Leseprobe: Richard Bisig: Graph versus Graf
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© 2022 allerArt im Versus Verlag AG, Zürich<br />
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www.<strong>versus</strong>.ch<br />
Umschlagbild: Thomas Woodtli · Witterswil<br />
Satz und Herstellung: allerArt · Zürich<br />
Druck: CPI books GmbH · Leck<br />
Gedruckt auf FSC-zertifiziertem Papier<br />
Printed in Germany<br />
ISBN 978-3-909066-27-8
Für Fi und Mi<br />
Raffael ist mein Sohn. Als seine Schwester Romina rund zwei Jahre nach<br />
ihm auf die Welt kam, konnte er ihren relativ langen Namen nicht vollständig<br />
aussprechen und nannte sie Mi. Analoges geschah eine Generation<br />
später: Für Rominas Sohn Arun war der Vorname seines Göttis Raffael –<br />
genannt Raffi – zu lang und er nannte ihn Fi. – Ich bin überzeugt, auch der<br />
heute sechsjährige Arun werde sich als Erwachsener seines privilegierten<br />
Heranwachsens bewusst sein und sich verantwortungsbewusst und solidarisch<br />
seinem Umfeld (Mitmenschen und Umwelt) gegenüber verhalten.
Die wichtigsten Personen<br />
Beatrice Albrecht Beatrice wuchs als Einzelkind auf, absolvierte eine kaufmännische<br />
Lehre und liess sich nach zwei Berufsjahren zur Sozialarbeiterin ausbilden.<br />
Zuerst war sie im Verband für Kinderhorte tätig, dann in einem Jugendheim<br />
und die letzten zehn Jahre vor ihrer Pensionierung in einem Altersheim.<br />
Ihr Verantwortungsbewusstsein, ihr Einfühlungsvermögen und ihre Fähigkeit,<br />
geduldig zuzuhören, machten sie zu einer beliebten Gesprächspartnerin. Insbesondere<br />
die rund fünfundzwanzig Jahre Tätigkeit in einem Jugendheim zeigten<br />
ihr, wie wichtig es in unserer individualisierten Gesellschaft ist, sich um<br />
diejenigen zu kümmern, die durch das gesellschaftliche Raster gefallen sind<br />
und auf unterschiedlichste Art mit psychischen und finanziellen Problemen zu<br />
kämpfen haben.<br />
Am Wohnkonzept Wüeribach waren sowohl ihr Mann als auch sie mitbeteiligt<br />
und sie beide gehören somit zu dessen Gründergeneration. Da sie in viele<br />
Familien hineinsah, die finanziellen Bedürfnisse vieler Familien vertieft kannte<br />
und das zunehmende Auseinanderklaffen der Einkommens- und Vermögenssituation<br />
seit langem kritisierte, war sie Mitinitiantin zur Gründung des Wüeribach-Diskussionsforums.<br />
Emil Baumann Emil studierte Volkswirtschaft und war viele Jahre in den<br />
USA in verschiedenen Unternehmen als Datenanalyst und Autor firmenspezifischer<br />
Marktanalysen tätig. Vor rund fünfundzwanzig Jahren nahm er eine<br />
Berufung als Dozent an einer Fachhochschule für die Fächer Volkswirtschaft<br />
und internationale Beziehungen an und kehrte in die Schweiz zurück.<br />
Er und seine in den USA geborene Frau zogen zwei Kinder auf, die heute<br />
noch dort mit ihren Familien wohnen. Das Leben in den Staaten hat ihn geprägt,<br />
und was er von seinen beiden Kindern nun mitbekam, zeigte ihm, wie<br />
dekadent vieles in diesem Land ist. Es ist nicht nur die extrem schiefe Einkommens-<br />
und Vermögenssituation, die auch er als gutverdienender Akademiker<br />
als stossend empfand, sondern ebenso der Umgang mit den afro- und hispanoamerikanischen<br />
Minderheiten, die Käuflichkeit der Demokratie durch die jeweiligen<br />
gewaltigen Wahlkampfausgaben der beiden tonangebenden Parteien,<br />
der teilweise sträfliche Umgang mit der Klimakrise, die unsoziale Finanzierung<br />
der Hochschulausbildung und das extrem teure Gesundheitswesen.<br />
