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FOCUS_29_Agenda

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AGENDA<br />

HELDEN<br />

Für ein Leben nach dem<br />

Sport fehlte Jan Ullrich<br />

der Wille und die Fähigkeit<br />

zur Gestaltung<br />

Fortschritts beiträgt. Doch was hinter<br />

der Bühne geschah, wollten viele<br />

nicht wahrhaben: Die meisten waren<br />

gedopt.<br />

Medikamente, die auf Autobahnparkplätzen<br />

gefunden, Kuriere, die<br />

vom Zoll aufgehalten wurden, Spritzen<br />

im Hotelmüll – man ahnte, was in den<br />

Zimmern vor sich ging. Die Tour galt als<br />

rollende Apotheke. Und wurde trotzdem<br />

gefeiert. Bis die spanische Polizei einen<br />

Arzt namens Eufemiano Fuentes hochnahm<br />

und in seinen Tiefkühlschränken<br />

massenweise Blutbeutel entdeckte. Das<br />

war unmittelbar vor der Tour 2006. Und<br />

dieser Fund teilt Jan Ullrichs Leben in ein<br />

Davor und ein Danach.<br />

In Deutschland nahm gerade das Sommermärchen<br />

seinen Lauf, als im Hotel<br />

„Au Boeuf“ in Blaesheim bei Straßburg<br />

der ganz persönliche Albtraum des Jan<br />

Ullrich begann. Wenige Stunden vor<br />

Tourstart war die Herberge, in der einst<br />

Helmut Schmidt und Valérie Giscard<br />

d’Estaing auf die deutsch-französische<br />

Freundschaft anstießen, belagert von<br />

der Weltpresse. Ullrich war als Fuentes-<br />

Klient aufgeflogen. Er zeterte, er leugnete.<br />

Später hörte man auf dem Flur im<br />

zweiten Stock ein Surren aus Zimmer 17.<br />

Ullrich hatte sein Rad in einen Rollentrainer<br />

eingespannt und trat wütend in die<br />

Pedale. Gerade so, als könne er vor dem<br />

Unheil flüchten. Und doch kam er nicht<br />

von der Stelle.<br />

Doping ist ein komplexes Thema. Es<br />

ist unentschuldbar, klar, aber lässt es sich<br />

relativieren? Muss man junge<br />

Menschen verurteilen, die ihre<br />

Jugend diesem Traum von der<br />

Tour de France geopfert haben<br />

und feststellen, dass er sich nur<br />

mit Beschleunigern erfüllen<br />

lässt? 2006 war die Implosion<br />

eines kriminellen Systems, in<br />

dem sogar Teamärzte ihr Gehalt<br />

als Dealer aufgebessert haben<br />

sollen. Viele deutsche Fahrer<br />

haben sich später unter Tränen<br />

geoutet. Sie waren Täter und<br />

Opfer zugleich. Jan Ullrich sieht<br />

sich immer nur als Opfer, und<br />

selbst im Moment der Beichte<br />

hat er noch gelogen. Weil er in<br />

einer Parallelwelt lebt?<br />

Neues Buch<br />

Im Jubiläumsjahr kamen<br />

viele neue Biografien auf den<br />

Markt. Wie diese von Sportjournalist<br />

Sebastian Moll<br />

Neue Liebe Jan Ullrich<br />

und die Kubanerin Elizabeth<br />

Napoles sind mit kurzer<br />

Unterbrechung seit 2018 ein<br />

Paar, sie leben gemeinsam<br />

in Merdingen bei Freiburg<br />

Alte Freunde Lance<br />

Armstrong und Jan Ullrich<br />

sind eng verbunden,<br />

halfen sich durch Krisen<br />

und fahren noch immer<br />

gemeinsam Fahrrad, wie<br />

hier, 2021 auf Mallorca<br />

Viele Leute glauben, Doping senke die<br />

Hemmschwelle für Drogenkonsum. Das<br />

ist vermutlich Unsinn. Das Peloton hat<br />

kein Heer von Junkies generiert. Dass<br />

Jan Ullrich auch zu seiner aktiven Zeit<br />

gesoffen, gekokst und Ecstasy eingeworfen<br />

hat, war wohl seine Art der Realitätsflucht.<br />

