Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
HELDEN<br />
Es gibt ein Lebenszeichen<br />
von Jan Ullrich. Und das ist<br />
nach all den Meldungen der<br />
vergangenen Jahre schon<br />
mal eine gute Nachricht. Es<br />
scheint ihm gut zu gehen.<br />
Gerade teilte er auf Social<br />
Media seinen über 100000 Followern mit,<br />
dass ihm die ARD-Doku „Being Jan Ullrich“<br />
„große Emotionen“ bereite. Und ein<br />
paar Tage später zeigte er sich verschwitzt<br />
im Radtrikot und von Kindern umringt.<br />
Ullrich, das weiß man jetzt, ist wieder<br />
zurückgekehrt in seine badische Wahlheimat<br />
Merdingen; also dorthin, wo sein<br />
Aufstieg zur Legende begann und man<br />
eine Straße nach ihm benannt hat. Aber<br />
ist er auch bei sich selbst angekommen?<br />
Kommendes Wochenende rollt der Tross<br />
der Tour de France auf den Champs-Élysées<br />
ein; es wird wieder diese Bilder geben von<br />
ausgemergelten Gestalten in bunten Klamotten,<br />
die Champagner trinkend durch<br />
Paris radeln. Vor<br />
25 Jahren trug Jan<br />
Ullrich hier das<br />
Gelbe Trikot, er<br />
war der erste und<br />
bislang einzige<br />
deutsche Tour-Sieger.<br />
Das ist wohl<br />
auch der Grund für<br />
die Retro-Wochen:<br />
Die ARD zeigt die<br />
großartige Doku-<br />
Reihe, Biografien<br />
kommen auf den<br />
Markt. Was fehlt,<br />
ist ein Spielfilm.<br />
Und Ullrichs Story<br />
hätte das Potenzial<br />
dazu. Offenbar<br />
Talentiertes Kind Jan Ullrich<br />
wuchs in Rostock auf.<br />
hat er die Rechte<br />
daran schon für<br />
Schon mit neun gewann er<br />
viel Geld an einen<br />
sein erstes Radrennen<br />
Streaming-Dienst<br />
verkauft.<br />
Der Radsport ist eine gute Metapher auf<br />
das Leben. Der Weg bergauf ist zäh und<br />
quälend lang, dann geht’s rasant bergab.<br />
Bei Ullrich ging alles wie in fast forward:<br />
rauf und runter. Und das gleich mehrmals.<br />
Auch deshalb wurde er in seinen besten<br />
Zeiten zur Projektionsfläche:<br />
Sein Duell gegen den Texaner Lance<br />
Armstrong ließ die Sportromantiker jedes<br />
Jahr davon träumen, dass die spielerische<br />
Leichtigkeit des Jahrhunderttalents über<br />
den maschinoiden Seriensieger triumphieren<br />
möge. Kann gut sein, dass Ullrich auch<br />
an diesen Erwartungen zerbrochen ist.<br />
Oder dass er zum Opfer einer geifernden<br />
Mediengesellschaft wurde. Oder eines von<br />
Kindheitstraumata oder<br />
seiner charakterlichen Disposition?<br />
Kam seine Entwicklung<br />
der Popularität<br />
nicht hinterher? Fehlte<br />
ihm Halt? Sicher ist, dass<br />
ein Absturz wie dieser selten<br />
monokausalen Mustern<br />
folgt.<br />
Amateur-Weltmeister<br />
1993, Tour-Gewinner vier<br />
Jahre später, Olympiasieger<br />
2000. Sein Name wurde<br />
zum Synonym einer ganzen<br />
Sportart; er personifizierte<br />
sie wie Boris Becker<br />
das Tennis, Michael Schumacher<br />
die Formel 1 und Henry Maske das<br />
Boxen. Aber Hype kann auch gnadenlos<br />
sein. Die „Süddeutsche“ schrieb neulich,<br />
dass es genau damit zusammenhängen<br />
könne, dass „der eine alte Held in der Entzugsklinik<br />
landet und der andere alte Held<br />
im Gefängnis“. Tatsächlich sind Ullrichs<br />
Fall und Beckers Fall wesensverwandt:<br />
das Resultat einer gewissen Hybris. Der<br />
unverwundbare Übersportler, der sich irdischen<br />
Gesetzmäßigkeiten entzieht. Und<br />
womöglich delektiert sich das Publikum<br />
auch gerade deshalb so sehr daran. Weil<br />
es das eigene mediokre Leben viel erträglicher<br />
macht.<br />
Gnade der Wade, Problem im Kopf<br />
Jan Ullrich, da sind sich in der Radsportszene<br />
alle einig, hatte das Talent, die Tour<br />
