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Rainer Goltz: Zeigen, worauf es ankommt (Leseprobe)

Die religionspädagogische Forschung hat auf die anhaltende Krise des Religionsunterrichts, die sich in stetig schrumpfenden Lerngruppen und der immer weniger vorhandenen Vertrautheit mit »Religiosität« manifestiert, keine erfolgversprechende Antwort gefunden. Die systemischen Reaktionen sind eher ein Verwalten der Krise, die unterrichtlichen Reaktionen in Form einer Versachkundlichung oder Ethisierung entsprechen einer Preisgabe des Wesens der Religion. Als Kontrast zu diesen Trends entwirft das Buch auf der Basis von systematisch-theologischen Überlegungen zum Wesen des Glaubens und seiner Darstellbarkeit eine religionspädagogische Skizze von Unterricht, die das Verständnis der schulischen Vermittlung von Religion aufweitet und ihr selbst nicht nur als Objekt der Betrachtung, sondern auch als sich zeigendes Subjekt Raum gibt und so die Lebensbewegung des Glaubens für Lernende erfahrbar werden lassen kann.

Die religionspädagogische Forschung hat auf die anhaltende Krise des Religionsunterrichts, die sich in stetig schrumpfenden Lerngruppen und der immer weniger vorhandenen Vertrautheit mit »Religiosität« manifestiert, keine erfolgversprechende Antwort gefunden. Die systemischen Reaktionen sind eher ein Verwalten der Krise, die unterrichtlichen Reaktionen in Form einer Versachkundlichung oder Ethisierung entsprechen einer Preisgabe des Wesens der Religion.
Als Kontrast zu diesen Trends entwirft das Buch auf der Basis von systematisch-theologischen Überlegungen zum Wesen des Glaubens und seiner Darstellbarkeit eine religionspädagogische Skizze von Unterricht, die das Verständnis der schulischen Vermittlung von Religion aufweitet und ihr selbst nicht nur als Objekt der Betrachtung, sondern auch als sich zeigendes Subjekt Raum gibt und so die Lebensbewegung des Glaubens für Lernende erfahrbar werden lassen kann.

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Theologie| Kultur | Hermeneutik<br />

<strong>Rainer</strong> <strong>Goltz</strong><br />

<strong>Zeigen</strong>, <strong>worauf</strong> <strong>es</strong> <strong>ankommt</strong><br />

Religionsunterricht in Zeiten d<strong>es</strong><br />

religiösen Wahrnehmungsverlust<strong>es</strong>


Vorwort<br />

Wenn ich <strong>es</strong> mir als systematischer Theologe erlaube, ein Geleitwort für eine<br />

religionspädagogische Intervention zu schreiben, dann nicht nur d<strong>es</strong>halb, weil<br />

ich selbst auf Schulerfahrung zurückblicke und mir die religionspädagogische<br />

Perspektive w<strong>es</strong>entlich zu sein scheint, sondern auch, weil die Arbeit einen<br />

Punkt dokumentiert, den ich für entscheidend halte: die enge Zusammengehörigkeit<br />

von Systematischer Theologie und Religionspädagogik. Sowohl die Religionspädagogik<br />

als auch die Systematische Theologie haben die »Kommunikation<br />

d<strong>es</strong> Evangeliums« zu ihrer Aufgabe, beiden geht <strong>es</strong> um eine Theorie für die Praxis,<br />

insofern sie den Glauben in der Gegenwart zu verantworten haben. Setzt die<br />

Religionspädagogik einen pragmatisch-instruktiven Schwerpunkt (Wie kann in<br />

den unterschiedlichen Praxissituationen der Glaube verantwortet werden?), so<br />

setzt die Systematische Theologie hingegen einen inhaltlich-konstruktiven<br />

Schwerpunkt (Was gilt <strong>es</strong> für die Gegenwart zu verantworten?), m.a.W.: Die Religionspädagogik<br />

arbeitet in erster Linie an den Fragen der angem<strong>es</strong>senen Kommunikation<br />

d<strong>es</strong> Glaubens, die Systematische Theologie an dem Verstehen d<strong>es</strong><br />

Glaubens. Es zeigt sich aber, dass <strong>es</strong> sich hier nur um unterschiedliche Schwerpunktsetzungen<br />

handelt, in der Vergangenheit wurden beide Schwerpunkte<br />

auch zusammen bearbeitet (man denke hier nur an Martin Luther oder Friedrich<br />

Schleiermacher). Gerade von Seiten der Systematischen Theologie ist daher zur<br />

Kenntnis zu nehmen, dass die Religionspädagogik ja nicht einfach eine Didaktik<br />

der Systematischen Theologie (oder einer anderen theologischen Disziplin oder<br />

der G<strong>es</strong>amtheit der theologischen Disziplinen) ist, die nur die Frage behandelt,<br />

wie die Ergebnisse der Systematischen Theologie (und der anderen theologischen<br />

Disziplinen) didaktisch umg<strong>es</strong>etzt werden können (im Sinne von: »Wie<br />

sag ich <strong>es</strong> meinem Kind?«). Vielmehr reflektiert sie den Gegenstand inhaltlich,<br />

den <strong>es</strong> pädagogisch umzusetzen gilt, von seiner pädagogischen Umsetzbarkeit<br />

her und leistet dabei einen Beitrag für das Verstehen d<strong>es</strong> Gegenstand<strong>es</strong> selbst.<br />

Gerade daher ist die in der Religionspädagogik geleistete Reflexion der Praxis<br />

für die Systematische Theologie und ihre Theoriebildung von erheblicher Bedeutung.<br />

Insofern sind Systematische Theologie und Religionspädagogik zwei Seiten<br />

einer Medaille.


8<br />

Vorwort<br />

Das vorliegende Buch zeigt die enge Zusammengehörigkeit von Systematischer<br />

Theologie und Religionspädagogik auf das Deutlichste, insofern das Buch --- wie<br />

auch die Person sein<strong>es</strong> Autors, der in Systematischer Theologie promoviert wurde<br />

und als Religionslehrer und Fachseminarleiter für evangelische Religionslehre<br />

arbeitet --- der Religionspädagogik wie der Systematischen Theologie gleichermaßen<br />

verpflichtet ist. Dabei wird vor allem die fundamentaltheologische<br />

Perspektive für die Frage nach der Ausg<strong>es</strong>taltung d<strong>es</strong> Religionsunterrichts<br />

fruchtbar gemacht. Was mich vor allem als Systematiker fasziniert: Die Frage<br />

nach der Ausg<strong>es</strong>taltung d<strong>es</strong> Religionsunterrichts erlaubt einen neuen Blick auf<br />

die fundamentaltheologische Perspektive: die Frage nach dem W<strong>es</strong>en d<strong>es</strong> christlichen<br />

Glaubens. Insofern verdeutlicht der Autor, wie Didaktik zu einem Lehrstück<br />

der Hermeneutik wird.<br />

Eine zweite Bemerkung erlaube ich mir: Meiner Beobachtung nach fehlt der<br />

wissenschaftlichen Literatur oft die Sicht d<strong>es</strong> Praktikers (Fachberater, Fachleiter<br />

und Lehrer), der viel »echten« Unterricht sieht und daher einen guten Einblick in<br />

die alltägliche Praxis hat. Di<strong>es</strong>er Einblick ist vor allem d<strong>es</strong>halb wichtig, weil er<br />

eine entscheidende Ergänzung zur empirischen Unterrichtsforschung darstellt,<br />

die eben immer auch durch ihre Methodik b<strong>es</strong>timmt ist und nur einen spezifischen<br />

Einblick gewinnen kann. Di<strong>es</strong> ist vor allem im Blick auf die Schülerinnen<br />

und Schüler der Fall, die sich natürlich z.B. in Befragungen noch einmal anders<br />

geben als im direkten und vertrauten Kontakt. In ihrem Zugriff auf die unmittelbare<br />

Erfahrung der Situation ist die Arbeit eine Art teilnehmende Beobachtung,<br />

eine Methode, die gerade in der Kulturanthropologie Bedeutung hat, weil sie<br />

Aspekte zugänglich macht, die sich in empirischen Untersuchungen so nicht<br />

zeigen würden. Insofern der Autor so die Situation wahrnimmt und reflektiert,<br />

zeigt er exemplarisch was Theologie ist: Wahrnehmen und Verstehen.<br />

Michael Roth


Inhalt<br />

1 Einleitung ........................................................................................................... 11<br />

2 Der Religionsunterricht in der Gegenwart --- Erfolge und Scheitern ........ 15<br />

2.1 Die Erfolge d<strong>es</strong> Religionsunterrichts .................................................... 16<br />

2.2 Die Krise d<strong>es</strong> Religionsunterrichts ....................................................... 17<br />

2.2.1 Annäherungen an die Krise ....................................................... 17<br />

2.2.2 Die Ausgangslage --- Die Krise benennen ................................. 21<br />

2.2.3 Dimensionen der Krise ............................................................... 24<br />

2.2.4 Gründe für die Krise .................................................................... 26<br />

3 Die Anliegen d<strong>es</strong> Religionsunterrichts .......................................................... 31<br />

3.1 Anliegen d<strong>es</strong> Religionsunterrichts --- Religiöse Bildung ................... 31<br />

3.1.1 Die lehrhafte Entfaltung von Religion ...................................... 32<br />

3.1.2 Die Dimensionen der Welt erschließen.................................... 34<br />

3.1.3 Kein Anliegen d<strong>es</strong> Fachs --- Werteerziehung ........................... 38<br />

3.1.4 Kein Anliegen d<strong>es</strong> Fachs --- Sinnvermittlung .......................... 41<br />

3.2 Das andere Anliegen d<strong>es</strong> Religionsunterrichts .................................. 44<br />

3.2.1 »Reden über Religion« und »Religiöse Rede« .......................... 45<br />

3.2.2 Religion zeigen ............................................................................. 47<br />

4 Reaktionen auf die Krise --- und ihr Scheitern .............................................. 53<br />

4.1 Unterrichtliche Reaktionen auf die Krise ............................................ 53<br />

4.2 Konzeptionelle Reaktionen auf die Krise ............................................ 56<br />

5 Die Religion d<strong>es</strong> Religionsunterrichts ........................................................... 65<br />

5.1 Der Glaube als Inhalt der Religiösen Rede .......................................... 66<br />

5.1.1 Die Wahrheit der Lebensbewegung d<strong>es</strong> Glaubens ................. 66<br />

5.1.2 Die Unterschiedlichkeit der Erfahrungen im Lichte d<strong>es</strong><br />

Glaubens --- G<strong>es</strong>etz und Evangelium ......................................... 69<br />

