FOCUS-2022-30_Vorschau
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AUSGABE <strong>30</strong> 23. Juli <strong>2022</strong><br />
EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER <strong>2022</strong> POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC<br />
Sind die fetten<br />
Jahre vorbei,<br />
Herr Schäuble?<br />
Ein Doppelinterview<br />
mit Jungpolitikerin<br />
Emilia Fester<br />
DER<br />
KAMPF<br />
UM<br />
WASSER<br />
Die Dürre in Deutschland,<br />
die wirtschaftlichen Folgen und wie<br />
wir den Quell des Lebens sichern<br />
Wind statt Gas?<br />
Die Energiekrise und das<br />
zähe Ringen um Alternativen<br />
Trash statt TV<br />
Wie das Fernsehen mit Stars von<br />
gestern um die Zukunft kämpft<br />
Rad statt Auto?<br />
Neue Verkehrs-Experimente<br />
verändern unsere Innenstädte
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E-PAPER LESEN:
ENE, MENE, MUH<br />
Günter Bannas über die<br />
Ausschlussverfahren der SPD<br />
Seite 2<br />
23. Juli <strong>2022</strong> | #37<br />
Seite 4<br />
SONNENFINSTERNIS<br />
Anne Wizorek<br />
über das politische Klima<br />
Seite 5<br />
Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch<br />
EDITORIAL<br />
Die Zeitenwende in der Außenpolitik<br />
Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />
Fotos: Peter Rigaud/<strong>FOCUS</strong>-Magazin, Reuters (2)<br />
Liebe Leserinnen,<br />
liebe Leser,<br />
die G7-Staaten im bayerischen Elmau, der<br />
Golf-Kooperationsrat mit US-Präsident Joe<br />
Biden in Dschidda und die Präsidenten<br />
von Russland, der Türkei und des Iran in<br />
Teheran: Wir haben in den vergangenen<br />
Tagen und Wochen drei Gipfeltreffen erlebt,<br />
die für gegensätzliche Welten stehen.<br />
In Elmau demonstrierten<br />
führende westliche Industrienationen<br />
Entschlossenheit,<br />
unsere Werte und Interessen<br />
gegen die russische<br />
Aggression zu behaupten.<br />
In Teheran war zu erleben,<br />
wie sich mit dem russischen<br />
Präsidenten Wladimir<br />
Putin und seinem iranischen<br />
Amtskollegen Ebrahim Raisi<br />
zwei der skrupellosesten<br />
Feinde von Freiheit, Demokratie<br />
und freien Märkten<br />
vernetzen.<br />
Russland und der Iran sind darüber<br />
hinaus beides bedeutende Öl- und vor<br />
allem Gasförderländer, die beide mit massiven<br />
westlichen Wirtschaftssanktionen zu<br />
kämpfen haben und die sich beide durch<br />
unsere Werte massiv bedroht fühlen. Wenn<br />
die Feinde der Demokratie Händchen halten,<br />
wie Putin und Raisi in Teheran, dann<br />
sollten Demokraten alarmiert<br />
sein. Und selbst ein autokratisch<br />
gesinnter Politiker wie<br />
Erdogan sollte sich fragen, ob<br />
er in Teheran nicht in schlechte<br />
Gesellschaft geraten ist.<br />
Dschidda wiederum steht<br />
für den Versuch der USA als<br />
westliche Führungsmacht,<br />
die Beziehungen zu – durchaus<br />
problematischen – Partnern<br />
wie Saudi-Arabien in<br />
unser aller Interesse zu stärken<br />
und so dem imperialen<br />
Drängen Mos kaus und Teherans,<br />
aber auch Chinas Einhalt<br />
zu gebieten.<br />
Es geht um Öl, Gas und<br />
Waffen, um die Vorherrschaft<br />
