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Martin Wendte: Hauptsache gesund! (Leseprobe)

Wie sind Gott und Corona zusammenzudenken? Und welche Herausforderungen stellen sich der Kirche in und nach der Pandemie in der Gesundheitsgesellschaft? Um diese Fragen zu beantworten, wird im ersten Teil unsere Gesellschaft mit Rückgriff auf soziologische Erkenntnisse als »Gesundheitsgesellschaft« analysiert. Im zweiten Teil wird unter Rückgriff auf das Markusevangelium Jesus als Heiler, Heiland und Befreier dargelegt und in systematisch-theologischer Perspektive ein ganzheitlicher Gesundheitsbegriff entwickelt. Im dritten Teil werden die bisherigen Überlegungen zusammengefasst, ehe im vierten Teil das Handeln Gottes in der Pandemie zum einen als Handeln des »verborgenen Gottes« gedeutet wird. Zum anderen wird der Aufgabe der Kirche nachgedacht. Die Kirche soll einerseits Gott klagen. Andererseits soll sie im Aufsehen auf Jesus den Heiler, Heiland und Befreier als Vorkämpferin eines ganzheitlichen Gesundheitsbegriffes auftreten. Schuld und Sterben kommen dabei ebenso zur Sprache wie die politischen Dimensionen der Gesundheit.

Wie sind Gott und Corona zusammenzudenken? Und welche Herausforderungen stellen sich der Kirche in und nach der Pandemie in der Gesundheitsgesellschaft? Um diese Fragen zu beantworten, wird im ersten Teil unsere Gesellschaft mit Rückgriff auf soziologische Erkenntnisse als »Gesundheitsgesellschaft« analysiert. Im zweiten Teil wird unter Rückgriff auf das Markusevangelium Jesus als Heiler, Heiland und Befreier dargelegt und in systematisch-theologischer Perspektive ein ganzheitlicher Gesundheitsbegriff entwickelt. Im dritten Teil werden die bisherigen Überlegungen zusammengefasst, ehe im vierten Teil das Handeln Gottes in der Pandemie zum einen als Handeln des »verborgenen Gottes« gedeutet wird. Zum anderen wird der Aufgabe der Kirche nachgedacht. Die Kirche soll einerseits Gott klagen. Andererseits soll sie im Aufsehen auf Jesus den Heiler, Heiland und Befreier als Vorkämpferin eines ganzheitlichen Gesundheitsbegriffes auftreten. Schuld und Sterben kommen dabei ebenso zur Sprache wie die politischen Dimensionen der Gesundheit.

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<strong>Martin</strong> <strong>Wendte</strong><br />

<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>!<br />

Jesus, Corona und<br />

die Gesundheitsgesellschaft


Inhalt<br />

Einleitung .............................................. 11<br />

1. Worum geht es in diesem Buch? ..................... 11<br />

2. Wie ist das Buch aufgebaut? ........................ 13<br />

3. Für wen ist das Buch geschrieben? Wie kann es gelesen<br />

werden? ......................................... 14<br />

Erster Teil: »<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>!« –Das Leben in der<br />

Gesundheitsgesellschaft vor der Pandemie ............ 17<br />

1. Soziologische Überlegungen: Gesundheit als Fitness in<br />

der Gesundheitsgesellschaft ........................ 17<br />

1.1 Leben in der Gesundheitsgesellschaft: die dritte<br />

Gesundheitsrevolution ............................. 17<br />

1.2 Vier bestimmende Dimensionen der Gesundheit in der<br />

Gesundheitsgesellschaft: ihre Verbindung zur Identität,<br />

zur Ökonomie (und Politik), zur Zeitgestaltung und zum<br />

umfassenden Weltbild .............................. 20<br />

1.2.1 »<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>« –kçrperliche Fitness und<br />

Identität sind eng verbunden ....................... 20<br />

1.2.3 Die Ökonomisierung der Gesundheit –gegenwärtige<br />

Entwicklungen .................................... 22<br />

1.2.4 Gesundheit in der beschleunigten Gesellschaft ........ 26<br />

1.2.5 Das Leben als Aufgabe, nicht als Gabe. Ein Vorschlag zur<br />

Analyse der tieferen Gründe der Raumzeitimplosion mit<br />

Bezug auf Heideggers Technikphilosophie ............ 30<br />

1.3 Zusammenfassung: Identität, Ökonomie,<br />

Beschleunigung und Aufgabenorientierung als<br />

Prägekräfte inder Gesundheitsgesellschaft ........... 37<br />

2. Systematisch-theologische Überlegungen zur<br />

Gesundheit und zum Leib .......................... 38<br />

2.1 Die drei Dimensionen der Gesundheit und des Leibes ... 38<br />

2.2 Wie sind die drei Dimensionen des Leibes einander<br />

zugeordnet? ...................................... 44


6 Inhalt<br />

2.3 Gesundheit als Fließgleichgewicht zwischen Gesundheit<br />

und Krankheit, und die Beziehung zwischen Funktionsund<br />

Umgangsfähigkeit ............................. 47<br />

2.4 Der Vorrang der dritten Dimension der Gesundheit und<br />

die Aufgabe der Kirchen ........................... 49<br />

Zweiter Teil: Jesus der Heiler im Markusevangelium.<br />

Der Heiland, Befreier und Heiler bringt umfassende<br />

Gottes<strong>gesund</strong>heit ...................................... 53<br />