5.1.3 Die Erfahrung der Abscondität Gott<strong>es</strong> ..................................... 71<br />

5.1.4 Konsequenzen der Unterscheidung der Erfahrungen<br />

Gott<strong>es</strong> ............................................................................................. 72<br />

5.2 Religion im schulischen Kontext .......................................................... 74<br />

5.2.1 Religion und ihre lehrhafte Entfaltung .................................... 74<br />

5.2.2 Der Lebensbewegung d<strong>es</strong> Glaubens unterrichtlich Raum<br />

geben .............................................................................................. 79<br />

6 Religion zur Sprache bringen ......................................................................... 83<br />

6.1 Sprechen statt handeln ........................................................................... 83<br />

6.2 Qualifiziert Sprechen --- Sprechakte im Unterricht ............................ 85<br />

6.2.1 Die Sprechakte von Lernenden.................................................. 86<br />

6.2.2 Die Sprachakte von Lehrenden ................................................. 90<br />

6.2.3 Formen der unterrichtlichen Rede von Lehrkräften .............. 92<br />

6.3 Religion zeigen ......................................................................................... 94


10<br />

Inhalt<br />

6.3.1 Unterrichtlich<strong>es</strong> <strong>Zeigen</strong> und religiöse Rede ............................ 94<br />

6.3.2 Die gezeigte Religion und die Religion der Lehrkraft ........... 98<br />

6.4 Die Lernenden --- qualifiziert Hörende ............................................... 100<br />

6.4.1 Das Hören als Schonraum ........................................................ 101<br />

6.4.2 Religiöse Rede hören ................................................................. 102<br />

7 Konsequenzen ................................................................................................. 111<br />

7.1 Konsequenzen für den Religionsunterricht ...................................... 113<br />

7.1.1 Konf<strong>es</strong>sioneller Religionsunterricht ....................................... 113<br />

7.1.2 Religionsunterricht in konf<strong>es</strong>sionell gemischten<br />

Lerngruppen ............................................................................... 115<br />

7.2 Konsequenzen für die Ausbildung von Religionslehrern .............. 119<br />

7.2.1 Die universitäre Ausbildung von Religionslehrerinnen<br />

und Religionslehrer ................................................................... 120<br />

7.2.2 Die zweite Phase der Lehramtsausbildung ........................... 123<br />

8 Fazit ................................................................................................................... 125<br />

Literaturverzeichnis............................................................................................... 129


1 Einleitung<br />

Der schottisch-amerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre stellt in seinem<br />

Hauptwerk »Der Verlust der Tugend« ein Gedankenexperiment vor, das illustrieren<br />

soll, wie Bedeutungen und die Kenntnis von Phänomenen hinter bekannten<br />

Begriffen verschwinden können, obwohl die Begriffe in scheinbar ähnlicher<br />

Weise weiterhin im Gebrauch sind. 1 Er entwirft dazu eine Welt, in der naturwissenschaftliche<br />

Begriffe nur noch als leere Hüllen existieren und niemand mehr<br />

die durch sie prädizierten Phänomene kennt oder die durch sie b<strong>es</strong>chriebenen<br />

G<strong>es</strong>etze versteht. Das Gedankenexperiment beginnt damit, dass alle Naturwissenschaftlerinnen<br />

und Naturwissenschaftler --- und mit ihnen die meisten naturwissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse --- verschwunden sind, <strong>worauf</strong> hin die Menschen<br />

versuchen aus den übrig gebliebenen Bruchstücken --- einzelne Seiten von<br />

Büchern, fragmentarisch<strong>es</strong> Wissen um Versuche und ihren Aufbau oder Laborgerät,<br />

deren Funktion unklar geworden ist --- »die Wissenschaften wiederzubeleben,<br />

wenngleich sie verg<strong>es</strong>sen haben was sie einmal waren. […] Trotzdem werden<br />

alle di<strong>es</strong>e Bruchstücke in einen Rahmen von Betätigungen eingeordnet, die<br />

wieder die alten Bezeichnungen Physik, Chemie und Biologie erhalten. […] Kinder<br />

lernen die übrig gebliebenen Teile der Tabelle d<strong>es</strong> periodischen Systems<br />

auswendig und rezitieren wie Zauberformeln einige euklidische Lehrsätze. Niemand,<br />

oder fast niemand, erkennt, dass das, was hier gemacht wird, überhaupt<br />

nichts mit Naturwissenschaften in irgendeinem vernünftigen Sinne zu tun hat.<br />

Denn all<strong>es</strong>, was sie tun und sagen, entspricht b<strong>es</strong>timmten Regeln der Konsistenz<br />

und Kohärenz, und jene Zusammenhänge, die notwendig wären, damit das, was<br />

gemacht wird, einen Sinn ergibt, sind vielleicht unwiederbringlich verloren. In<br />

einer solchen Kultur würden die Menschen Begriffe wie Neutrino, Masse, spezifisch<strong>es</strong><br />

Gewicht oder Atomgewicht systematisch und häufig miteinander verknüpft<br />

gebrauchen, was mehr oder weniger dem ähneln würde, wie derartige<br />

Begriffe in früheren Zeiten gebraucht worden waren, bevor die wissenschaftli-<br />

1<br />

Ich verdanke den Hinweis auf di<strong>es</strong><strong>es</strong> inter<strong>es</strong>sante Experiment von MacIntyre Roth,<br />

Warum wir Moralapostel nicht mögen und das Moralisieren verabscheuen, 14f.


12<br />

1 Einleitung<br />

chen Erkenntnisse in so hohem Maße verlorengingen. Doch viele der Ansichten,<br />

die dem Gebrauch di<strong>es</strong>er Begriffe zugrunde lagen, wären verlorengegangen, und<br />

ihre Anwendung würde jetzt ein Element von Willkür und sogar Beliebigkeit<br />

anhaften, das uns sehr überraschend erschiene« 2 .<br />

Was für den von MacIntyre gewählten naturwissenschaftlichen Zusammenhang<br />

eher unvorstellbar erscheint, ist im Religionsunterricht heute tägliche<br />

Routine. Jeden Tag werden Landauf und Landab theologische Begrifflichkeiten,<br />

religiöse Sprache und christliche Symboldeutung in einer Art und Weise bemüht,<br />

die auf den ersten Blick nicht so verschieden ist von dem, was schon vor<br />

Jahrzenten so im Religionsunterricht g<strong>es</strong>agt und gedacht wurde. Und doch sind<br />

di<strong>es</strong>e erlernten Begriffe und die Regeln, nach denen sie scheinbar sinnvoll und<br />

aussagekräftig kombiniert und verknüpft werden, merkwürdig inhaltsleer. Die<br />

Phänomene nämlich, die hinter di<strong>es</strong>en Begriffen liegen, die Religiosität, die sich<br />

in ihnen zum Erscheinen bringt, ist unbekannt geworden.<br />

Dazu g<strong>es</strong>ellt sich auch passend die kleine G<strong>es</strong>chichte, an der mich ein befreundeter<br />

Prof<strong>es</strong>sor für Systematische Theologie in einem G<strong>es</strong>präch über das<br />

Experiment von MacIntyre teilhaben ließ. Schon fast ritualisiert --- so erzählte er<br />

--- versucht er seine größtenteils Lehramtsstudierende zu Beginn d<strong>es</strong> Sem<strong>es</strong>ters<br />

mit folgenden Worten zu provozieren: »Religionsunterricht ist so etwas wie<br />

Mammutkunde. In ihr lernte man zur Zeit der Mammuts, wie di<strong>es</strong>e sich z.B.<br />

ernähren, fortpflanzen und wie sie zu Jagen sind. Über viele Jahre wurde so<br />

Mammutkunde betrieben und erfolgreiche Mammutjäger ausgebildet. Irgendwann<br />

ist dann aber das letzte Mammut ausg<strong>es</strong>torben. Nun mussten aber ja die<br />

Mammutkundelehrer weiterhin einer Tätigkeit nachgehen und seit dem unterrichtet<br />

man einfach weiter Mammutkunde vor sich hin und tut so, als würde<br />

man irgendwann schon wieder Mammuts jagen gehen können…«. In der Vergangenheit<br />

--- und das ist ja auch der Sinn di<strong>es</strong>er Einleitung --- waren Studierende<br />

der Theologie zunächst irritiert über di<strong>es</strong>e Aussage und legen im Folgenden<br />

energisch Einspruch ein, so dass sich ein reger Gedankenaustausch entzündet.<br />

Zunehmend verpufft aber die Wirkung und zunehmend ist nun er der Irritierte<br />

ang<strong>es</strong>ichts d<strong>es</strong> breiten Verständniss<strong>es</strong> und der zustimmenden Äußerungen zu<br />

di<strong>es</strong>er Provokation.<br />

Hinter der Erfahrung, dass insb<strong>es</strong>ondere Schülerinnen und Schüler zwar<br />

brav die christliche Terminologie und ihre dahinterstehende Grammatik erlernen<br />

und daraufhin auch mit einer gewissen Treffsicherheit anwenden, was dann<br />

auch entsprechend durch --- oft zu gute --- Noten honoriert wird, di<strong>es</strong>e Begriffe<br />

aber für sie belang-los und der Unterricht wie eine schulisch oktroyierte und<br />

daher nicht weiter zu hinterfragende Brauchtumspflege anmutet, steckt allerdings<br />

mehr als die fast schon zum guten Ton gehörende Aufregung über die<br />

veraltete und am Binnendiskurs orientierte Sprache der Kirche. Insofern greift<br />

2<br />

MacIntyre, Der Verlust der Tugend, 13f.