Seine Frau hat das Leben in der Schweiz schätzen gelernt und wollte im Alter<br />
nicht mehr zurück in die USA. Deshalb haben sie sich vor Emils Pensionierung<br />
nach einer neuen Wohnmöglichkeit umgesehen, und das Wohn- und<br />
Lebenskonzept Wüeribach hat ihnen auf Anhieb zugesagt.<br />
6
Toni Christen Als jüngstes von vier Kindern wuchs Toni in einer Bauernfamilie<br />
auf und lernte Bauer wie sein älterer Bruder, der den Hof von ihren Eltern<br />
übernahm. Eher theoretisch veranlagt, schaffte Toni über den zweiten Bildungsweg<br />
die Matura und studierte anschliessend Agronomie. Er war in mehreren<br />
Kantonen Bauernverbandssekretär und die letzten fünfzehn Berufsjahre<br />
engagierte er sich in leitender Stellung beim Bundesamt für Agrarwirtschaft.<br />
Da seine Frau Elsbeth neben dem Wüeribach-Areal aufwuchs, kam sie mit<br />
der Wüeribach-Wohnidee in Kontakt und überzeugte ihren Mann, gemeinsam<br />
in dieser neuartigen Wohngemeinschaft nach der Pensionierung mitzumachen.<br />
Heinz Döbeli Nach einer Ausbildung zum Sekundarlehrer und mehrjähriger<br />
Tätigkeit als Lehrer studierte Heinz Ökonomie. Danach war er bis zu seiner<br />
Pensionierung im kantonalen Statistischen Amt tätig, die letzten Jahre als deren<br />
Leiter. Mit seiner Frau Evelyne evaluierte er mehrere Wohnmöglichkeiten,<br />
und sie hatten sich schliesslich für den Wüeribach entschieden. Ein wichtiger<br />
Grund für diese Wahl war die Möglichkeit, einen Raum permanent zu mieten,<br />
damit Evelyne ihrem Mal-Hobby nachgehen konnte.<br />
Angela Eigenmann Angela studierte Ökonomie. Nach dem Lizentiat promovierte<br />
sie mit einer Arbeit über den Zuckerrübenmarkt. Anschliessend arbeitete<br />
sie als Assistentin am Institut für Empirische Wirtschaftsforschung und<br />
habilitierte sich mit einer vergleichenden empirischen Arbeit über die Konsequenzen<br />
von Erbschaftsteuern auf kantonaler und eidgenössischer Ebene.<br />
Nach einem zweijährigen Aufenthalt an einer US-Universität erhielt sie eine<br />
Anstellung als Assistenzprofessorin, und im selben Jahr wurde sie zur ausserordentlichen<br />
Professorin ernannt; vier Jahre später erfolgte die Wahl zur ordentlichen<br />
Professorin. In Anerkennung ihrer Verdienste wurde sie zu ihrer<br />
Emeritierung zur Honorarprofessorin ernannt.<br />
Angela ist immer noch eine passionierte Seglerin und verheiratet mit einem<br />
ehemaligen Segel-Europameister. Als kinderloses Ehepaar ist ihnen das Wohnund<br />
Lebenskonzept Wüeribach wie auf den Leib geschnitten, denn beide schätzen<br />
den Kontakt zu anderen Miteigentümern sehr.<br />
Robert Frei Robert absolvierte eine Lehre als Mechaniker und ist Abwart in<br />
der Wüeribach-Siedlung.<br />
Als es um die Wahl eines Abwarts ging, überzeugte Robert die Mehrheit der<br />
Mitbewohner und Mitbewohnerinnen. Er wurde gewählt und zog mit seiner<br />
Partnerin Annelies in die dortige sehr schöne Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung<br />
ein.<br />
7
Seine alles andere als gefreute Kindheit als Verdingbub überschattete sein<br />
ganzes Leben, und er hatte nie ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein entwickelt,<br />
was ihn daran hinderte, Ehrgeiz zu entwickeln und sich beruflich weiterzubringen.<br />
Sein Leben lang fühlte er sich benachteiligt.<br />
Zeitlebens spürte er sich mit seinem Schulkollegen Rolf verbunden. Dieser<br />
wuchs mit seinem Bruder und seinen Eltern weit abgelegen in einer zu einer<br />