in der für unsere Wirtschaft<br />
DER HAUPTSTADTBRIEF<br />
und unseren Wohlstand so wichtigen Region<br />
am Persischen Golf, dessen Anrainerstaaten<br />
den aggressiven Iran mit seinen<br />
Huthi-Hilfstruppen im Jemen nicht weniger<br />
fürchten als wir in EU und Nato den<br />
Kriegstreiber im Kreml.<br />
Teheran rüstet die islamistischen Huthis<br />
mit Drohnen aus, auf die auch Russland<br />
für die Fortsetzung des Kriegs gegen<br />
die Ukraine hofft. Und natürlich würde<br />
Realpolitik US-Präsident Joe Biden mit Mohammed bin Salman in<br />
Saudi-Arabien, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan in Teheran<br />
EXKLUSIV<br />
FÜR<br />
<strong>FOCUS</strong><br />
ABONNENTEN<br />
Steinzeiten<br />
Trumps furchtbare Juristen führen die USA<br />
zurück in die unheile Welt von Vorgestern<br />
Von Heike Paul<br />
Trump<br />
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Analysen zur Politik<br />
es Putin bei seiner Energie-Erpressung<br />
des Westens in die Hände spielen, wenn<br />
vom bürgerkriegszerrütteten Jemen aus<br />
die Öl- und Gas-Infrastruktur am Golf so<br />
attackiert würden, dass nicht mehr, sondern<br />
im Gegenteil weniger Energie auf<br />
die Weltmärkte gelangen würde. Versuche<br />
dazu hat es in der Vergangenheit mehr als<br />
einen gegeben.<br />
Die westlichen Industrienationen<br />
müssen auf das Gegenteil<br />
hoffen, auf eine Ausweitung<br />
des Angebots an<br />
Energielieferungen aus dem<br />
Nahen Osten, damit der brutale<br />
Preisanstieg gestoppt wird,<br />
der die Inflation anheizt und<br />
uns Kraft kostet, die wir im<br />
Ringen mit den autokratischen<br />
Feinden unserer Werte<br />
und unseres Wirtschaftssystems<br />
dringend benötigen.<br />
Außenpolitik ist in unserer<br />
Welt mit Wirtschaftspolitik untrennbar<br />
verwoben, und zusammen<br />
haben sie entscheidenden<br />
Einfluss auf Sieg oder<br />
Niederlage auf dem Schlacht-<br />
feld. Der Bundeskanzler fordert als Konsequenz<br />
aus den grundlegenden Veränderungen<br />
der weltpolitischen Lage, dass<br />
die EU zu einem geopolitischen Akteur<br />
werden müsse. Dem kann man nur zustimmen.<br />
Es reicht aber nicht, wenn damit nur<br />
die alte Forderung nach mehr Geschlossenheit<br />
in der EU im Sinn von Berlin neu<br />
aufgelegt wird („Schluss mit nationalen<br />
Alleingängen“).<br />
Die USA werden es nach<br />
den Worten von Präsident<br />
Biden nicht zulassen, dass<br />
in der Golfregion ein Vakuum<br />
entsteht, „das von China,<br />
Russland oder dem Iran<br />
ausgefüllt wird“.<br />
Dabei sollte die EU, sollte<br />
Deutschland treibende<br />
Kraft werden. China zum<br />
Beispiel ist als strategischer<br />
Investor und industrieller<br />
Partner ein unübersehbarer<br />
Machtfaktor in den Golf-<br />
Anrainerstaaten geworden.<br />
Auch wir sollten stärker vom Energiekunden<br />
zum industriellen Partner dieser<br />
Staaten werden. Denn Instabilität am Golf<br />
mit seinen enormen Energievorkommen,<br />
aber auch mit seinen für den globalen<br />
Handel so wichtigen Schifffahrtsverbindungen<br />
würde sich schnell bei jedem von<br />
