arztbesuchen. Richtige Befunde kommen dabei<br />

allerdings nicht heraus. „Altersdepression“<br />

heißt es. Der Stress soll reduziert und der Alltag<br />

umgeordnet werden. 2018 endlich die entscheidende<br />

Diagnose: Alzheimer-Demenz. Für die Angehörigen<br />

keine Überraschung.<br />

Laut der Alzheimer Forschung Initiative e.V.<br />

sind bei einer Alzheimer-Demenz zunächst die Synapsen<br />

betroffen. Dadurch können Neuronen<br />

nicht mehr richtig miteinander kommunizieren.<br />

Das führt zu Störungen, da Informationen nicht<br />

verarbeitet werden können. So sterben im Verlauf<br />

der Krankheit ganze Nervenzellen ab, die zu einem<br />

Abbau der Fähigkeiten führen. Der Nervenzellenverlust<br />

ist ein typisches Symptom der Alzheimer-Krankheit.<br />

Bild: Privat


01/ 2024 SUCHE<br />

17<br />

Um der Demenz den Kampf anzusagen, hat<br />

die Familie Routinen für Klara Wahl aufgebaut<br />

und einen Kalender geführt. Alles ohne Erfolg.<br />

Carola Wahl verrät, wie ihre Mutter Tabletten<br />

gesammelt und in einem Küchenschrank versteckt<br />

hat. Und wie sie die Mutter an einem kalten<br />

Wintertag schlafend in der weißen Badewanne<br />

fanden. Ein deutlicher Rückgang der Schübe ist<br />

durch die regelmäßige Einnahme der Medikamente<br />

zu verzeichnen. So konnte sie ihre<br />

Ausgeglichenheit zurückgewinnen.<br />

Es zeigt sich zudem ein deutlicher Unterschied<br />

zwischen den Jahreszeiten. Im Sommer verbessert<br />

sich der Zustand der Betroffenen sichtbar. Dagegen<br />

wird es im Winter spürbar unangenehmer.<br />

Die Tage werden kürzer. Die sozialen Kontakte<br />

nehmen ab.<br />

Morgens und abends erhält die ausdrucksstarke<br />

Frau Unterstützung von einer Pflegeschwester<br />

der Sozialstation. Dabei steht die<br />

Grundversorgung im Vordergrund, anstatt einer<br />

herzlichen Betreuung. Auf der Liste stehen:<br />

Waschen, Anziehen und Medikamente nehmen.<br />

Ganz nach dem Motto „satt und sauber“. Zudem<br />

nimmt Klara Wahl einmal wöchentlich an einer<br />

Betreuungsgruppe teil, um soziale Kontakte zu<br />

pflegen. Für eine generelle Betreuung kommt<br />

dreimal die Woche eine Tagespflege zu ihr nach<br />

Wäschenbeuren. Gemeinsame Spaziergänge oder<br />

Spiele stehen auf dem Programm.<br />

Während die 77-Jährige ihren Tag meistert,<br />

trägt sie permanent ihre Uhr am linken Handgelenk.<br />

Die Uhr kann geortet werden und ermöglicht<br />

es ihrer Familie, sie wieder zu finden, falls sie<br />

sich verlaufen sollte. Ihr sei es wichtig, immer Bescheid<br />

zu geben, wenn sie das Haus verlässt.<br />

Ein selbstständiges Leben ist heute nicht<br />

mehr möglich. Auch das Kochen für alle ist nicht<br />

mehr umsetzbar. Die Sicherungen des Herds<br />

wurden zu ihrem eigenen Schutz ausgeschaltet.<br />

Mahlzeiten werden bei der Familie oder in betreuten<br />

Umgebungen eingenommen. Nur samstags<br />

nicht. Da darf sie in der Küche ihres Sohns Josef<br />

selbst kochen. Meistens Maultaschen, da die<br />

Fähigkeiten zu aufwendigen Gerichten nicht<br />

ausreichen.<br />

Die Demenzkrankheit hat aber noch weitreichendere<br />

Folgen: das Vergessen von Terminen,<br />

Menschen und ganz alltäglichen Routinen, wie<br />

Zähneputzen, Waschen und Autofahren. „Menschen<br />

leben bei ihr noch, die eigentlich schon<br />

längst gestorben sind“, erzählt Carola Wahl mit<br />

ernstem Blick zu ihrer Mama. Es waren schon<br />

viele Momente, in denen Klara Wahl selbst<br />

gemerkt hat, wie vergesslich sie ist. „Ach, du<br />

weißt doch, mein Kopf“, entgegnet sie oftmals.<br />

Am Ende des Interviews verrät Klara Wahl, wie<br />

sie es geschafft hat, niemals aufzugeben und<br />

nach wie vor so eine positive Einstellung zu bewahren.<br />

Während Klara Wahl ihren letzten<br />

Schluck Kaffee trinkt, grübelt sie und antwortet<br />

schlussendlich: „Du musst alles so nehmen, wie<br />

es kommt. Ändern kannst du es eh nicht.“ So<br />

hatte sie ihr Leben gelebt.<br />

Erste Anzeichen einer<br />

Demenz:<br />

• Gedächtnislücken<br />

• Schwierigkeiten beim Planen und<br />

Problemlösen<br />

• Probleme mit gewohnten Tätigkeiten<br />

• Räumliche und zeitliche Orientierungsprobleme<br />

• Wahrnehmungsstörung<br />

• Neue Sprach- und Schreibschwäche<br />

• Verlegen von Gegenständen<br />

• Eingeschränktes Urteilsvermögen<br />

• Verlust von Eigeninitiative und Rückzug<br />

aus dem sozialen Leben<br />

• Veränderungen der Persönlichkeit und<br />

des Verhaltens<br />

Quelle: Alzheimer Forschungs Initiative e.V.<br />

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Bild: playground.com<br />

18 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

So gut man‘s auch meint<br />

Mit 21 Jahren bekam Mia * die<br />

Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung.<br />

Im Alltag stößt<br />

sie auf viele Vorurteile: Oft hört<br />

sie Sätze wie „Stell dich nicht<br />

so an“ oder „Es gibt so viele,<br />

denen geht es schlechter als<br />

dir.“ Doch ihr Alltag ist geprägt<br />

von Erschöpfung und Ängsten.<br />

VON JULIA ZANDER<br />

Mia hat sich schon als Kind nicht<br />

zugehörig gefühlt, wird gemobbt<br />

und ausgegrenzt. Sie hat versucht<br />

ihre Probleme zu verstecken und<br />

gehofft, dass niemand ihre Essstörung,<br />

Ängste, Zwänge, Albträume und Narben<br />

bemerkt. Im Alter von 14 Jahren, ist der Druck so<br />

groß, dass sie bei ihren Eltern Hilfe sucht. Mit 15<br />

begibt sie sich das erste Mal in Therapie. „Geheilt“<br />

wird sie dadurch nicht. Nach ihrem Abitur will sie<br />

ihrem Leben ein Ende setzen. Der Versuch scheitert.<br />

Ein Studium soll ihr Neuanfang sein. Einfach<br />

an einem neuen Ort, wo sie keiner kennt, nochmal<br />

beginnen. Doch auch das ist keine Lösung.<br />

Die heute 25-Jährige bricht ihr Studium ab. Im selben<br />

Jahr hat sie ihren zweiten psychischen Zu-<br />

sammenbruch und wird in die Psychiatrie eingewiesen.<br />

Dort bekommt sie die Diagnose: Borderline-Persönlichkeitsstörung.<br />

Die Menschen in ihrer<br />

Umgebung zeigen wenig Verständnis für ihre Situation.<br />

Was nicht messbar ist, nehmen nach Mias<br />

Erfahrung viele nicht ernst. Sie vergleicht das<br />

gerne mit dem Glauben an Gott: „Es ist, als würde<br />

man versuchen Atheisten von Gott zu überzeugen.<br />

Akzeptieren können sie, verstehen nicht. Die<br />

meisten denken eh nur, man bildet sich das<br />

Ganze ein.“ In ihrem Leben macht sie viele<br />

schlechte Erfahrungen und steht vielen Vorurteilen<br />

gegenüber. Ein halbes Jahr nachdem sie aus<br />

der Psychiatrie entlassen wird, vermittelt das Arbeitsamt<br />

ihr eine Stelle als Aushilfe in einem Büro.<br />

Dort bleibt sie ein Jahr. Als sie wieder in eine Klinik<br />

eingewiesen wird, bittet ihr Arbeitgeber sie zu<br />

kündigen. Er meint, jemand in ihrem Zustand sei<br />

zu unzuverlässig und viele Kollegen würden sich<br />

in ihrer Anwesenheit unwohl fühlen. Seitdem hat<br />

sie keinen Job mehr gehabt.<br />

Mit der Zeit verliert Mia alle sozialen Kontakte<br />

außerhalb ihrer Familie. Viele distanzieren sich,<br />

weil ihre Probleme zu viel für sie sind. Heute er-<br />

zählt sie niemandem von ihrer Störung. Sie hat<br />

Angst, wieder auf Mitleid oder Ausgrenzung zu<br />

stoßen. Öffentlich fühlt sie sich schlecht repräsentiert.<br />

Mia schaut keine Filme mehr über Borderliner<br />

an, weil sie dabei so wütend wird. „Würde<br />

es nach denen gehen wären wir mit 30 im Gefängnis<br />

oder tot. Unser ganzes Leben versuchen wir<br />

zurecht zu kommen, aber was sieht man? Serienmörder<br />

und Teenager, die Tabletten exen!“<br />

Für die Störung gibt es keine Behandlung, die<br />

Erfolg garantiert. Therapie und Medikamente geben<br />

eine gute Basis. Für Mia muss die Stärke aber<br />

vor allem von den Betroffenen selbst kommen.<br />

„Es ist alles eine Frage des Willens. Wer keinen<br />

Willen mehr hat zu leben und sich zu ändern, der<br />

wird sterben, egal wie sehr die Welt um ihn herum<br />

sich anpasst.“ Zu der Frage, was man in der Gesellschaft<br />

tun muss, um Diskriminierung von psychischen<br />

Erkrankungen zu reduzieren, sagt Mia:<br />

„Entscheidet man für andere, wie sie sind, was sie<br />

fühlen und was sie brauchen, ist das auch Diskriminierung.<br />

So gut man’s auch meint.“<br />

*Name von der Redaktion geändert<br />

Expertenrat<br />

Marie Wollmer ist Psychotherapeutin und<br />

hat einige Patient:innen mit Borderline-<br />

Persönlichkeitsstörung behandelt.<br />

Sie beschreibt, dass die Störung durch intensive<br />

Gefühls- und Stimmungsschwankungen<br />

sowie instabile Beziehungen und Impulsivität<br />

gekennzeichnet ist. Betroffene<br />

leiden unter innerer Anspannung, gestörtem<br />

Selbstbild und sozialen Ängsten. Die<br />

Symptome umfassen intensive negative Gefühle,<br />

Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen,<br />

Identitätsprobleme und selbstdestruktives<br />

bis suizidales Verhalten.<br />

Die Behandlung basiere auf Psychotherapie,<br />

wobei die Dialektisch-Behaviorale Therapie<br />

(DBT) besonders effektiv sei. Im Alltag haben<br />

Betroffene mit Stigmatisierung, Leistungseinschränkungen<br />

und möglichen<br />

Konflikten am Arbeitsplatz zu kämpfen.<br />

Maßnahmen zur Schaffung eines diskriminierungsfreien<br />

Arbeitsumfelds umfassen<br />

Aufklärung über psychische Krankheitsbilder,<br />

eine realistische Gestaltung des Arbeitspensums,<br />

Arbeitsplatzsicherheit und die<br />

Einführung anonymer, psychologischer Beratung<br />

in Unternehmen.