1. Einführende Überlegungen: Wie verstehe ich<br />

vielschichtige Texte angemessen, die vom Einbrechen<br />

des Reiches Gottes in einer religiçsen, politisch-sozialen<br />

und leiblich-existentiellen Dimensionen erzählen? ..... 55<br />

1.1 Wie lese ich die Texte des Markusevangeliums? Drei<br />

Aspekte, die für meine Lesart wichtig sind ............ 55<br />

1.2 Meta-Überlegungen: Vom Verstehen, vom Miss- und<br />

Neu-Verstehen des Reiches Gottes ................... 58<br />

1.3 »Healing« einer »illnesses«, nicht »curing« einer<br />

»disease«: VomUnterschied des jesuanischen<br />

Verständnisses von Gesundheit, Krankheit und Heilung<br />

gegenüber dem in der westlichen Moderne ........... 62<br />

1.4 Arzt, Magier oder Volksheiler? Zur Verbindung von<br />

Jesus dem Heiler, Retter und Befreier ................. 68<br />

1.5 Drei Aspekte der theologischen Tiefengrammatik der<br />

Wunderhandlungen Jesu: Jesus als apokalyptischer,<br />

sehend-machender Heiland, als symbolpolitisch<br />

agierender Befreier und als auf Vertrauen abzielender<br />

Heiler. Zugleich Einblicke in Grundzüge des<br />

Markusevangeliums ................................ 70<br />

1.5.1 Jesus der Heiland im apokalyptisch-eschatologischen<br />

Horizont (zum religiçsen Aspekt der dritten Dimension<br />

der Gesundheit und des Leibes) ..................... 71<br />

1.5.1.1 Der messianische und apokalyptische Horizont ........ 71<br />

1.5.1.2 Die Taufe Jesu und die Beelzebubkontroverse ......... 74<br />

1.5.1.3 Jesus ermçglicht neues Sehen, oder die Apokalyptik<br />

als Augensalbe .................................... 76


Inhalt 7<br />

1.5.2 Jesus und die politisch-soziale Dimension der<br />

Exorzismen und Heilungen (zu den politischen und<br />

sozialen Aspekten der dritten Dimension der<br />

Gesundheit und des Leibes) ......................... 79<br />

1.5.2.1 Die Macht der Rçmer wird gebrochen: Exorzismen ..... 79<br />

1.5.2.2 Die Symbolpolitik Jesu und die Inklusion<br />

Ausgeschlossener: Die Frage der Unreinheit und die<br />

Heilungen ........................................ 81<br />

1.5.3 »Präsenzkulturen« (Gumbrecht) und das<br />

Vertrauenswort: Jesus handelt auch auf der<br />

leiblich-existentiellen Ebene (die erste Dimension der<br />

Gesundheit und des Leibes) ......................... 83<br />

1.6 Wie wir Leser in die Texte hineinverstrickt werden –von<br />

der pragmatischen Dimension der Wundererzählungen 86<br />

2. Jesus der Heiland, Befreier und Heiler im<br />

Markusevangelium: Auslegung von sechs Geschichten,<br />

die die Gottes<strong>gesund</strong>heit charakterisieren ............ 89<br />

2.1 Mk 1,29–31: Die Heilung der Schwiegermutter des<br />

Petrus, oder: Auferweckt werden zur Nachfolge ....... 89<br />

2.2 Mk 1,40–45: Die Heilung des Aussätzigen, oder: Die<br />

Inklusion des religiçs und sozial Ausgeschlossenen ..... 93<br />

2.3 Mk 5,1–20: Die Heilung des besessenen Geraseners,<br />

oder: Die Macht des rçmischen Empires und des Satans<br />

wird gebrochen ................................... 98<br />

2.4 Mk 8,22–26: Die Heilung eines Blinden, oder: Vertiefte<br />

Ein-Sichten und umstürzende Rollenwechsel .......... 102<br />

2.5 Die Heilung eines Blinden bei Jericho (Mk 10,46–52):<br />

Vertiefte Ein-Sichten durch Glauben und<br />

Vertrauensworte .................................. 107<br />

2.6 Die Passion Jesu: Am Ort des Gegenteils von Gesundheit<br />

erwirkt Jesus wahre Gottes<strong>gesund</strong>heit ................ 110


8 Inhalt<br />

Dritter Teil: Zusammenfassung und vier Thesen: Jesus<br />

und die Gesundheitsgesellschaft ...................... 117<br />

1. Zusammenfassung: Wasist die<br />

Gesundheitsgesellschaft? Wassind die drei<br />

Dimensionen des Leibes? Wie ist die Gesundheit<br />

zu verstehen, auf die hin Jesus der Heiler, Heiland<br />

und Befreier heilt? .................................118<br />

1.1 Leben in der Gesundheitsgesellschaft . ...............118<br />

1.2 Die drei Dimensionen des Leibes .....................120<br />

1.3 Jesus der Heiler im Markusevangelium ...............122<br />

1.5 Fünf Heilungsgeschichten imMarkusevangelium –und<br />

die Kreuzigung des Heilands und Heilers .............124<br />

2. Der theologische Begriff von Gesundheit für unsere<br />

Gesundheitsgesellschaft: Vier Thesen ................126<br />

Vierter Teil: Die Kirche zwischen dem verborgenen<br />

Gott und Jesus dem Heiler, Heiland und Befreier –<br />

oder: Wie bereichern die bisherigen Überlegungen<br />

des Buches die gegenwärtigen Debatten um<br />

Gesundheit in Zeiten der Pandemie? .................. 131<br />

1. These: Die Pandemie zerschlägt unsere Pläne und lässt<br />

uns erfahren, dass wir endliche Wesen sind,<br />

theologisch gesprochen: Geschçpfe. Sie bringt zugleich<br />

erschütternde Passivitätserfahrungen mit sich. Diese<br />

aber kçnnen als eine dunkle Variante der<br />

Rechtfertigungserfahrung verstanden werden. ........ 132<br />

2. These: Die Pandemie bringt viel Leid und Tod, rüttelt<br />

aber zugleich auf zu »neuem Sehen«. Bei aller<br />

bleibenden Verborgenheit Gottes kann Corona dabei<br />

theologisch gedeutet werden als Heimsuchung und<br />

Anstoß zur Umkehr durch den verborgenen Gott ...... 135<br />

2.1 Hinführende Überlegungen: Luthers Lehre vom<br />

verborgenen Gott angesichts von zwei Alternativen,<br />

und einige methodische Überlegungen ...............136<br />

2.2 »Heimsuchung« und »Anstoß zur Umkehr« –zwei<br />

Versuche, das Handeln des verborgenen Gottes<br />

inhaltlich näher zu bestimmen ...................... 139


Inhalt 9<br />

3. These: In der Pandemie entsteht ein neues Verständnis<br />

von Gesundheit: Die Abwesenheit von Krankheit und<br />

soziale Beziehungen werden neu geschätzt. Zugleich<br />

erleben wir eindrückliche Solidarität. Doch die drei<br />

Dimensionen von Gesundheit stehen in dramatischer<br />

Spannung zueinander, sodass ein neues<br />

Schuldbewusstsein entsteht. In allem aber wird zu<br />

wenig gefragt, wie der Tod seinen letzten Schrecken<br />

verlieren kann. .................................... 142<br />

3.1 Die zweite Dimension der Gesundheit: Gesundheit als<br />

Abwesenheit von Krankheit und die Rolle der<br />

Wissenschaften .................................... 142<br />

3.2 Die dritte Dimension der Gesundheit: sozialethische<br />

Aspekte. Die »freiwillige Selbstzurücknahme« vieler<br />

Menschen, eine neue globale Verbundenheit und ein<br />

prophetischer Überschuss ........................... 144<br />

3.3 Unaufhebbare Ambivalenzen zwischen den<br />

verschiedenen Dimensionen der Gesundheit: »Wir<br />

werden einander eine Menge vergeben müssen«.<br />

Schuld und eine verantwortungsethische Perspektive ... 147<br />

3.4 Kann der Todseinen letzten Schrecken verlieren? ...... 150<br />

4. These: Die Kirche steht zwischen dem verborgenen und<br />

dem offenbaren Gott. Ihr kommen damit wichtige<br />

Herausforderungen zu: Sie soll klagen, bitten und in<br />

differenzierter Weise handeln im Aufsehen auf Jesus<br />

den Heiler, den Heiland und den Befreier ............. 154<br />

4.1 Die Kirche erleidet die »dunkle Nacht des Geistes« –<br />

Gott seine Verborgenheit klagen .................... 154<br />

4.2 Im Aufsehen auf Jesus Christus den Heiler, den Heiland<br />

und den Befreier: Herausforderungen für die Kirche ... 156


Einleitung<br />

1. Worum geht es in diesem Buch?<br />

Ich schrieb an einem Buch über Jesus den Heiler und die Gesundheitsgesellschaft<br />

– und dann kam Corona. Die größte kollektive Bedrohung der Gesundheit<br />

seit Jahrzehnten erschütterte unser Leben. Was tun? Nach einigem Nachdenken<br />

beschloss ich, die fast fertigen ersten beiden Teile zur Gesundheitsgesellschaft<br />

und zu Jesus dem Heiler in überarbeiteter Form zu übernehmen. Die anderen<br />

Teile jedoch habe ich neu geschrieben. Derdritte Teil fasst dieersten beiden Teile<br />

zusammen und bündelt die Ergebnisse in vier Thesen. Der abschließende vierte<br />

Teil nimmt diese vier Thesen auf und entwickelt in vier sachlich parallel gebauten<br />

Thesen theologische Perspektiven auf die Pandemie. Dieser Teil und damit das<br />

Buch als Ganzes enden mit Überlegungen zu Herausforderungen für die gegenwärtige<br />

Kirche. Ich stelle darin dar, wie die Kirche inZeiten eines pandemischen<br />

Virus den verborgenen Gott erleidet und zugleich im Aufsehen auf Jesus<br />

den Heiler, Heiland und Befreier hilfreich handeln kann.<br />

Etwas genauer: »<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>!« Kaum ein Satz scheint inunserer<br />

Gesellschaftauf so viel Zustimmung zu stoßen wie dieser. Egal wie alt oder jung<br />

ich bin, egal wie arm oder reich, egal ob ich Christ bin oder dezidierter Atheist,<br />

bekennender Muslim oder tiefenentspannter Agnostiker: Wir alle scheinen uns<br />

auf diesen Satz einigen zu können. Ist damit die neue Zivilreligion benannt, die<br />

Deutschland in seiner ganzen gegenwärtigen Buntheit miteinander verbindet?<br />

Vorallem aber: Wasist mit dem Satz eigentlich gemeint?Was ist Gesundheit, und<br />

wer ist <strong>gesund</strong>? Und: Wie hat sich diese Debatte durch Corona verändert?<br />

Dazu zwei verschiedene Szenen – es sind zwei Szenen, die ich als Pfarrer<br />

erlebte und auf die ich als Theologe reflektiere. Diese Szenen kann jedoch auch<br />

jeder andere erleben, der mit offenen Augen in unserer Gesellschaft lebt.<br />

Erste Szene: Ein Geburtstagsbesuch vor ein paar Jahren. Die Dame des<br />

Hauses wurde achtzig Jahre alt, ich kam als Pfarrer am späten Vormittag zum<br />

Gratulieren vorbei. Gerade als ich klingle, höre ich hinter mir ein Schnaufen<br />

und Keuchen und drehe mich um. Der Hausherr im Jogginganzug, knapp über


12 Einleitung<br />

achtzig, drahtig und braungebrannt, jetzt aber mit hochrotem Kopf, kommt die<br />

Einfahrt hochgelaufen. Ein letzter Schlussspurt, er erreicht die Haustür in dem<br />