1 Einleitung 13<br />

auch die viral gegangene Kritik von Erik Flügge zu kurz, in der vor allem die<br />

Sprache --- aber natürlich auch Habitus und Kleidungsstil --- von Theologinnen<br />

und Theologen als »nicht mehr aus[zu]halten« 3<br />

analysiert werden. Die Kirche<br />

»verreckt« nicht an ihrer Sprache. Zumind<strong>es</strong>t nicht nur und auch nicht hauptsächlich.<br />

Wenn überhaupt verreckt sie daran, dass die Sensibilität der Menschen<br />

für das, was durch die Sprache prädiziert ist, verloren gegangen ist und daher<br />

der Eindruck der Inhaltsleere entsteht --- und sie nichts anzubieten weiß, um<br />

di<strong>es</strong>em Sachverhalt entgegenzuwirken. 4<br />

Di<strong>es</strong><strong>es</strong> Phänomen zeigt sich b<strong>es</strong>onders da, wo junge, neugierige Menschen,<br />

die gerade lernen sich in ihrer Welt zu orientieren und versuchen, die in<br />

(werk-)täglicher Konfrontation mit dem Weltwissen verabreichten geballten<br />

Informationen zu einem einheitlichen Bild von Sich-Selbst in der Welt --- und<br />

eventuell --- vor Gott zusammenzusetzen: in der Schule. Genauer: im schulischen<br />

Religionsunterricht.<br />

Wie di<strong>es</strong>e alltägliche Irritation von Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht<br />

und die Wahrnehmung der Unterrichtenden, sie würden vor allem als<br />

aus der Zeit gefallene Kuriositäten ang<strong>es</strong>ehen, genauer analysiert werden kann<br />

und wie <strong>es</strong> vielleicht sogar gelingt, bei Schülerinnen und Schülern wieder durch<br />

eine Sensitivität für »das Religiöse« Verstehen hinter den Begriffen zu stiften, ist<br />

Gegenstand di<strong>es</strong>er Untersuchung.<br />

3<br />

Flügge, Der Jargon der Betroffenheit, 15.<br />

4<br />

Mal davon abg<strong>es</strong>ehen, dass <strong>es</strong> natürlich wirklich schlechte Predigten gibt und eine<br />

spezifische Verwendungsweise von religiöser Sprache sich in weiten Teilen der Kirche<br />

f<strong>es</strong>tg<strong>es</strong>etzt hat, die sogar noch mehr Kopfschütteln auslösen würde, wenn der Gehalt der<br />

Begriffe der Mehrheit klarer wäre.


2 Der Religionsunterricht in der<br />

Gegenwart -- Erfolge und Scheitern<br />

Die Pluralität d<strong>es</strong> Religionsunterrichts in Deutschland ist vermutlich nicht zu<br />

überschätzen. Di<strong>es</strong> liegt daran, dass --- wie in allen Fächern --- die Bund<strong>es</strong>länder,<br />

die nun einmal die Hoheit in Bildungsfragen und damit über Lehrpläne, Ausbildung<br />

von Lehrerinnen und Lehrer, etc. haben, hierbei sehr unterschiedliche<br />

Wege gehen. Für den Religionsunterricht kommt nun noch hinzu, dass hier auch<br />

die verschiedenen Land<strong>es</strong>kirchen --- häufig mehrere in einem Bund<strong>es</strong>land --- mitmischen.<br />

Die faktische Pluralität ist darüber hinaus auch darin begründet, dass<br />

Unterricht letztlich weniger durch Lehrpläne oder Verwaltungsverfügungen der<br />

Schulaufsicht b<strong>es</strong>timmt ist als durch die Vorlieben, Marotten und Eigentümlichkeiten<br />

der Lehrkräfte und ihre --- mitunter seit Jahrzenten f<strong>es</strong>t und unverändert<br />

im Einsatz befindlichen --- je eigenen Materialien. Schließlich liegt <strong>es</strong> auch daran,<br />

dass der Religionsunterricht keine durch Verlage g<strong>es</strong>teuerte inhaltliche Systematik<br />

hat, wie sie andere Fächer durch ein --- zumind<strong>es</strong>t auf Länderebene --- dominant<strong>es</strong><br />

und an einer Mehrzahl der Schulen eingeführt<strong>es</strong> Lehrwerk erhalten.<br />

Vor allem aber liegt <strong>es</strong> an der Komplexität d<strong>es</strong> Schulfachs »Religion«. Das Fach<br />

ist schwer zu unterrichten 5 , weil <strong>es</strong> grundsätzlich »uncool« ist, wenig Motivation<br />

durch den fehlenden Fokus von Erziehenden erzeugt wird, einen komischen,<br />

veralteten und auch noch unklaren Gegenstand hat, und sich auch nach vielen<br />

Jahrzenten fachdidaktischer Diskussion --- von zeitlich eng gefassten Hochphasen<br />

einiger Konzeptionen mal abg<strong>es</strong>ehen --- keine dominante Didaktik für das Fach<br />

abzeichnet oder sich »typische Musterstunden«, wie <strong>es</strong> sie etwa für die Grammatikeinführung<br />

in einer modernen Fremdsprache gibt, abzeichnen. Und trotz<br />

di<strong>es</strong>er »schwierigen Ausgangsbedingungen« ist der Religionsunterricht erfolgreich.<br />

5<br />

Wird der häufig geäußerten Meinung von Referendarinnen und Referendaren Glauben<br />

g<strong>es</strong>chenkt, dann ist Religionsunterricht »viel schwerer als mein ander<strong>es</strong> Fach«.


16<br />

2 Der Religionsunterricht in der Gegenwart -- Erfolge und Scheitern<br />

2.1 Die Erfolge d<strong>es</strong> Religionsunterrichts<br />

Nach rechnerisch 972 6 Unterrichtsstunden im Fach »Evangelische Religionslehre«<br />

verfügt eine Schülerin nach ihrem Abitur über gute grundlegende Bibelkenntnisse,<br />

ist in der Lage, eine komplexe eigene Stellungnahme zu g<strong>es</strong>ellschaftlich<br />

relevanten ethischen Fragen vor dem Hintergrund und in Kenntnis<br />

christlicher Positionen abzugeben, ist auskunfts- und positionierungsfähig hinsichtlich<br />

wichtiger Ereignisse in der Kircheng<strong>es</strong>chichte und bewegt sich sogar in<br />

einigen theologischen Spezialfragen ausgewählter Themenfelder sicher. Je nach<br />

Bund<strong>es</strong>land und Lehrplan b<strong>es</strong>itzt sie z.B. Detailwissen zur Rolle d<strong>es</strong> Prot<strong>es</strong>tantismus<br />

in der Zeit der NS-Diktatur, kennt den Aufbau und den Inhalt der Barmer<br />

Theologischen Erklärung und kann das Stuttgarter Schuldbekenntnis kritisch<br />

erörtern. Außerdem kann sie die »Göttliche Gerechtigkeit«, wie sie in ausgewählten<br />

Gleichnissen oder der Bergpredigt b<strong>es</strong>chrieben ist, mit anderen Gerechtigkeitsbegriffen<br />

vergleichen und in die lutherischen Zwei-Regimente-Lehre transferieren.<br />

Auch zu theologisch komplexeren Themenfelder wie der<br />

Satisfaktionslehre von Anselm oder Gott<strong>es</strong>bildern der Exoduserzählung ist sie<br />

sprach- und urteilsfähig geworden. Di<strong>es</strong>e Urteilsfähigkeit erstreckt sich natürlich<br />

nicht nur auf (binnen-)theologische Fragen, sondern insb<strong>es</strong>ondere die zur kompetenten<br />

und reflektierten Teilnahme am g<strong>es</strong>ellschaftlichen Leben notwendigen<br />

Dialog- und Diskursfähigkeiten hat sie auf der Basis soliden Orientierungswissens<br />

in ausgewählten Themenfeldern erworben. So kann sie ein fundiert<strong>es</strong><br />

Werturteil etwa zu relevanten medizinethischen Frag<strong>es</strong>tellungen formulieren<br />

oder vor dem Hintergrund verschiedener ethischer Konzeptionen multiperspektivisch<br />

Stellung zu herausfordernden g<strong>es</strong>ellschaftlichen Fragen wie z.B. bezüglich<br />

»moralischer Algorithmen« für autonom fahrende Autos nehmen. Di<strong>es</strong> gilt<br />

auch ang<strong>es</strong>ichts der Tatsache, dass viel<strong>es</strong>, was im Unterricht --- und insb<strong>es</strong>ondere<br />

in Leistungssituationen wie Klausuren --- nach einer eigenen Stellungnahme auf<br />

hohem Anforderungsniveau auszusehen scheint, in Wirklichkeit die --- oft simple<br />

--- Reproduktion einer unterrichtlich bereits erarbeiteten Stellungnahme ist, die<br />

in di<strong>es</strong>em Sinne näher an dem »Auswendiggelernten« dran ist, als <strong>es</strong> der im<br />

Anforderungsbereich drei ang<strong>es</strong>iedelte Begriff »Urteilskompetenz« suggeriert.<br />

Der Religionsunterricht in Deutschland ist erfolgreich. Auch, weil Lehrerinnen<br />

und Lehrer mit viel Engagement und hoher didaktischer und fachlicher<br />

Kompetenz täglich für ihn einstehen und auch die Kirchen sich personell und<br />

finanziell in einem Maße für ihn engagieren, dass andere Fächer vor Neid erblassen.<br />

Und doch vergeht wohl kaum ein Tag, an dem die Krise d<strong>es</strong> Religionsunterrichts<br />

nicht deutlich wird. Und das nicht nur, weil die oben darg<strong>es</strong>tellte Schüle-<br />

6<br />

Gerechnet ohne Unterrichtsausfall und bei durchgehender Belegung d<strong>es</strong> Fachs unter der<br />

Bedingung von 13 Schuljahren (G9).


2.2 Die Krise d<strong>es</strong> Religionsunterrichts 17<br />

rin nur einen Bruchteil der nominell zur evangelischen Kirche gehörigen Schülerinnen<br />

und Schüler ausmacht, insofern sie zu dem Anteil derer gehört, die bis<br />

zum Abitur »durchgehalten« haben und so als Beispiel für den Erfolg d<strong>es</strong> Religionsunterrichts<br />

wenig repräsentativ ist.<br />

2.2 Die Krise d<strong>es</strong> Religionsunterrichts<br />

Eine Skepsis bzw. Vorbehalte gegen die christliche Religion sind so alt wie di<strong>es</strong>e<br />

selbst. Schon Paulus bemerkt, dass Kerngehalte d<strong>es</strong> christlichen Glaubens für<br />

nicht an di<strong>es</strong>em Glauben Partizipierende unverständlich sind und Widerspruch<br />

provozieren. 7 Richten sich hier die Anfragen noch aus einer (anderen) Religion<br />

gegen b<strong>es</strong>timmte Aussagen d<strong>es</strong> Christentums, so nimmt seit der Aufklärung<br />

di<strong>es</strong>e Kritik grundsätzliche Formen an und erfolgt aus einer Position heraus, die<br />

zum Teil explizit als religionslos bezeichnet wird. Und doch war in di<strong>es</strong>en Phänomenen<br />

etwas ander<strong>es</strong> wirksam als das mit der Rede vom »Traditionsabbruch«<br />

oder der »Massensäkularisierung« Bezeichnete. So wussten z.B. die »Verächter<br />

der Religion« zur Zeit der Aufklärung viel über Religion und hatten ein G<strong>es</strong>pür<br />

für ihre Anliegen und ihr W<strong>es</strong>en --- nicht zuletzt d<strong>es</strong>halb reichte ihre Emotionalisierung<br />

auch bis hin zur Verachtung. Die immer größer werdende Menge der<br />

religionsdistanten Schülerinnen und Schüler ist heute dagegen durch eine Position<br />

d<strong>es</strong> Unverständniss<strong>es</strong> und D<strong>es</strong>inter<strong>es</strong>s<strong>es</strong> gekennzeichnet. Nicht nur eine<br />