uns schmerzlich bemerkbar machen.<br />
Putins Überfall auf die Ukraine hat wie<br />
unter einem Brennglas die neue globale<br />
Schlachtordnung für jedermann erkennbar<br />
gemacht: Es geht nicht mehr um Sozialismus<br />
gegen Kapitalismus, wie im<br />
Kalten Krieg. Heute geht es vor allem um<br />
Demokratie und Freiheit gegen Autokra -<br />
tie und Unfreiheit. Wenn der Westen auch<br />
diese neue Herausforderung bestehen<br />
will, dann braucht es Realpolitik, kombiniert<br />
mit der Weitsicht von Staatsfrauen<br />
und -männern. Der große Henry Kissinger<br />
wird nicht müde, darauf hinzuweisen, vor<br />
drei Wochen auch im <strong>FOCUS</strong>. Man sollte<br />
ihm zuhören – in Brüssel und Berlin!<br />
Herzlich Ihr<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>30</strong>/<strong>2022</strong> 3
Unter Strom<br />
Robert Habeck<br />
muss Energiequellen<br />
erschließen<br />
– gegen viele<br />
Widerstände<br />
Seite 28<br />
Für alle<br />
Emilia Fester,<br />
Wolfgang Schäuble<br />
und die Suche<br />
nach politischem<br />
Konsens<br />
Seite 38<br />
Im Taumel<br />
Das deutsche Fernsehen versucht,<br />
hemmungslos gute Laune zu verbreiten.<br />
Mit überschaubarem Erfolg<br />
Seite 22<br />
Vom Grill<br />
Lauch mit<br />
Rote-Bete-<br />
Tahin<br />
Seite 108<br />
Ohne Kanten Kuschelsessel von Faye Toogood Seite 96<br />
4 <strong>FOCUS</strong> <strong>30</strong>/<strong>2022</strong>
INHALT NR. <strong>30</strong> | 23. JULI <strong>2022</strong><br />
Titelthema<br />
Wirtschaft<br />
Kultur<br />
Titel: Getty Images, Jonas Holthaus für <strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />
Fotos: Heinrich Holtgreve für <strong>FOCUS</strong>-Magazin, Jonas Holthaus für <strong>FOCUS</strong>-Magazin, imago, Sven Doornkaat/ProSieben, Fernando<br />
Laposse, Louise Hagger/Photography, Emily Kydd/Food Styling, Jennifer Kay/Prop Styling, Katy Gilhooly/Food Stylist Assistant<br />
48 Der staubige Planet<br />
Der Verteilungskampf ums Wasser ist längst<br />
entbrannt. Auf dem Spiel steht nichts Geringeres<br />
als unsere gewohnte Lebensweise<br />
57 „Jeden Tropfen auffangen“<br />
Forscher Dietrich Borchardt erklärt, warum<br />
unsere Städte wie Schwämme sein müssten<br />
Agenda<br />
22 TV ist tot. Es lebe der Trash<br />
Gottschalk, Salesch, Bohlen – das<br />
deutsche Fernsehen hängt am<br />
bekannten Personal der Vergangenheit<br />
und verspielt so seine Zukunft<br />
Politik<br />
28 Windräder und Luftschlösser<br />
Die Energie- und Wärmewende setzt auf<br />
Windkraft. Aber die bleibt höchst umstritten<br />
34 „Systematisch kaputtgemacht“<br />
Kunsttheoretiker Bazon Brock über die<br />
Hintergründe des Documenta-Skandals<br />
35 Politik in den sozialen Netzwerken<br />
Lässt sich der Ukraine-Krieg „einfrieren“?<br />
36 Na, dann bau’n wir mal …<br />
SPD-Ministerin Klara Geywitz und das<br />
irrwitzige Wahlversprechen der<br />
400 000 neuen Wohnungen pro Jahr<br />
38 Aufbruch in eine düstere Zukunft?<br />
CDU-Altvorderer Wolfgang Schäuble, 79,<br />
und Grünen-Jungstar Emilia Fester, 24,<br />
debattieren über den Sinn von Politik<br />
44 Mrs. Liberty<br />