Moment, in dem die Dame des Hauses öffnet. Später kommen wir im Wohnzimmer<br />

ins Gespräch. Auf dem Couchtisch liegt eine ganze Ansammlung von<br />

Zeitschriften: Men’s Health, Runner’s World, auf allen Frontseiten der Zeitschriften<br />

junge, fitteMenschen, wie die Wiederkehr von griechischen Gottheiten.<br />

Die Jubilarin sagt mir dann, was ich oft bei Geburtstagsbesuchen höre: »<strong>Hauptsache</strong><br />

<strong>gesund</strong>. Dafür machen wir dann auch einiges. Und das Ziel von meinem<br />

Mann ist es, beim Stadtlauf möglichst lange mit unserem Sohn mitzuhalten.<br />

Dieses Jahr kamensie sogar gemeinsam ins Ziel – was war mein Mann stolz!«Ich<br />

freue mich mit den beiden.Zugleich fällt mein Blick auf das kleine Buch, das ich<br />

der Dame des Hauses mitbrachte und das neben den Laufzeitschriften auf dem<br />

Couchtisch liegt. Vorne drauf: der gekreuzigte Christus, ein geschundener Körper.<br />

Und ich frage mich: Wie passt das beides zusammen?<br />

Zweite Szene: Ich begleite einen alten Mann beim Sterben. Einige Tage, bevor<br />

er starb, war er noch recht unruhig. Doch am letzten Tagentspannte er sich. Seine<br />

Kinder und Enkel waren bei ihm, und fast war es, als ob ein Leuchten in seinem<br />

Gesichtzusehenwar. Als er dann mit einem tiefenSeufzer starb, dachte ich mir:<br />

Er schien so im Frieden, im Frieden mit sich und der ganzen Wirklichkeit, auch<br />

mit seinem Gott. – Kann ich sogar sagen, dass er in eigener Weise <strong>gesund</strong>war, als<br />

er starb? Kann ich das vielleicht auch bisweilen von Menschen sagen, die an<br />

Corona sterben?<br />

Als Pfarrer begleite ich immer wieder sterbende Menschen und erlebe damit<br />

Situationen, diegesamtgesellschaftlich oftmals verdrängt werden.Die Pandemie<br />

hat die Gesellschaft inDeutschland und auch die Menschheit als Ganze in für<br />

viele erschütternder Weise mit ihrer Sterblichkeit konfrontiert, mit ihrer Geschöpflichkeit<br />

und mit der Fragenach dem guten, <strong>gesund</strong>en Leben. »<strong>Hauptsache</strong><br />

<strong>gesund</strong>«, darin sind sich alle einig, vor der Pandemie sowieso, aber in veränderter<br />

Weise auch in ihr. Aber was ist unter Gesundheit zu verstehen? Wie eng ist<br />

Gesundheit an körperliche Fitness gekoppelt?Sind vielleicht sogar Menschen in<br />

eigener Weise <strong>gesund</strong>, die sterben? Oder bin ich <strong>gesund</strong>, wenn ich gute Beziehungen<br />

habe, aber körperlich krank bin? Und: Was ist ein christliches Verständnis<br />

von Gesundheit? Welches Verständnis von Gesundheit findet sich bei<br />

Jesus, der einerseits als Heiler auftrat und andererseits mit gebrochenem Leib am<br />

Kreuz starb? Wieist es zu verstehen,wenn gesagt wird, dass Jesus als Heiler und<br />

als Gekreuzigter gleichermaßen auf geheimnisvolle Weise Heil, Heilung und<br />

Befreiung brachte? Und was spricht dafür, vom verborgenen Gott zu sprechen<br />

und damit die Pandemie und das Handeln Gottes miteinander in Beziehung zu<br />

setzen?


2. Wie ist das Buch aufgebaut?<br />

2. Wie ist das Buch aufgebaut? 13<br />

Um Fragen wie diese zu klären, ist das Buch in vier Teile aufgeteilt. Im ersten Teil<br />

gehe ich der Frage genauer auf den Grund, was in den Gesellschaften des Westens<br />

unter Gesundheit verstanden wird. Hierbei orientiere ich mich an den Debatten<br />

vor der Pandemie und lerne von Soziologen, dass wir in der »Gesundheitsgesellschaft«<br />

leben. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass Gesundheit vor allem als<br />

körperliche Fitness verstanden wird und dass körperliche Fitness eng mit unserer<br />

Identität verbunden ist. Zudem ist Gesundheit eine Aufgabe, die jedem<br />

einzelnen Menschen beständig überantwortet ist. Damit kommen in der Gesundheitsgesellschaft<br />

Kräfte und Ideen zum Ausdruck, die unsere Gesellschaft<br />

insgesamt prägen. Dass uns Fitness so wichtig ist und als individuelle Aufgabe<br />

verstandenwird, hat auch ökonomische Gründe. Es ist zudem verbunden mit der<br />

allgemeinen Beschleunigung und gründet im letzten in einer Grundeinstellung,<br />

die die Wirklichkeit als abhängig von der Aktivität des Menschen ansieht.<br />

Nach diesen soziologischen Überlegungen werfe ich einen differenzierten<br />

Blick auf das Phänomen der Gesundheit und des Leibes. Beide haben eine subjektive<br />

Dimension – es ist ja mein Leib und meine Gesundheit, von dem die Rede<br />

ist. Meine Gesundheit und mein Leib haben jedoch auch eine objektiv messbare<br />

Dimension, und es kommt ihnen zudem auch eine politisch-soziale sowie kulturell-religiöse<br />

Dimension zu. In der Gesundheitsgesellschaft ist die objektiv<br />

messbare Dimension der Gesundheit zentral. Es steht somit die körperliche<br />

Fitness im Mittelpunkt. Von dort aus gesehen sind Menschen mit einer Einschränkung<br />

ebensowenig <strong>gesund</strong> wie ein alter Mensch, der stirbt. Jesus zeigt ein<br />

anderes Verständnis von Gesundheit. Ohne die anderen Dimensionen zu vernachlässigen,<br />

stehen bei ihm die soziale und die religiöse Dimension im Vordergrund.Gesund<br />

ist somit, wer in guten Beziehungen zu anderen Menschen und<br />

zu Gott steht. Damit könnte man auch den alten Mann als <strong>gesund</strong> ansehen, der<br />

mit dem eigenen Leuchten im Gesicht starb.<br />

Der zweite Teil des Buches geht diesem biblischen Verständnis von Gesundheit<br />

auf den Grund, indem Jesus im Markusevangelium in den Blick genommen<br />

wird. Umnicht vorschnell die eigenen Vorstellungen von Heilungen,<br />

Wundern und Gesundheit in die biblischen Texte hineinzulesen, überlege ich<br />

zuerst, wie solch fremde Texte zu verstehen sind und welcher Rationalität die<br />

antiken Heilungssysteme folgen. Sodann werden Grundlinien des Markusevangeliums<br />

herausgearbeitet und mit wichtigen Aspekten von Jesus dem Heiler<br />

verbunden. Indem so entwickelten Rahmen lege ich fünf wichtige Heilungsgeschichten<br />

von Jesus sowie die Passionsgeschichte genauer aus.<br />

Der dritte Teil des Buches fasst die bisherigen Ausführungen auf einigen<br />

Seiten zusammen und mag von eiligen Lesern und Leserinnen zuerst gelesen<br />

werden. Er endet in vier Thesen, welche die Überlegungen in systematischtheologischer<br />

Perspektive zuspitzen. Zentral ist die Einsicht,dass die Beziehung


14 Einleitung<br />

zu Gott die wichtigste Dimension von Gesundheit ist. Dadurch relativiert sie<br />

einerseits die anderen Dimensionen von Gesundheit, gibt ihnen aber andererseits<br />

auch ihr relatives Recht. Der vierte Teil des Buches ist wiederum in vier Thesen<br />

aufgebaut. Er wendet die vier Thesen des dritten Teils auf die Corona-Situation an<br />

und ermöglicht somit theologische Perspektiven auf die Pandemie. Dabei folge<br />

ich einer lutherischen Tradition, derzufolge die Pandemie nicht als gottloses<br />

Geschehen zu verstehen ist, sondern als Handeln des verborgenen Gottes. Er<br />

sucht Menschen heim und öffnet so – durchviel zu beklagendes Leid hindurch –<br />

auch die Augen für ein neues Sehen undHandeln vieler Einzelner und der Kirche.<br />

Menschen lernen in existentieller Weise auch, dass sie nicht mehr sind als Geschöpfe.<br />