Wohnung umgebauten stillgelegten Bergbau-Remise auf. Der Vater war Alkoholiker<br />
und die Gemeinde musste die Familie finanziell unterstützen. Immer<br />
wieder kam es zu Prügeleien auf dem Schulweg. Dies einerseits, weil manche<br />
Kameraden Rolf neckten wegen seiner misslichen Wohnsituation, und anderseits<br />
wegen seines aggressiven Verhaltens. Was ursächlich war, wusste er nicht<br />
mehr, was ihm aber geblieben ist, ist Rolfs immer wieder vorgebrachter Hinweis,<br />
es sei ungerecht, wenn mehrere Kameraden ihn prügelten. Das war auch<br />
der Grund, wieso er sich dann jeweils auf die Seite Rolfs stellte, mit der Folge,<br />
dass Rolf in Ruhe gelassen wurde. Diese konkrete Erfahrung hatte sich tief in<br />
seiner Seele eingenistet und zeigte ihm schon früh, was Gerechtigkeit und Solidarität<br />
bedeuten kann. Nach der gemeinsamen Schulzeit hatte Robert Rolf aus<br />
den Augen verloren.<br />
Herbert Gautschi Herbert wuchs in einer Mehrkind-Familie auf. Der Migrationshintergrund<br />
seiner Mutter bewog ihn, Soziologie zu studieren, was ihn<br />
später zum Journalismus brachte. Seine Schwerpunkte waren die Berichterstattung<br />
über die wöchentlichen Sitzungen des kantonalen Parlaments, die Migration<br />
und sozialpolitische Themen. In seinem Buch über die Migration der sechziger<br />
und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts schildert er den ausgrenzenden<br />
Alltag der eingewanderten Mutter als ledige Frau, später als Familienfrau;<br />
diese Schilderungen und Wertungen aus heutiger Sicht fanden ein grosses<br />
Echo.<br />
Da seine Frau Anna schon früh an Krebs starb, war er als Witwer kurzentschlossen<br />
in die Wohnsiedlung Wüeribach eingezogen. Doch er fragte sich<br />
seither, wieso es ihn hierher verschlagen hat. Er sinnierte lange über seine<br />
Wohnsituation nach. Nach dem allzu frühen Tod seiner Frau hatte er sich zu<br />
sehr an seine beiden Kinder geklammert, aber nachdem beide beruflich das<br />
Land verlassen hatten, erinnerte er sich an den Hinweis seiner Tochter, die ihm<br />
mehrmals nahelegte, seinen früheren Hobbies nachzugehen. Er war passabler<br />
Klub-Schachspieler, aber der Tod seiner Frau hatte ihn vor fünf Jahren aus dem<br />
Gleichgewicht gebracht und seine Schachaktivitäten von einem Tag auf den<br />
anderen beendet. Seine Tochter und auch sein Sohn ermunterten ihn, dieses<br />
Hobby nicht einfach fahren zu lassen, denn als Frischpensionierter sei es doch<br />
8
wichtig, einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen zu können. Ausschlaggebend<br />
für seinen Entscheid, hierher zu ziehen, waren wohl die angekündigten<br />
Diskussionen im Wüeribach-Forum, denn sein politisches Bewusstsein motivierte<br />
ihn, an gesellschaftlichen Diskussionen teilzunehmen.<br />
Clemens Homberger Mit seinem Bruder wuchs Clemens in einer Unternehmerfamilie<br />
auf, er studierte an der ETH Ingenieur und führte die familieneigene<br />
Firma nach dem Tod seines Vaters bis zu seiner Pensionierung während<br />
rund fünfunddreissig Jahren. Seine marktwirtschaftlich geprägte Gesinnung<br />
wurde relativiert durch seine Frau Sophie, die als Sekundarlehrerin arbeitet<br />
und einiges jünger ist als er. Beide waren, vor allem weil sie keine Kinder hatten,<br />
politisch aktiv und führten zusammen und mit ihren Freunden sehr engagierte<br />
gesellschaftspolitische Diskussionen. Dabei bezeichnete sich Clemens oft<br />
als Unternehmer mit sozialem Gewissen.<br />
Das in der Lokalzeitung ausgeschriebene Wüeribach-Wohnmodell hatte<br />