01/ 2024<br />

SUCHE<br />

19<br />

Zeit heilt keine Wunden<br />

Anni hat mit 14 Jahren ihre<br />

Mama an den Folgen von<br />

Krebs verloren. Seitdem ist sie<br />

auf der Suche nach sich<br />

selbst. Sie spricht im Interview<br />

über ihre Erfahrungen mit ihrem<br />

Schicksalsschlag, über die<br />

Beziehung zu ihrer Mutter und<br />

über das Tabuthema Trauer.<br />

VON CHARLOTTE DALFERTH<br />

Bild: Meum Mare auf Pexels<br />

Nach einiger Zeit habe ich erst gemerkt,<br />

dass die Mama jetzt für immer<br />

fehlt“ erzählt Anni, die ihren<br />

vollen Namen nicht öffentlich<br />

preisgeben möchte. Ihre Realität<br />

war von Grund auf eine andere als die der meisten<br />

Jugendlichen. Beim gemeinsamen Familienessen<br />

standen Medikamente im Wert von Kleinwagen<br />

auf dem Esszimmertisch. Einkäufe hat sie gemeinsam<br />

mit der Haushaltshilfe ihrer Familie erledigt<br />

und nicht mit ihrer Mutter. Sobald Anni eine Erkältung<br />

hatte, durfte sie ihrer Mama nicht mehr<br />

zu nahe kommen. Zu groß war das Risiko, ihrem<br />

geschwächten Immunsystem nach den Chemotherapien<br />

zusätzliche Viren auszusetzen. Ihre frühe<br />

Jugend hat sie viel in Krankenhäusern bei ihrer<br />

Mama verbracht, bis sie sie schließlich verloren<br />

hat.<br />

Vieles aus der Zeit nach dem Tod weiß Anni<br />

nicht mehr. „Mein Körper hat viel verdrängt. Erst<br />

wenn mir davon erzählt wird, kommen die Erinnerungen<br />

wieder.“ Ihre Verwandtschaft hat sie<br />

kurz nach dem Tod viel abgelenkt. Es hat viele Familientreffen<br />

gegeben und es wurden viele Ausflüge<br />

gemacht. Irgendwann kam jedoch die Realität<br />

zurück. Nachdem die Ablenkung vorbei war,<br />

ist Anni in die Mutterrolle geschlüpft. „Ich kannte<br />

jeden Termin meines kleinen Bruders. Ich wusste,<br />

wann er Fußballtraining hat und auch, welche<br />

Hausaufgaben er erledigen muss.“ Anni erzählt,<br />

dass sie lange das gemacht hat, was von ihr erwartet<br />

wurde und dass ihre neue Rolle Ablenkung bedeutete.<br />

Es hat gedauert, bis sie realisiert hat, dass<br />

ihre Mutter nicht wieder für ein paar Wochen im<br />

Krankenhaus ist, sondern dass sie nicht wiederkommen<br />

wird.<br />

Erst in den Zwanzigern hatte sie das erste Mal<br />

das Gefühl, dass etwas nicht stimmen könnte. „Ist<br />

das überhaupt richtig, was ich so lange für normal<br />

gehalten habe?“, fragt sie sich, als sie mit 21 zu einer<br />

Psychologin geht. Erst nach ihrer Jugend hat<br />

sie damit begonnen, sich mit dem, was in ihrer Familie<br />

und mit ihr passiert ist, auseinanderzusetzen.<br />

Mit Anfang 20 hat für sie eine Selbstfindungsphase<br />

begonnen. „Wie gehe ich mit mir selbst<br />

um? Wie bin ich ein eigenständiger Mensch? Wie<br />

haben meine Familie und ich den Tod verarbeitet?“,<br />

sind Fragen, die sie sich gestellt hat. Dass ihre<br />

Familie kaum über den Verlust gesprochen hat,<br />

findet sie nicht gut. Sie hat nie den Umgang mit<br />

dem Thema gelernt und erst spät herausgefunden,<br />

dass jeder seinen eigenen Weg mit der Trauer<br />

finden muss. „Ich habe immer noch eine Beziehung<br />

zu meiner Mama, aber sie ist jetzt anders. Es<br />

war nicht wie ein Cut nach dem Tod. Sie ist nach<br />

wie vor für mich da.“ Weil sie diese Verbindung zu<br />

ihrer Mutter spürt, freut sie sich auf ihre Zukunft.<br />

„Wenn ich mich von der Trauer zurückhalten lasse,<br />

verpasse ich mein ganzes Leben. Das hätte meine<br />

Mama so auch nicht gewollt.“<br />

Heute lebt sie alleine in ihrer eigenen Wohnung.<br />

Neben ihrer Ausbildung als Industriekauffrau<br />

näht sie leidenschaftlich gerne und spielt<br />

Tennis. Sie selbst spricht gerne mit ausgewählten<br />

Personen über ihren Schicksalsschlag. In vielen Situationen<br />

fühlt sie sich jedoch wie der „Freuden-<br />

Killer“. „Mich stört es, wenn Leute das Thema vermeiden<br />

und ich Rücksicht darauf nehmen muss,<br />

sie in keine unangenehme Situation zu bringen,<br />

weil ich etwas von meiner Mama erzählen will. Es<br />

gab sie und sie ist immer noch meine Mutter. Ich<br />

fange auch nicht an zu weinen, wenn du von deiner<br />

sprichst.“ Sie erzählt im Interview, dass viele<br />

Reaktionen nett gemeint sind, aber genau das Gegenteil<br />

bewirken. „Dass die Zeit alle Wunden<br />

heilt, das ist Bullshit! Jemand, der das sagt, musste<br />

noch nie so etwas erleben. Das sagen Leute nur,<br />

weil Betroffene irgendwann nicht mehr darüber<br />

sprechen, als sei es ein abgeschlossenes Thema.<br />

Sag lieber, dass du für mich da bist und meine das<br />

auch.“<br />

Anni erzählt, dass der Schritt zur Therapie zu<br />

gehen sehr wichtig für sie war und ihr geholfen<br />

hat sich selbst wiederzufinden. Auch ihre beste<br />

Freundin ist eine große Stütze. „Schlussendlich<br />

braucht jeder eine Person, die immer da ist und es<br />

nicht nur verspricht. Eine Person, mit der man<br />

100-mal über das Gleiche reden kann und sie hört<br />

dir immer wieder geduldig zu. Und eine Person,<br />

die dich nicht bemitleidet, dich nicht im Selbstmitleid<br />

versinken lässt.“


20 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

Die unsichtbare Last<br />

Jenny in Paris, Jan beim Bouldern und Anna bruncht auf Instagram. Wenn der eigene Tag nur aus<br />