Liz Cheney, konservative Tochter des ehemaligen<br />
Vizepräsidenten, attackiert Trump<br />
47 Wie schädlich sind Sanktionen?<br />
Der Politologe Gerhard Mangott analysiert<br />
die EU-Strafmaßnahmen gegen Russland<br />
60 Streitfall Straße<br />
Immer mehr Kommunen verbannen Autos<br />
aus den Innenstädten – das trägt allerdings<br />
nicht gerade zum Bürgerfrieden bei<br />
66 Geldmarkt<br />
Wissen<br />
70 Cleveres Grün<br />
Von wegen „niedere Lebensform“: Forscher<br />
erkunden die phänomenalen Fähigkeiten von<br />
Pflanzen. Sind auch sie intelligente Wesen?<br />
74 „Als müsste ich die Welt retten“<br />
Der Biologe und Curevac-Gründer Ingmar<br />
Hoerr über die mRNA und sein neues Leben<br />
77 Jetzt noch einmal boostern?<br />
Fragen und Antworten zu einer vierten<br />
Impfung gegen das Coronavirus<br />
79 Perfekte Partner<br />
Clownfische passen sich Seeanemonen an<br />
Mit Berechnung<br />
Ich hab sie sicher: Die fleischfressende<br />
Pflanze schnappt erst zu, wenn ein<br />
Insekt zweimal ein Sensorhaar berührt<br />
Seite 70<br />
80 Baden-Baden leuchtet<br />
Der Kurort im Badischen, neuerdings<br />
UNESCO-Welterbe, lockt mit entspannter<br />
Lebenslust – und diesen Sommer mit<br />
gleich zwei herausragenden Ausstellungen<br />
86 Ach du dickes Ei …<br />
Eine fiese Brut aus dem Wald, tiefe Risse in<br />
idyllischer Natur und die Himmelfahrt eines<br />
Rockers: unsere Tipps der Woche<br />
88 Wer hat Angst vorm Grünen Mann?<br />
Alex Garland bestätigt im Kinoschocker<br />
„Men“ unsere düsterste Ahnung: Das Leben<br />
auf dem Lande ist alles andere als geruhsam<br />
Leben<br />
96 Die Königin des Knuffel-Designs<br />
Die Britin Faye Toogood entwirft Möbel, die<br />
aussehen wie pummelige Comicfiguren.<br />
Luxuslabels wie Hermès und Mulberry lieben<br />
sie dafür. Ein Atelierbesuch in London<br />
100 Summertime …<br />
… und alles so schön hot hier: Anregungen<br />
für die coole Küche an heißen Tagen<br />
102 Mission Weltmeisterschaft<br />
Das Emirat Katar positioniert sich als<br />
Top-Destination für Wellness- und<br />
Sporturlaub. Nicht nur im WM-Quartier<br />
der deutschen Nationalmannschaft<br />
107 Die fünfte Dimension<br />
VW stellt mit dem ID.5 ein elektrisches SUV-<br />
Coupé vor, das wie aus der Zukunft gefallen<br />
scheint – nur fliegen kann es noch nicht<br />
108 Besonders lecker in gestreift<br />
Food-Kolumnist Yotam Ottolenghi grillt<br />
am liebsten Gemüse – und lässt es gerne<br />
ein ganz klein bisschen ankokeln<br />
3 Editorial<br />
6 Kolumne von<br />
Jan Fleischhauer<br />
9 Nachrichten<br />
10 Fotos der Woche<br />
16 Grafik der Woche<br />
Max Liebermann<br />
18 Menschen<br />
78 Wir müssen reden<br />
85 Bestseller<br />
Rubriken<br />
85 Impressum<br />
87 Salon<br />
110 Die Einflussreichen<br />
112 Leserbriefe<br />
113 Nachrufe<br />
113 Servicenummern<br />
114 Tagebuch<br />
Titelthemen sind rot markiert<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>30</strong>/<strong>2022</strong> 5
AGENDA<br />
Verabschieden<br />
2023 soll die Casting-<br />
Show „Deutschland sucht<br />
den Superstar“ mit der<br />
20. Staffel zu Ende gehen.<br />
