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Martin Wendte: Hauptsache gesund! (Leseprobe)

Wie sind Gott und Corona zusammenzudenken? Und welche Herausforderungen stellen sich der Kirche in und nach der Pandemie in der Gesundheitsgesellschaft? Um diese Fragen zu beantworten, wird im ersten Teil unsere Gesellschaft mit Rückgriff auf soziologische Erkenntnisse als »Gesundheitsgesellschaft« analysiert. Im zweiten Teil wird unter Rückgriff auf das Markusevangelium Jesus als Heiler, Heiland und Befreier dargelegt und in systematisch-theologischer Perspektive ein ganzheitlicher Gesundheitsbegriff entwickelt. Im dritten Teil werden die bisherigen Überlegungen zusammengefasst, ehe im vierten Teil das Handeln Gottes in der Pandemie zum einen als Handeln des »verborgenen Gottes« gedeutet wird. Zum anderen wird der Aufgabe der Kirche nachgedacht. Die Kirche soll einerseits Gott klagen. Andererseits soll sie im Aufsehen auf Jesus den Heiler, Heiland und Befreier als Vorkämpferin eines ganzheitlichen Gesundheitsbegriffes auftreten. Schuld und Sterben kommen dabei ebenso zur Sprache wie die politischen Dimensionen der Gesundheit.

Wie sind Gott und Corona zusammenzudenken? Und welche Herausforderungen stellen sich der Kirche in und nach der Pandemie in der Gesundheitsgesellschaft? Um diese Fragen zu beantworten, wird im ersten Teil unsere Gesellschaft mit Rückgriff auf soziologische Erkenntnisse als »Gesundheitsgesellschaft« analysiert. Im zweiten Teil wird unter Rückgriff auf das Markusevangelium Jesus als Heiler, Heiland und Befreier dargelegt und in systematisch-theologischer Perspektive ein ganzheitlicher Gesundheitsbegriff entwickelt. Im dritten Teil werden die bisherigen Überlegungen zusammengefasst, ehe im vierten Teil das Handeln Gottes in der Pandemie zum einen als Handeln des »verborgenen Gottes« gedeutet wird. Zum anderen wird der Aufgabe der Kirche nachgedacht. Die Kirche soll einerseits Gott klagen. Andererseits soll sie im Aufsehen auf Jesus den Heiler, Heiland und Befreier als Vorkämpferin eines ganzheitlichen Gesundheitsbegriffes auftreten. Schuld und Sterben kommen dabei ebenso zur Sprache wie die politischen Dimensionen der Gesundheit.

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1. Soziologische Überlegungen 21<br />

system der Religion und der Medizin. Wie oben bereits angedeutet, gewann das<br />

Subsystem der Medizin seit dem 19. Jahrhundert Abstand vom Subsystem der<br />

Religion: Die Medizin wurde zunehmend als eine naturwissenschaftliche Disziplin<br />

verstanden, bei der es um das Funktionieren von Organen ging, nicht um das<br />

Seelenheil. In ganz eigener Weise und gleichsam unter der Führung der Medizin<br />

nähern sich beide wieder an, wenn körperliche Fitness und die eigene Identität<br />

oder die Vorstellung vom gelingenden Leben enger verbunden werden.<br />

Der Theologe, Psychiater und Bestsellerautor Manfred Lütz hat diese Entwicklung<br />

pointiert wie folgt zusammengefasst: »Unsere Vorväter bauten Kathedralen,<br />

wir bauen Krankenhäuser. Unsere Vorväter retteten ihre Seelen, wir<br />

retten unsere Figur. Im Jahr 2000 waren in Deutschland das erste Mal mehr<br />

Menschen Mitglied in einem Fitnessklub, als es Besucher eines durchschnittlichen<br />

römisch-katholischen Sonntagmorgen-Gottesdienstes gab.« »Die Leute<br />

glauben nicht mehr an Gott, sie glauben an dieGesundheit. Alles, was siefrüher<br />

für Gott taten, tun sie nun für ihre Gesundheit: Fasten, gute Werke tun, Pilgerfahrten<br />

unternehmen.« 6<br />

Im vorherigen Absatz wird die Gesundheitsgesellschaft vor allem in ihren<br />

negativen Dimensionen in den Blick genommen. Damit wird ein einseitigesBild<br />

von ihr gezeichnet, da sie ein mindestens ambivalent zu beurteilendes Großphänomen<br />

ist. Auch in theologischer Hinsicht ist vielen Aspekten der Gesundheitsgesellschaft<br />

ausgesprochen Positives abzugewinnen. Denn wenn man die<br />

erneut erreichte Kopplung von Fitness und gelingendem Leben oder von Medizin<br />

und Religionpositiv bewerten will, so spiegelt sich in ihr unter den Bedingungen<br />

der technologisch hochentwickelten, sich dynamisierenden und virtualisierenden<br />

Spätmoderne auch die Wiederentdeckung des Leibes und der Leiblichkeit<br />

wider. Der Megatrend gibt dem Bedürfnis Ausdruck, sich zu spüren. 7 Theologisch<br />

gesprochen: Die Schöpfungstheologie samt der Theologie des Leibes und eines<br />

leiblich verstandenen Selbst werden wichtiger, und das ist auch gut so. Der<br />

Megatrend Gesundheit kann somit auch als Ausdruck des schöpfungsgemäßen<br />

Umgangs des Leibwesen Menschen mit sich selbst verstanden werden. Sie ist<br />

daher auch in praktischer Perspektive positiv weiterzuentwickeln, etwa in Gottesdiensten,<br />

die ganzheitlich orientiert sind. – Diese positive Sichtweise wird in<br />

diesem Buch insofern aufgenommen, als in theologischer Hinsicht ein positiver<br />

Begriff von Gesundheit entwickelt wird. Die strukturellen Hinsichten davon<br />

6<br />

M. Lütz, Lebenslust: wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-<br />

Kult; ein Buch über Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheit und darüber, wie man<br />

länger Spaß am Leben hat, 2002, 38.<br />

7<br />

Siehe zu einer Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft als technisch hochentwickelter,<br />

sich dynamisierender und digitalisierender samt der Wiederentdeckung der Leiblichkeit<br />

auch M. <strong>Wendte</strong>, Die Gabe und das Gestell: Luthers Metaphysik des Abendmahls im technischen<br />

Zeitalter, (Collegium Metaphysicum 7), 2013.

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