Büffeln und Uni-Abgaben besteht, passiert schnell eines: #FOMO.<br />

VON SILVIA VANGELOVA<br />

In der sich ständig weiterentwickelnden<br />

Landschaft der sozialen Medien ist die Fear<br />

of Missing Out (auf Deutsch: Angst, etwas zu<br />

verpassen) zu einem allgegenwärtigen und<br />

komplexen psychologischen Phänomen geworden.<br />

Laut einer 2021 im World Journal of Clinical<br />

Cases veröffentlichten Studie, die sich mit<br />

dem Ursprung dieser Angst und ihrer Verbindung<br />

zur psychischen Gesundheit befasst, tritt das Phänomen<br />

in einem zweistufigen Prozess auf: Die<br />

Wahrnehmung, etwas zu verpassen, gefolgt von<br />

zwanghaftem Verhalten zur Aufrechterhaltung<br />

sozialer Beziehungen.<br />

Ein Forscherteam der Carleton University in<br />

Kanada hat 2018 in einer Längsschnittstudie anhand<br />

von nächtlichen Tagebüchern die nachteiligen<br />

Folgen von Fear of Missing Out aufgezeigt, die<br />

von erhöhtem negativen Affekt und Müdigkeit<br />

bis hin zu beeinträchtigtem Schlaf und Arbeitsproduktivität<br />

reichen. Diese Ergebnisse unterstreichen<br />

das komplexe Zusammenspiel zwischen<br />

dem tiefen menschlichen Wunsch nach Zugehörigkeit<br />

und den schädlichen Folgen pathologischer<br />

Angst.<br />

Diyana Stoeva, Psychologiestudentin im<br />

neunten Semester beleuchtet die Auswirkungen<br />

dieser zwanghaften Besorgnis auf die psychische<br />

Gesundheit. Aus ihrer Erfahrung in einer Psychiatrie<br />

in Sofia, Bulgarien, warnt die 23-Jährige vor<br />

unbehandelten Sorgen und Ängsten, die langfristig<br />

zu schweren psychischen Problemen eskalie-<br />

ren können. Sie betont: „Sich anhaltende negative<br />

Emotionen können sich aber auch subtil als<br />

wirkungsvolle Veränderungen persönlicher Eigenschaften<br />

manifestieren. Das könnte eine erhöhte<br />

Reaktivität oder die Entwicklung von sozialen<br />

Ängsten sein. Diese wirken sich dann auf Beziehungen<br />

und die allgemeine Lebensqualität<br />

aus.“<br />

Zum Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsmerkmalen<br />

und der Angst, etwas zu verpassen,<br />

weist Stoeva darauf hin, dass zwar jeder unabhängig<br />

von seinem Persönlichkeitstyp von diesem<br />

Zustand betroffen sein kann, die Ausprägung<br />

jedoch je nach den individuellen Bewältigungsmechanismen<br />

variieren kann.<br />

Die Psychologiestudentin plädiert dafür, die<br />

eigenen Gefühle zu respektieren und der Selbstfürsorge<br />

Vorrang einzuräumen, um sich vor den<br />

negativen Auswirkungen der Angst zu schützen:<br />

„Vernachlässige deine Bedürfnisse nicht. Sei dir<br />

bewusst, dass du sie fühlst. Wenn du Fear of Missing<br />

Out erlebst, dann hast du ein Bedürfnis, das<br />

erfüllt werden muss.“ Stoeva ermutigt Betroffene,<br />

zu reflektieren: „Welches grundlegende Bedürfnis<br />

vernachlässige ich derzeit?“ und unterstreicht die<br />

Bedeutung entsprechender Handlungen.<br />

Als Reaktion auf die schnelllebige und hypervernetzte<br />

Welt, die Fear of Missing Out häufig auslöst,<br />

haben sich die Bewegungen Slow Living und<br />

Joy of Missing Out (auf Deutsch: die Freude daran,<br />

etwas zu verpassen) als Gegengewicht entwickelt.<br />

In ihrem Buch „Slow Living“ (2006) definieren<br />

Wendy Parkins und Geoffrey Craig den Begriff<br />

Slow Living als eine Reihe von Handlungen, bei<br />

denen man sich der Zeit, die man für die täglichen<br />

Aktivitäten aufwendet, voll bewusst ist. Das Konzept<br />

der Entschleunigung zielt darauf ab, die Lebensqualität<br />

des Einzelnen, der Gemeinschaft<br />

und der Umwelt durch einen achtsamen Lebensstil<br />

zu verbessern.<br />

Andererseits vertritt Joy of Missing Out laut<br />

Stangl, dem online Lexikon für Psychologie und<br />

Pädagogik, die Idee, dass es Freude macht, sich<br />

von bestimmten Aktivitäten und sozialen Ereignissen<br />

zurückzuziehen. Beide Bewegungen ziehen<br />

Qualität der Quantität vor und fördern ein Gefühl<br />

der Zufriedenheit und Erfüllung inmitten der<br />

heutigen schnelllebigen Kultur.<br />

Eine wichtige Erkenntnis aus der vorhandenen<br />

Literatur über die Angst, etwas zu verpassen,<br />

ist, dass ein achtsamer Lebensstil der Schlüssel ist,<br />

um den Zustand im Keim zu ersticken. Des Weiteren<br />

betont die Psychologiestudentin Diyana Stoeva,<br />

wie wichtig es ist, der Selbstfürsorge Priorität<br />

einzuräumen. Sie rät, „Man sollte einen ausgewogenen<br />

Ansatz finden. Auf angstbedingte Bedürfnisse<br />

sollte angemessen und nicht blindlings eingegangen<br />

werden.“<br />

Zwei inspirierende Modelle, die sich zu sozialen<br />

Bewegungen für ein erfüllteres Leben in einer<br />

hektischen Welt entwickelt haben, sind Slow Living<br />

und Joy of Missing Out.<br />

Bild: Unsplash/ Sigmund


01/ 2024<br />

SUCHE<br />

21<br />

Einen von den leiblichen Eltern<br />

ausgesetzten Säugling aufnehmen:<br />

Eine mutige Aufgabe, der<br />

sich Florian* und seine Frau<br />

Marie* annehmen. Eine Tortur<br />

gerichtlicher Verfahren beginnt<br />

und endet mit einer tragischen<br />

Entscheidung.<br />

VON LISA KÄSTNER<br />

Ist Blut wirklich<br />

dicker als Wasser?<br />

Florian hält ein wenige Tage altes Kind<br />

in den Armen, seine Frau steht neben<br />

ihm. Beide schauen dem Knirps in das<br />

rundliche Gesicht. Er schläft und alles<br />

wirkt dabei ganz friedlich. Die Gedanken<br />

von Florian sind aber alles andere als ruhig.<br />

Sie kreisen und überschlagen sich: Wer sind die<br />

leiblichen Eltern? Wieso setzt man ein Säugling<br />

alleine aus? Können wir dem Findelkind eine gute<br />

Zukunft bieten? Fragen über Fragen und leibliche<br />

Eltern, die aus Überforderung gehandelt und damit<br />

einem Neugeborenen einen erschwerten Einstieg<br />

ins Leben beschert haben. Ab diesem Moment<br />

beginnt die Suche nach einem passenden<br />

Zuhause für das Kind.<br />

Florian und Marie ist es nicht möglich auf natürlichem<br />

Weg Kinder zu bekommen, aber sie<br />

sind davon überzeugt: „Wir können so viel bieten.<br />

Es wäre einfach super schade, wenn niemand davon<br />

profitiert.“ Aus diesem Grund haben sie den<br />

Entschluss gefasst, sich als Adoptiveltern zu registrieren.<br />

Dieser Adoptivfall jedoch ist einzigartig:<br />

Es ist sehr unüblich, dass ein Neugeborenes gefunden<br />

wird, ohne, dass die leibliche Eltern bekannt<br />

sind. Nachdem sich die Eltern des Kindes nach ein<br />

paar Wochen dann doch gemeldet haben, ging<br />

der Fall vor Gericht. Das Aussetzen des Säuglings<br />

war eine Straftat und deshalb blieb das Kind vorerst<br />

bei den Pflegeeltern Florian und Marie. Ganze<br />

20 Monate haben sie sich um das Findelkind<br />

gekümmert, bis das Gericht entschieden hat, dass<br />

das Kind wieder zu seinen leiblichen Eltern zurückkehrt.<br />

Die Undankbarkeit gegenüber den Adoptiveltern<br />

sei groß gewesen. Sie sind den leiblichen Eltern<br />

oft entgegengekommen und haben dabei ihre<br />

persönlichen Grenzen verschoben. Doch dann<br />

wurde ihnen, das von ihnen mit Liebe und Geborgenheit<br />

aufgezogene Kind, entrissen. Florian ist<br />

enttäuscht: „Die Schwere des Falles wurde als viel<br />

zu große Lappalie abgetan und das können wir<br />

nicht nachvollziehen. Vom Prinzip her ist es<br />

INFO<br />

nicht schlecht, dass die leiblichen Eltern eine höhere<br />

Gewinnchance in Adoptivfällen haben, aber<br />

es muss Ausnahmen geben und die müssen erkannt<br />

werden.“ Wenn, wie in einem solchen Fall<br />

ein Kind gefunden wird, entscheidet das Jugendamt,<br />

welche Adoptiveltern am besten zu dem Pflegekind<br />

passen. Florian erzählt: „Bei der Registrierung<br />

muss man komplett blank ziehen. Die wissen<br />

alles über dich.“ Jede noch so private Informationen<br />

muss preisgegeben werden, damit das Jugendamt<br />

für das Kind die richtige Entscheidung<br />

treffen kann. Warum genau sie für das ausgesetzte<br />

Neugeborene ausgesucht wurden, kam zu einem<br />

späteren Zeitpunkt zur Sprache: Sie wirkten als<br />

Elke Mutz hat jahrelang bei einem Jugendamt in Baden-Württemberg gearbeitet und berichtet:<br />

Leibliche Eltern stehen unter besonderem Schutz des Staates. Für Pflegeeltern ist es deshalb<br />

schwierig einen Adoptiv-Fall für sich zu gewinnen. Die richtige Familie für ein Kind zu bestimmen<br />

ist immer schwierig. Am Ende sind es immer Menschen, die diese Entscheidungen treffen. Mitarbeitende<br />

des Jugendamtes, die auch Fehler machen und nicht jeden Aspekt überprüfen können.<br />

