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FOCUS_29_Agenda

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HELDEN<br />

Es gibt ein Lebenszeichen<br />

von Jan Ullrich. Und das ist<br />

nach all den Meldungen der<br />

vergangenen Jahre schon<br />

mal eine gute Nachricht. Es<br />

scheint ihm gut zu gehen.<br />

Gerade teilte er auf Social<br />

Media seinen über 100000 Followern mit,<br />

dass ihm die ARD-Doku „Being Jan Ullrich“<br />

„große Emotionen“ bereite. Und ein<br />

paar Tage später zeigte er sich verschwitzt<br />

im Radtrikot und von Kindern umringt.<br />

Ullrich, das weiß man jetzt, ist wieder<br />

zurückgekehrt in seine badische Wahlheimat<br />

Merdingen; also dorthin, wo sein<br />

Aufstieg zur Legende begann und man<br />

eine Straße nach ihm benannt hat. Aber<br />

ist er auch bei sich selbst angekommen?<br />

Kommendes Wochenende rollt der Tross<br />

der Tour de France auf den Champs-Élysées<br />

ein; es wird wieder diese Bilder geben von<br />

ausgemergelten Gestalten in bunten Klamotten,<br />

die Champagner trinkend durch<br />

Paris radeln. Vor<br />

25 Jahren trug Jan<br />

Ullrich hier das<br />

Gelbe Trikot, er<br />

war der erste und<br />

bislang einzige<br />

deutsche Tour-Sieger.<br />

Das ist wohl<br />

auch der Grund für<br />

die Retro-Wochen:<br />

Die ARD zeigt die<br />

großartige Doku-<br />

Reihe, Biografien<br />

kommen auf den<br />

Markt. Was fehlt,<br />

ist ein Spielfilm.<br />

Und Ullrichs Story<br />

hätte das Potenzial<br />

dazu. Offenbar<br />

Talentiertes Kind Jan Ullrich<br />

wuchs in Rostock auf.<br />

hat er die Rechte<br />

daran schon für<br />

Schon mit neun gewann er<br />

viel Geld an einen<br />

sein erstes Radrennen<br />

Streaming-Dienst<br />

verkauft.<br />

Der Radsport ist eine gute Metapher auf<br />

das Leben. Der Weg bergauf ist zäh und<br />

quälend lang, dann geht’s rasant bergab.<br />

Bei Ullrich ging alles wie in fast forward:<br />

rauf und runter. Und das gleich mehrmals.<br />

Auch deshalb wurde er in seinen besten<br />

Zeiten zur Projektionsfläche:<br />

Sein Duell gegen den Texaner Lance<br />

Armstrong ließ die Sportromantiker jedes<br />

Jahr davon träumen, dass die spielerische<br />

Leichtigkeit des Jahrhunderttalents über<br />

den maschinoiden Seriensieger triumphieren<br />

möge. Kann gut sein, dass Ullrich auch<br />

an diesen Erwartungen zerbrochen ist.<br />

Oder dass er zum Opfer einer geifernden<br />

Mediengesellschaft wurde. Oder eines von<br />

Kindheitstraumata oder<br />

seiner charakterlichen Disposition?<br />

Kam seine Entwicklung<br />

der Popularität<br />

nicht hinterher? Fehlte<br />

ihm Halt? Sicher ist, dass<br />

ein Absturz wie dieser selten<br />

monokausalen Mustern<br />

folgt.<br />

Amateur-Weltmeister<br />

1993, Tour-Gewinner vier<br />

Jahre später, Olympiasieger<br />

2000. Sein Name wurde<br />

zum Synonym einer ganzen<br />

Sportart; er personifizierte<br />

sie wie Boris Becker<br />

das Tennis, Michael Schumacher<br />

die Formel 1 und Henry Maske das<br />

Boxen. Aber Hype kann auch gnadenlos<br />

sein. Die „Süddeutsche“ schrieb neulich,<br />

dass es genau damit zusammenhängen<br />

könne, dass „der eine alte Held in der Entzugsklinik<br />

landet und der andere alte Held<br />

im Gefängnis“. Tatsächlich sind Ullrichs<br />

Fall und Beckers Fall wesensverwandt:<br />

das Resultat einer gewissen Hybris. Der<br />

unverwundbare Übersportler, der sich irdischen<br />

Gesetzmäßigkeiten entzieht. Und<br />

womöglich delektiert sich das Publikum<br />

auch gerade deshalb so sehr daran. Weil<br />

es das eigene mediokre Leben viel erträglicher<br />

macht.<br />

Gnade der Wade, Problem im Kopf<br />

Jan Ullrich, da sind sich in der Radsportszene<br />