Unkenntnis einzelner religiöser Gepflogenheiten oder Aussagen, sondern Unverständnis<br />

für das Religiöse an sich.<br />

2.2.1 Annäherungen an die Krise<br />

Begegnen Schülerinnen und Schüler Religion heute häufig mit einem grundlegenden<br />

Unverständnis, so ist damit nicht nur gemeint, dass der christliche Glaube<br />

bei Schülerinnen und Schüler nicht mehr vorbehaltlos auf Zustimmung stößt<br />

und Religionsunterricht so nicht mehr »im Rahmen der Hermeneutik d<strong>es</strong> schon<br />

gegebenen Einverständniss<strong>es</strong>« 8<br />

erteilt werden kann. Vielmehr ist darin auch<br />

ausgedrückt, dass früher selbstverständliche Wissensstände nicht mehr vorausg<strong>es</strong>etzt<br />

werden können und grundlegende Erfahrungen mit Religion und Kirche<br />

nicht mehr gemacht werden. Die wenigsten Lehrkräfte sind noch überrascht<br />

darüber, dass biblische G<strong>es</strong>chichten, kirchliche Bräuche und religiöse Begriffe<br />

den Lernenden heute in der Regel nichts mehr sagen und das schulische Arbeiten<br />

im Religionsunterricht nicht mehr auf eine b<strong>es</strong>tehende Wissensbasis zu-<br />

7<br />

Bekanntlich war bereits zu Paulus’ Zeiten die Predigt vom gekreuzigten Christus »den<br />

Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit« (1 Kor 1,23).<br />

8<br />

Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt II, 223.


18<br />

2 Der Religionsunterricht in der Gegenwart -- Erfolge und Scheitern<br />

rückgreifen kann, sondern dagegen jeder Kenntnisstand erst unterrichtlich vermittelt<br />

werden muss. Christian Grethleins inzwischen fasst nostalgisch anmutende<br />

Irritation über die Erfahrung, mit Schülerinnen und Schülern Anfang der<br />

neunziger Jahre d<strong>es</strong> zwanzigsten Jahrhunderts in Halle nicht relativ unvermittelt<br />

anhand einer Dilemma-G<strong>es</strong>chichte über die Verbindlichkeit ein<strong>es</strong> Versprechens<br />

an Gott und damit über das Gott<strong>es</strong>verständnis an sich ins G<strong>es</strong>präch kommen zu<br />

können, ist heute alltägliche Erfahrung und irritiert wohl nur noch einige b<strong>es</strong>onders<br />

weltfremde Vertreterinnen und Vertreter der Zunft. Auch w<strong>es</strong>tdeutsche<br />

Kinder und Jugendliche brauchen zu einem großen Teil heute viel Fantasie und<br />

Bereitschaft, sich auf ein Gedankenexperiment einzulassen, um sich vorstellen<br />

zu können und zu wollen, »dass man ›dem Gott‹ etwas versprechen könne« 9 .<br />

Selbst wenn die fehlende Vorbildung hinsichtlich z.B. biblischer G<strong>es</strong>chichten<br />

und theologischer Grundbegriffe von Lehrkräften zum Teil lautstark bedauert<br />

und beklagt wird, stellt di<strong>es</strong>er Sachverhalt an sich noch kein Problem dar. Andere<br />

schulische Fächer wie z.B. der Lateinunterricht müssen ihre ersten neuronalen<br />

Verknüpfungen und Muster in den Gehirnen von Lernenden auch selbst<br />

ausbilden und sich so ihre eigene Basis schaffen. Nun ist <strong>es</strong> aber nicht so --- und<br />

hier zeigt sich der Unterschied etwa zum Fach Latein --- dass sich die in den<br />

biblischen G<strong>es</strong>chichten, den kirchlichen Bräuchen und religiösen Begriffen enthaltenen<br />

und durch sie prädizierten Phänomene erlernen lassen würden, wie<br />

grammatikalische Regeln und deren Ausnahmen. 10 Vielmehr erschließt sich die<br />

lehrhafte Ausg<strong>es</strong>taltung der Religion gerade erst aus der Teilhabe an di<strong>es</strong>er Religion<br />

und in der Kenntnis ihrer G<strong>es</strong>chichten und der in ihnen angelegten Deutung<br />

menschlichen Seins in der Welt vor Gott. Begriffe wie »Sünde« oder »Rechtfertigung«<br />

sind nicht allein in lehrhafter Rede zu füllen, vielmehr müssen die<br />

durch sie bezeichneten Phänomene durch das Eintauchen und Leben in biblischen<br />

G<strong>es</strong>chichten und christlichen Traditionen erfahren werden, um verstanden<br />

werden zu können. Erst dann ist ihre sinngefüllte lehrhafte Entfaltung möglich,<br />

durch die sich die Fundierung etwa der Hamartiologie in der Anthropologie<br />

und ihre Konsequenzen für die Soteriologie in ihrem Kern erschließen kann.<br />

Sind also nicht nur theologische G<strong>es</strong>chichten und Begriffe, sondern damit auch<br />

die in ihnen enthaltenen und durch sie ausgedrückten Phänomene unklar geworden,<br />

so ist damit schließlich auch die Art und Weise, wie Religion di<strong>es</strong>e Phänomene<br />

deutet, für Schülerinnen und Schüler unverständlich geworden. Wie<br />

schon das Beispiel von Grethlein gezeigt hat, bedeutet der Dreischritt »Verlust<br />

der Begriffe --- Verlusts der Phänomene --- Verlust einer religiösen Perspektive«<br />

nicht nur, dass Lernende selbst keine religiöse Perspektive (mehr) haben, sondern<br />

vielmehr drückt sich darin zugleich aus, dass der spezifische Modus der<br />

Weltbetrachtung der Religion --- die Sicht auf die Welt aus der Perspektive der<br />

9<br />

Grethlein, Lernort Gemeinde --- Lernort Schule, 584.<br />

10<br />

Daher ist auch der Vergleich zwischen religiösem Lernen und Fremdsprachenlernen,<br />

der zum Teil herangezogen, grundsätzlich problematisch (s. Kap. 6.2.1).


2.2 Die Krise d<strong>es</strong> Religionsunterrichts 19<br />

Religion --- Lernenden heute nicht nur nicht mehr zu eigen ist, sondern vielmehr<br />

grundsätzlich unbekannt geworden ist.<br />

Selbstverständlich sind di<strong>es</strong> verallgemeinernde und vielleicht auch überspitzte<br />

B<strong>es</strong>chreibungen und sicherlich gibt <strong>es</strong> (noch) Lerngruppen in b<strong>es</strong>timmten<br />

Schulen in b<strong>es</strong>timmten Regionen, in denen di<strong>es</strong>e Erfahrungen so nicht gemacht<br />

werden. Und daher ist <strong>es</strong> natürlich immer sinnvoll, bei Lerngruppen die individuelle<br />

Lernausgangslage detailliert zu diagnostizieren und natürlich b<strong>es</strong>teht eine<br />

Lerngruppe aus vielen unterschiedlichen Individuen, die damit auch eine je<br />

individuelle Sicht auf Religion und Religiosität mit in den Unterricht einbringen.<br />

Und selbst dort, wo die oben b<strong>es</strong>chriebene Lernausgangslage sich als Realität<br />

darstellt, ist <strong>es</strong> ebenso jede Anstrengung wert, die spezifische Art und Weise der<br />

und die individuellen Gründe für das Fehlen einer religiösen Perspektive auf die<br />

Welt genauer zu analysieren, als <strong>es</strong> Schlagwörter wie »konf<strong>es</strong>sionslos« oder<br />

»religionsdistant« zu leisten vermögen. So können unter dem Label »konf<strong>es</strong>sionslos«<br />

ebenso ein nicht getaufter, aber --- im Sinne einer Selbstzuschreibung oder<br />

auch einer Fremdwahrnehmung --- religiöser Schüler wie eine keiner Glaubensgemeinschaft<br />

angehörige Agnostikerin subsumiert sein, insofern »konf<strong>es</strong>sionslos«<br />

kein inhaltlich<strong>es</strong>, sondern nur ein »formal<strong>es</strong> Merkmal« 11 darstellt. Daher gilt:<br />

»Ähnlich wie bei religiösen bzw. religionsaffinen Kindern und Jugendlichen<br />

lohnt […] auch bei religionsdistanten das genauere Hinschauen und differenzierte<br />

Wahrnehmen« 12 --- und zwar ungeachtet d<strong>es</strong> Eindrucks, dass sich mitunter das<br />

Augenmerk bei der wissenschaftlichen B<strong>es</strong>chäftigung mit religionsdistanten<br />

Schülerinnen und Schülern in einer unguten Weise allein auf das eifrige Klassifizieren,<br />

Benennen und Sortieren fokussiert.<br />

So richtig die Forderung der differenzierten Wahrnehmung für eine konkrete<br />

Lerngruppenanalyse bei der Planung einer realen Unterrichtstunde ist, so<br />

sehr lassen sich doch Tendenzen in der grundsätzlichen Vertrautheit mit Religion<br />

und Religiosität bei heutigen Kindern und Jugendlichen ausmachen, die zwar<br />

nicht immer für jeden einzelnen Lernenden gelten, sich aber bei einer genügend<br />

großen Untersuchungsgruppe als zutreffend erweisen. Zwar mag <strong>es</strong> stimmen,<br />

dass die Teilnahme von Lernenden »ohne Kirchenmitgliedschaft […] am konf<strong>es</strong>sionellen<br />

Religionsunterricht« noch nicht die Regel darstellt und daher als »eine<br />

Minderheit, die zwar anw<strong>es</strong>end, aber letztlich nicht prägend« 13 ist, vernachlässigt<br />

werden kann, aber ob dagegen eine Konf<strong>es</strong>sionszugehörigkeit auf dem Papier,<br />

die sich in keiner Weise im Leben niederschlägt und die sicherlich so bei vielen<br />

Schülerinnen und Schülern, die auch am Religionsunterricht teilnehmen, anzutreffen<br />

ist, sich wirklich substantiell davon unterscheidet, muss bezweifelt wer-<br />

11<br />

Schröder, Religionsfern, spirituell suchend --- oder einfach »ausgetreten«?, 11.<br />

12<br />

Pirner, Welche Kompetenzen brauchen Religionslehrkräfte mit religionsdistanten Schülern?,<br />

177.<br />

13<br />

Domsgen, Religionsunterricht mit Schüler*innen unterschiedlicher Weltanschauungen,<br />

114.