Bild: Privat<br />

Paar sehr widerstandsfähig. Das Jugendamt ist dazu<br />

verpflichtet zu kommunizieren, was passieren<br />

kann, falls sich die leiblichen Eltern melden. Florian<br />

berichtet genervt: „Von unserem Jugendamt<br />

wurde es nur so grob kommuniziert und am Ende<br />

war uns nicht bewusst, welcher Rattenschwanz an<br />

so einem Adoptionsfall dran hängen kann.“<br />

Auf die Frage hin, ob sie sich vorstellen können,<br />

noch mal als Pflegeeltern zu agieren, entsteht<br />

eine lange Pause. Florian überlegt. Er erzählt,<br />

dass sie vor zwei Monaten von der Adoptivelternschaft<br />

zur Pflegeelternschaft gewechselt sind.<br />

Freund:innen und Verwandte sind teilweise erstaunt<br />

gewesen, dass sie nach all dem, was sie<br />

durchgemacht haben, immer noch ein Kind aufnehmen<br />

wollen. Florian berichtet auch, dass sie<br />

aus Unzufriedenheit das Jugendamt gewechselt<br />

haben. Bei dem neuen Jugendamt fühlen sie sich<br />

verstanden. Sie haben mittlerweile so viel erlebt,<br />

dass sie wissen, was auf sie zukommen kann.<br />

Florian und Marie wollen sich nicht entmutigen<br />

lassen: „Das, was wir Kindern geben wollen,<br />

denen es schlecht geht, wiegt immer noch mehr<br />

als die Bürde, die uns auferlegt wurde.“


Bild: Freepik<br />

22 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

Das Geheimnis meines Vaters<br />

Nach dem Tod ihres Vaters<br />

entdeckt Marion Schmidt ein<br />

Familiengeheimnis. Sie hat eine<br />

Halbschwester, von der sie<br />

41 Jahre lang nichts wusste.<br />

Doch was ist die Geschichte<br />

ihres Vaters? Wie fühlt es sich<br />

an, plötzlich eine Schwester zu<br />

haben?<br />

VON NINA LAUER<br />

Vollkommene Stille herrscht in Marion<br />

Schmidts* Kopf, als sie im Herbst 1990,<br />

kurz nach dem Tod ihres Vaters, einen<br />

Brief vom Nachlassgericht auf dem Esstisch<br />

ihrer Mutter findet. Im Brief<br />

steht, dass Jutta Weber*, die zweite Tochter des<br />

Verstorbenen, nicht erbberechtigt sei. Eigentlich<br />

ist die damals 41-Jährige nur vorbeigekommen,<br />

um nach ihrer Mutter zu sehen. Stattdessen wird<br />

sie mit der Tatsache konfrontiert, dass ihr Vater eine<br />

weitere Tochter hat. Und sie somit eine Halbschwester.<br />

Was ihr in diesem Moment durch den<br />

Kopf geht, weiß Marion Schmidt noch genau:<br />

„Das war natürlich erst mal ein Schock. Ich war<br />

sprachlos und hatte tausende Fragen.“ Als sie ihre<br />

Mutter auf den Brief anspricht, wirkt diese erleichtert.<br />

„Ich glaube, meine Mutter hat den Brief bewusst<br />

dort hingelegt, damit ich ihn finde“, vermutet<br />

die heute 74-Jährige im Interview.<br />

Wie sich herausstellt, wollte ihre Mutter ihr<br />

schon lange die Geschichte ihres Vaters erzählen:<br />

Hans Schmidt* wurde 1912 in Bamberg geboren.<br />

Im Zweiten Weltkrieg kämpft er an der Front in<br />

Frankreich und desertiert 1945 in den letzten<br />

Kriegstagen. „Mein Vater hat keinen Sinn mehr<br />

im Krieg gesehen. Man wusste ja, dass Deutschland<br />

verlieren wird. Da wollte er sich nicht mehr<br />

unnötig opfern“, erzählt Marion Schmidt. Er versteckt<br />

sich bei einer Familie in Oberschwaben.<br />

Dort trifft er die Tochter der Familie. „Ich denke<br />

nicht, dass die beiden verliebt waren“, meint die<br />

Stuttgarterin. „Das waren einfach ungewisse, aufwühlende<br />

Zeiten.“<br />

Nach Kriegsende kehrt Hans Schmidt in seine<br />

Heimat zurück. 1946 heiratet er eine andere Frau<br />

– Marions Mutter. Wenig später erfährt er, dass die<br />

Frau, mit der er die Affäre hatte, schwanger wurde.<br />

Er war Vater geworden. Marions Mutter zufolge<br />

erschüttert ihn die unerwartete Nachricht zutiefst.<br />

Kreidebleich und um Fassung ringend habe<br />

er einige Minuten geschwiegen, unsicher, was<br />

er nun tun sollte. Letztlich entscheidet er, Unterhalt<br />

zu zahlen, darüber hinaus aber keinen Kontakt<br />

zu seinem Kind aufzubauen. „Meine Mutter<br />

fand das nicht gut. Sie hat immer wieder versucht,<br />

ihn umzustimmen, aber er wollte nicht“, erzählt<br />

Marion Schmidt.<br />

Während seines Lebens vertraut sich Hans<br />

Schmidt niemandem an – nicht einmal seiner<br />

zweiten Tochter Marion, die 1949 zur Welt<br />

kommt. Auf die Frage, weshalb er seine Tochter<br />

verschwiegen hat, kann er nun leider keine<br />

Antwort mehr geben. „Ich würde gern verstehen,<br />

warum er mir nichts gesagt hat“, meint die<br />

74-Jährige, „Aber ich kann ihn leider nicht mehr<br />

fragen.“ Sie hat aber eine Theorie: „Ich glaube, er<br />

hat sich geschämt.“ In seinen jungen Jahren dafür,<br />

dass er ein uneheliches Kind mit einer nahezu<br />

fremden Frau gezeugt hat. Später dafür, dass er<br />

seine erste Tochter verleugnet hat und ihr kein<br />

richtiger Vater war. „Je länger man etwas geheim<br />

hält, desto schwieriger wird es ja auch, die Wahrheit<br />

zu offenbaren. Ich denke, er hat irgendwann<br />

einfach den Zeitpunkt verpasst, mir die Wahrheit<br />

zu sagen.“<br />

Die Frage, ob Marion Schmidt wütend auf ihren<br />

Vater ist, verneint die 74-Jährige ganz klar.<br />

„Ich konnte es nicht verstehen, aber wütend war<br />

ich nicht.“ Dennoch bedauert die Stuttgarterin,<br />

dass sie erst mit 41 Jahren von ihrer Halbschwes-<br />

ter erfährt. Sie ist als Einzelkind aufgewachsen<br />

und hat sich in ihrer Kindheit oft Geschwister<br />

gewünscht. Deswegen war für sie auch direkt klar,<br />

dass sie Jutta Weber kennenlernen möchte.<br />

Nur wenige Tage, nachdem sie von ihrer Halbschwester<br />

erfährt, kontaktiert Marion Schmidt sie<br />

mit Hilfe ihrer Mutter und vereinbart ein Treffen.<br />

„Das Treffen war unbeschreiblich schön. Für<br />

uns beide war das etwas sehr Besonderes“,<br />

erzählt die Stuttgarterin im Interview. „Wir hatten<br />

direkt eine Verbindung zueinander. Wie<br />

Schwestern eben.“<br />

Seit ihrem ersten Treffen sind die Schwestern<br />

in engem Kontakt und stehen sich sehr nahe. Immer<br />

wieder entdeckt Marion Schmidt Eigenschaften<br />

ihres Vaters in ihrer Halbschwester. Für sie ist<br />

es unbeschreiblich, nach 41 Jahren eine Schwester<br />

und einen neuen Teil ihrer selbst und ihres<br />

Vaters gefunden zu haben. „Ich bin dankbar<br />

dafür, wie es gelaufen ist. Dass ich meine Schwester<br />

finden durfte.“<br />

*Namen wurden von der Redaktion geändert


01/ 2024<br />

SUCHE<br />

23<br />

Gegen<br />

den<br />

Wind<br />

Bild: Tabea Krainitz<br />

Raus aus der Depression, rein<br />

ins Abenteuer. Nach einem Klinikaufenthalt<br />

findet die 23-jährige<br />

Julia Stapf ihre Heimat auf<br />

einem Segelboot in Griechenland.<br />

Im Interview spricht sie<br />

über ihre Suche zu sich selbst.<br />

VON ANNE GRAF<br />

Sonnenstrahlen, Meeresrauschen und<br />

das leichte Wackeln des Boots. So wurde<br />

die Studentin diesen Sommer jeden<br />

Morgen geweckt. Schon seitdem sie<br />

klein ist, verbringt sie mit ihren Eltern<br />

ihre Sommerferien im malerischen Örtchen Rigani,<br />

im Golf von Volos. Doch so zufrieden wie zu<br />

diesem Zeitpunkt war sie nicht immer.<br />

Depressive Gedanken begleiten Julia Stapf seit<br />

ihrer Kindheit. Der Wendepunkt kam, als die<br />

23-Jährige ihre Probleme ihrer besten Freundin<br />

offenbart hat. Sie hat erkannt, dass professionelle<br />

Hilfe notwendig war. Der Weg zur Heilung hat die<br />

Stuttgarterin durch die therapeutische Anlaufstelle<br />

des Studierendenwerks, eine intensive Therapie<br />

und schließlich in eine Tagesklinik geführt. Der<br />

dreimonatige Aufenthalt hat jeden Morgen um<br />

8:15 Uhr gestartet und um 16 Uhr geendet. „Das<br />

war für mich wie ein Job. Ich gehe morgens hin,<br />

arbeite an meiner Gesundheit und danach habe<br />

ich Feierabend“, erklärt die Studentin. Diese freie<br />

Zeit hat sie genutzt, um sich mit Freunden zu<br />

treffen, reiten zu gehen und Abgaben für das<br />

laufende Semester fertig zu stellen.<br />

Neben Theatertherapie, Kunsttherapie und<br />

Einzelgesprächen sind die Gruppentherapie und<br />

der Austausch mit anderen besonders hilfreich gewesen.<br />

Durch die Rückmeldungen hat sie gemerkt:<br />

„Es ist okay, dass mich Dinge belasten und<br />

ich habe auch das Recht dazu mich so zu fühlen.“<br />

Nach vielen Höhen und Tiefen verbesserte sich<br />

ihr Zustand und ihr Alltag gestaltete sich leichter.<br />

Nach ihrem Klinikaufenthalt und ihrer daraus<br />

neu geschöpften Energie, hat die Studentin ihre<br />

Semesterferien genutzt, um ihren Segelführerschein<br />

zu absolvieren, eine Segel-Akademie zu<br />

besuchen und nach Griechenland zu fliegen. Dort<br />

hat sie drei Monate lang alleine auf dem kleinen<br />

Segelboot ihrer Familie gelebt. „Hier fühle ich<br />

mich zuhause“, sagt sie im Interview. Ihr Alltag<br />

hat daraus bestanden, sich mit Freunden zu treffen<br />

und auf das weite Meer hinaus zu segeln. Die<br />

23-Jährige beschreibt das kleine Dorf, in dem sie<br />

gelebt hat, als ein „anarchisches Paralleluniversum“.<br />

Die Menschen dort seien frei und spontan.<br />

Probleme werden vergessen und Spaß stehe an<br />

erster Stelle. Das Alleinsein auf dem Boot hat aber<br />

auch echte Herausforderungen mit sich gebracht.<br />

Starker Wind auf hoher See hat das kleine Boot oft<br />

an seine Grenzen gebracht. Das alleinige Steuern<br />

des Boots hat nicht nur Aufmerksamkeit gefordert,<br />

sondern auch körperliche Kraft. Jeder Handgriff<br />

hat gezählt. Die Verantwortung war groß. In<br />

den letzten Wochen hat es ein starkes Unwetter<br />

gegeben – Flut, wenig Wasser und Lebensmittel,<br />

kein Handyempfang. Das Dorf wurde zerstört.<br />

Doch in diesen Schwierigkeiten hat sie Kraft gefunden,<br />

Ängste zu überwinden und Selbstvertrauen<br />

zu gewinnen. Trotz all dieser Prüfungen gab es<br />

auch erlösende Momente wie das Segeln bei Sonnenuntergang<br />

im Golf von Volos, das Ankommen<br />

im Hafen nach einer langen Ausfahrt oder gemütliche<br />

Abende in guter Gesellschaft am Strand.<br />

Nach ihrem Bachelorabschluss spielt die Studentin<br />

mit dem Gedanken, nebenbei als Skipperin<br />

zu arbeiten. Ein Punkt auf ihrer Bucket List,<br />

den sie vor der Therapie niemals für möglich gehalten<br />

hätte. Das Segeln hat ihr nicht nur eine<br />

neue Perspektive auf das Leben gegeben, sondern<br />

auch geholfen, ihre Fähigkeiten zu stärken.<br />

Obwohl die Stuttgarterin betont, dass sie noch<br />

nicht vollständig angekommen ist, spürt sie einen<br />

gestärkten Mut, ihre Ziele zu verfolgen. Die Reise<br />

hat sie zu einer selbstbewussteren und entschlosseneren<br />

Person gemacht, die nun sagen kann:<br />

„Ich bin konsequenter ich selbst.“