alle einig, hatte das Talent, die Tour<br />

über ein Jahrzehnt zu dominieren. Er hätte<br />

dafür nicht mal an seine Grenzen gehen<br />

müssen. Er war ein begnadeter Radfahrer,<br />

physiologisch beschenkt. Aber<br />

dieses Geschenk steckte eben mehr in<br />

den Waden und den Oberschenkeln als<br />

im Kopf. Das trieb seinen<br />

Manager Wolfgang Strohband,<br />

einen freundlichen<br />

Autohändler, ebenso regelmäßig<br />

in den Wahnsinn wie<br />

seine Teamchefs und manche<br />

Kollegen. Antriebslosigkeit,<br />

Phlegma, Trainingsphobie –<br />

es gab nur wenige Momente,<br />

in denen Ullrich körperlich<br />

sein Potenzial erreichte. „Der<br />

Ulle war als Rennfahrer wie<br />

ein pubertierender 15-Jähriger,<br />

der keinen Bock auf seine<br />

Hausaufgaben hat“, sagt<br />

ein langjähriger Wegbegleiter,<br />

„geistig ist er ungefähr auf<br />

dem Level stehen geblieben.“<br />

Tatsächlich verprasste Ullrich<br />

sein Talent exakt so wie<br />

später die vielen Millionen,<br />

Junger Star Ullrich am Hotelpool in<br />

St. Etienne, Frankreich, im Juli 1997. Damals<br />

bestimmte er die Schlagzeilen zu Hause<br />

»<br />

Der Ulle war<br />

als Rennfahrer<br />

so wie ein<br />

pubertierender<br />

15-Jähriger,<br />

der keinen Bock<br />

hat, seine<br />

Hausaufgaben<br />

zu machen<br />

«<br />

ein langjähriger<br />

Wegbegleiter<br />

die er sich jahrelang erstrampelt<br />

hat. Er wusste<br />

seine Begabung nicht zu<br />

schätzen. Aus mangelndem<br />

Respekt vor sich<br />

selbst? Jan Ullrich ist wie<br />

ein Lottokönig, der nach<br />

zehn fetten Jahren wieder<br />

bei null ankommt.<br />

Es ist das ungute Spiel<br />

von Hoffnung und Enttäuschung,<br />

von vermeintlicher<br />

Läuterung und Ignoranz.<br />

Ullrich führte es jedes<br />

Jahr neu auf.<br />

Im Jahr 2004 veröffentlichte<br />

Ullrich gemeinsam<br />

mit einem ARD-Journalisten eine Biografie;<br />

es war eine erstaunlich schonungslose<br />

Auseinandersetzung mit sich und seinen<br />

Schwächen, und was er über seine Kindheit<br />

berichtete, mag diese permanente<br />

Berg-und-Tal-Fahrt erklären. Das Aufwachsen<br />

in der DDR, der Vater ein Hardcore-Säufer,<br />

der die Kinder verprügelte<br />

und die Ehefrau noch mehr und schließlich<br />

die Familie sitzen ließ. Jan Ullrich war<br />

inzwischen selbst Vater geworden und<br />

in die Schweiz an den Bodensee gezogen,<br />

in eine Villa, die nach Idyll aussah.<br />

Und mit einem Mal setzte auch bei ihm<br />

ein Denkprozess ein. Er stand auf der<br />

Terrasse seinen neues Hauses, goss das<br />

Planschbecken aus und sprach darüber,<br />

dass er zwar alles anders machen wolle,<br />

aber wohl mehr von seinem Vater geerbt<br />

habe, als ihm lieb sei.<br />

Er hatte damals gar keine Ahnung, wie<br />

viel von seinem Vater tatsächlich in ihm<br />

steckte. Jan Ullrich ist als Mensch ebenso<br />

ambivalent wie der gesamte Profiradsport.<br />

An nüchternen Tagen ist er charmant, der<br />

sommersprossige Nachbarsjunge.<br />

Er kann sich aber auch<br />

in einen Teufel verwandeln.<br />

Mit dem Radsport verhält<br />

es sich ähnlich. Die Tour de<br />

France ist eine Showveranstaltung,<br />

ersonnen von einem<br />

Journalisten, um auch im Sommerloch<br />

etwas berichten zu<br />

können. Allein die Streckenführung<br />

visualisiert nationale<br />

Symbolik und Geschichte;<br />

und das Rennen erzählt<br />

ein faszinierendes Epos<br />

von Leid und Grenzgängertum.<br />

Der Philosoph Roland<br />

Barthes beschrieb sie als<br />

durchinszeniertes Schauspiel;<br />

eine Mythenmaschine, die<br />

zur Heroisierung der Sportler<br />

und des technischen<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>29</strong>/2022 25

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