20<br />

2 Der Religionsunterricht in der Gegenwart -- Erfolge und Scheitern<br />

den. Daher scheint die Unterscheidung zwischen konf<strong>es</strong>sionslosen Lernenden<br />

auf der einen Seite und getauften Schülerinnen und Schülern auf der anderen<br />

Seite doch zu ungenau zu sein, insofern sich die Unterschiede häufig vor allem<br />

auf das Vorhandensein einer Taufkerze begrenzen.<br />

Als Alternative könnte die Differenzierung von Michael Domsgen dienen,<br />

der bei seinen Überlegungen zum Religionsunterricht insb<strong>es</strong>ondere mit Jugendlichen<br />

in Ostdeutschland zwischen einer dort seit Generationen »vererbten Konf<strong>es</strong>sionslosigkeit«<br />

und einer in W<strong>es</strong>tdeutschland »frisch erworbenen« 14 , unterscheidet,<br />

insofern dadurch nicht allein auf die Kirchenzugehörigkeit fokussiert<br />

wird, sondern zwischen »vererbter« und »frisch erworbener Religionsferne«<br />

differenziert wird. Auf der Basis einer solchen Distinktion lässt sich dann auch<br />

überlegen, ob --- und wenn ja, wie lange noch --- gilt, dass die frisch erworbenen<br />

Religionsfernen zwar selbst nicht an Religion partizipieren, aber für sie »eine<br />

religiöse Verortung auch nichts Abstrus<strong>es</strong> bedeutet«, insofern das Vertraut-Sein<br />

mit einer »religiösen Weltsicht an sich« 15<br />

bei ihnen durchaus vorhanden ist.<br />

Einen Hinweis zur Beantwortung di<strong>es</strong>er Frage könnten die alltäglichen Erfahrungen<br />

mit Schülerinnen und Schüler in und außerhalb d<strong>es</strong> Religionsunterrichts<br />

auch in gutbürgerlichen w<strong>es</strong>tdeutschen Einzugsgebieten sein, die den Eindruck<br />

entstehen lassen, dass auch di<strong>es</strong>e immer mehr von einem »sozialisierten Nicht-<br />

Verhältnis zum Christentum sowie zu Religionen insg<strong>es</strong>amt« 16 geprägt sind. Ist<br />

damit ausgedrückt, dass Kinder und Jugendliche heute nicht nur auf keine eigenen<br />

religiösen Erfahrung zurückgreifen können oder religiös geprägte Weltdeutungskonzepte<br />

b<strong>es</strong>itzen, sondern ihnen auch aus ihrem näheren Umfeld niemand<br />

bekannt ist, der Religiosität in einer Weise auslebt, durch die<br />

Heranwachsende --- wenngleich als Erfahrung mit dem fremden Anderen --- mit<br />

einer religiösen Lebensbewegung vertraut sind, so ist Religion und Religiosität<br />

grundsätzlich nicht mehr in ihrem Weltwahrnehmungs- und Weltinterpretationshorizont<br />

verortet.<br />

Sicherlich sind di<strong>es</strong>e Schülerinnen und Schüler für den Religionsunterricht<br />

eine Herausforderung und die relative Wirkungslosigkeit der religionspädagogischen<br />

Konzeptionen, mit denen seit nunmehr 60 Jahren versucht wird darauf zu<br />

reagieren, gibt Einblick in die Relevanz und Komplexität d<strong>es</strong> Problems. Aber<br />

zugleich liegt vielleicht in der jüngsten Entwicklung, in der Schülerinnen und<br />

Schüler b<strong>es</strong>ser als untheistisch denn als a-theistisch b<strong>es</strong>chrieben werden, auch<br />

eine religionspädagogische Chance. So sind zumind<strong>es</strong>t die entwicklungsbedingten<br />

Abgrenzungsbemühungen gegen »all<strong>es</strong> Elterliche« keine Hürde mehr im<br />

G<strong>es</strong>präch über Religion und Religiosität. Häuslich »vollkommen unbelastete«<br />

Schülerinnen und Schülern begegnen Religion und Religiosität --- so kann zumind<strong>es</strong>t<br />

gehofft werden --- vielleicht auch weniger ablehnend als Kinder und<br />

14<br />

Ders., Religionsunterricht mit konf<strong>es</strong>sionslosen Schülern in Ostdeutschland, 158.<br />

15<br />

Ders., Religionsunterricht mit Schüler*innen unterschiedlicher Weltanschauungen, 114.<br />

16<br />

Ders., Religionsunterricht mit konf<strong>es</strong>sionslosen Schülern in Ostdeutschland, 157.


2.2 Die Krise d<strong>es</strong> Religionsunterrichts 21<br />

Jugendliche, die sich in b<strong>es</strong>timmten Lebensphasen auch gegen die Einstellungen<br />

und Weltdeutungskonzepte der Elterngeneration abgrenzen wollen.<br />

Dafür muss Schülerinnen und Schülern Religion bzw. Religiosität aber im<br />

Religionsunterricht auch begegnen. Und sie müssen ihr auf eine spezifische Art<br />

und Weise begegnen. Auf eine Art und Weise, in der sie in ihrer Eigentlichkeit<br />

erkennbar und erfahrbar wird.<br />

2.2.2 Die Ausgangslage -- Die Krise benennen<br />

Wie sich gezeigt hat, ist eine Erfassung der Krise d<strong>es</strong> Religionsunterrichts im<br />

Detail aufgrund der Vielschichtigkeit der G<strong>es</strong>amtlage bei weitem nicht trivial, so<br />

dass allein ihre präzise begriffliche Benennung bereits enorm<strong>es</strong> Diskussionspotenzial<br />

bietet.<br />

So finden sich in einschlägigen Veröffentlichungen unterschiedliche Begriffe,<br />

um das Phänomen zu bezeichnen. Es wird z.B. vom »Traditionsabbruch« 17<br />

vom »Glaubensverlust« 18 oder von »religiöser Indifferenz« 19 g<strong>es</strong>prochen. Im Lichte<br />

der möglichen Kritik an den Begriffen lässt sich über neue Bezeichnungen wie<br />

»verminderte Transzendenzsensibilität« oder »religiöser Wahrnehmungsverlust«<br />

nachdenken --- die dann ihrerseits wieder diskutiert und kritisch beleuchtet werden<br />

müssten. Das provokante Moment in solchen Bezeichnungen liegt darin, die<br />

immer wieder auftretenden optimistischen Annahme zu problematisieren, Schülerinnen<br />

und Schüler seien selbstverständlich mit einem gewiss<strong>es</strong> G<strong>es</strong>pür für<br />

Religiosität ausg<strong>es</strong>tattet, sie könnten di<strong>es</strong> aber kaum oder nur in einer Weise<br />

artikulieren, die <strong>es</strong> für Außenstehende als ein solch<strong>es</strong> nur schwer erkennbar<br />

werden lasse. Di<strong>es</strong> weckt dann schnell die Hoffnung <strong>es</strong> würde sich --- etwas überspitzt<br />

formuliert --- vor allem um ein groß<strong>es</strong> Missverständnis handeln und Kinder<br />

und Jugendliche seien heute weiterhin religiös (genug), sie würden di<strong>es</strong> nur<br />

nicht in tradierten Begrifflichkeiten und kirchlichen Deutungsmustern zum<br />

Ausdruck bringen und das ganze Problem sei damit gelöst, di<strong>es</strong>e jugendliche<br />

Religiosität sensibler wahrzunehmen, mit den Lernenden gemeinsam herauszuarbeiten<br />

und so anschaulich zu machen, um dann schließlich den reichen Schatz<br />

der christlichen Darstellung von Religiosität anzubieten. Di<strong>es</strong>e würden sich daraufhin<br />

--- nun befreit von den Scheuklappen ihr<strong>es</strong> vor allem begrifflichen Unverständniss<strong>es</strong><br />

--- freudig der christlichen Weltdeutung und der kirchlichen Gemeinschaft<br />

zuwenden.<br />

Eine solche Argumentation --- die viele religionspädagogische Konzeptionen<br />

immer noch auszeichnet --- fußt auf den Vorbehalten gegen die Säkularisierungstheorie,<br />

gegen die schon seit 70 Jahren unter anderem der Vorwurf einer Ver-<br />

17<br />

Z.B. Dr<strong>es</strong>sler, Darstellung und Mitteilung, 11.<br />

18<br />

Z.B. Halbfas, Religionsunterricht nach dem Glaubensverlust, 7.<br />

19<br />

Z.B. Pickel, Religiöse Indifferenz, 165.


22<br />

2 Der Religionsunterricht in der Gegenwart -- Erfolge und Scheitern<br />

nachlässigung d<strong>es</strong> subjektiven Sinns von Religion und eine Gleichsetzung von<br />

Religiosität und Kirchlichkeit erhoben wird. 20 Aus theologischer Perspektive<br />

haben sich verschiedene Autoren 21 explizit mit einem reformatorischen Kirchenund<br />

Religionsverständnis früh gegen die Säkularisierungstheorie gewandt und<br />

Argumentationsmuster eingeführt, die bis heute benutzt werden, um di<strong>es</strong>er<br />

Theorie eine mangelnde Sensibilität für die Wahrnehmung d<strong>es</strong> genuin menschlichen<br />

»latenten bis bewussten Sinn<strong>es</strong> fürs Unendliche« 22 vorzuwerfen. Inwiefern<br />

di<strong>es</strong>e Kritik an der Säkularisierungstheorie zum einen »auf eine bemerkenswerte<br />

Weise empirier<strong>es</strong>istent« 23 ist und zugleich versucht --- etwa durch die Annahme<br />

einer »anthropologisch begründenden Transzendenzoffenheit« 24 , die als »im<br />

Prinzip unversiegbare Quelle« 25 »fast zwangsläufig« 26 religiöse Erfahrungen produziert<br />

--- die grundsätzliche Möglichkeit von Säkularisierungsproz<strong>es</strong>sen durch<br />

fundamentalanthropologische Axiome auszuschließen, hat unter anderen Detlef<br />

Pollack dargelegt. 27<br />

Auch ang<strong>es</strong>ichts der Untersuchungen zu latenter jugendlicher Religiosität,<br />

die eine optimistische Interpretation ihrer Datenlage anbieten, kann man den<br />

Eindruck vieler Lehrerinnen und Lehrer nicht ignorieren, die trotz sensiblem<br />