beide sehr angesprochen und nach Clemens’ Pensionierung zogen sie in diese<br />
Siedlung ein, dies nicht nur wegen der attraktiven Wohnlage und der Wohnform,<br />
sondern auch wegen dem in Aussicht gestellten Diskussionsforum.<br />
Amadeus <strong>Graf</strong> Aufgewachsen war Amadeus <strong>Graf</strong> als Einzelkind in einer begüterten<br />
Familie. Der Reichtum dieser Familie gründete auf dem Besitz von<br />
Plantagen in Sumatra. Seine Vorfahren konnten, auf welchen Wegen auch immer,<br />
bei einem dortigen Sultan rund dreissigtausend Hektaren Land erwerben,<br />
und sie beschäftigten rund fünftausend Chinesen und Einheimische. Dank der<br />
tiefen Arbeitslöhne konnten im damaligen Tabakanbau enorme Summen erwirtschaftet<br />
werden.<br />
<strong>Graf</strong> heiratete die Tochter einer ebenfalls reichen Bürgerfamilie. Durch<br />
diese Heirat und durch sein Engagement als Zünftler konnte <strong>Graf</strong> seine Stellung<br />
in der Gesellschaft festigen.<br />
Dank seines Reichtums, seiner politischen Beziehungen und seines ausgeprägten<br />
Sinns für Lobbying versuchte er, auf die Gesetzgebung zugunsten der<br />
Begüterten Einfluss zu nehmen.<br />
9
Mahatma Gandhi: Wut ist für einen Menschen wie Benzin für ein Auto –<br />
sie treibt einen an, damit man weiterkommt, an einen besseren Ort.<br />
Ohne sie hätte man keinerlei Motivation, sich einem Problem zu stellen.<br />
Wut ist die Energie, die zwingt, zu definieren,<br />
was gerecht ist und was ungerecht.<br />
In Anlehnung an Mahatma Gandhi:<br />
Wut ist für einen Menschen wie eine gut geschmierte Velokette –<br />
sie treibt einen an, damit man weiterkommt, an einen besseren Ort.<br />
Ohne sie hätte man keinerlei Motivation, sich einem Problem zu stellen.<br />
Wut ist die Energie, die zwingt, zu definieren,<br />
was gerecht ist und was ungerecht.
Prolog<br />
Die Wüeribach-Siedlung befindet sich an wunderbarer Lage in einer<br />
Agglomerationsgemeinde der Stadt Luzern mit herrlicher Seesicht<br />
und mit Läden für den täglichen Bedarf in Gehminuten-Distanz.<br />
Die rund fünfundvierzig Wohnungen im Minergie-Standard sind<br />
für ein gemeinschaftlich geprägtes, bezahlbares und aktives Wohnen<br />
konzipiert.<br />
Das Energiekonzept basiert auf CO 2 -Neutralität. Die Aussenflächen<br />
wurden naturnah mit vielfältigen, nutzungsoffenen Funktionen<br />
und hoher Aufenthaltsqualität gestaltet. Eingezäunt ist das<br />
Grundstück nicht wie üblich durch Hainbuchen, sondern die einzelnen<br />
Parzelleneigentümer wurden angehalten, Nutzsträucher wie<br />
Johannisbeer, Stachelbeer, Heidelbeer, Cassis oder Himbeer zu<br />
pflanzen. Ein Mobilitätskonzept unter Einbezug von Car-Sharing<br />
erlaubt, die Zahl der eigenen Parkplätze tief zu halten. Die altersgerechten<br />
Wohnräume sind modular und flexibel konzipiert, sodass<br />
die Raumaufteilung auch später mit geringem Aufwand entsprechend<br />
dem jeweiligen Bedürfnis verändert werden kann.<br />
Auf dem Areal Wüeribach entstand eine Mustersiedlung, die ein<br />
selbstbestimmtes und aktives Leben und Wohnen in der dritten<br />
Lebensphase ermöglicht, das Gemeinschaftliche fördert, um so auch<br />
den irgendwann vielleicht nötigen Eintritt in ein Pflegeheim möglichst<br />
lange hinauszuzögern. Eigentümerin der Siedlung ist eine von<br />
den Bewohnern gehaltene Aktiengesellschaft, welche allen Eigentümern<br />
anteilsmässig eine sichere Investition in ihre Wohninfrastruktur<br />
ermöglicht. Ein Aktionärsbindungsvertrag gibt dem Ganzen<br />