– Die Kirche wiederum lebt vom offenbaren Gott her. Sie beklagt das Leid<br />

und die Verborgenheit Gottes. Sie ist mit den Schwachen solidarisch, hilft, Situationen<br />

unvermeidbarer Schuld zu tragen, verkündet, dass der Tod seinen<br />

letzten Schrecken verloren hat und entwirft Bilder von einem neuen, guten Leben,<br />

auch global. Darin wirkt Jesus der Heiler, Heiland und Befreierauch in Zeiten<br />

der Pandemie.<br />

Die Teile eins, zwei und vier folgen somit dem Dreischritt von »Sehen –<br />

Urteilen – Handeln«. Im ersten Teil entwickle ich einen Blick auf unsere Gegenwart<br />

oder ich lese die Zeichen der Zeit. Sodann entdecke ich von daher die<br />

eigene Tradition neu. Nachder kurzen Zusammenfassung entwickele ich daraus<br />

neue Sichtweisen und Impulse für unsere Gegenwart.<br />

3. Für wen ist das Buch geschrieben? Wie kann es<br />

gelesen werden?<br />

Das Buch ist für alle Menschen mit Interesse an den angedeuteten Fragen geschrieben,<br />

aber auch für Pfarrer und wissenschaftliche Theologen/Theologinnen.<br />

Denn ich habe mich bemüht,einen gut lesbarenText zu einem aktuellen Thema<br />

zu schreiben, der zugleich auf der Höhe der wissenschaftlichen Debatte ist. Um<br />

dem Thema zu entsprechen, verbinde ich soziologische, leibphänomenologische<br />

und kulturphilosophische Diskussionen mit systematisch-theologischen und<br />

neutestamentlichen Überlegungen. – Das Buch ist ein durchgehender, aufeinander<br />

aufbauender Text, bei dem dennoch die einzelnen Abschnitte in sich Sinn<br />

ergeben. Weralso beispielsweise nur an den neutestamentlichen Ausführungen<br />

zu Jesus dem Heiler im Markusevangelium interessiert ist, mag nur den zweiten<br />

Teil des Buches lesen. Menschen mit anderen Interessen können die etwas<br />

spezifischer neutestamentlichen ersten beiden Unterteile des zweiten Teils des<br />

Buches auslassen und vom ersten Teil aus gleich zu den Heilungsgeschichten<br />

vordringen. Diejenigen hingegen, die an meiner Lesart von Corona interessiert<br />

sind, können gern auch nur den dritten und vierten Teil lesen.


3. Für wen ist das Buch geschrieben? Wie kann es gelesen werden? 15<br />

Das Buch kann als wissenschaftlicher Essay bezeichnet werden: gut lesbar<br />

und fachlich fundiert, dabei Diskussionen aus verschiedenen Teildisziplinen<br />

miteinander verbindend. Damit verweist die Form des Buches auf seine Entstehungsbedingungen,<br />

da es im Kontext anglo-amerikanischer Debatten und<br />

Lebenswelten geschrieben wurde und einen dort weiter verbreiteten Wissenschaftsstil<br />

aufnimmt. Esentstand imRahmen eines Freiraumes, der durch das<br />

»Enhancing Life Project« finanziert wurde und den ich teils an der University of<br />

Aberdeen in Schottland verbrachte.<br />

Ich danke von Herzen den beiden Leitern des »Enhancing Life Projects«, Prof.<br />

Dr. Dr. Günter Thomas, Bochum, und Prof. Dr. Dr.h.c. William Schweiker, Chicago.<br />

Ich danke auch allen Mitforschenden, vor allem aber Prof. Dr. Andrea Bieler<br />

und Dr. Aasim Padela für allen Austausch, alle Ideen und die gemeinsamen<br />

Wochen im Sommer. Ich danke der University of Aberdeen, die mich als Gastwissenschaftler<br />

aufnahm. Ich durfte an einigen Forschungskolloquien teilnehmen<br />

und frühe Versionen der hier vorliegenden Ideen präsentieren. Vorallem<br />

danke ich sehr herzlich Prof. Dr. Brian Brock und seiner Familie für alle Unterstützung,<br />

Inspiration und Freundschaft – und dafür, dass wir in eigener Weise<br />

gemeinsam Kirche waren.<br />

Sehr herzlich danke ich auch den vielen Menschen, die Teile des Buches<br />

während seiner Entstehungszeit lasen und kommentierten. Die ersten beiden<br />

Teile lasen eine Reihe von Studierenden, die im Sommersemester 2020 an der<br />

Universität Basel unter der Leitung von Prof. Dr. Andrea Bieler und an der<br />

Eberhard-Karls-UniversitätTübingen unter meiner Leitung Seminare zu Themen<br />

der Gesundheit belegten. Den dritten und vierten Teil lasen Pfarrer Eberhard<br />

Schwarz und vor allem Prof. Dr. Marius Mjaaland, Pfarrer Jakob Spaeth und<br />

Pfarrerin Christiane Wille. Herzlichen Dank für alle Hinweise und hilfreichen<br />

Verbesserungsvorschläge – Ihr alle habt den Text wirklich verbessert! – Nicht<br />

zuletzt danke ich meinen Kindern und besonders meiner Frau. Zu fünft verbrachten<br />

wir drei außergewöhnliche Monate im wunderlichen Land der Schotten.<br />

Und meine Frau hat mich auch sonstimmer unterstützt, wenn ich für dieses<br />

Buch in der weiten Welt unterwegs war oder mich wieder einmal am eigenen<br />

Schreibtisch vergrub. Danke!<br />

Ludwigsburg, im Mai 2021


Erster Teil: »<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>!« –<br />

Das Leben in der<br />

Gesundheitsgesellschaft vor der<br />

Pandemie<br />

Das Bemühen um Gesundheit ist einer der Megatrends, die die westlichen Gesellschaften<br />

vor Coronaprägten. Daher lebten wir laut vielen Soziologen vor der<br />

Pandemie in einer »Gesundheitsgesellschaft«. In diesem Teil bringe ich zuerst<br />

die wichtigsten soziologischen Beobachtungen zur Gesundheitsgesellschaft zur<br />

Sprache. Sodann reflektiere ich in kulturphilosophischer und systematischtheologischer<br />

Perspektive darauf, welche Dimensionen der Leib und die Gesundheit<br />

haben.<br />

1. Soziologische Überlegungen: Gesundheit als<br />

Fitness in der Gesundheitsgesellschaft<br />

1.1 Leben in der Gesundheitsgesellschaft: die dritte<br />

Gesundheitsrevolution<br />

»<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>!« Dieser Satz ist prägend für Selbstverständnis vieler<br />

Menschen in den westlichen Gesellschaften der letzten Jahre. Denn wir leben seit<br />

vielen Jahren in der Gesundheitsgesellschaft. Gesundheit ist ein Megatrend in<br />

unserer Gesellschaft, der unser Leben umfassend prägt. 1 Unser Essen und Einkaufen,<br />

unser Freizeitverhalten und unsere Zeiteinteilung werden von unserem<br />

Gesundheitsbewusstsein mitgeprägt. Sogar unser Selbstbewusstsein und unser<br />

Selbstwertgefühl werden von unserem Gesundheitsbewusstsein mitbestimmt.<br />

Denn viele Menschen sagen, dass sie sich dann im Einklang mit sich selbst und<br />

1<br />

Es ist selbst ein Trend, für unsere westlichen Gesellschaften einen sie prägenden Megatrend<br />

zu konstatieren. Dennoch entwertet dieser Trend zur Diagnose von Megatrends die<br />

Erkenntniskraft dieser Versuche nicht vollständig. Er weist nur darauf hin, dass man dabei<br />

einige Aspekte von Wirklichkeit in den Blick bekommt und andere nicht (eben: nicht die<br />

anderen Megatrends).