Bemühens, gutem Rapports mit ihren Lerngruppen und virtuosem Einsatz<strong>es</strong> der<br />

g<strong>es</strong>amten diagnostischen und didaktischen Partitur von di<strong>es</strong>er postulierten Religiosität<br />

doch wenig entdecken, sondern vielmehr immer wieder das Gefühl bekommen,<br />

inzwischen als Werbende für eine eher skurril anmutende<br />

Brauchtumspflege wahrgenommen zu werden. Und selbstverständlich gibt <strong>es</strong><br />

wiederum Untersuchungen, die dann di<strong>es</strong>en Eindruck belegen. So wählen etwa<br />

in der Shell-Studie regelmäßig prozentual am meisten Jugendliche das Item »ich<br />

glaube nicht, dass <strong>es</strong> einen persönlichen Gott oder ein übernatürlich<strong>es</strong> W<strong>es</strong>en<br />

gibt« oder die V.KMU bei der sogar 70% der befragten Jugendlichen, die einer<br />

evangelischen Kirche angehörten, dem Typus »nicht religiös« oder »christlichindifferent«<br />

zugeordnet werden 28 .<br />

Dahinter liegt dann nicht nur das vielleicht lediglich hermeneutische Problem,<br />

dass tradierte Begriffe und Gepflogenheiten (»Traditionsabbruch«) nicht<br />

mehr verstanden werden oder das Luxusproblem, dass Kinder und Jugendliche<br />

schlicht überfordert seien, aus dem breiten Angebot an religiösen Deutungsmus-<br />

20<br />

So beispielhaft Luckmann, Neuere Schriften zur Religionssoziologie, 315f.<br />

21<br />

So etwa Trutz Rendtorff bereits in seiner Antrittsvorl<strong>es</strong>ung in Münster. Rendtorff, Säkularisierung<br />

als theologisch<strong>es</strong> Problem, b<strong>es</strong>. 320ff.<br />

22<br />

Raatz, Zwischen Entdifferenzierung und Selbstimmunisierung, 556.<br />

23<br />

Pollack, Der religiös-kirchliche Traditionsabbruch seit den 1960er Jahren in W<strong>es</strong>tdeutschland,<br />

187.<br />

24<br />

Stefan Huber, Gott ist tot! Tatsächlich?, 267.<br />

25<br />

A.a.O. 268.<br />

26<br />

Ebd.<br />

27<br />

Vgl. Detlef Pollack, Der religiös-kirchliche Traditionsabbruch, b<strong>es</strong>. 183ff.<br />

28<br />

Vgl. Riegel/Hallwaß, Zur Reichweite konf<strong>es</strong>sioneller Positionen, 82ff.


2.2 Die Krise d<strong>es</strong> Religionsunterrichts 23<br />

tern, das ihnen entsprechende »auszuwählen« bzw. zu wählen, ob sie di<strong>es</strong>em<br />

oder jenem religiösen Deutungsmuster folgen wollen (»religiöse Indifferenz«).<br />

Vielmehr drückt sich in Begriffen wie »verminderte Transzendenzsensibilität«<br />

oder »religiöser Wahrnehmungsverlust« ungleich stärker aus, dass das Problem<br />

tiefer zu liegen scheint und bereits die alle Weltdeutungen und Selbstkonzepte<br />

fundierende Schicht der Wahrnehmung von Wirklichkeit betrifft.<br />

Insofern greift auch die Diskussion in fataler Weise zu kurz, wenn sie sich<br />

auf die artikulierte Erfahrung konzentriert, dass »Religionslehrkräfte, die mit<br />

ihren Schülerinnen und Schülern über religiöse Handlungen ins G<strong>es</strong>präch kommen<br />

wollen, […] immer wieder von der Schwierigkeit [berichten], über etwas<br />

sprechen zu wollen, was die Kinder und Jugendlichen nicht aus eigener Erfahrung<br />

kennen« 29 . Es geht vielmehr nicht nur um religiöse Handlungen, sondern<br />

um das grundsätzliche Fehlen von Erfahrungen mit Religiosität --- und sei <strong>es</strong> nur<br />

aus der Beobachterperspektive. Damit ist zugleich dem Missverständnis gewehrt,<br />

<strong>es</strong> handele sich vordergründig um die --- damit natürlich zusammenhängende<br />

aber davon zu unterscheidende --- Krise einer faktisch vorfindlichen Religion<br />

bzw. um das Problem der Vermittlung von Deutungsmustern der<br />

organisierten Kirchen als institutionelle Sozialg<strong>es</strong>talten von Religion, wie <strong>es</strong><br />

etwa in dem Begriff d<strong>es</strong> Traditionsabbruchs auch mitzuschwingen scheint.<br />

Schließlich ist aus prot<strong>es</strong>tantischer Sicht auch auf die problematischen Implikationen<br />

d<strong>es</strong> Begriffs »Glaubensverlust« als B<strong>es</strong>chreibung d<strong>es</strong> Phänomens<br />

hinzuweisen, insofern der Glaube nach Luther als G<strong>es</strong>chenk extra nos bleibt und<br />

daher nicht zum B<strong>es</strong>itz d<strong>es</strong> Menschen wird --- und in di<strong>es</strong>em Sinne auch nicht<br />

verlustig gehen kann. 30<br />

Der Ausdruck d<strong>es</strong> »religiösen Wahrnehmungsverlusts« scheint als Begriff<br />

für die gegenwärtige Lage von Schülerinnen und Schülern noch am präzis<strong>es</strong>ten<br />

zu sein, da er zum einen so verstanden werden kann, dass hier aufgrund ein<strong>es</strong><br />

fehlenden Wahrnehmungsangebots nichts mehr wahrgenommen wird. Offenbleiben<br />

kann dabei zunächst, ob in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen<br />

--- z.B. durch den Religionsunterricht --- Religiosität vorkommt und (nur)<br />

nicht wahrgenommen wird, oder ob sie nicht wahrgenommen wird, da sie gar<br />

nicht vorkommt und daher auch nicht wahrgenommen werden kann. Theologisch<br />

formuliert: Der Begriff »religiöser Wahrnehmungsverlust« lässt zunächst<br />

offen, ob der Verlust der religiösen Wahrnehmung durch einen Mangel d<strong>es</strong> äußeren<br />

Wort<strong>es</strong> als Bekannt-und-Vertraut-Werden mit der Botschaft der Heiligen<br />

Schrift in der Lebenswelt der Jugendlichen bedingt ist (notwendige Bedingung),<br />

oder ob di<strong>es</strong><strong>es</strong> »äußere Wort« hinreichend vorhanden ist, aber (nur) nicht durch<br />

29<br />

Käbisch, Performanzorientierte Religionsdidaktik, 377 --- Hervorhebung durch R.G.<br />

30<br />

Aus lutherischer Perspektive könnte man über provokante Begriffe wie »Glaubensentzug«<br />

oder »Glaubensvorenthaltung« nachdenken, allerdings würde sich die Provokation<br />

dahinter, die das Problem in der Gott<strong>es</strong>lehre bzw. der Pneumatologie verortet, vermutlich<br />

im genaueren Diskurs nicht in Gänze aufrechterhalten lassen.


24<br />

2 Der Religionsunterricht in der Gegenwart -- Erfolge und Scheitern<br />

das Wirken Gott<strong>es</strong> als Heiliger Geist zur inneren Gewissheit wird (hinreichende<br />

Bedingung). Zum anderen ist die Formulierung »religiöser Wahrnehmungsverlust«<br />

aber auch offen dafür, eine Analyseperspektive auf das Phänomen zu werfen,<br />

in der auf die religiöse Wahrnehmungsfähigkeit von Schülerinnen und<br />

Schülern fokussiert wird. So lässt sich fragen, ob hier vielleicht sogar ein grundsätzlicher<br />

Sensus verkümmert ist und Religiosität --- selbst, wenn sie Kindern<br />

und Jugendlichen auf die intensivste Weise begegnen würde --- von di<strong>es</strong>en nicht<br />

(mehr) erspürt werden kann. Vielleicht haben Kinder --- so könnte aus einer<br />

reduktiv evolutionären Perspektive gefragt werden --- unter heutigen Lebensbedingungen<br />

und heutigen Herausforderungen den »Sinn und G<strong>es</strong>chmack fürs<br />

Unendliche« 31 verloren --- etwa so, wie der moderne Mensch einen Großteil sein<strong>es</strong><br />

Geruchssinns eingebüßt hat. Dann würde sich auf der Liste der menschlichen<br />

Rudimentationen zu Blinddarm, dem Steißbein und den degenerierten Muskeln<br />

der Ohrmuscheln eben auch der Transzendenzsinn g<strong>es</strong>ellen, der aus Mangel an<br />

Gebrauch aufgrund ein<strong>es</strong> Mangels an Nutzen nahezu verschwunden ist.<br />

2.2.3 Dimensionen der Krise<br />

Selbstverständlich gibt <strong>es</strong> zu dem --- bisher vor allem aus der Wahrnehmung von<br />

erfahrenen Lehrkräften entwickelten --- Befund ein<strong>es</strong> schwindenden religiösen<br />

Bewusstseins von Schülerinnen und Schülern auch »objektivere« Werte, die die<br />

benannte Krise d<strong>es</strong> Religionsunterrichts darstellen.<br />

Am offensichtlichsten manif<strong>es</strong>tiert sich di<strong>es</strong>e Krise darin, dass seit vielen<br />

Jahren die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die ihn b<strong>es</strong>uchen, kontinuierlich<br />

abnimmt oder --- anders formuliert --- die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die<br />

sich durch Abwahl gegen einen B<strong>es</strong>uch d<strong>es</strong> Religionsunterrichts entscheiden,<br />

größer wird. Wenngleich <strong>es</strong> im Detail aufgrund methodischer Probleme bei der<br />

statistischen Erfassung nicht einfach ist, die Beweggründe von Schülerinnen und<br />

Schülern bei einer Abwahl d<strong>es</strong> Religionsunterrichts zu erheben 32 und die statistischen<br />

Zahlen zunächst lediglich Ausdruck der Krise sind und über die Gründe<br />

dahinter keine Informationen liefern, so geben sie doch einen ersten Einblick<br />

hinsichtlich der Dimension und Relevanz. Selbstverständlich sind solche statistischen<br />

Daten immer auch interpretationsbedürftig und ohne einen genauen Blick<br />

auf ihre Erhebungsmethoden und ohne Analyse der sie kontextuierenden Situation<br />

wenig aussagekräftig. So dürfte <strong>es</strong> unmittelbar einleuchtend sein, dass der<br />

Religionsunterricht in Köln oder München anders b<strong>es</strong>ucht ist als der Religionsunterricht<br />

in Leipzig. Und hierbei ist nicht nur von einer anderen absoluten Zahl<br />

auszugehen, sondern auch von einem anderen prozentualen Anteil an der G<strong>es</strong>amtzahl<br />

der Schülerinnen und Schüler. Dass hier Schulen in bürgerlichen<br />

31<br />

Schleiermacher, Über die Religion, 51.<br />

32<br />

Vgl. Gennerich/Zimmermann, Abmeldung vom Religionsunterricht, 81ff.