längerfristig gültige finanzielle Leitplanken, garantiert die Umsetzung<br />
einer kooperativen Philosophie und regelt die Nachfolge bei<br />
Tod und die Fluktuation der Bewohner und Aktionäre.<br />
Attraktive Aussenbereiche, Gemeinschaftsräume, Begegnungszonen<br />
und ein Bistro ermöglichen die Reduktion des privaten<br />
11
Wohnraums für diese neue Lebenszeit. Der Alltagsbetrieb wird von<br />
einer Miteigentümerversammlung, bei der Kopfstimme gilt, gemeinsam<br />
gesteuert und funktioniert damit im Alltag praktisch wie<br />
eine fortschrittliche Genossenschaft.<br />
Das innovative Modell ist gerade für Menschen interessant, die in<br />
einem Einfamilienhaus oder einer Eigentumswohnung wohnten<br />
oder die über Geld aus der zweiten Säule oder anderen Quellen verfügen.<br />
Sie können ihr flüssiges Kapital durch den Kauf von Aktien<br />
relativ sicher in selbstbewohntes Wohneigentum investieren.<br />
Nachhaltiges Wohnen bedeutet auch, die kostbare Fläche optimal<br />
zu nutzen. Die Vorgabe, Wohnungen mit einer Nettofläche von<br />
rund fünfundvierzig Quadratmeter pro Person zu akzeptieren, stiess<br />
bei einigen vorerst auf Skepsis. Zur Ergänzung des individuellen<br />
Wohnraums mit attraktiven Gemeinschaftsräumen können Gästezimmer,<br />
Joker-Zimmer oder Büros/Ateliers von einem oder mehreren<br />
Mietern dazugemietet werden. Angela Eigenmann, obwohl<br />
sozial aufgeschlossen und eine zuvorkommende Gastgeberin,<br />
machte der Gedanke Mühe, beispielsweise mit Bridgefreunden in<br />
einem Gemeinschaftsraum zu spielen. Die zu erwartenden Mobilitätseinschränkungen<br />
und die durchdachte altersgerechte Wohnphilosophie,<br />
der dahintersteckende Genossenschaftsgedanke und<br />
das Bistro-Konzept, das auch für externe Gäste offen ist, liessen ihre<br />
Zweifel verstummen, und so zog sie mit ihrem Mann vor rund drei<br />
Jahren als letzte in diese Siedlung.<br />
Anfänglich traf man sich wöchentlich zur Lösung anstehender<br />
Themen in der Wüeribach-Miteigentümerversammlung. Nachdem<br />
aber alle Wohnungen verkauft waren und keine dringenden Themen<br />
mehr anstanden, einigte man sich auf monatliche Treffen.<br />
An den während der gemeinsamen Mittagessen geführten Diskussionen<br />
mit den einzelnen Mitbewohnern und den teilweise auch<br />
spontanen Gruppendiskussionen kristallisierte sich, neben den<br />
aktuellen Abstimmungs- und Wahlresultaten, der Klimakrise und<br />
12
in jüngster Zeit der Coronapandemie, ein Thema heraus, das von<br />
vielen immer wieder erwähnt wurde, nämlich die schiefe Einkommens-<br />
und Vermögensverteilung. In der Folge ist man übereingekommen,<br />
einerseits der offensichtlich vorhandenen Diskussionsfreudigkeit<br />
Rechnung zu tragen und anderseits dem Wunsch nachzukommen,<br />
Ungereimtes in unserem Staate benennen zu können.<br />
Zur Teilnahme wurden alle Miteigentümer und Miteigentümerinnen<br />
eingeladen. Einzige Bedingung ist die Bereitschaft, zum jeweiligen<br />
Thema auch ein Referat zu halten. Aufgrund dieser Vorgespräche<br />
hat sich auch der Name für diese regelmässigen Zusammenkünfte<br />
ergeben, nämlich «Wüeribach-Forum». So treffen sich alle<br />
vierzehn Tage Beatrice Albrecht, Emil Baumann, Toni Christen,<br />
Angela Eigenmann, Herbert Gautschi und Clemens Homberger, um<br />
das Thema der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm<br />
und Reich zu diskutieren.<br />
Eine Aufgabe, die für die Miteigentümerversammlung noch<br />
immer ungelöst war, hatte insbesondere den Präsidenten, Roland<br />