Seine Art, mit dem Druck und mit<br />

seinem Kopf umzugehen. Er wollte sich<br />

betäuben.<br />

Für ein Leben nach dem Sport fehlte<br />

Jan Ullrich der Wille – und die Fähigkeit<br />

zur Gestaltung. Er schuf sich eine ganz<br />

andere Hölle. Ohne Identität,<br />

ohne Team, ohne Halt, dafür<br />

aber mit Hang zu Alkohol,<br />

Drogen und Selbstzerstörung;<br />

er schlitterte von einer verheerenden<br />

Schlagzeile in die<br />

nächste. Dabei entstanden so<br />

tragische Zeitzeugnisse wie<br />

das Video, in dem er betrunken<br />

versucht, den Weltrekord<br />

im Rauchen zu brechen, und<br />

sich zig Zigaretten in den<br />

Mund steckt. Lallend und sabbernd<br />

beschimpfte er Leute.<br />

Es schien, als begegnete er<br />

seiner Abwärtsspirale mit dem<br />

gleichen unmotivierten Fatalismus,<br />

der ihn durch seine<br />

Radkarriere stolpern ließ. Er ergab<br />

sich lange dem Schicksal, das schon<br />

seinen Vater aufgefressen hatte.<br />

2014 verursachte er mit ordentlich<br />

Promille in der Schweiz einen Autounfall<br />

mit zwei Verletzten, bekam<br />

dafür 21 Monate auf Bewährung und<br />

eine Geldstrafe.<br />

2016 zog er mit der Familie nach<br />

Mallorca, wo alles nur schlimmer<br />

wurde. 2018 ergriff seine Frau die<br />

Flucht. Ulle blieb, randalierte auf Til<br />

Schweigers Grundstück, wurde verhaftet.<br />

Nur Tage später<br />

klickten die Handschellen<br />

wieder, diesmal in<br />

Frankfurt. Ullrich soll in<br />

einem Luxushotel eine<br />

Prostituierte gewürgt haben,<br />

kurz darauf stellte<br />

ein Restaurantbesitzer<br />

Anzeige wegen Körperverletzung.<br />

Ullrich drehte frei und<br />

sorgte für Fotos, die der<br />

Welt das Bild eines Mannes<br />

zeigten, der versucht,<br />

Boden unter die Füße zu<br />

bekommen – nur um<br />

wieder abzurutschen. Er<br />

machte einen Entzug in<br />

der Betty-Ford-Klinik, zog<br />

zurück in den Schwarzwald, gab den<br />

bodenständigen Familienvater. Doch auf<br />

die Inszenierung einer Wiedergeburt bei<br />

einem Fahrradurlaub mit Lance Armstrong<br />

folgte die Nachricht eines erneuten<br />

Zusammenbruchs in Mexiko, der auf<br />

einer Intensivstation endete.<br />

Halt für den Haltlosen<br />

Bei einem seiner wenigen öffentlichen<br />

Auftritte der vergangenen Jahre, einem<br />

Podcast-Gespräch mit seinem einstigen<br />

Erzrivalen und guten Freund Armstrong<br />

im vergangenen September, sagte er:<br />

„Ich war auf demselben Weg wie Marco<br />

Pantani. Ich war beinahe tot.“ Wie Ullrich<br />

wurde Pantani über Nacht vom Nationalhelden<br />

zum Antihelden. Der Tour-de-<br />

France-Sieger des Jahres 1998 wurde<br />

mit einer Überdosis Kokain tot in einem<br />

Hotelzimmer in Rimini aufgefunden.<br />

Nun, in Merdingen, wird die Zeit ein<br />

wenig zurückgedreht. Seine alten Radkumpels<br />

Dirk und Mike Baldinger hatten<br />

den Kontakt zu Armstrong hergestellt;<br />

es wirkt, als hätten sie Ullrich damit das<br />

Leben gerettet. Und auch wenn die Pläne<br />

für ein Radzentrum im 2500-Einwohner-<br />

Ort einstweilen gescheitert sind, so versuchen<br />

seine Freunde doch, dem ewig<br />

Haltlosen den nötigen Halt zu geben. ■<br />

Fo t o s : action press, instagram.com/lancearmstrong<br />

26 <strong>FOCUS</strong> <strong>29</strong>/2022

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