24 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

Zwischen zwei Welten<br />

ln der Stille von Großaspach<br />

erlebt Xiao Ping Wu sein<br />

Doppelleben. Ein Student,<br />

der zwischen zwei Kulturen<br />

tanzt, erzählt seine Geschichte,<br />

geprägt von Vorurteilen und<br />

der Suche nach Identität.<br />

VON CORALIE BOBOROWSKI<br />

Wu ist 26 Jahre alt, in Deutschland<br />

geboren und aufgewachsen mit<br />

chinesischem Migrationshintergrund.<br />

,,Ich galt immer als der<br />

Dorf-Chinese und wurde mit<br />

Vorurteilen konfrontiert über chinesisches Essen<br />

und bizarre Annahmen über meine Sehkraft.‘‘ Damit<br />

wurde sein Leben zu einem Labyrinth aus<br />

kulturellen Herausforderungen. Die Identität<br />

von Wu ist eng mit der Geschichte seiner Eltern<br />

verknüpft: Sein Vater kam mit 13 Jahren<br />

nach Deutschland, gefolgt von seiner Mutter im<br />

Alter von 16 Jahren. Beide flohen vor den wirtschaftlichen<br />

Herausforderungen in China. Ihr<br />

Drang nach einem besseren Leben trieb sie<br />

nach Deutschland.<br />

,,Mein Vater hat in seiner Heimatstadt<br />

Changshu in China jeden Tag nur Reis gegessen.<br />

Es gab damals nichts anderes. Fleisch aß man nur<br />

einmal im Jahr, das war etwas Besonderes.’’ Die<br />

Lebensmittelknappheit sei nicht das einzige Problem<br />

gewesen. Sein Vater wuchs außerdem in einer<br />

ländlichen Bauernfamilie auf, wo die Bildungsmöglichkeiten<br />

begrenzt waren. Ähnlich sah<br />

es für seine Mutter aus, deren berufliche Perspektiven<br />

in China nicht vielversprechend waren.<br />

,,Als Baby bin ich in einem rein chinesischen<br />

Umfeld aufgewachsen. Im Kindergarten hatte ich<br />

dann den ersten Kontakt mit der deutschen Kultur.‘‘<br />

Das sei schwierig gewesen. Die Erzieher:innen<br />

hätten oft aufgrund der Sprachbarriere nicht<br />

gewusst, warum er weint. Doch als Kind habe er<br />

schnell die deutsche Sprache gelernt.<br />

Weitere Herausforderungen prägten daraufhin<br />

seine Schulzeit: ,,Ich war der einzige Chinese<br />

im Dorf. Viele haben zuvor überhaupt noch nie<br />

einen Asiaten gesehen. Somit waren die Vorurteile<br />

sehr groß: die Annahme, dass ich Katzen und<br />

Hunde esse oder die Vorstellung, dass ich aufgrund<br />

meiner asiatischen Augen nur einen Millimeter<br />

sehen kann.“<br />

Auch die kulinarischen Unterschiede zwischen<br />

Deutschland und China waren nicht leicht<br />

für Wu und seine Familie: ,,Mein Vater ist Koch<br />

und somit habe ich auch ab und zu Freund:innen<br />

zum Essen eingeladen. Doch sie wollten dann keine<br />

Stäbchen oder fragten: ,Warum riecht das so?’<br />

und äußerten Aussagen wie: ,Bitte kein Hund!’ ‘‘<br />

Nach seiner Schulzeit begann Wu ein Informatikstudium<br />

in Stuttgart-Vaihingen.<br />

Das Jahr 2020 brachte jedoch einen drastischen<br />

Wandel mit sich – der Lockdown legte alles<br />

lahm. Eine neue Coronavariante aus China brachte<br />

die Welt zum Stillstand. Die Pandemie bedeutete<br />

für Wu nicht nur das Risiko einer Ansteckung,<br />

sondern offenbarte die nächste Herausforderung:<br />

,,Menschen setzten sich in der Bahn von mir<br />

weg, aus Angst vor Corona.’’ Wu findet, das Ganze<br />

zu ignorieren, sei das einfachste, was man in so<br />

einem Fall machen könne. Doch plötzlich senkt<br />

er den Blick, holt tief Luft und offenbart: ,,Ich habe<br />

mich in dem Moment in meiner eigenen Haut<br />

wirklich sehr unwohl gefühlt.’’ Er wünscht sich,<br />

dass Menschen in Deutschland mehr Empathie<br />

zeigen. Gleichzeitig könne er sich aber auch in die<br />

Lage seines Gegenübers versetzen und meint:<br />

,,Ich glaube, viele Menschen wissen einfach<br />

nicht, wie sie besser damit umgehen können.“<br />

Die Frage nach seiner Herkunft wird somit zu<br />

einem ständigen Begleiter. In Deutschland wird er<br />

oft auf sein Erscheinungsbild angesprochen:<br />

,, ‚Woher kommst du?‘ Dann wird noch mal gefragt:<br />

‚Nein, woher kommst du wirklich?‘ ‘’ Seine<br />

Familie in China hingegen vergleicht Wu mit einer<br />

Banane: außen gelb, innen weiß.<br />

Doch Wu sieht auch die schönen Seiten seiner<br />

multikulturellen Herkunft.<br />

Bild: C oralie Boborowski<br />

Die Fähigkeit, mehrere Sprachen fließend zu<br />

sprechen, eröffne ihm sehr gute berufliche Chancen:<br />

,,Ich spreche Mandarin, Kantonesisch,<br />

Deutsch und Englisch.’’ Laut dem Regierungspräsidium<br />

Tübingen gilt Chinesisch im Kontext der<br />

Globalisierung mittlerweile als eine der Weltsprachen.<br />

Somit ist sich Wu sicher, dass er einen Vorteil<br />

gegenüber anderen Bewerbenden genießen<br />

wird. Sein Wunsch sei es außerdem, durch seinen<br />

chinesischen Background irgendwann mal eine<br />

Zeit lang in China zu leben und dort Karriere zu<br />

machen. Dann lacht er und ergänzt: ,,Angestellt<br />

in Deutschland und Remote arbeiten in China,<br />

das wäre der Traum!‘‘<br />

Inzwischen hat der 26-Jährige seine eigene<br />

Identität gefunden. Früher legte er großen Wert<br />

darauf, sich für eine bestimmte Kultur zu entscheiden.<br />

Jetzt jedoch macht sich Wu darüber keine<br />

Gedanken mehr und hat erkannt, dass beide<br />

Welten zu ihm gehören. Da seine Eltern als Kind<br />

zu ihm sagten: ,,Wir sind hier nur Gast. Du musst<br />

dich anpassen und es einfach durchstehen.‘‘, fügte<br />

er abschließend hinzu: ,,Ich werde darauf achten,<br />

meine zukünftigen Kinder ernst zu nehmen,<br />

wenn sie Diskriminierung oder Mobbing erfahren.<br />

Denn sie sollen sich nicht so allein fühlen,<br />

wie ich es damals tat.“


01/ 2024<br />

SUCHE<br />

25<br />

Die Opfergeneration<br />

Bild: Online communism photo collection, #A276<br />

Wer waren die jungen Opfer<br />

der rumänischen Diktatur<br />

und was mussten Sie geben?<br />

Die Zeitzeug:innen Lea und<br />

Jan Ott tauchen ein in die<br />

Vergangenheit.<br />

VON REGINE ACKERMANN<br />

1967 wird Nicolae Ceaușescu Vorsitzender<br />

des Staatsrates und läutet so den<br />

Beginn der rumänischen Diktatur ein.<br />

Zu diesem Zeitpunkt krabbelt der einjährige<br />

Jan* durch das Wohnzimmer in<br />

einer kleinen Stadt an der Grenze zu Ungarn. 100<br />

Kilometer weiter im Landesinneren erblickt zwei<br />

Jahre später auch Lea* das Licht der Welt. Hineingeboren<br />

in ein restriktives System, lernen beide<br />

früh in einem Käfig aus Regeln doch die Freuden<br />

des Lebens zu finden.<br />

1971 führt eine seiner Reisen den Diktator<br />

nach Pyongyang, Nordkorea. Beeindruckt vom<br />

Personenkult für Kim Il-Sung, beginnt er von einem<br />

europäischen Nordkorea zu träumen. So<br />

wird sein Gesicht allgegenwärtig und begegnet<br />

auch Lea an ihrem ersten Schultag 1976 als großes<br />

Bild am Ende des Klassenzimmers. Mit Blick auf<br />

sein freundliches Lächeln singt sie mit ihren<br />

Schulkameraden: „Die Partei, Ceaușescu, Rumänien!<br />

Wir haben an unserer Spitze einen Sohn des<br />

Landes, der am meisten geliebt und am meisten<br />

gehört wird.“ Dieser „geliebte Sohn“ will die vollständige<br />

Kontrolle über das Volk. Dafür verwendet<br />

er die rumänische Geheimpolizei. Bis zu ihrer<br />

Auflösung 1990 hat die sogenannte Securitate einen<br />

eisernen Griff um die Bevölkerung.<br />

Das erste Mal begegnet Lea der Securitate mit<br />

fünf Jahren. Damals versteht sie nicht, wohin die<br />

unfreundlichen Männer ihren Opa regelmäßig<br />

bringen. Später wird ihr klar, dass sein beruhigendes<br />

Lächeln während der Abführung nur Fassade<br />

gewesen ist. Wiederholt befragen die Securitate<br />

ihn zu sich und seinen Mitarbeitern. „Hatte man<br />

keine rumänischen Wurzeln, nahmen sie einen<br />

besonders genau unter die Lupe. Und wenn sie<br />

seine Antwort nicht mochten, wurden sie ungemütlich“,<br />

erinnert sich Lea Ott. Ihre deutschen<br />

Vorfahren werden Lea und Jan zum Verhängnis.<br />

„Ob bei Jobs, Ämtern oder Plätzen im Feriencamp,<br />

immer mussten wir uns hinten anstellen“, erklärt<br />

Lea Ott.<br />

Berichtet wird darüber nie. Die strenge Zensur<br />

erlaubt den rumänischen Medien stets nur Gutes<br />

über den „glorreichen Kämpfer“ Ceaușescu zu sagen.<br />

Als Jan das erste Mal eine rumänische Zeitung<br />

in der Hand hält, urteilt sein Vater mit klaren<br />

Worten: „Das ist doch alles voller Lügen.“<br />

Genauso wie freies Sprechen, ist auch freies<br />

Reisen unmöglich. „Alle Reisepässe waren bei der<br />

Polizei und die gab sie nur alle zwei Jahre her“, berichtet<br />

Jan Ott.<br />

Neben all den Reglementierungen kann<br />

Ceaușescu die Wirtschaft allerdings nicht kontrollieren<br />

und gerät in tiefe Schulden. Ab den<br />

1980er Jahren heißt es sparen, sparen, sparen.<br />

Besonders hart trifft die Bevölkerung neben<br />

den Stromausfällen der Mangel an Nahrungsmitteln.<br />

Lea Ott erinnert sich an einen kühlen Dezembermorgen<br />

1980. Seit einer Stunde habe sie<br />

zitternd in der Kälte gestanden. Die Schlange vor<br />

ihr schien endlos. „Als ich es endlich nach vorne<br />

schaffte, war die Butter schon ausverkauft“, entsinnt<br />

sie sich mit einem bitteren Lächeln.<br />

In den letzten Jahren vor der Wende beginnen<br />

die Menschen über die Grenze nach Ungarn zu<br />

fliehen. Doch mit jedem Akt der Rebellion verengt<br />

sich der Würgegriff der Securitate. Massenverhaftungen,<br />

Folterungen und Hinrichtungen<br />

sind die Folgen.<br />

Inmitten dieser Unruhen treffen Lea und Jan<br />

aufeinander. Inzwischen studieren beide in Timișoara<br />

und stehen an einem sonnigen Nachmittag<br />

in der Schlange vor der Telefonzelle. Das Telefon<br />

funktioniert nicht, aber ein ganz anderer Funken<br />

springt über. Bald trifft sich das Paar zu regelmäßigen<br />

Spaziergängen in lauen Sommernächten.<br />

„Nur jede zweite Straßenlampe hatte Strom<br />

zum Leuchten, aber das hat nur zur romantischen<br />

Atmosphäre beigetragen“, erzählt Jan mit einem<br />

verträumten Funkeln in den Augen.<br />

Lea und Jan Ott finden schließlich Liebe in einer<br />

zerrütteten Gesellschaft. Doch der gewaltsame<br />

Niedergang der Diktatur bringt chaotische Zustände<br />

mit sich. Eine ganze Generation steht vor<br />

einem ruinierten Land und muss es aus dem<br />

Schutt ihrer Eltern wieder aufbauen. So werden<br />

die Kinder der Diktatur zur Opfergeneration.<br />

Das war aber ein Opfer, das die Otts nicht<br />

mehr bringen wollten. Sie kratzen alles zusammen,<br />

was sie an Mut und Besitz haben, und ziehen<br />

los. Auf der Suche nach Sicherheit und Zugehörigkeit<br />

gehen sie in das Land ihrer Vorfahren, in die<br />

Bundesrepublik Deutschland.<br />

*Namen wurden von der Redaktion geändert.