2.2 Die Krise d<strong>es</strong> Religionsunterrichts 25<br />

Stadtteilen w<strong>es</strong>tdeutscher Städte oder in manchen Dörfern höhere Werte generieren<br />

als z.B. G<strong>es</strong>amtschulen in Dr<strong>es</strong>den, dürfte erwartbar sein. Wiederum andere<br />

Zahlen ergeben sich, wenn der prozentuale Anteil aller nominell zu einer<br />

christlichen Kirche gehörenden Lernenden erhoben wird, die auch tatsächlich<br />

den Religionsunterricht b<strong>es</strong>uchen. Eine solche Betrachtung birgt dann vermutlich<br />

einige Überraschungen, da die gefundene Zahl sicherlich in einigen Kölner<br />

oder Münchener Stadtteilen deutlich niedriger ist als z.B. im Erzgebirge. 33<br />

Zu bedenken ist sicherlich, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die<br />

den Religionsunterricht b<strong>es</strong>uchen, nur begrenzt aussagekräftig ist hinsichtlich<br />

Akzeptanz bzw. Wertschätzung di<strong>es</strong><strong>es</strong> Unterrichts. So sind verschiedene Gründe<br />

denkbar, auch ohne echt<strong>es</strong> Inter<strong>es</strong>se im Religionsunterricht zu sitzen. Immer<br />

wieder geben Lernende z.B. offen zu, dass sie nur »da sind«, weil <strong>es</strong> »der Oma«<br />

oder »dem Opa« wichtig ist, dass die Enkelkinder nicht abwählen und aus Berufsschulen<br />

wird berichtet, dass die Religionsnote ihren Wert auch dadurch<br />

bekommt, dass Betriebe an ihr abl<strong>es</strong>en zu können glauben, ob eine Auszubildene<br />

oder ein Auszubildender ein »anständiger Mensch« ist und die Religionsnote<br />

mitunter bei Einstellungsverfahren die abg<strong>es</strong>chafften »Kopfnoten« ersetzt. Die<br />

Gleichung »gute Note in Religion = netter Mensch mit sauberen Fingernägeln«<br />

scheint für manche Chefinnen und Chefs durchaus plausibel zu sein. Und nicht<br />

zuletzt herrscht auf vielen Schulfluren auch die Meinung, dass <strong>es</strong> im<br />

»Reliunterricht« leichter ist als im Ersatzfach mit wenig Anstrengung eine passable<br />

Note zu bekommen --- was sicherlich auch zu oft der Realität entspricht.<br />

Bei allen Unschärfen in der validen Erhebung und aller Interpretationsbedürftigkeit<br />

der einzelnen Zahlen ist doch die Tendenz zur Abwahl d<strong>es</strong> Religionsunterrichts<br />

bzw. zur Wahl ein<strong>es</strong> Ersatzfach<strong>es</strong> nicht zu leugnen. Der Vergleich<br />

der regelmäßigen »Auswertung zum Religionsunterricht« der Kultusministerkonferenz<br />

34 belegt di<strong>es</strong>en Trend eindeutig. So haben die beiden großen christlichen<br />

Religionslehren 2015/16 deutschlandweit noch 68,8 Prozent der Schülerinnen<br />

und Schüler erreicht, 2019/20 bereits nur noch 60,8. Di<strong>es</strong><strong>es</strong> Minus von 8<br />

Prozent entspricht etwa 361000 Schülerinnen und Schülern, die nach di<strong>es</strong>en<br />

vier Jahren weniger in den Kursen für Katholische oder Evangelische Religionslehre<br />

saßen. Im gleichen Zeitraum gewann das Fach Ethik 6,4 Prozent der g<strong>es</strong>amten<br />

Schülerschaft hinzu. Bei di<strong>es</strong>en 357994 Schülerinnen und Schülern, die<br />

2020 im Vergleich zu 2016 mehr im Ethikunterricht saßen, sind die fast 63.000<br />

Schülerinnen und Schüler noch nicht berücksichtigt, die das Fach Philosophie/praktische<br />

Philosophie als entsprechend<strong>es</strong> Ersatzfach im bevölkerungs-<br />

33<br />

Erschwert werden solche Untersuchungen als Momentaufnahme noch dadurch, dass die<br />

Zahlen sich für einzelne Schulen und Regionen auch relativ schnell ändern können --- oft<br />

führen zwei beliebte Lehrkräfte an einer Schule bereits zu hohen Zahlen und auf der<br />

anderen Seite zwei unbeliebte zu einem Wegsterben ganzer Jahrgänge.<br />

34<br />

Vgl. zum Folgenden https://www.kmk.org/dokumentation-statistik/statistik/schulstatistik/<br />

religionsunterricht.html.


26<br />

2 Der Religionsunterricht in der Gegenwart -- Erfolge und Scheitern<br />

reichsten Bund<strong>es</strong>land NRW in di<strong>es</strong>em Zeitraum dazu gewonnen hat. Dass sich in<br />

di<strong>es</strong>er Abnahme der Schülerinnen- und Schülerzahlen auch ein breiter Verlust<br />

an Akzeptanz und Wertschätzung religiöser Bildung und auch der Religion allgemein<br />

ausdrückt, kann wohl kaum b<strong>es</strong>tritten werden.<br />

Allerdings erhebt die Kultusministerkonferenz nur die Zahlen für den Primar-<br />

und Sekundarstufe I-Bereich. Für die Gymnasiale Oberstufe, in der für die<br />

Abwahl in der Praxis noch einmal niedrigere (Hemm-)schwellen gelten, kann ein<br />

guter Eindruck zum Religionsunterricht durch die Zahlen, die sich aus dem<br />

Wahlverhalten der Schülerinnen und Schüler für ihre Abiturfächer ergeben,<br />

gewonnen werden. Natürlich ist dadurch nicht valide und reliabel die Akzeptanz<br />

bzw. Wertschätzung d<strong>es</strong> Fachs zu erheben, aber <strong>es</strong> lassen sich durchaus Hinweise<br />

daraus ziehen, die als ein weiterer Beleg für die vergleichsweise geringe Bedeutung<br />

d<strong>es</strong> Religionsunterrichts interpretiert werden können. Zwar ist der<br />

Religionsunterricht unter den »Nicht-Kernfächern« b<strong>es</strong>onders privilegiert, da er<br />

--- anders als etwa G<strong>es</strong>chichte, Chemie, Physik oder Erdkunde --- in der g<strong>es</strong>amten<br />

Sekundarstufe I durchgängig erteilt wird, in den Wahlen etwa als schriftlich<strong>es</strong><br />

Abiturfach schlägt sich eine daraus zu vermutende größere Vertrautheit mit dem<br />

Fach allerdings nicht nieder. So haben in NRW im Jahr 2021 35 von 72.934 Prüflingen<br />

lediglich 243 (63 im Leistungskurs, 180 im Grundkurs) das Fach Evangelische<br />

Religionslehre in den zentralen Abiturprüfungen belegt. 36<br />

2.2.4 Gründe für die Krise<br />

Über die Gründe für die Geringschätzung und die fehlende Akzeptanz d<strong>es</strong> Religionsunterrichts<br />

und den Grad seiner Annahme durch Lernende gibt <strong>es</strong> regelmäßig<br />

Untersuchungen, die --- je nach Untersuchungssetting, Schulform oder<br />

dem Standort der erhobenen Schulen --- sehr unterschiedliche Ergebnisse zeitigen.<br />

Nicht immer kommt der Religionsunterricht dabei »gut weg«. Selbst wenn<br />

man anerkennt, dass g<strong>es</strong>icherte Erkenntnisse über den alltäglichen Religionsunterricht<br />

aus verschiedenen Gründen kaum vorliegen und so »über das, was faktisch<br />

im Religionsunterricht g<strong>es</strong>chieht, […] bisher nur bruchstückhafte Einsichten,<br />

die eher ernüchternd ausfallen« 37<br />

vorliegen, so ist doch eine Tendenz<br />

erkennbar. Immer wieder werden in Untersuchungen sowohl den Religionslehrerinnen<br />

und Religionslehrern auf unterrichtlicher Ebene »handwerkliche« Defi-<br />

35<br />

Vgl. zum Folgenden https://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/cms/upload/<br />

abitur-gost/berichte/Zentralabitur-Gymnasiale-Oberstufe-2021.pdf.<br />

36<br />

Gegen die 180 Prüflinge in den Grundkursen stehen z.B. 282 im Fach Niederländisch<br />

oder 338 im Fach Latein. Selbst, wenn zu den 180 evangelischen noch die 193 katholischen<br />

Schülerinnen und Schüler hinzugezählt werden, können beide Fächer zusammen<br />

von den 1002 Prüflingen im Fach Philosophie nur träumen.<br />

37<br />

Riegel, Konturen weltanschaulicher Heterogenität, 89.


2.2 Die Krise d<strong>es</strong> Religionsunterrichts 27<br />

zite b<strong>es</strong>cheinigt (a) als auch grundsätzlicher auf konzeptioneller Ebene dem Fach<br />

eine inhaltliche Konfusion und Relevanzlosigkeit diagnostiziert (b).<br />

a) Ist die Forschungslage zur Akzeptanz d<strong>es</strong> Religionsunterrichts dahingehend<br />

eindeutig, dass sich ein »Thema […] wie ein roter Faden durch die Ergebnisse<br />

nahezu aller Untersuchungen [zieht]: Die Qualität d<strong>es</strong> Religionsunterrichts<br />

ist entscheidend« 38 , so ist <strong>es</strong> bedenklich, wenn gerade di<strong>es</strong>e Qualität dem Unterricht<br />

abg<strong>es</strong>prochen wird. Rudolf Englert hat aufgrund verschiedener Untersuchungen<br />

für den Religionsunterricht 39 einige gewichtige Defizite benannt. Di<strong>es</strong>en<br />

Ergebnissen zufolge weist der Religionsunterricht häufig einen »relativ geringen<br />

kognitiven Aktivierungsgrad« 40<br />

auf. Unterricht, der Schülerinnen und Schüler<br />

vor allem b<strong>es</strong>chäftigt, aber wenig denken lässt, geht nicht nur mit der Lebenszeit<br />

der Lernenden nachlässig um, sondern wird auch im schulischen Kontext von<br />

niemandem wertg<strong>es</strong>chätzt werden. Der Gedanke, im Religionsunterricht müsste<br />

g<strong>es</strong>tr<strong>es</strong>sten Schülerinnen und Schülern auch mal ein »Auszeit« vom schulischen<br />

Druck angeboten werden und ein Freiraum zu den permanenten Leistungssituation<br />

in der Schule kreiert werden, erweist in di<strong>es</strong>er Umsetzung dem Fach keinen<br />