18 Erster Teil: »<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>!«<br />

selbstbewusst fühlen, wenn sie sich fit fühlen. 2 Was aber ist unter dem Schlagwort<br />

der Gesundheitsgesellschaft genauer zuverstehen?<br />

Gesundheitssoziologen und -soziologinnen wie Ilona Kickbusch legen dar,<br />

dass sich die westlichen Gesellschaften gegenwärtig in der »dritten Gesundheitsrevolution«<br />

befinden. 3 Die »erste Revolution« fand im 19. Jahrhundert statt.<br />

Es ist Teil des Projektes der Aufklärung und seiner utopischen Züge anzustreben,<br />

dass die Gesellschaftals Ganze eine<strong>gesund</strong>e Gesellschaftwird. Krankheiten<br />

als solche sollten ausgemerzt werden. Vorallem angetrieben vom Staat ging es<br />

darum, die Infrastruktur und die Rechtslage zu verbessern und Sozialsysteme<br />

aufzubauen. In Deutschland leben wir in der glücklichen Lage, dass für viele<br />

Menschen die damals erreichten Unterstützungen fast selbstverständlich sind.<br />

Wenn wir krank sind, gehen wir zum Arzt, kochen uns Teeund gehen davon aus,<br />

dass das Leitungswasser sauber ist. Wenn es in der Schule schimmelt und dadurch<br />

die Gesundheit der Kinder gefährdet wird, kümmert sich das Schulamt<br />

darum. Die damit erreichten Leistungen tragen wesentlich zur Gesundheit der<br />

Bevölkerung bei. 60 bis 80 %dessen, was es braucht, damit eine Bevölkerung<br />

<strong>gesund</strong> ist, wird durch diese strukturellen Unterstützungen erreicht und nicht<br />

dadurch, dass ein einzelner Mensch ein passendes Medikament bekommt. 4<br />

Dies zeigt sich gegenwärtig auch an einem Vergleich zwischen den USAund<br />

Deutschland. Die USA gibt deutlich mehr Geld pro Kopf für die Gesundheit aus,<br />

und dennoch sind die Menschen weniger <strong>gesund</strong> als in Deutschland.Der Grund<br />

dafür ist, dass das viele Geld in den USAinhohem Maße in Hightech-Medizin für<br />

(vor allem reiche) Menschen fließt und nicht hinreichend in die Bereitstellung<br />

von <strong>gesund</strong>em Wasser, guten Wohnverhältnissen, verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen<br />

etc. Dafür gibt esviele Gründe: Dem Staat wird gegenüber dem<br />

Individuum eine zurückhaltende Rolle zugeschrieben, dafür ist die Gesundheit<br />

noch marktförmiger organisiert als in Deutschland. Die großen Pharmafirmen<br />

aber verdienen mit individueller, teurer Medizin mehr als mit der Vorsorge<br />

breiterer Bevölkerungsschichten. Jedenfalls zeigt der Vergleichmit den USA, wie<br />

wichtig die politischen und ökonomischen strukturellen Versorgungen der Bevölkerung<br />

als Ganzer sind. Die erste Gesundheitsrevolution ist bis heute für das<br />

Wohlergehen in Deutschland von großer Bedeutung.<br />

2<br />

Das meint nun nicht, dass jeder Mensch <strong>gesund</strong>heitsbewusst lebt. Jedoch ist auch der<br />

Gesundheitsmuffel insofern Teil der Gesundheitsgesellschaft, dass er seine Gesundheitsmuffelei<br />

in ihrem Horizont vollzieht. Er sieht sich somit etwa des Öfteren genötigt, sich vor<br />

sich selbst oder vor anderen dafür zu rechtfertigen – und sei es dadurch, dass er betont, sich<br />

nicht rechtfertigen zu müssen<br />

3<br />

Siehe zum Folgenden I. Kickbusch, Die Gesundheitsgesellschaft. Ein Plädoyer für eine<br />

<strong>gesund</strong>heitsförderliche Politik, 2., vollst. überarb. Auflage 2014, aber auch G. McKenny, To<br />

Relieve the Human Condition: Bioethics, Technology, and the Body, 1997.<br />

4<br />

Siehe dazu Kickbusch, Gesundheitsgesellschaft, 38–41.


1. Soziologische Überlegungen 19<br />

Die »zweite Revolution« des Gesundheitswesens begann nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg. Ein wesentliches Merkmal bestand darin, das Verständnis von Gesundheit<br />

vor allem als biologisch-medizinische Gesundheit zu verstehen. Diese<br />

Dimension der Gesundheit wird verstärkt an die Schulmedizin gebunden – gerade,<br />

weil die Medizin weiterhin große Fortschritte machte. Entsprechend ging<br />

man zum Arzt, wenn man sich um seine Gesundheit bzw. um seine Krankheit<br />

kümmern wollte, und Fachärzte gab es in immer größerer Zahl.<br />

Einerseits bewegenwir uns weiterhin in dem Grundverständnis der zweiten<br />

Gesundheitsrevolution. Andererseits haben sich seit Ende der 1970er Jahre eine<br />

Reihe von wichtigen weiteren Entwicklungen ergeben, die gerade in den letzten<br />

20 Jahren gesellschaftliche Prägekrafterhielten. Seit 20 Jahren ist Gesundheit ein<br />

Megatrend in unserer Gesellschaft, der damit eine Vielzahl gesellschaftlicher<br />

Subsysteme mitprägt: die Ökonomie, das Freizeitverhalten, Staat und Bildung etc.<br />

Wichtig ist zudem, dass Gesundheit nicht nur verschiedene gesellschaftliche<br />

Subsysteme mitprägt, sondern beim jeweiligen Menschen die ganze Persönlichkeit<br />

betrifft, also neben der biologisch-medizinischen Dimension auch die<br />

soziale und die psychologisch-religiöse. Zugleich steht die biologisch-medizinische<br />

Gesundheit weiterhin im Mittelpunkt und bekommt eine neue Zuspitzung.<br />

Denn Gesundheit wird wesentlich als Fitness verstanden. Gesund ist nicht nur<br />

der, der nicht krank ist oder sich allgemein wohlfühlt, sondern der, der fit ist.<br />

Damit ist bereits eine wesentliche Verschiebung im Gesundheitsverständnis<br />

angedeutet: Gesundheit wird zu einer positiven Größe. Es geht nicht um die<br />

Abwesenheit von Krankheit, sondern um allgemeines, umfassendes Wohlbefinden<br />

und bei vielen darüber hinaus um Fitness, also um körperliche Leistungsfähigkeit<br />

inklusive entsprechendem Aussehen. Weil Gesundheit zu einer positiven<br />

Größe wird,sind auch die Menschen selbst dafür verantwortlich. Ihr ganzer<br />

Lebensstil soll sich darauf ausrichten, am Besten verbunden mit einer Fitnessuhr<br />

am Handgelenk. Es reicht somit nicht mehr, zum Arzt zu gehen und auf dessen<br />

Geheiß einige Pillen zu schlucken. Vielmehrist jeder Einzelne gefragt, beständig<br />

an sich zu arbeiten.<br />

Diese Verschiebung, die sich heute – während der dritten Gesundheitsrevolution<br />

– ereignet, bekomme ich dadurch genauer in den Blick, dass ich vier<br />

Faktoren voneinander unterscheide und aufeinander beziehe, die sich miteinander<br />

verschränken und eine enorme Prägekraft und Wucht freisetzen. Sowird<br />

die Gesundheit mit unserer Identität verbunden; Gesundheit und Ökonomie<br />

stehen auf verschiedene Weise in Beziehung, wobei dies auch eine wichtige<br />

politische Ebene beinhaltet; Gesundheit vollzieht sich innerhalb unseres gesamtgesellschaftlichen<br />

Verständnisses von Zeit (und prägt dieses selbstmit); und<br />

Gesundheit wird als machbar eingeschätzt, als Aufgabe des Menschen. Das sei<br />

etwas genauer erläutert.


20 Erster Teil: »<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>!«<br />

1.2 Vier bestimmende Dimensionen der Gesundheit in der<br />

Gesundheitsgesellschaft: ihre Verbindung zur Identität, zur<br />

Ökonomie (und Politik), zur Zeitgestaltung und zum<br />

umfassenden Weltbild<br />

1.2.1 »<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>« –kçrperliche Fitness und Identität sind<br />

eng verbunden<br />

Wirverbinden Gesundheit mit unserer eigenen Identität. Umfragen belegen, dass<br />

Gesundheit ein überragend hoher Wert im Leben sehr vieler Menschen ist. 5<br />

»<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>«, heißt esentsprechend, und diese Einschätzung gilt über<br />

die Grenzen verschiedener Weltanschauungen und Religionen hinweg. Die<br />

Aussage bestimmt die Motivation vieler Menschen bei Lauftreffs ebenso,wie sie<br />

einem Pfarrer bei vielen Besuchen und Gesprächen begegnet. Fast scheint es,<br />

dass dies ein zivilreligiöser Grundwert ist, auf den man sich weltanschauungsübergreifend<br />

einigen kann. Theologisch zugespitzt: Faktisch ist die Frage der<br />

Gesundheit im biomedizinischen Sinn für viele Menschen eng gekoppelt mit<br />

der Frage nach dem gelingenden Leben oder des Heils. Dabei werden verschiedene<br />

