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AGENDA<br />
HELDEN<br />
Für ein Leben nach dem<br />
Sport fehlte Jan Ullrich<br />
der Wille und die Fähigkeit<br />
zur Gestaltung<br />
Fortschritts beiträgt. Doch was hinter<br />
der Bühne geschah, wollten viele<br />
nicht wahrhaben: Die meisten waren<br />
gedopt.<br />
Medikamente, die auf Autobahnparkplätzen<br />
gefunden, Kuriere, die<br />
vom Zoll aufgehalten wurden, Spritzen<br />
im Hotelmüll – man ahnte, was in den<br />
Zimmern vor sich ging. Die Tour galt als<br />
rollende Apotheke. Und wurde trotzdem<br />
gefeiert. Bis die spanische Polizei einen<br />
Arzt namens Eufemiano Fuentes hochnahm<br />
und in seinen Tiefkühlschränken<br />
massenweise Blutbeutel entdeckte. Das<br />
war unmittelbar vor der Tour 2006. Und<br />
dieser Fund teilt Jan Ullrichs Leben in ein<br />
Davor und ein Danach.<br />
In Deutschland nahm gerade das Sommermärchen<br />
seinen Lauf, als im Hotel<br />
„Au Boeuf“ in Blaesheim bei Straßburg<br />
der ganz persönliche Albtraum des Jan<br />
Ullrich begann. Wenige Stunden vor<br />
Tourstart war die Herberge, in der einst<br />
Helmut Schmidt und Valérie Giscard<br />
d’Estaing auf die deutsch-französische<br />
Freundschaft anstießen, belagert von<br />
der Weltpresse. Ullrich war als Fuentes-<br />
Klient aufgeflogen. Er zeterte, er leugnete.<br />
Später hörte man auf dem Flur im<br />
zweiten Stock ein Surren aus Zimmer 17.<br />
Ullrich hatte sein Rad in einen Rollentrainer<br />
eingespannt und trat wütend in die<br />
Pedale. Gerade so, als könne er vor dem<br />
Unheil flüchten. Und doch kam er nicht<br />
von der Stelle.<br />
Doping ist ein komplexes Thema. Es<br />
ist unentschuldbar, klar, aber lässt es sich<br />
relativieren? Muss man junge<br />
Menschen verurteilen, die ihre<br />
Jugend diesem Traum von der<br />
Tour de France geopfert haben<br />
und feststellen, dass er sich nur<br />
mit Beschleunigern erfüllen<br />
lässt? 2006 war die Implosion<br />
eines kriminellen Systems, in<br />
dem sogar Teamärzte ihr Gehalt<br />
als Dealer aufgebessert haben<br />
sollen. Viele deutsche Fahrer<br />
haben sich später unter Tränen<br />
geoutet. Sie waren Täter und<br />
Opfer zugleich. Jan Ullrich sieht<br />
sich immer nur als Opfer, und<br />
selbst im Moment der Beichte<br />
hat er noch gelogen. Weil er in<br />
einer Parallelwelt lebt?<br />
Neues Buch<br />
Im Jubiläumsjahr kamen<br />
viele neue Biografien auf den<br />
Markt. Wie diese von Sportjournalist<br />
Sebastian Moll<br />
Neue Liebe Jan Ullrich<br />
und die Kubanerin Elizabeth<br />
Napoles sind mit kurzer<br />
Unterbrechung seit 2018 ein<br />
Paar, sie leben gemeinsam<br />
in Merdingen bei Freiburg<br />
Alte Freunde Lance<br />
Armstrong und Jan Ullrich<br />
sind eng verbunden,<br />
halfen sich durch Krisen<br />
und fahren noch immer<br />
gemeinsam Fahrrad, wie<br />
hier, 2021 auf Mallorca<br />
Viele Leute glauben, Doping senke die<br />
Hemmschwelle für Drogenkonsum. Das<br />
ist vermutlich Unsinn. Das Peloton hat<br />
kein Heer von Junkies generiert. Dass<br />
Jan Ullrich auch zu seiner aktiven Zeit<br />
gesoffen, gekokst und Ecstasy eingeworfen<br />
hat, war wohl seine Art der Realitätsflucht.<br />
Seine Art, mit dem Druck und mit<br />