26 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

Hure oder Heilige?<br />

Bilder: Franziska Gilli<br />

Eine Fotografin und eine Reporterin<br />

haben sich auf die Suche<br />

nach dem Frauenbild in<br />

Italien begeben. Ihr Buch beleuchtet<br />

tiefe Widersprüche in<br />

der Wahrnehmung von Frauen<br />

und wirft einen Blick auf historische<br />

Gegebenheiten.<br />

VON LINDA ENRICH<br />

Wir sind es leid, diskriminiert zu<br />

werden“, das war einer der Sätze,<br />

der auf Demo-Plakaten in den<br />

1970er-Jahren in Italien hochgehalten<br />

wurde. Es wurden verbesserte<br />

Bedingungen für Frauen und das Recht auf<br />

Abtreibung gefordert. Letzteres wurde erreicht:<br />

Seit 1978 sind Abtreibungen in den ersten 90 Tagen<br />

in Italien erlaubt. Ansonsten hat sich wenig<br />

geändert. Die Fotografin Franziska Gilli und die<br />

Reporterin Barbara Bachmann haben das als Anlass<br />

genommen, in ihrem Buch „Hure oder Heilige<br />

– Frau sein in Italien” einen Einblick in eine Gesellschaft<br />

zu geben, in der die entsprechenden Klischees<br />

allgegenwärtig sind. Sie haben recherchiert,<br />

fotografiert, Menschen interviewt und in<br />

ihrem Alltag begleitet. Je nach Thema waren sie<br />

mal zusammen unterwegs, mal allein. Franziska<br />

Gilli und Barbara Bachmann sind in Südtirol, im<br />

deutschsprachigen Teil Italiens, aufgewachsen.<br />

Beide arbeiten für überregionale Medien und sind<br />

für ihre Arbeiten ausgezeichnet worden: Barbara<br />

Bachmann mit dem Axel-Springer-Preis und Franziska<br />

Gilli mit dem Walther-von-der-Vogelweide-<br />

Förderpreis für ihre sozialkritische Fotografie.<br />

Der provokante Buchtitel bezieht sich bewusst<br />

auf zwei stereotype Frauenbilder, die das Denken<br />

und den Blick auf Frauen in Italien mehr beeinflusst<br />

haben als jedes andere Klischee: Die Hure<br />

und die Heilige. „So deutlich wie auf unserem<br />

Buchcover treten sie im Alltag aber längst nicht<br />

zutage. Sie steuern Vorurteile gegenüber Frauen<br />

viel subtiler, oft unbewusst. Auch heute noch,<br />

und zwar stärker, als wir zu Beginn der Recherche<br />

angenommen hatten”, sagen die Autorinnen<br />

Franziska Gilli und Barbara Bachmann.<br />

Warum Italien? Was macht dieses Land für die<br />

Autorinnen so besonders? Es ist das Land, in dem<br />

sie aufgewachsen sind, dennoch hätten sie sich<br />

genauso gut mit anderen Gesellschaften auseinandersetzen<br />

können. Ähnliche Probleme finden<br />

sich auch in Deutschland oder Österreich. „Frauen<br />

werden auch dort aufgrund ihres Geschlechts<br />

bei der Arbeitssuche benachteiligt. Es gibt ebenso<br />

Gender-Pay-Gaps, sexuelle Belästigung und Frauenmorde.<br />

Nur empfinden wir all das in der italienischen<br />

Gesellschaft als noch deutlicher, die<br />

Strukturen starrer“, verdeutlichen Gilli und Bachmann.<br />

Das Buch zeigt in sieben Kapiteln verschiedene<br />

Themen wie Wollust und Lustlosigkeit, Zorn<br />

und Liebe, Trägheit und Eifer. Die Kapitel sind inspiriert<br />

von der katholischen Dichotomie, zwei<br />

sogenannten widersprüchliche Wahrheiten, die<br />

gleichzeitig existieren können. Die Buchform war<br />

für sie die beste Art und Weise, das Thema von<br />

verschiedenen Seiten zu beleuchten und den beiden<br />

Polen, Text und Fotografie, den passenden<br />

Raum zu geben.<br />

Im Kapitel „Wollust & Lustlosigkeit” legen<br />

Gilli und Bachmann den Fokus auf die Rolle der<br />

katholischen Kirche. Sie besuchten die Nonnen<br />

eines Klosters in der mittelitalienischen Stadt Ascoli<br />

Piceno und zeigen, dass die Kirche trotz<br />

Machtverlust weiterhin Einfluss auf die Vorstellung<br />

von Weiblichkeit hat. „Der Papst mischt sich<br />

im Übrigen nach wie vor stark in gesellschaftliche<br />

Zum Buch<br />

Das Buch „Hure oder Heilige – Frau sein in<br />

Italien” erschien 2021 in deutscher und<br />

italienischer Sprache. Es besteht aus Reportagen,<br />

Porträts und Interviews. Sie berichten<br />

von Versuchen der Gleichstellung, von<br />

Showgirls im italienischen Fernsehen, von<br />

Nonnen und Erziehung und von Feminist:innen<br />

und ihrem Kampf, sich von gegenwärtigen<br />

Stereotypen zu lösen.


01/ 2024<br />

SUCHE<br />

27<br />

Belange ein. Und die Nonnen, die wir begleitet<br />

haben, leben das katholische Bild von Weiblichkeit<br />

und Frausein und geben es in ihrer Schule<br />

und im Kindergarten an die nächsten Generationen<br />

weiter”, beschreiben sie die Erfahrungen aus<br />

der Begegnung mit den Nonnen.<br />

Das italienische Unterhaltungsfernsehen wird<br />

als maßgeblicher Gestalter des Frauenbildes betrachtet<br />

und spielt eine bedeutende Rolle in Italien.<br />

Traditionell wurden italienische Fernsehsendungen,<br />

ebenso wie viele Filme und Fotografien,<br />

lange Zeit für Männer gemacht. „Frauen, die mit<br />

diesem Modell aufwachsen und keine Alternativen<br />

kennen, betrachten das unter Umständen als<br />

eine erstrebenswerte Normalität“, argumentieren<br />

die beiden Autorinnen. Das italienische Unterhaltungsfernsehen<br />

definiert seinen Erfolg darin,<br />

Frauen als stumme Schönheiten zu präsentieren.<br />

Diese Frauen werden „Veline” genannt. Der Begriff<br />

stammt aus der Sendung „Striscia la Notizia”,<br />

es sind junge Frauen, die mit freizügigen Kostümen<br />

und starkem Make-up ihren Körper präsentieren.<br />

Sie sprechen nicht und treten immer im<br />

Doppelpack auf: blond und brünett, um jeden Geschmack<br />

zu bedienen. Ein alternatives Frauenbild<br />

gibt es zur Hauptsendezeit kaum.<br />

Trotz der festgefahrenen Stereotypen zeigen<br />

die Autorinnen, dass es auch Widerstandsbewegungen<br />

gibt: Eine davon ist die transfeministische<br />

Gruppe „Non Una Di Meno” (Nicht eine weniger).<br />

Barbara Bachmann und Franziska Gilli haben<br />

drei Ortsgruppen aus Genua, Rom und Bologna<br />

kennengelernt und sie zu Protestaktionen<br />

begleitet. Es gibt etwas Besonderes an diesen<br />

Gruppen, sagen Gilli und Bachmann: „Es treffen<br />

verschiedene Generationen aufeinander und diskutieren.<br />

Es sind jene dabei, die in den 1970er-<br />

Jahren bereits viel für die italienische Gesellschaft<br />

erkämpft haben, etwa das Recht auf Abtreibung.<br />

Ihnen gegenüber stehen die ganz Jungen und<br />

auch wenn sie nicht immer einer Meinung sind,<br />

finden sie immer einen gemeinsamen Konsens,<br />

an dem sie festhalten können.”<br />

Erstmals in der Geschichte Italiens gibt es eine<br />

Ministerpräsidentin. Die Ernennung von Giorgia<br />

Meloni, die der rechtsradikalen Partei “Fratelli d’<br />

Italia” angehört, wird kritisch betrachtet. Die Autorinnen<br />

sehen in ihrer Politik einen Rückschritt<br />

für Frauenrechte, da Frauenfeindlichkeit, Homophobie<br />

und Rassismus wieder an Bedeutung gewinnen<br />

und ergänzen: „Nur weil sie eine Frau ist,<br />

heißt es nicht, dass sie Feministin und für die Abschaffung<br />

des Patriarchats ist. Genauso wie Männer<br />

Feministen sein können, können Frauen Machos<br />

sein.”<br />

Gilli und Bachmann unterstreichen abschließend,<br />

dass trotz politischer Rückschläge in der italienischen<br />

Gesellschaft spürbare Veränderungen<br />

sichtbar werden. Eine zunehmende Anzahl von<br />

Menschen richtet ihre Aufmerksamkeit auf das<br />

Problem der Femizide und geht aktiv auf die Straße.<br />

Am 25. November, dem internationalen Tag<br />

zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, fanden<br />

zahlreiche Protestaktionen in Italien statt. Der<br />

Mord an der 22-jährigen Giula Cecchettin löste eine<br />

Welle der Solidarität aus und war der 83. Frauenmord<br />

im Jahr 2023 in Italien. Auf die Frage, welches<br />

Fazit sie aus dem Rechercheprozess gezogen<br />

haben, antworten Gilli und Bachmann: „Italien<br />

ist ein Land, in dem Frauen überdurchschnittlich<br />

gut ausgebildet, aber unterdurchschnittlich beschäftigt<br />

sind. Das bedeutet einen Verlust, nicht<br />

nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Gesellschaft.”<br />

Das Buch bietet dafür nur einen Einstieg,<br />

das Thema ist noch lange nicht zu Ende und<br />

aktueller denn je.<br />

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28 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