Varianten dieser Zuordnung gelebt. Manche meinen, dass ohne Gesundheit<br />

alles nichts ist – dass die biomedizinische Gesundheit somit eineVorrausetzung<br />

gelingenden Lebens ist. Andere meinen sogar, dass das gelingende Leben selbst<br />

erreicht ist, wenn ein entsprechender Fitnesszustand erlangt ist.<br />

Fitness ist wichtig für das eigene Leben und die eigene Identität: Laut den<br />

Umfragen stimmen dieser Aussage in den westlichen Gesellschaften Menschen<br />

aus allen Milieus und Hintergründen zu. Allerdings verstehen Menschen aus<br />

unterschiedlichen Milieus und Hintergründen oftmals etwas Verschiedenes<br />

unter dem, was Fitness ist. Während – grob gesprochen – Menschen aus bildungsferneren<br />

Schichten Fitness eher im Fitnessstudio zu erlangen suchen und<br />

mit eindrücklicher Muskelmasse verbinden, orientieren sich Menschen aus<br />

bildungsaffineren Schichten oftmals an einem Verständnis von Fitness,das sich<br />

eher in der Natur vollzieht und/oder ganzheitlich ist. Dazu zählen Midlife-Krisenbewegte<br />

Männer beim Joggen (gern mit teurer Laufuhr und starker Konzentration<br />

auf die erhobenen Daten, die inEchtzeit bei Facebook hochgeladen werden)<br />

ebenso wie Yogagruppen mit eindrücklich hohem Anteil an weiblichen Teilnehmern,<br />

die sich bevorzugt auch in den Gemeindehäusern von Kirchen treffen,<br />

oder Seniorentreffs, die den Sonnenschein auf E-Bikes begrüßen. Bei aller milieubedingten<br />

Verschiedenheit der sportlichen Aktivitäten sind sich die Menschen<br />

darin einig, dass Fitness für ihr eigenes Selbstverständnis von entscheidendem<br />

Wert ist.<br />

Damit stellt sich die Gegenwart gegen eine Entwicklung, die für die Moderne<br />

lange Zeit prägend war. Denn die Moderne unterschied und trennte das Sub-<br />

5<br />

Siehe dazu Kickbusch, 57ff.


1. Soziologische Überlegungen 21<br />

system der Religion und der Medizin. Wie oben bereits angedeutet, gewann das<br />

Subsystem der Medizin seit dem 19. Jahrhundert Abstand vom Subsystem der<br />

Religion: Die Medizin wurde zunehmend als eine naturwissenschaftliche Disziplin<br />

verstanden, bei der es um das Funktionieren von Organen ging, nicht um das<br />

Seelenheil. In ganz eigener Weise und gleichsam unter der Führung der Medizin<br />

nähern sich beide wieder an, wenn körperliche Fitness und die eigene Identität<br />

oder die Vorstellung vom gelingenden Leben enger verbunden werden.<br />

Der Theologe, Psychiater und Bestsellerautor Manfred Lütz hat diese Entwicklung<br />

pointiert wie folgt zusammengefasst: »Unsere Vorväter bauten Kathedralen,<br />

wir bauen Krankenhäuser. Unsere Vorväter retteten ihre Seelen, wir<br />

retten unsere Figur. Im Jahr 2000 waren in Deutschland das erste Mal mehr<br />

Menschen Mitglied in einem Fitnessklub, als es Besucher eines durchschnittlichen<br />

römisch-katholischen Sonntagmorgen-Gottesdienstes gab.« »Die Leute<br />

glauben nicht mehr an Gott, sie glauben an dieGesundheit. Alles, was siefrüher<br />

für Gott taten, tun sie nun für ihre Gesundheit: Fasten, gute Werke tun, Pilgerfahrten<br />

unternehmen.« 6<br />

Im vorherigen Absatz wird die Gesundheitsgesellschaft vor allem in ihren<br />

negativen Dimensionen in den Blick genommen. Damit wird ein einseitigesBild<br />

von ihr gezeichnet, da sie ein mindestens ambivalent zu beurteilendes Großphänomen<br />

ist. Auch in theologischer Hinsicht ist vielen Aspekten der Gesundheitsgesellschaft<br />

ausgesprochen Positives abzugewinnen. Denn wenn man die<br />

erneut erreichte Kopplung von Fitness und gelingendem Leben oder von Medizin<br />

und Religionpositiv bewerten will, so spiegelt sich in ihr unter den Bedingungen<br />

der technologisch hochentwickelten, sich dynamisierenden und virtualisierenden<br />

Spätmoderne auch die Wiederentdeckung des Leibes und der Leiblichkeit<br />

wider. Der Megatrend gibt dem Bedürfnis Ausdruck, sich zu spüren. 7 Theologisch<br />

gesprochen: Die Schöpfungstheologie samt der Theologie des Leibes und eines<br />

leiblich verstandenen Selbst werden wichtiger, und das ist auch gut so. Der<br />

Megatrend Gesundheit kann somit auch als Ausdruck des schöpfungsgemäßen<br />

Umgangs des Leibwesen Menschen mit sich selbst verstanden werden. Sie ist<br />

daher auch in praktischer Perspektive positiv weiterzuentwickeln, etwa in Gottesdiensten,<br />

die ganzheitlich orientiert sind. – Diese positive Sichtweise wird in<br />

diesem Buch insofern aufgenommen, als in theologischer Hinsicht ein positiver<br />

Begriff von Gesundheit entwickelt wird. Die strukturellen Hinsichten davon<br />

6<br />

M. Lütz, Lebenslust: wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-<br />

Kult; ein Buch über Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheit und darüber, wie man<br />

länger Spaß am Leben hat, 2002, 38.<br />

7<br />

Siehe zu einer Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft als technisch hochentwickelter,<br />

sich dynamisierender und digitalisierender samt der Wiederentdeckung der Leiblichkeit<br />

auch M. <strong>Wendte</strong>, Die Gabe und das Gestell: Luthers Metaphysik des Abendmahls im technischen<br />

Zeitalter, (Collegium Metaphysicum 7), 2013.


22 Erster Teil: »<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>!«<br />

finden sich in Grundzügen bereits am Ende vom ersten Teil des Buchs, die inhaltliche<br />

Näherbestimmung erfolgt im Laufe des zweitens Teils – in der Auslegung<br />

der neutestamentlichen Geschichten –, und der vierte Teil bietet auch positive<br />

Aspekte von Gesundheit im Bemühen, die Herausforderungen für das<br />

Handeln der Kirche in Zeiten der Pandemie zu benennen. Dennoch stellt dieses<br />

Buch insgesamt die problematischen Seiten der Verbindung von Fitness und<br />

Identität ausführlicher vor Augen. Die positiven Anschlüsse ausführlich herauszuarbeiten<br />

wäre die Aufgabe eines anderen Buches.<br />

Um die Gesundheitsgesellschaft und auch die gegenwärtige Kopplung von<br />

Gesundheit und Identität besser zu verstehen, ist ein Seitenblick auf die Zuordnung<br />

von Gesundheit und Ökonomie wichtig. Denn die Ökonomisierung der<br />

Gesundheit ist eine der Prägekräfte für die gegenwärtige Gesundheitsgesellschaft,<br />

und die Wirtschaft spielt für die Frage der individuellen und der gesellschaftlichen<br />

Identität eine große Rolle.<br />

1.2.3 Die Ökonomisierung der Gesundheit –gegenwärtige<br />

Entwicklungen<br />

Gesundheit und Ökonomie werden zunehmend enger verbunden,mindestensin<br />

drei Hinsichten. So gibt es einen großen und ständig wachsenden Markt – eine<br />

Ökonomie – der Gesundheit: Wir kaufen Nahrungsergänzungsmittel und gehen<br />

ins Fitnessstudio, ausgerüstet mit schicken Klamotten. Täglicher Begleiter für<br />

viele ist eine Uhr mit integrierten Funktionen, die die Schritte zählt oder den<br />

Blutdruck.<br />

Mindestens genauso wichtig, als zweiten Punkt: Der Arbeitsmarkt verlangt<br />

fitte Arbeitnehmer, hat aber teils krankmachende Tendenzen. 8 Denn die Arbeitswelt<br />

verlangt <strong>gesund</strong>e Arbeitnehmerinnen, die dem wachsendenDruck und<br />

der jeweils schnelleren Taktung der Arbeit gewachsen sind. Werdem nicht zu<br />

entsprechen vermag, hat ein deutlich erhöhtes Risiko, arbeitslos zu werden.<br />

Das ist umso problematischer, als dieArbeitswelt selbst den Arbeitstakt oftmals<br />

verdichtet und somit von den Arbeitenden mehr Leistung inderselben Zeit<br />

verlangt. Ebenso verlangt sie zunehmend hohe Flexibilität in Bezug auf die Inhalte<br />

der Arbeit, ihre Formen, die Arbeitszeiten, die Orte, an denen gearbeitet<br />

wird etc. Beides kann von den Arbeitenden als positiv wahrgenommen werden,<br />

weil sie damit der Eintönigkeit von routinisierten Abläufen entkommen. Eshat<br />

aber auch krankmachende Tendenzen. Zudem haben Menschen aufgrund einer<br />

geistigen Behinderung oder einer chronischen – gerade psychischen – Krankheit<br />

sehr viel schlechtere oder garkeine Aussichten, in den ersten Arbeitsmarkt integriert<br />

zu werden. Auch das wiederum hat krankmachende Tendenzen.<br />

Dritter Punkt: Wenn ein eventuell auch durch die Arbeit krankgewordener<br />

Mensch in ein Krankenhaus kommt, so wird er Teil eines Gesundheitssystems,<br />

8<br />

Siehe dazu Kickbusch, 36ff.