Viele glauben nicht daran,<br />
sollte die Quote nach<br />
Dieter Bohlens Comeback<br />
wieder stimmen<br />
Foto: Christoph Hardt/imago images/Future Image<br />
22 <strong>FOCUS</strong> <strong>30</strong>/<strong>2022</strong>
FERNSEHEN<br />
Wiedersehen<br />
Kein anderer steht so sehr für das<br />
sogenannte „Bully-TV“, er machte<br />
vor der Kamera sogar Teenager fertig:<br />
Dieter Bohlen. 2021 trennte sich RTL<br />
deshalb von dem DSDS-Juror, nur<br />
um ihn jetzt zurückzuholen<br />
TV ist tot,<br />
es lebe der<br />
Trash<br />
Thomas Gottschalk, Barbara Salesch und nun<br />
kommt auch noch Dieter Bohlen zurück. Die<br />
Jungen verbringen ihre Zeit lieber auf TikTok oder<br />
Netflix, und die reifere Generation sehnt sich<br />
nach alten Ikonen. Das deutsche Fernsehen<br />
scheint nur noch im Rückspiegel zu<br />
funktionieren. Doch hat es so eine Zukunft?<br />
TEXT VON JOACHIM HENTSCHEL<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>30</strong>/<strong>2022</strong> 23
WIRTSCHAFT<br />
Runde Sache<br />
Im Kreis werden die Felder<br />
in der Nähe von Phoenix<br />
beregnet. Das Wasser kommt<br />
aus Brunnen in der Mitte<br />
Der braune Planet<br />
Kampf ums Wasser<br />
Die Welt leidet unter Hitze und Trockenheit. In Deutschland<br />
müssen Landwirte Felder bewässern, Kommunen und<br />
Industrie streiten ums Grundwasser, Verteilungskämpfe<br />
überall. Auf dem Spiel steht etwas Grundsätzliches: unser<br />
Wirtschaftsmodell – und die Art, wie wir leben<br />
TEXT VON S. FRÖHLICH, M. GÖTTING, J.-P. H E I N ,<br />
S. STEPHAN UND H. WEBER<br />
Foto: Art Wager/Getty Images<br />
48<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>30</strong>/<strong>2022</strong>
TITEL<br />
Leben in der Wüste<br />
Wie Landwirtschaft<br />
trotz Trockenheit<br />
funktionieren kann,<br />
zeigt das Beispiel<br />
aus dem US-Bundesstaat<br />
Arizona.<br />
Dank geschickter<br />
Anlagen zur Bewässerung<br />
wird hier<br />
Getreide angebaut<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>30</strong>/<strong>2022</strong><br />
49
KULTUR<br />
Drei Regeln für den Aufenthalt in seltsamen Häusern Vermeide Wannenbäder! Pflücke nicht wie Jessie Buckley als Harper Äpfel von fremden Bäumen! Und<br />
Wer hat Angst vorm Grünen Mann?<br />
Nächstes Jahr bleiben wir wieder zu Hause! In seinem neuen Film „Men“ zeigt<br />
Regisseur Alex Garland, wie eine Reise in die englische Provinz zum Albtraum wird<br />
TEXT VON HARALD PETERS<br />
Das ist alles ein bisschen viel.<br />
Eigentlich wollte Harper sich<br />
von ihrem Mann trennen,<br />
doch dann kommt er vor<br />
ihren Augen zu Tode, ausgerechnet<br />
nach einem Streit,<br />
was sie derart mitnimmt, dass<br />
sie erst einmal Abstand braucht. Also<br />
kehrt sie London den Rücken und mietet<br />
sich für ein paar Tage ein Haus auf dem<br />
Land. Gärten, Wälder, Wiesen, und mittendrin<br />
ein jahrhundertealtes Anwesen,<br />
eigentlich viel zu groß für eine Person,<br />
aber wunderschön.<br />
Doch warum ist der Vermieter so unangenehm<br />
jovial? Was macht plötzlich der<br />
seltsame nackte Mann vor dem Fenster?<br />
Wieso ist der herbeigerufene Polizist so<br />