über ein Jahrzehnt zu dominieren. Er hätte<br />
dafür nicht mal an seine Grenzen gehen<br />
müssen. Er war ein begnadeter Radfahrer,<br />
physiologisch beschenkt. Aber<br />
dieses Geschenk steckte eben mehr in<br />
den Waden und den Oberschenkeln als<br />
im Kopf. Das trieb seinen<br />
Manager Wolfgang Strohband,<br />
einen freundlichen<br />
Autohändler, ebenso regelmäßig<br />
in den Wahnsinn wie<br />
seine Teamchefs und manche<br />
Kollegen. Antriebslosigkeit,<br />
Phlegma, Trainingsphobie –<br />
es gab nur wenige Momente,<br />
in denen Ullrich körperlich<br />
sein Potenzial erreichte. „Der<br />
Ulle war als Rennfahrer wie<br />
ein pubertierender 15-Jähriger,<br />
der keinen Bock auf seine<br />
Hausaufgaben hat“, sagt<br />
ein langjähriger Wegbegleiter,<br />
„geistig ist er ungefähr auf<br />
dem Level stehen geblieben.“<br />
Tatsächlich verprasste Ullrich<br />
sein Talent exakt so wie<br />
später die vielen Millionen,<br />
Junger Star Ullrich am Hotelpool in<br />
St. Etienne, Frankreich, im Juli 1997. Damals<br />
bestimmte er die Schlagzeilen zu Hause<br />
»<br />
Der Ulle war<br />
als Rennfahrer<br />
so wie ein<br />
pubertierender<br />
15-Jähriger,<br />
der keinen Bock<br />
hat, seine<br />
Hausaufgaben<br />
zu machen<br />
«<br />
ein langjähriger<br />
Wegbegleiter<br />
die er sich jahrelang erstrampelt<br />
hat. Er wusste<br />
seine Begabung nicht zu<br />
schätzen. Aus mangelndem<br />
Respekt vor sich<br />
selbst? Jan Ullrich ist wie<br />
ein Lottokönig, der nach<br />
zehn fetten Jahren wieder<br />
bei null ankommt.<br />
Es ist das ungute Spiel<br />
von Hoffnung und Enttäuschung,<br />
von vermeintlicher<br />
Läuterung und Ignoranz.<br />
Ullrich führte es jedes<br />
Jahr neu auf.<br />
Im Jahr 2004 veröffentlichte<br />
Ullrich gemeinsam<br />
mit einem ARD-Journalisten eine Biografie;<br />
es war eine erstaunlich schonungslose<br />
Auseinandersetzung mit sich und seinen<br />
Schwächen, und was er über seine Kindheit<br />
berichtete, mag diese permanente<br />
Berg-und-Tal-Fahrt erklären. Das Aufwachsen<br />
in der DDR, der Vater ein Hardcore-Säufer,<br />
der die Kinder verprügelte<br />
und die Ehefrau noch mehr und schließlich<br />
die Familie sitzen ließ. Jan Ullrich war<br />
inzwischen selbst Vater geworden und<br />
in die Schweiz an den Bodensee gezogen,<br />
in eine Villa, die nach Idyll aussah.<br />
Und mit einem Mal setzte auch bei ihm<br />
ein Denkprozess ein. Er stand auf der<br />
Terrasse seinen neues Hauses, goss das<br />
Planschbecken aus und sprach darüber,<br />
dass er zwar alles anders machen wolle,<br />
aber wohl mehr von seinem Vater geerbt<br />
habe, als ihm lieb sei.<br />
Er hatte damals gar keine Ahnung, wie<br />
viel von seinem Vater tatsächlich in ihm<br />
steckte. Jan Ullrich ist als Mensch ebenso<br />
ambivalent wie der gesamte Profiradsport.<br />
An nüchternen Tagen ist er charmant, der<br />
sommersprossige Nachbarsjunge.<br />
Er kann sich aber auch<br />
in einen Teufel verwandeln.<br />
Mit dem Radsport verhält<br />
es sich ähnlich. Die Tour de<br />
France ist eine Showveranstaltung,<br />
ersonnen von einem<br />
Journalisten, um auch im Sommerloch<br />
etwas berichten zu<br />
können. Allein die Streckenführung<br />
visualisiert nationale<br />
Symbolik und Geschichte;<br />
und das Rennen erzählt<br />
ein faszinierendes Epos<br />
von Leid und Grenzgängertum.<br />
Der Philosoph Roland<br />
Barthes beschrieb sie als<br />
durchinszeniertes Schauspiel;<br />
eine Mythenmaschine, die<br />
zur Heroisierung der Sportler<br />
und des technischen<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>29</strong>/2022 25