seinem Kopf umzugehen. Er wollte sich<br />
betäuben.<br />
Für ein Leben nach dem Sport fehlte<br />
Jan Ullrich der Wille – und die Fähigkeit<br />
zur Gestaltung. Er schuf sich eine ganz<br />
andere Hölle. Ohne Identität,<br />
ohne Team, ohne Halt, dafür<br />
aber mit Hang zu Alkohol,<br />
Drogen und Selbstzerstörung;<br />
er schlitterte von einer verheerenden<br />
Schlagzeile in die<br />
nächste. Dabei entstanden so<br />
tragische Zeitzeugnisse wie<br />
das Video, in dem er betrunken<br />
versucht, den Weltrekord<br />
im Rauchen zu brechen, und<br />
sich zig Zigaretten in den<br />
Mund steckt. Lallend und sabbernd<br />
beschimpfte er Leute.<br />
Es schien, als begegnete er<br />
seiner Abwärtsspirale mit dem<br />
gleichen unmotivierten Fatalismus,<br />
der ihn durch seine<br />
Radkarriere stolpern ließ. Er ergab<br />
sich lange dem Schicksal, das schon<br />
seinen Vater aufgefressen hatte.<br />
2014 verursachte er mit ordentlich<br />
Promille in der Schweiz einen Autounfall<br />
mit zwei Verletzten, bekam<br />
dafür 21 Monate auf Bewährung und<br />
eine Geldstrafe.<br />
2016 zog er mit der Familie nach<br />
Mallorca, wo alles nur schlimmer<br />
wurde. 2018 ergriff seine Frau die<br />
Flucht. Ulle blieb, randalierte auf Til<br />
Schweigers Grundstück, wurde verhaftet.<br />
Nur Tage später<br />
klickten die Handschellen<br />
wieder, diesmal in<br />
Frankfurt. Ullrich soll in<br />
einem Luxushotel eine<br />
Prostituierte gewürgt haben,<br />
kurz darauf stellte<br />
ein Restaurantbesitzer<br />
Anzeige wegen Körperverletzung.<br />
Ullrich drehte frei und<br />
sorgte für Fotos, die der<br />
Welt das Bild eines Mannes<br />
zeigten, der versucht,<br />
Boden unter die Füße zu<br />
bekommen – nur um<br />
wieder abzurutschen. Er<br />
machte einen Entzug in<br />
der Betty-Ford-Klinik, zog<br />
zurück in den Schwarzwald, gab den<br />
bodenständigen Familienvater. Doch auf<br />
die Inszenierung einer Wiedergeburt bei<br />
einem Fahrradurlaub mit Lance Armstrong<br />
folgte die Nachricht eines erneuten<br />
Zusammenbruchs in Mexiko, der auf<br />
einer Intensivstation endete.<br />
Halt für den Haltlosen<br />
Bei einem seiner wenigen öffentlichen<br />
Auftritte der vergangenen Jahre, einem<br />
Podcast-Gespräch mit seinem einstigen<br />
Erzrivalen und guten Freund Armstrong<br />
im vergangenen September, sagte er:<br />
„Ich war auf demselben Weg wie Marco<br />
Pantani. Ich war beinahe tot.“ Wie Ullrich<br />
wurde Pantani über Nacht vom Nationalhelden<br />
zum Antihelden. Der Tour-de-<br />
France-Sieger des Jahres 1998 wurde<br />
mit einer Überdosis Kokain tot in einem<br />
Hotelzimmer in Rimini aufgefunden.<br />
Nun, in Merdingen, wird die Zeit ein<br />
wenig zurückgedreht. Seine alten Radkumpels<br />
Dirk und Mike Baldinger hatten<br />
den Kontakt zu Armstrong hergestellt;<br />
es wirkt, als hätten sie Ullrich damit das<br />
Leben gerettet. Und auch wenn die Pläne<br />
für ein Radzentrum im 2500-Einwohner-<br />
Ort einstweilen gescheitert sind, so versuchen<br />
seine Freunde doch, dem ewig<br />
Haltlosen den nötigen Halt zu geben. ■<br />
Fo t o s : action press, instagram.com/lancearmstrong<br />
26 <strong>FOCUS</strong> <strong>29</strong>/2022