Gefallen. So richtig und wichtig <strong>es</strong> ist, dass leistungsfreie Momente d<strong>es</strong> Lernens,<br />

Ausprobierens und Erfahrens zum Religionsunterricht dazugehören, so elementar<br />

ist <strong>es</strong>, neben di<strong>es</strong>en Momenten auch kognitive Herausforderungen anzubieten<br />

und komplexe Denkproz<strong>es</strong>se zu initiieren. Die Passung d<strong>es</strong> Anforderungsniveaus<br />

scheint nirgendwo so anspruchsvoll zu gewährleisten sein, wie im<br />

Religionsunterricht und gerade der schnelle Wechsel von Situationen der Überforderung<br />

und Situationen grenzenloser Banalität führt zu karikierenden Unterrichtsb<strong>es</strong>chreibungen<br />

wie der bei Jürgen Kaube, der sich in der FAZ darüber<br />

lustig macht, dass Grundschülerinnen und Grundschülern gerade noch das »sola<br />

scriptura« erklärt wurde und die im Anschluss--- wohl als Sicherungsphase ---<br />

»Luther-Bildchen in ihre Hefte kleben« sollen, »damit sie begreifen, was evangelisch<br />

eigentlich heißt« 41 .<br />

Damit zusammen hängt auch ein weiter<strong>es</strong> von Englert benannt<strong>es</strong> Defizit d<strong>es</strong><br />

Religionsunterrichts, da die fehlende kognitive Aktivierung häufig mit einer<br />

unzureichenden inhaltlichen Passung der einzelnen Stunden zueinander, die<br />

dann auch keine langfristige Lernprogr<strong>es</strong>sion aufbaut, korr<strong>es</strong>pondiert. Sowohl in<br />

einem Reihenzusammenhang als auch innerhalb einer Stunde ist den Lernenden<br />

38<br />

Wissner/Schweitzer, Wen der Religionsunterricht nicht erreicht, 57.<br />

39<br />

Vor allem die den Religionsunterricht in acht Europäischen Ländern untersuchende<br />

Studie R<strong>es</strong>earching Religious Education: Classroom Proc<strong>es</strong>s<strong>es</strong> and Outcom<strong>es</strong>, hrsg. v.<br />

Friedrich Schweitzer et al, Münster 2018 und die auf der Basis videografierten und ausgewerteten<br />

»Alltagsunterrichts« entstandene Studie Innenansichten d<strong>es</strong> Religionsunterrichts:<br />

Fallbeispiele --- Analysen --- Konsequenzen, hrsg. v. Rudolf Englert et al, München<br />

2014.<br />

40<br />

Englert, Ach, ist doch bloß Reli, 66.<br />

41<br />

Kaube, Haben wir was in Reli auf?, 9.


28<br />

2 Der Religionsunterricht in der Gegenwart -- Erfolge und Scheitern<br />

häufig nicht transparent --- und oft ist di<strong>es</strong> wohl auch schlicht nicht gegeben ---<br />

wie die einzelnen Elemente aufeinander aufbauen und mit zunehmendem Anspruchsniveau<br />

ein komplex<strong>es</strong> Erkenntnisgefüge als Lernerfahrung entsteht.<br />

Auch weitere von Englert monierte unterrichtspraktische Planungs- und<br />

Durchführungsmängel wie etwa fehlende nachhaltige Sicherung von erzielten<br />

Lernerfolgen oder der Verzicht auf den Ausweis fachlicher Expertise zugunsten<br />

einer gleich-gültigen Beliebigkeit erscheinen aus diversen Erfahrungen mit Religionsunterricht<br />

vertraut und fügen sich ein in ein Bild, das nicht nur die Unlust<br />

seitens der Schülerinnen und Schüler am Fach verstärkt, sondern auch wenig<br />

geeignet ist, überzeugende Antworten auf die g<strong>es</strong>ellschaftlichen Anfragen an die<br />

Berechtigung von Religionsunterricht zu formulieren.<br />

b) Di<strong>es</strong>e oben erwähnten konzeptionellen Anfragen an die G<strong>es</strong>talt d<strong>es</strong> Religionsunterrichts<br />

finden ihren Niederschlag am deutlichsten in zyklisch geführten,<br />

medienwirksamen Auseinandersetzungen mit dem Fach. Mal wird in einem<br />

Feuilleton einer der großen und seriösen deutschen Tag<strong>es</strong>zeitungen immerhin<br />

von einem der Herausgeber selbst wild gegen den Religionsunterricht g<strong>es</strong>chossen,<br />

mal gibt <strong>es</strong> eine neue Studie, die zu dem Ergebnis kommt, dass <strong>es</strong> in<br />

Deutschland eine Mehrheit für die »Abschaffung d<strong>es</strong> Religionsunterrichts« gibt ---<br />

selbst »bei Union-Wählern« 42 . Die Anfragen ähneln sich dabei zumeist. So ist <strong>es</strong><br />

immer wieder die (Mit-)verantwortlichkeit der Kirchen am Religionsunterricht,<br />

die den Anschein von Missionierung und ideologisch gefilterter Bildung --- oder<br />

b<strong>es</strong>ser: ideologisch verfälschter Unbildung --- erweckt, die im Zentrum der Kritik<br />

steht. Hierbei wird wie etwa in dem FAZ-Artikel von Kaube --- vermutlich wider<br />

b<strong>es</strong>ser<strong>es</strong> Wissen und in di<strong>es</strong>em Sinne manipulativ --- suggeriert, der Staat würde<br />

keine Kontrolle über den Unterricht ausüben und hätte dabei kein Mitspracherecht.<br />

»An deutschen Schulen ist der Religionsunterricht Sache der Religionsgemeinschaften.«<br />

43<br />

Ein solcher erster Satz lügt nicht, verschweigt aber auch die<br />

Hälfte der Wahrheit. Und auch die Ableitung aus di<strong>es</strong>em Satz ist ähnlich »halbseiden«,<br />

wenn aus der ersten Unvollständigkeit die zweite Unvollständigkeit<br />

deduziert wird: »Das Ziel d<strong>es</strong> Religionsunterrichts in Deutschland scheint der<br />

Glaube an Religion, nicht das Wissen über sie« 44<br />

zu sein. Dagegen präferiert<br />

Kaube als Alternative zu einem Unterrichtsfach, das »Unterricht mit Einweisung<br />

in ein Bekenntnis gleichsetz[t]« 45 , einen »auf die Sinngehalte von Praktiken und<br />

Dogmen hin angelegten Unterricht« 46 . 47<br />

42<br />

So die YouGov Studie aus dem Jahr 2016, https://yougov.de/news/2016/09/28/mehr<br />

heit-fur-abschaffung-d<strong>es</strong>-religionsunterrichts-/.<br />

43<br />

Kaube, Haben wir was in Reli auf?, 9.<br />

44<br />

Ebd.<br />

45<br />

Ebd.<br />

46<br />

Ebd.<br />

47<br />

Damit ist Kaube allerdings schon in einer fast Dankbarkeit provozierenden Weise differenzierter<br />

und der Sache angem<strong>es</strong>sener, als --- glaubt man etwa der YouGov-Studie --- die


2.2 Die Krise d<strong>es</strong> Religionsunterrichts 29<br />

Hier zeigt sich, wie sich zu der diagnostizierten konzeptionellen Konfusion<br />

noch die breite Überzeugung einer inhaltlichen Relevanzlosigkeit g<strong>es</strong>ellt. Die<br />

Logik dahinter scheint: Weil der Religionsunterricht in Verantwortung der Kirche<br />

erteilt wird, will er vor allem Glauben vermitteln und Glauben ist unnötig ---<br />

wohl auch, weil der Staat daran ja kein Inter<strong>es</strong>se zu haben scheint.<br />

Dass ein Glaube nicht nur als unnötig, sondern bisweilen sogar als gefährlich<br />

eing<strong>es</strong>chätzt wird, zeigt die EKD selbst in ihrer fünften Studie zur Kirchenmitgliedschaft<br />

»Engagement und Indifferenz«, in der 70% der Konf<strong>es</strong>sionslosen ---<br />

aber immerhin auch 45% der Befragten mit einem Bekenntnis --- angegeben, der<br />

Aussage »Ich meine, dass f<strong>es</strong>te Glaubensüberzeugungen intolerant machen«<br />

völlig oder eher zuzustimmen. 48<br />

Deutlich zu sein scheint, dass das Anliegen und die Ziele d<strong>es</strong> Religionsunterrichts<br />

nicht nur unklarer sind als bei anderen Fächern, sondern aus di<strong>es</strong>er<br />

Ungeklärtheit auch Vorbehalte r<strong>es</strong>ultieren.<br />

Mehrheit der Deutschen: »Einen gemeinsamen Werteunterricht anstatt d<strong>es</strong> Religionsunterrichts<br />

für alle Schüler wollen sieben von zehn Deutschen (69 Prozent)«<br />

https://yougov.de/news/2016/09/28/mehrheit-fur-abschaffung-d<strong>es</strong>-religionsunterrichts-/.<br />

48<br />

Kirchenamt der EKD (Hg.), Engagement und Indifferenz, 36.


<strong>Rainer</strong> <strong>Goltz</strong>, Dr. theol., Jg. 1974, studierte Evangelische Theologie<br />

und Sozialwissenschaften auf Lehramt in Köln und Bonn. Er ist Fachleiter<br />

für Evangelische Religionslehre am Zentrum für Schulpraktische<br />

Lehrerausbildung in Leverkusen und Lehrer an einem Gymnasium.<br />

Außerdem ist er als Fachberater der Bezirksregierung Köln<br />

für den Evangelischen Religionsunterricht tätig und war viele Jahre<br />

Lehrbeauftragter für Systematische Theologie an der Universität zu<br />

Köln. Sein b<strong>es</strong>onder<strong>es</strong> Inter<strong>es</strong>se richtet sich auf die Zusammengehörigkeit<br />

von Systematischer Theologie und Religionspädagogik ang<strong>es</strong>ichts<br />

der Aufgabe der »Kommunikation d<strong>es</strong> Evangeliums«.<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet di<strong>es</strong>e Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

© 2022 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig<br />

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich g<strong>es</strong>chützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen d<strong>es</strong> Urheberrechtsg<strong>es</strong>etz<strong>es</strong> ist ohne<br />

Zustimmung d<strong>es</strong> Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insb<strong>es</strong>ondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsb<strong>es</strong>tändigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Friedrich Lux, Halle (Saale)<br />

Satz: <strong>Rainer</strong> <strong>Goltz</strong>, Köln<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-07253-8 eISBN (PDF) 978-3-374-07254-5<br />

www.eva-leipzig.de

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