1. Soziologische Überlegungen 23<br />

das selbst unter starkem ökonomischen Druck steht. Gegenwärtig führende<br />

Medizinethiker wie Giovanni Maio beschreiben differenziert, wie das Gesundheitssystem<br />

zunehmend vom (technisch)-ökonomischen Paradigma bestimmt<br />

wird. 9 Wirtschaftliche Überlegungen haben schon lange oder vielleicht auch<br />

schon immer eine Rolle in der Entwicklung und Anwendung des Gesundheitssystems<br />

und der ärztlichen Heilkunst gespielt. Niemand befürwortet, dass unnötige<br />

oder unnötig teure Diagnosen oder Therapien durchgeführt werden. Neu<br />

ist in den letzten 30 Jahren allerdings, dass das ökonomische Denken das medizinische<br />

zu bestimmen beginnt. Die Rationalität des Marktes und der Gewinnmaximierung<br />

beginnt auf allen Ebenen, die Rationalität der Medizin unddes<br />

Gesundheitssystems zu prägen. Wir erleben die Invasion eines Subsystems der<br />

Gesellschaft (der Ökonomie) in ein anderes Subsystem (die Medizin).<br />

Die tieferen Gründe dieser Invasion sind vielfältig und reichen teils weit<br />

zurück. Sicher zählt die gesamtgesellschaftliche Bewegung der Beschleunigung<br />

dazu, die ich im nächsten Abschnitt genauerinden Blick nehme. Sicher hat auch<br />

die Dominanz abstrahierend-naturwissenschaftlichen Denkens in der Medizin<br />

dem vorgearbeitet. Im Gefolge dieses Denkens wird der Mensch gleichsam als<br />

Maschine angesehen, an der verschiedene Teile kaputt gehen können, die dann<br />

auf biomedizinischer Ebene zu reparieren und auszutauschen sind. Solch ein<br />

Denken ebnet den Weg hin zu einem ökonomischen Blick auf medizinische<br />

Vollzüge. – So wichtig alle tieferliegenden Gründe sind, so begann die direkte<br />

Invasion des ökonomischen Denkens durch eine politische Entscheidung an einem<br />

genau datierbaren Termin: als nämlich am 01.01.1993 das neue Gesundheitsstrukturgesetz<br />

in Kraft trat und mit ihm ein neues Abrechnungswesen für<br />

das gesamte Gesundheitswesen. Bis zu dem Zeitpunkt wurden die Kosten für eine<br />

Behandlung imNachhinein erstattet, also retrospektiv. Nach der Behandlung in<br />

einem Krankenhaus machte das Krankenhaus die real entstandenen Kosten einer<br />

Behandlung geltend. Seit 1993 hingegen gilt das Fallpauschalensystem<br />

(DRG). Damit ist von vorneherein festgelegt, wieviel Geld ein Krankenhausfür die<br />

Behandlung von diesem oder jenem Krankheitsfall an Geld erhält. Ebenso<br />

wichtig: Die einzelnen Krankenhäuser und die niedergelassenen Ärzte müssen<br />

mit dem damit budgetierten Geld auskommen. Das finanzielle Risiko trägt somit<br />

nicht mehr die Allgemeinheit oder die Politik, sondern das jeweilige Krankenhaus.<br />

Um überhaupt als Krankenhaus weiter existieren zu können, gewinnt das<br />

ökonomische Denken an Einfluss. Faktisch steht es dabei oftmals in Spannung zu<br />

medizinischem Denken und beginnt, das medizinische Denken zu verändern.<br />

Das sei in Bezug auf die Tätigkeit und das Denken der Ärzte, in Bezug auf die<br />

Sicht auf die Patienten und in Bezug auf die Patientenbeziehung etwas genauer<br />

erläutert. – Klar ist, dass die folgenden Beobachtungen selbst wieder pointierte<br />

Vereinfachungen darstellen, dass es somit viele einzelne Ärzte, Praxen und<br />

9<br />

Majo, Geschäftsmodell Gesundheit.


24 Erster Teil: »<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>!«<br />

Kliniken gibt, die sich gegen diese Entwicklungen wehren und weiterhin gute<br />

Medizin unter dem Primat medizinischen Denkens ausüben. Aber der angedeutete<br />

Druck existiert, und die nun genauer zu skizzierenden Veränderungen<br />

vollziehen sich ebenso langsam und schleichend wie – auf das Ganze gesehen –<br />

wirkungsvoll.<br />

In Bezug auf die Ärzte kann man zwischen einer eher praktischen undeiner<br />

eher grundlegenden Veränderung ihrer Tätigkeiten unterscheiden. Auf der<br />

praktischen Ebene gilt, dass die Patienten schon bei der Diagnostik daraufhin<br />

angeschaut werden, welcher abrechenbare Fall hier vorliegen könnte. 10 Das führt<br />

bisweilen bei Privatpatienten zu Überdiagnostizierung und bei multimorbiden<br />

und gerade bei älteren und sozial schwächeren Patienten zuUnterdiagnostizierungen:<br />

Es wird nicht immer alles erkannt oder benannt, was in einem umfassenden<br />

Krankheitsbild vorliegen könnte. Auch die Therapie erfolgt so, dass sie<br />

sich im Rahmen der in der Fallpauschale vorgegebenen Handlungsweise vollzieht.<br />

Entsprechend wird der Patient auch im Krankenhaus nach sehr viel kürzerer<br />

Verweildauer als früher wieder entlassen. Denn das Krankenhaus erhält<br />

eine festgelegte Summe pro Fall und verdient damit mehr, wenn dieser Fall das<br />

Krankenhaus schon nach 5Tagen verlässt und nicht erst nach 7oder 9Tagen.<br />

In all diesen Veränderungen vollziehen sich tieferliegende Veränderungen<br />

von mentalen Großlagen und damit von ärztlichenDenkmustern undWeisen der<br />

Ausübung der ärztlichen Kunst. Die ärztliche Kunst besteht auch darin, sich in<br />

aufmerksam wahrnehmenderWeise undmit Sorgfalt dem einzelnen Patientenin<br />

seinem besonderen, einzigartigen Zustand zu widmen. Dann gilt es unter Berücksichtigung<br />

des ärztlichen Wissens gemeinsam mit dem Patienten einen für<br />

diese Situationpassenden und daher oftmals erst kreativ zu entwickelndenWeg<br />

des Heilens zu betreten, der Zeit braucht und in Geduld begleitet werden muss.<br />

Demgegenüber bewirkt die Invasion des ökonomischen Denkens, dass der einzelne<br />

Patient in seinem einzigartigen Zustand möglichst schnell unter einen der<br />

Fälle der Fallpauschale subsumiert wird. Ebenso wird die Therapie so festgelegt<br />

und vollzogen, dass sie unter die Fallpauschale gefasst werden kann. Damit<br />

besteht die Gefahr, dass die individuelle, umfassende Diagnose sowie das Suchen<br />

nach kreativ-passenden Lösungen nicht immer hinreichend Gewicht erhalten. Sie<br />

werden technisiert und standardisiert. Und da Zeit Geld ist, wird auch nicht<br />

immer hinreichend Raum gegeben für den mit Sorge und Sorgfalt begleiteten<br />

Heilungsprozess. Die Ökonomisierung und die Beschleunigung gehen Hand in<br />

Hand und treiben einander weiter an. – Das verändert auch die ärztlichen<br />

Denkmuster: Sie werden auf Standardisierung geprägt, die jeweils auf Teilaspekte<br />

des ganzen Patienten angewendet werden.Das ganzheitliche Herangehen<br />

gerät zunehmend unter Druck. – Die Ärzte selber erleben diese Veränderungen<br />

oftmals und benennen sie als problematisch, ohne sich ihnen ganz entziehen zu<br />

10<br />

Majo, 25ff.