feindselig? Weshalb fasst ihr der Pfarrer<br />
ans Knie? Zu wem gehört der Junge im<br />
Teenageralter, der mit ihr Verstecken<br />
spielen will und sie anschließend be -<br />
schimpft? Was ist hier eigentlich los?<br />
Der Mann, der all diese Fragen beantworten<br />
könnte, ist der Filmemacher und<br />
Schriftsteller Alex Garland, auch wenn er<br />
es vorzieht, genau das nicht zu tun. Als<br />
er sich zum Videointerview dazuschaltet,<br />
steht er in London in seiner Küche und<br />
möchte sich erst mal einen Kaffee kochen:<br />
„Das stört Sie doch nicht, oder?“, fragt er<br />
und scheint den Kaffee dann sofort wieder<br />
zu vergessen.<br />
Sein herrlich eigenartiger Film „Men“,<br />
der in Deutschland mit dem unglücklichen<br />
Zusatztitel „Was dich sucht, wird<br />
dich finden“ in den Kinos läuft, ist halb<br />
Albtraum und halb Bilderrätsel, durch<br />
das Jessie Buckley sich als Harper mit<br />
wachsendem Schrecken hindurchbewegt.<br />
Verlassene Gebäude, flackerndes Licht<br />
und Äpfel, die von Bäumen plumpsen.<br />
Für den letzten Akt hat Garland sich ein<br />
spektakuläres Blutbad ausgedacht, das<br />
mit einer hübschen Pointe abgerundet<br />
wird. Wenn Elton John dann zum Abschied<br />
seinen 50 Jahre alten „Love Song“<br />
singt, bekommt der Text eine völlig neue<br />
Bedeutung: „Bis du deine Liebe gibst /<br />
gibt es für uns nichts mehr zu tun.“<br />
Natürlich habe er sehr lange über die<br />
Frage nachgedacht, wie viel Erklärendes<br />
er in die Handlung einarbeiten solle, damit<br />
das Publikum den Film auf Anhieb<br />
versteht. Doch dann sei er zu dem Schluss<br />
gekommen, dass es darauf sowieso keine<br />
gute Antwort gibt. „Das ist alles subjektiv<br />
und stimmungsabhängig“, sagt Garland,<br />
also habe er bei „Men“ das gemacht, was<br />
er selbst für richtig hielt.<br />
Aber er versichert, dass der Film auf<br />
jede Frage eine Antwort gebe, jeden -<br />
falls auf jede, die ihm während der Dreharbeiten<br />
eingefallen sei: „Der Film ist<br />
sehr durchdacht.“ Allerdings muss man<br />
als Zuschauer eine Weile nach den Antworten<br />
suchen. Je länger es her ist, dass<br />
man den Film gesehen hat, desto besser<br />
scheint man ihn zu verstehen.<br />
Eine Frage der Perspektive<br />
Garland, noch immer keinen Kaffee in der<br />
Hand, hat unterdessen auf einer Couch<br />
Platz genommen, um seine Überlegungen<br />
in Ruhe zu formulieren. Es ist, als<br />
würde man ihm beim Denken zuhören.<br />
„Wissen Sie, ich glaube, dass viele Fragen<br />
von der Prämisse abhängen, unter<br />
der man sich den Film anschaut“, sagt<br />
er. „Wenn man akzeptiert, dass dies ein<br />
Film ist, der von einem Mann mittleren<br />
Alters gedreht wurde, der über das Verhalten<br />
anderer Männer entsetzt ist, beantworten<br />
sich die Fragen praktisch von<br />
selbst.“<br />
Garland ist 52, und er spricht von Männern<br />
wie Harvey Weinstein, von Männern<br />
im Bus oder in einer Bar. Er meint aber<br />
auch das Entsetzen über sich selbst, über<br />
die Impulse und Gedanken, die ihm mit-<br />
88 <strong>FOCUS</strong> <strong>30</strong>/<strong>2022</strong>