Fliegender Wechsel<br />

Lange Zeit haderte Podcasterin Erika Dürr alias „Ulligunde“ mit<br />

ihren Fähigkeiten am Berg. Zu groß die Angst beim Klettern, zu<br />

klein das Selbstvertrauen. Heute siegt die Freude bei neuen<br />

Abenteuern wie dem Gleitschirmfliegen.<br />

VON LISA MÜHLTHALER<br />

Bild: Christian Seitz<br />

Erika Dürrs herzliches Lachen reicht bis<br />

zu den haselnussbraunen Augen. Die<br />

unzähligen Sommersprossen im Gesicht<br />

der Wahl-Allgäuerin strahlen mit<br />

„Die Angst vor der Angst<br />

hat mich limitiert.“<br />

der Sonne um die Wette. Dazu stehen<br />

ihre kurzen braunen Haare frech vom Kopf ab. Eine<br />

junge Frau, die taff wirkt und das Leben zu genießen<br />

scheint. Bei genauerem Hinsehen erkennt<br />

man die Nachdenklichkeit in ihrem Blick. Ängste<br />

gehören schon seit der Kindheit von Erika Dürr<br />

zum Alltag. Inzwischen kann sie mit diesen umgehen,<br />

aber der Weg dorthin war steinig.<br />

Die heute <strong>35</strong>-Jährige ist in Friedrichshafen am<br />

Bodensee geboren. Sie wächst als Nesthäkchen<br />

mit zwei Brüdern auf. Die fünfköpfige Familie<br />

Spengler verbringt viele Stunden zu Wasser, vorzugsweise<br />

auf dem „Schwäbischen Meer“. Für große<br />

Segelreisen sind sie zeitweise über Monate unterwegs.<br />

Während beide Geschwister tatkräftig<br />

mithelfen, kann Erika Dürr oft nur physisch<br />

teilnehmen. „Sport war für mich extrem negativ<br />

konnotiert. Ich war nicht schlecht, aber immer<br />

schlechter als meine Brüder“, betont die Friedrichshafenerin.<br />

Erika<br />

Dürr gerät zum<br />

Leidwesen ihres<br />

Selbstvertrauens in<br />

einen ständigen Vergleich<br />

mit anderen Athlet:innen. Erste Klettererfahrungen<br />

in der Halle zum Beispiel frustrieren<br />

sie. Dazu schränkt die ständige Angst vor Höhe<br />

und dem Abrutschen an der Wand ein. Ihr Vater<br />

teilt dieses Gefühl und gibt es an die Kinder weiter.<br />

Selbst die Turngruppe in der Schule verlässt sie<br />

aus Furcht vor dem Schwebebalken. „Die Angst<br />

vor der Angst hat mich limitiert“, gibt die <strong>35</strong>-Jährige<br />

offen zu.<br />

Gute Erinnerungen pflegt sie an Ausflüge in<br />

die Berge. Zu Fuß, auf Skier oder mit dem Rad erkundet<br />

die naturverbundene Familie die Alpen.<br />

Nach dem Abitur 2008 entscheidet sich Erika Dürr<br />

für einen Umzug in das Allgäu. In Kempten studiert<br />

sie acht Semester Tourismus-Management.<br />

Eine Arbeitsstelle in einem kleinen gehobenen<br />

Hotel schwebt ihr vor, bei der sie Wünsche erfüllen<br />

und Gästen dienen kann. Ihr Praxissemester<br />

verbringt sie in Hamburg an der Rezeption eines<br />

Fünf-Sterne-Hotels. „Es war der geilste Job den ich<br />

bis heute hatte“, schwärmt die <strong>35</strong>-Jährige. Langfristig<br />

70 Stunden die Woche arbeiten und das bei<br />

niedrigem Gehalt kommt für die freiheitsliebende<br />

Person allerdings nicht infrage. Fasziniert von<br />

Ozeanien unternimmt sie 2010 eine viermonatige<br />

Trekkingreise nach Tasmanien und Neuseeland.<br />

Als „Ulligunde“ startet sie ihren Blog und berichtet<br />

über Touren mit dem Zelt. Erika Dürr mag altdeutsche<br />

Namen und erfindet spontan den einprägsamen<br />

Begriff. Nach ihrem Trip in die Südsee<br />

schreibt sie weiter. Aus anfänglich leichten blauen<br />

Touren werden gefährlich schwarze Etappen im<br />

Rother Wanderführer. „Mutausbrüche“, wie Erika<br />

Dürr kurzzeitig mutige Phasen bezeichnet, gibt es<br />

selten. Oft kämpft sie gegen sich selbst anstelle einer<br />

Gefahr. Hauptberuflich kümmert sich die<br />

Bloggerin nach dem Studium um die B2C-Kommunikation<br />

des Tourenportals „Outdooractive“<br />

in Immenstadt. Ende 2015 kündigt Erika Dürr die<br />

Stelle aus gesundheitlichen Gründen. Aus einer<br />

Übergangsphase zuhause, entsteht die Selbstständigkeit.<br />

„Ohne das Netzwerk von früher hätte ich<br />

diesen Schritt nie gewagt“, ist sich die Wahl-Allgäuerin<br />

sicher. 2019 gibt sie das Bloggen auf,<br />

gründet stattdessen den Podcast „Ulligunde<br />

(p)lauscht“, von dem sie heute leben kann. Gäste<br />

sind Athlet:innen aus dem Bergsport.<br />

Ihre eigene Geschichte ist zu Ende erzählt. Mit<br />

ihren Freund:innen und ihrem Mann Michael<br />

Dürr sucht sie acht Jahre neue Herausforderungen<br />

im Alpinklettern<br />

und reizt eigene<br />

Grenzen aus. Ein<br />

Bild von ihr mit<br />

Steigeisen, Eisgeräten<br />

und voller Ausrüstung am Gurt lässt Erika<br />

Dürr innehalten. „Diese Tour konnte ich vorsteigen,<br />

ich als kleiner Angsthase“, berichtet sie. Mit<br />

der Realisation den Traum erfüllt und eine gewisse<br />

Routine am Berg erlangt zu haben, schwindet<br />

ihre Motivation. „Ich hatte keine Lust mehr, ständig<br />

mit der Angst zu ringen. Ich will mich nicht<br />

mehr fürchten. Ich will, dass es Freude macht“, ergänzt<br />

sie mit Nachdruck. Als ihre beste Bergpartnerin<br />

2020 bei einer gemeinsamen Kletterpartie<br />

auf das Schreckhorn stirbt, ist für Erika Dürr endgültig<br />

Schluss.<br />

Das Gleitschirmfliegen gibt ihr neuen Lebensmut<br />

und rettet sie aus einer tiefen Phase der Trauer.<br />

Seitdem erkundet die Wahl-Allgäuerin die Berge<br />

von oben. Heute ist die <strong>35</strong>-Jährige gütiger zu<br />

sich selbst und hört auf ihre innere Stimme. Sie<br />

kennt ihre Stärken und akzeptiert ihre Schwächen.<br />

Vergleiche mit anderen sind ein No-Go. Mit<br />

bestehenden Ängsten lernt sie ohne Druck weiter<br />

umzugehen. Ihr Selbstvertrauen beschreibt eine<br />

Lernkurve. Das Meditieren und die Malerei entschleunigen<br />

sie vom Alltagsstress als Selbstständige.<br />

Die Suche nach spielerischer Leichtigkeit setzt<br />

sie sich persönlich zum Ziel. „Einfach machen<br />

und sich nicht verheddern in Annahme und<br />

Angst“, rät Erika Dürr.


01/ 2024 SUCHE<br />

29<br />

Ohne Netz und<br />

doppelten Boden<br />

Bild: Lukas Irmler<br />

Schluchten sind sein Spielplatz, der Himmel<br />

seine Bühne – zwischen beiden trotzt Lukas<br />

Irmler den Gesetzen der Schwerkraft. Im Interview<br />

gewährt er Einblicke in sein lebensgefährliches<br />

Slackline-Abenteuer, das die Grenzen des<br />

Möglichen neu definiert.<br />

VON MONIQUE DONAT<br />

Rauchwolken tanzen zwischen den<br />

Felsen, Stille erfüllt die Luft. Blut<br />

rauscht in seinen Ohren und sein<br />

Atem bildet kleine, zarte Wölkchen.<br />

Lukas Irmlers Herz hämmert. „Einen<br />

Fuß vor den anderen. Bloß nicht nach unten<br />

sehen“, murmelt er. Als Slackline-Artist spaziert er<br />

scheinbar schwerelos zwischen Himmel und Erde,<br />

hunderte Meter über dem Erdboden, ohne<br />

Sicherung. Für den Profi ein normaler Sonntagsspaziergang.<br />

Irmler liebt eben die Herausforderung.<br />

Geboren und aufgewachsen ist der 25-Jährige<br />

in Dachau. Inzwischen führen ihn seine<br />

waghalsigen Abenteuer an die entlegensten Ecken<br />

der Welt. Über Tasmanien bis nach China, ein Abstecher<br />

in Peru und zurück nach Kanada, für den<br />

Slackliner nur ein Katzensprung entfernt.<br />

Mit einem verschmitzten Lächeln erzählt<br />

Irmler von seinen Anfängen im Slacklinen, einer<br />

Sportart die er vor 17 Jahren für sich entdeckt hat.<br />

„Ich habe eine Slackline hinter meiner heimischen<br />

Kletterhalle gesehen und gedacht: Okay,<br />

einmal musst du da drüber, dann kannst du das<br />

abhaken“, erinnert sich der 25-Jährige. Was als<br />

zufällige Begegnung beginnt, entwickelt sich<br />

schnell zu einer lebenslangen Leidenschaft. Eine<br />

Woche später war die kurze Line in der<br />

Kletterhalle kein Problem mehr.<br />

„Wenn sogar das Laufen, was am Anfang noch<br />

unmöglich erschien, machbar wird, wie weit<br />

kann ich noch gehen?“, sinniert der Ausnahmesportler.<br />

Doch das Slacklinen ist für den gebürtigen<br />

Dachauer nicht nur ein Hobby – es ist sein Lebensunterhalt.<br />

Seit 2011 widmet er sich hauptberuflich<br />

dieser Disziplin. Die Slackline ist zu seinem<br />

Lebensmittelpunkt geworden – als Profisportler,<br />

als Redner, als Show-Artist und als Coach. Das<br />

Training für solche Extrem-Events erfordert nicht<br />

nur körperliche Fitness, sondern auch mentale<br />

Stärke. Meditation und Yoga helfen ihm, den nötigen<br />

Fokus für seine gefährliche Sportart zu finden.<br />

Die physische Anstrengung ist immens, da<br />

der gesamte Körper in Balance bleiben muss, um<br />

das Wackeln auf der langen Line auszugleichen.<br />

Wer das schaffen will, braucht die richtige Motivation.<br />

„Wenn man wirklich etwas will, dann<br />

schafft man es, das gilt für das ganze Leben. Talent<br />

ist zweitrangig, nur der eiserne Wille zählt.“<br />

Wenn Lukas Irmler über die Gefahren des<br />

Slacklinens spricht, wird deutlich, dass er nicht<br />

leichtsinnig mit seinem Leben umgeht.<br />

Entscheidend ist, sich<br />

auf den eigenen Körper<br />

zu verlassen. „Sobald<br />

sich der Kopf einschaltet<br />

und negative<br />

Gedanken dich fluten,<br />

hat man schon verloren“,<br />

erklärt er. Ein besonderes<br />

Highlight in<br />

seiner Karriere war der<br />

Längenrekord mit einer<br />

Slackline von über<br />

zwei Kilometern, die er in Montreal (Kanada)<br />

spannte.<br />

Diesen hat er gleich zweimal gebrochen. Doch<br />

es sind nicht nur die Zahlen, die Irmler faszinieren.<br />

Er bevorzugt einzelne Felstürme als Slackline-<br />

Spots, je ausgesetzter, desto besser. Und je länger<br />

die Strecke, desto intensiver erlebt er den „Flow“.<br />

„Wenn ich das jetzt<br />

nicht schaffe, wenn ich<br />

nicht an den Rand der<br />

Schlucht komme, dann<br />

sterbe ich“<br />

Trotz der Erfolge gab es auch Momente, in denen<br />

Irmler kurz davor stand, das Handtuch zu<br />

werfen. Wetterbedingungen, kleine Zeitfenster<br />

und persönliche Grenzen haben ihn oft vor immense<br />

Herausforderungen gestellt. „Man muss<br />

aus seinen Fehlern lernen und genau wissen,<br />

worauf man sich einlässt“, gibt er zu.<br />

Besonders dramatisch wurde es bei einem Auftritt,<br />

bei dem Irmler durch einen Sturm die<br />

Balance auf einer Highline mitten in Norwegen<br />

verlor. „Wenn ich das jetzt nicht schaffe, wenn<br />

ich nicht an den Rand der Schlucht komme, dann<br />

sterbe ich“, erinnert er sich. Heute weiß er wie<br />

leichtsinnig das war. Immerhin lernte er so, die<br />

Grenzen des Risikos zu respektieren. Ans Aufhören<br />

denkt Irmler aber nicht. „Ich mache weiter,<br />

bis ich nicht mehr laufen<br />

kann“, sagt der Slackliner.<br />

In Zukunft will er an noch<br />

unzugänglicheren Orten<br />

seine Slacklines spannen<br />

und seine Lieblingsdisziplin<br />

mit weiteren Sportarten<br />

wie dem Klettern verknüpfen.<br />

Ortsgebunden<br />

ist er hierbei allerdings<br />

keineswegs. Vom tiefsten<br />

Dschungel über die eisigsten<br />

Klippen, Irmler will sie alle bezwingen. Seine<br />

Augen leuchten beim Blick auf die vergangenen<br />

Jahre aber auch auf neue Herausforderungen. Lukas<br />

Irmler ist nicht nur ein Slackliner, sondern ein<br />

Abenteurer, der die Welt aus der Vogelperspektive<br />

betrachtet – immer auf der Suche, das<br />

Unmögliche möglich zu machen.