1. Soziologische Überlegungen 25<br />

können. Sie spüren auch die Folgen für sich selbst davon: Die Freude an der<br />

Arbeit nimmt ab, da diese doch auch aus dem ganzheitlichen Herangehen an<br />

einen individuellen Patienten entspringt.<br />

Die Umstellung im Gesundheitssystem wird noch deutlicher, wenn neben<br />

dem Bild des Arztes auch das des Patienten und die Arzt-Patienten-Beziehung<br />

eigens in den Blick kommen. Der Patient wird nicht ausschließlich als Patient<br />

gesehen – also als ein hilfsbedürftiges krankes Individuum, dem jede medizinische<br />

Hilfe zukommensoll –,sondern auch als ein Kunde, mit dem eine Art von<br />

Vertragsverhältnis abgeschlossen wird. 11 Dem Kunden gegenüber soll der Arzt<br />

messbare Leistungen vollbringen, ohne sich in einem tieferen Sinne auf den<br />

Kunden einzulassen. Zudem wird dabei vorgegaukelt, dass ärztliche Leistungen<br />

fast alles vollbringen können. Der Arzt erscheint als Macher, dem fast keine<br />

Grenzen gesetzt sind.<br />

Das ignoriert aber, wie angewiesen gerade kranke und schwache Menschen<br />

auf ein Vertrauensverhältnis mit dem Arzt sind. Dieses Vertrauensverhältnis ist<br />

durch tiefere, ganzheitlichere Beziehungen charakterisiert, als sie zu einem<br />

Kunden aufgebaut werden. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass man auch einmal<br />

länger zuwarten muss, als man das in einem normalen Kundenverhältnis tun<br />

kann. Das umfasst auch,zusammen die Grenzen der Heilkunst zu erleben und zu<br />

erleiden und darüber inein gutes Gespräch zu kommen. Sonst werden falsche<br />

Erwartungengewecktoder gar unnötige Therapien angeordnet, die das Leid der<br />

Patienten nur verlängern. Weiter verändert sich die Arzt-Patienten-Beziehung,<br />

wenn die Ärzte für bestimmte Behandlungen einen finanziellen Bonus bekommen<br />

und vielleicht deshalb diese Behandlung vollziehen. 12<br />

Dieses ökonomisierte Denken überschätzt zudem, wieviel Patientenfür ihre<br />

Gesundheit tun können. Es überbetont die Eigenverantwortung, welche selbstredend<br />

auch mit besteht. Sie unterschätzt aber, wieviele strukturelle Faktorenim<br />

Spiel sind, wenn es darum geht, diese Eigenverantwortung auch real ausüben<br />

zu können. Menschen aus weniger privilegierten sozialen Milieus haben oftmals<br />

weder die ökonomischen Voraussetzungen noch die Bildungsvoraussetzungen<br />

und auch keinen eingeübten Lebensstil, der einem entsprechend <strong>gesund</strong>en Lebensstil<br />

zuhilft.<br />

Mit anderen Worten: Dieses Denken ist gegenüber den Patienten unsozial,<br />

weil es faktisch gerade die älteren, multimorbiden Patienten benachteiligt und<br />

die sozial weniger Privilegierten. Zudem ist es auf höchst problematische Weise<br />

moralisierend, weil Krankheit dann leicht als Schuld des Einzelnen erscheint. 13<br />

Dieses Denken ist zudem für die Ärzte problematisch, weil es sie demotiviert und<br />

sie zwingt, sich primär als standardisierend-ökonomisierend arbeitende Exper-<br />

11<br />

12<br />

13<br />

Siehe dazu Majo, 91ff.<br />

Siehe dazu Majo, 112 ff.<br />

Siehe dazu auch Majo, 131 ff.


26 Erster Teil: »<strong>Hauptsache</strong> <strong>gesund</strong>!«<br />

ten anzusehen und weniger als Ausüber einer umfassend-kreativenHeilkunst. –<br />

In all dem entzieht es dem Gesundheitssystem ein für sein eigenes Funktionieren<br />

wesentliches Gut: das Vertrauen der Patienten. Denn diese wissenja(mehr oder<br />

weniger genau) um die Ökonomisierung des Gesundheitswesens und stellen<br />

sich umso öfter die Frage, ob sie dem Arzt, der sie behandelt, noch vertrauen<br />

können: Schlägt er diese Therapie vor, weil sie mir nützt, oder weil er damit viel<br />

Geld verdient? Kaum aber etwas ist für das Gesundwerden eines kranken<br />

Menschen wichtiger als ein gutes Vertrauensverhältnis zum behandelnden Arzt.<br />

Dieses Vertrauensverhältnis ist selbst wesentlicher Teil der Therapie. Fehlt es<br />

oder wird es zweifelhaft, so verzögert sich Heilung. Somit untergräbt die Invasion<br />

des ökonomischen Denkens nicht nur die medizinische Kunst, sondern bringt<br />

selbst auch hohe ökonomische Folgekosten mit sich.<br />

In den bisherigen Überlegungen wurde mehrfach angedeutet, dass die<br />

Ökonomisierung der Gesundheit auf den verschiedenen Ebenen verbunden ist<br />

mit einem anderen grundlegenden Phänomenunserer Zeit, der Beschleunigung.<br />

Einerseits ist die Ökonomisierung der Gesundheit Ausdruck der allgemeinen<br />

Beschleunigung. Andererseits vollzieht sich diese Beschleunigung unter anderem<br />

auch durch die Ökonomisierung der Gesundheit und bekommt durch diese<br />

zusätzliche Wucht. Um das genauer zuverstehen, schaue ich mir die Veränderung<br />

der Weise an, wie die westlichen Gesellschaften in den letzten 20 oder<br />

30 Jahren mit der Zeit umgehen.Sie scheintimmer schneller zu laufen, bis hin zu<br />

demjenigen rasenden Stillstand, den viele Menschen gegenwärtig erleben.<br />

1.2.4 Gesundheit in der beschleunigten Gesellschaft<br />

Zeit und Raum sind nicht nur Größen der Physik, sondern wesentlich auch Dimensionen,<br />

die durch verschiedene Gesellschaften in verschiedenen Zeiten unterschiedlich<br />

gestaltet werden. Inder Moderne war die Zeit in zweifacher Hinsicht<br />

geschichtlich gestaltet: Zum einen waren sich die Menschen der Differenz<br />

zu ihrer Vergangenheit bewusst. Zum anderen wurde die geschichtlich gewordene<br />

Zeit durch»große Erzählungen« organisiert, die vom Anfang, vom Aufstieg<br />

und vom Höhepunkt (sowie evtl. vom Fall) eines Unternehmens, einer Nation<br />

oder der gesamten Menschheit künden. Umden Aufstieg eines Unternehmens<br />

oder einer Nation zu ermöglichen, wird die Zeit dann metrisch: Sie wird in beherrschbare<br />

Einheiten eingeteilt, innerhalb derer nach der Stechuhr gehandelt<br />

wird. 14 Auch die Zeit wird somit auf einen umfassenden Bereichausgedehntund<br />

dieser dann so strukturiert, dass sich in ihm eine Ordnung ergibt und Verortungen<br />

möglich werden. 15<br />

In den letzten vierzig Jahren – und verstärkt in den letzten zwanzig – ereignet<br />

sich nun die weithin erlebbare Verflüssigung dieser modernen Zeitkon-<br />

14<br />

15<br />

Siehe auch Bauman, Flüchtige Moderne, 138 f.<br />

Siehe dazu auch Sennett, Die Kultur, 30–34.


<strong>Martin</strong> <strong>Wendte</strong>, Dr. theol., Jahrgang 1974, hat Evangelische Theologie<br />

in Heidelberg, Berlin, London und Göttingen studiert. Gegenwärtig<br />

arbeitet er als Pfarrer an der Friedenskirche in Ludwigsburg<br />

und Citykirchenpfarrer. Zugleich unterrichtet er als apl. Professor<br />

an der Eberhard Karls-Universität Tübingen und als ständiger<br />

Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg.<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

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Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Satz: 3w+p, Rimpar<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-07041-1 // eISBN (PDF) 978-3-374-07042-8<br />

www.eva-leipzig.de

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