MEDIAkompakt Ausgabe 34
Die Zeitung des Studiengangs Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart - www.mediapublishing.org
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14 FREI<br />
mediakompakt<br />
„Das Leben war<br />
wie auf Standby“<br />
Bild: Unsplash<br />
Jugoslawienkrieg: Keine<br />
Freiheit, keine Sicherheit.<br />
Elira Gashi* berichtet von<br />
den Erfahrungen ihrer Familie<br />
und wie die Freiheit heute<br />
geschätzt wird, die damals<br />
vermisst wurde.<br />
VON SARAH KASUMOVIC<br />
Bis heute wissen wir nicht, was sie mit<br />
ihm gemacht haben. Seine Leiche<br />
wurde bis heute nicht gefunden. Er<br />
gehört zu den über 1.600 Menschen,<br />
die bis heute vermisst werden. Das ist<br />
für unsere gesamte Familie eine große Belastung“,<br />
berichtet Elira Gashi.<br />
Gashi ist 25 Jahre alt, in Deutschland geboren<br />
und studiert Lehramt. Obwohl sie selbst in Sicherheit<br />
aufwuchs, haben viele ihrer Familienmitglieder<br />
den Jugoslawienkrieg und seine Auswirkungen<br />
am eigenen Leib erfahren. Gashi erzählt von<br />
ihrem Opa mütterlicherseits, der sich dazu entschloss,<br />
das Land nicht zu verlassen und stattdessen<br />
in seinem Dorf bei seinem Haus und den Tieren<br />
in Vushtrri zurückzubleiben. Im Februar 1999<br />
wurde er von serbischen Soldaten entführt. Bis<br />
heute lebt ihre Familie in Ungewissheit über das<br />
Schicksal ihres Angehörigen. Viele ihrer Familienmitglieder,<br />
unter anderem ihr Vater, sahen sich<br />
bereits 1992 gezwungen, aufgrund der steigenden<br />
Spannungen auf dem Balkan nach Deutschland<br />
zu fliehen. Weitere Verwandte flohen während<br />
des Krieges nach Albanien oder in andere Städte<br />
des Kosovos. Doch nicht alle Angehörigen flohen.<br />
Einige wurden unter anderem im Massaker von<br />
Reçak ermordet. Die Auswirkungen des Krieges<br />
sind bis heute noch spürbar. „Der Alltag war wie<br />
gelähmt und von Angst bestimmt. Viele Familien<br />
flohen, so verschwanden regelmäßig Schulkinder<br />
und Arbeitsplätze blieben leer“, erwähnt Gashi.<br />
Ganze Regionen entschlossen sich gemeinsam zu<br />
fliehen, auch zu Fuß. Die Freiheit, selbst zu entscheiden,<br />
wo sie leben möchten, blieb ihnen verwehrt.<br />
Es gab massive Einschränkungen in ihrem<br />
Alltag. Einige Albaner:innen, die bei serbischen<br />
Unternehmen angestellt waren, legten ihre Arbeit<br />
nieder, um nicht für den Angreifer zu arbeiten.<br />
„Diejenigen, die allerdings weiter für sie arbeiteten,<br />
da sie auf das Geld angewiesen waren, wurden<br />
häufig schikaniert oder als Verräter bezeichnet“,<br />
erklärt Gashi. „Der Alltag lief gewissermaßen<br />
weiter, wenn doch ganz anders. Das Leben<br />
war wie auf Standby. Man machte sich Sorgen<br />
und hatte Angst und hoffte nur irgendwie zu<br />
überleben“, ergänzt Gashi.<br />
Die Menschen versuchten nach dem Krieg<br />
wieder ein Stück Normalität in ihr Leben zu bringen<br />
und ihre Freiheiten soweit es geht zurückzugewinnen.<br />
„Der Wille war groß und deswegen<br />
wurde viel dafür getan, eine Normalität aufzustellen.<br />
Kinder gingen wieder regelmäßig zur Schule,<br />
die Menschen arbeiteten“, meint Gashi. Da Kosovo<br />
bis zum Jahr 2008 noch offiziell als Teil Serbiens<br />
galt, vergingen noch einige Jahre, bis die gewünschte<br />
Freiheit erreicht wurde.<br />
Bei vielen Betroffenen haben die Erfahrungen<br />
des Krieges ein tiefes Bewusstsein für die Bedeutung<br />
von Sicherheit und Freiheit geschaffen.<br />
Auch das Recht, den eigenen Glauben frei auszuüben,<br />
wird von vielen Betroffenen als wertvoll erachtet.<br />
„Man muss auch sagen, dass Jugoslawien<br />
generell verschiedene Bevölkerungsgruppen unterdrückte.<br />
Auch Muslime, die slawisch waren,<br />
wurden in den Jugoslawienkriegen unterdrückt<br />
und ermordet, so auch in Bosnien. Der Wille war<br />
daher sehr groß, das Land in die Unabhängigkeit<br />
zu bringen und Freiheit zu erlangen. Man wollte<br />
eigene Institutionen, eigene Gesetze. Die Jugoslawienkriege<br />
haben dies alles nur noch weiter verstärkt“,<br />
verdeutlicht Gashi.<br />
Doch wie kann aus den Erfahrungen der Betroffenen<br />
gelernt und wie können Freiheit sowie<br />
Menschenrechte zukünftig geschützt werden?<br />
„Ich bin der Meinung, dass es sehr wichtig ist, die<br />
Menschen in der Gesellschaft über die Kriege im<br />
Balkan in den 1990er Jahren aufzuklären. Viele<br />
sind uninformiert darüber, was damals stattfand“,<br />
meint Gashi. Noch heute werden Genozide verleugnet,<br />
verharmlost und relativiert sowie Falschinformationen<br />
verbreitet. „Deshalb sollten die<br />
Kriege im Balkan und die Kriegsverbrechen in den<br />
Bildungsplan der Sekundarstufe aufgenommen<br />
werden. Zudem sollten Politiker aktiv werden und<br />
die serbische Regierung auffordern, unter anderem<br />
den Genozid an tausenden von Bosniaken in<br />
Srebrenica als solchen zu kennzeichnen“, fordert<br />
Gashi. Des Weiteren weist sie darauf hin, dass es<br />
wichtig sei, sich an die Vergangenheit zu erinnern<br />
und aus ihr zu lernen, um ähnliche Ereignisse in<br />
der Zukunft zu vermeiden.<br />
„Um Menschenrechte in Zukunft schützen zu<br />
können, müssen Menschenrechtsverletzungen in<br />
der Vergangenheit vorerst als solche gekennzeichnet<br />
werden“, betont Gashi.<br />
*Name von der Redaktion geändert