30 SUCHE<br />

mediakompakt<br />

„Wir Hochleistungssportler<br />

sind Egoisten“<br />

Mit über 300 km/h auf eine<br />

enge Kurve zudonnern: Für<br />

Normalsterbliche ein unvorstellbares<br />

Szenario. Für<br />

Motorradsportler der Alltag.<br />

Was bedeutet es, Rennfahrer<br />

zu sein? Florian Alt gibt<br />

Antworten.<br />

VON ALEXANDER SCHÖNECKER<br />

Bilder: HRP/Viltais Racing/IDM/Crumbpictures<br />

Die letzten Kurven, einmal noch die<br />

volle Konzentration aufbringen,<br />

bloß keinen Fehler machen. Bremspunkt<br />

treffen, einlenken, das Knie<br />

schleift über den Boden. Am Scheitelpunkt<br />

vorsichtig ans Gas, das Motorrad richtet<br />

sich auf, jetzt voll durchziehen. 200 Meter weiter:<br />

Der Zielstrich. Einen kurzen Moment totale Stille.<br />

Keine Motorengeräusche, kein Fanjubel. Und<br />

dann realisiert Florian Alt, dass er gerade die Internationale<br />

Deutsche Motorradmeisterschaft (IDM)<br />

gewonnen hat. Eine Flut von Gefühlen bricht<br />

über ihn herein. Euphorie. Unglauben. Erleichterung.<br />

Die folgenden Minuten, in denen der<br />

27-jährige umringt von seinem Team, seinen<br />

Freunden und seiner Partnerin den Sieg feiert, vergehen<br />

wie im Traum.<br />

„Da ist eine enorme Last von mir abgefallen“,<br />

erinnert sich Alt an diesen Moment Ende September<br />

2023 auf dem Hockenheimring. Vier Mal hatte<br />

es bisher für den zweiten Platz gereicht. Jetzt<br />

endlich war er da, der Sieg in der Königsklasse der<br />

IDM. Als Rennfahrer ist Aufgeben keine Option.<br />

Im Gegenteil: Alt sieht in Rückschlägen die positiven<br />

Seiten. „Ich lerne viel aus solchen Situationen<br />

und ziehe Konsequenzen für mich selbst und<br />

für die Entscheidungen, die ich treffe“, erklärt<br />

der Rennfahrer.<br />

Die ersten Glückwünsche kommen von Alts<br />

Rennfahrerkollegen noch auf der Strecke. Im Vorbeifahren<br />

gibt es Daumen hoch, Händeschütteln<br />

und Schulterklopfen. Der Respekt untereinander<br />

– auch unter Konkurrenten – ist groß. Im Fahrerlager<br />

gibt es viele enge Freundschaften. Dem frisch<br />

gebackenen deutschen Meister kommen unter<br />

dem Helm die Tränen. Erinnerungen kommen<br />

hoch an Leon Langstädtler, der ein Jahr zuvor auf<br />

dieser Strecke bei einem Trainingsunfall sein Leben<br />

verlor. Zwei Tage später gewann Alt das Rennen<br />

mit 1,111 Sekunden Vorsprung auf den<br />

Zweitplatzierten. Leon Langstädtler trug die Startnummer<br />

11.<br />

„Wir alle haben großen Respekt vor dem, was<br />

wir da tun“, betont Alt. Motorsport ist gefährlich,<br />

dessen sind sich alle Rennfahrer bewusst. „Aber so


01/ 2024<br />

SUCHE<br />

31<br />

I M P R E S S U M<br />

mediakompakt<br />

Zeitung des Studiengangs Mediapublishing<br />

Hochschule der Medien Stuttgart<br />

hart es klingt: Das, was am Freitag passiert ist, habe<br />

ich den Rest des Wochenendes komplett ausgeblendet“,<br />

erklärt der 27-jährige weiter. Ohne Fokus<br />

kann man ein über 200 PS starkes Motorrad<br />

nicht am Limit bewegen. Die Verarbeitung eines<br />

so tragischen Ereignisses beginnt erst danach. „Als<br />

ich über Start-Ziel gefahren bin, kam alles hoch.<br />

Und die folgenden Tage habe ich gebraucht, um<br />

damit umzugehen“, sagt Alt.<br />

Zurück auf seiner Ehrenrunde um den Hockenheimring.<br />

Das Gefühl auf dieser schönsten<br />

aller Runden im Rennsport kennt Alt bereits.<br />

Wenn man gerade einen Meistertitel geholt hat<br />

und nun seinen Sieg auf dem Weg in die Box feiern<br />

darf. Er erinnert sich an die großen Erfolge seiner<br />

Karriere. „2012 habe ich den Red Bull MotoGP<br />

Rookies Cup gewonnen. Das ist sowas wie die U18<br />

WM im Motorradsport. Alle großen Talente gehen<br />

daraus hervor“, erklärt der Rennfahrer. Im<br />

selben Jahr wurde er Deutscher Meister in der heute<br />

nicht mehr ausgetragenen 125-Kubik-Klasse.<br />

Noch heute betrachtet Alt diesen Doppelsieg als<br />

eine der größten Errungenschaften seiner Karriere.<br />

Zehn Jahre später triumphiert er mit seinen<br />

Teamkollegen Erwan Nigon und Steven Odendaal<br />

bei der 100. <strong>Ausgabe</strong> des 24-Stunden-Rennens<br />

Bol d’Or in Le Castellet. Kein anderer Deutscher<br />

hat diesen prestigeträchtigen Sieg bisher einfahren<br />

können.<br />

Wer solche Erfolge für sich verbuchen möchte,<br />

braucht das richtige Mindset und vor allem eine<br />

starke Resistenz gegen Stress. An so einem<br />

Rennwochenende geht es oft hektisch zu. Da die<br />

Ruhe zu bewahren ist essenziell. „Es ist schwer,<br />

mich aus der Fassung zu bringen. Auch wenn 18<br />

Leute gleichzeitig etwas von mir wollen, bewahre<br />

ich den Überblick,“ erzählt Alt.<br />

Das letzte Viertel des Hockenheimrings führt<br />

durch das berüchtigte Motodrom. In der Sachskurve<br />

jubeln tausende Fans ihren Idolen zu. Florian<br />

Alt nimmt all diese Eindrücke in sich auf, ist<br />

dankbar für den Support. Am Streckenrand wartet<br />

sein Team Holzhauer Racing Promotion. Auch für<br />

sie ist der Meistertitel ein großartiger Erfolg, vor<br />

allem auf der Honda, die sich auf der internationalen<br />

Bühne schwer tut. Das richtige Umfeld zu<br />

haben ist eine Grundvoraussetzung für Siege.<br />

„Im Motorsport geht es nicht nur um das Fahrerische.<br />

Du brauchst auch technisches Verständnis.<br />

Das ist mittlerweile ein großer Faktor“, betont<br />

Alt. Nicht nur das richtige Material ist wichtig,<br />

sondern auch die Fähigkeit, das analysieren zu<br />

können.<br />

Unter den Feiernden ist auch Alts Partnerin.<br />

Sie springt ihm in die Arme, küsst ihn und ist mindestens<br />

ebenso erleichtert wie der Rennfahrer<br />

selbst. Auch für sie war das vergangene Jahr nicht<br />

leicht. Sie hat viel zurückstecken und dem Traum<br />

ihres Partners unterordnen müssen. „Über<br />

180 Nächte war ich dieses Jahr nicht da. Wir<br />

Hochleistungssportler, gerade im Motorsport,<br />

sind zum größten Teil Egoisten“, gibt Alt zu. Einen<br />

Meistertitel zu gewinnen, verlangt viele Opfer.<br />

Vor allem auch bei den privaten Beziehungen.<br />

Da braucht man ein Umfeld, das das nötige Verständnis<br />

aufbringt.<br />

Auf dem Weg zurück in die Boxengasse blickt<br />

Florian Alt zurück auf die Anfänge seiner Motorradkarriere.<br />

Er sieht einen vierjährigen Jungen,<br />

der in seiner Heimatstadt bei Köln von den vorbeifahrenden<br />

Motorrädern begeistert ist. Die Familie<br />

legt zusammen und schenkt ihm eine Yamaha<br />

PW 50, eine kleine Motocross Maschine, mit<br />

der Alt unter Aufsicht des Vaters die umliegenden<br />

Felder unsicher macht. „Ich konnte Motorrad fahren<br />

noch bevor ich richtig laufen konnte“, erinnert<br />

er sich. Im Motocross macht Alt seine ersten<br />

Rennerfahrungen und wechselt erst später auf<br />

den Asphalt.<br />

In seiner Box angekommen stellt der deutsche<br />

Meister sein Bike ab. Die Siegerehrung ist der krönende<br />

Abschluss eines ereignisreichen und anstrengenden<br />

Jahres. Alt ist glücklich. Er ist am<br />

Ziel. Sein Traum erfüllt. Erst jetzt kehrt etwas Ruhe<br />

ein. Und obwohl er scheinbar alles erreicht hat,<br />

geht der Blick auch schon nach vorne. „Ich bin<br />

jetzt in der Primetime meiner Karriere und auch<br />

wenn das viel Druck ist, möchte ich das nutzen“,<br />

erklärt der 27-jährige. Dieses Jahr ist er bereits bei<br />

einigen Gaststarts in der Superbike Weltmeisterschaft<br />

(WSBK) angetreten. Dauerhaft an der Weltspitze<br />

zu fahren ist sein Traum. Dafür muss aber<br />

HERAUSGEBER<br />

Professor Christof Seeger<br />

Hochschule der Medien<br />

Nobelstraße 10, 70569 Stuttgart<br />

REDAKTION<br />

Bianca Menzel, Corinna Pehar (v.i.S.d.P.)<br />

menzelb@hdm-stuttgart.de, pehar@hdm-stuttgart.de<br />

Nicole Fröhlich (CvD) froehlich@hdm-stuttgart.de<br />

TITELSEITE<br />

Marika Rauch, Laura Böhme, Josephin Schweiss,<br />

Alessia Brunetto, Amelie Ostwald<br />

PRODUKTION<br />

Alle<br />

ANZEIGENVERKAUF<br />

Julia Zander, Julia Haible, Julia Stapf, Anne Graf,<br />

Coralie Boborowski<br />

BLATTKRITIK<br />

Leonie Gann, Isabell Richter, Felix Herder, Nedira Böhler,<br />

Sira Illner<br />

MEDIA NIGHT<br />

Hanna Gutknecht, Linda Enrich, Emily Kruse,<br />

Silvia Vangelova, Regine Ackermann<br />

LEKTORAT<br />

Lisa Mühlthaler, Charlotte Dalferth, Nina Lauer,<br />

Alexander Schönecker, Monique Donat, Lisa Kästner<br />

DRUCK<br />

Z-Druck Zentrale Zeitungsgesellschaft GmbH & Co. KG<br />

Böblinger Straße 70, 71065 Sindelfingen<br />

ERSCHEINUNGSWEISE<br />

Einmal im Semester zur MediaNight<br />

Copyright<br />

Stuttgart 2024<br />

das Paket stimmen. „Ich habe in der Vergangenheit<br />

auf Weltmeisterschaftsebene leider viele Fehler<br />

gemacht, habe falsche Entscheidungen getroffen“,<br />

reflektiert Alt. Auf die internationale Bühne<br />

möchte er nur zurückkehren, wenn er das richtige<br />

Team und erstklassiges Material dafür bekommt.<br />

Alt ist eine Kämpfernatur. Er wird nichts unversucht<br />

lassen, um seinen Traum zu erfüllen. Er wird<br />

nie aufgeben. Er ist ein Rennfahrer.<br />

Florian Alt (*30. April 1996)<br />

2012<br />

1. Platz Red Bull MotoGP Rookies Cup<br />

2012<br />

1. Platz Internationale Deutsche Motorradmeisterschaft<br />

in der 125-cm³-Klasse<br />

2017<br />

1. Platz FIM-Endurance-World-Cup in<br />

der Superstock Klasse<br />

2016–2022<br />

Vier Mal 2. Platz Internationale Deutsche<br />

Motorradmeisterschaft in der Superbike<br />

Klasse<br />

2022<br />

1. Platz 24-Stunden-Rennen Bol d’Or<br />

2023<br />

1. Platz Internationale Deutsche Motorradmeisterschaft<br />

in der Superbike Klasse


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© Jessica Iannicelli<br />

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Jessica Iannicelli<br />

Junior Talent Acquisition Manager<br />

service@careers.thieme.com<br />

Berufseinsteiger_Thieme_12_2023_223x297_ok.indd 1 06.12.2023 08:02:20

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