Sekinger, beschäftigt, nämlich die Besetzung der Abwartfunktion.<br />
Schon zum dritten Mal steht nun das Thema «Übernahme der<br />
Aufgabe eines Wüeribach-Abwarts» auf der Traktandenliste. Als der<br />
Präsident zu diesem Geschäft der heutigen Traktandenliste gelangt,<br />
verdüstert sich sein sonst freundliches Gesicht merklich. «Anlässlich<br />
der vergangenen Miteigentümerversammlungen wurde dieses Traktandum<br />
mehrmals diskutiert – leider ohne Ergebnis. Niemand meldete<br />
sich für diese Aufgabe, obwohl sie entschädigt würde und alle<br />
an diesen Aufwendungen partizipieren müssten.» Für den Präsidenten<br />
ist es offensichtlich: Seine Miteigentümer sind zu wohlsituiert,<br />
als dass diese Aufgabe von jemandem übernommen würde.<br />
Da sich wiederum niemand bereit erklärt, meint er: «Ich bedaure<br />
sehr, dass sich niemand für diese Aufgabe im Dienste von uns allen<br />
meldet, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als jemand für diese<br />
13
Aufgabe zu suchen. Diese Aufgabe ist deshalb auszuschreiben. Ist<br />
jemand dagegen?»<br />
Stillschweigen.<br />
Mit resignierter Stimme quittiert der Präsident: «Somit haben wir<br />
vom Vorstand den Auftrag erhalten, einen Entwurf für ein Stelleninserat<br />
aufzusetzen, das wir euch dann per E-Mail vorlegen werden.»<br />
Es zeigte sich in der Folge einmal mehr, wie ausgeklügelt die Siedlung<br />
konzipiert war, denn auch an eine Hauswartwohnung war gedacht<br />
worden, obwohl von der Philosophie her die Mehrheitsmeinung<br />
herrschte, jemand von den Miteigentürmern würde diese Aufgabe<br />
übernehmen.<br />
Von den insgesamt drei Bewerbern, die für diese Stelle in Betracht<br />
kamen, fiel die Wahl auf den dreiundsechzigjährigen Robert Frei.<br />
Alle Mitbewohner in der Residenz schätzen seine ruhige, zurückhaltende<br />
und zuverlässige Art. Er hält die öffentlichen Räume sauber,<br />
verwaltet die tageweise vermieteten öffentlichen Zimmer an<br />
Angehörige der Bewohner, die auf Besuch sind und übernachten,<br />
hält die Grünflächen sauber und organisiert Gemeinschaftsanlässe<br />
immer zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Die Bewohner betrachten<br />
ihn denn auch als einen von ihnen und liessen es ihn nie merken,<br />
dass er vom Ausbildungsstand her nicht mithalten konnte.<br />
Schon nach kurzer Zeit entwickelte sich zwischen ihm und Beatrice<br />
Albrecht eine gute Freundschaft. Als Vorstandsmitglied ist Beatrice<br />
direkte Verbindungsperson zu ihm. Mit der Zeit hat sich der zurückhaltende<br />
Robert ihr gegenüber geöffnet und Beatrice jeweils bei<br />
sich bietender Gelegenheit aus seinem Leben erzählt. Offenbar hat<br />
die in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit breit diskutierte finanzielle<br />
Wiedergutmachung für Verdingkinder es ihm erleichtert, über<br />
seine Herkunft zu reden; Beatrice als Sozialarbeiterin ist ja von Berufs<br />
wegen eine gute Zuhörerin.<br />
14
Beatrice hat Robert aber nicht nur gut zugehört und ihm viel<br />
Empathie für seine unschöne Kindheit als Verdingbub entgegengebracht.<br />
Sie hat ihm auch erzählt, worüber sie an ihren jeweiligen<br />
Forumstreffen diskutieren. Robert ist sehr angetan von diesen Themen<br />
über ungleiche Vermögensverteilung und Steuergerechtigkeit.<br />
«Weisst du, Beatrice, ich bin nicht wie die meisten von euch akademisch<br />
gebildet. Ich habe auch nie viel verdient und kein Vermögen.<br />
Meinen Lebensunterhalt konnte ich aber immer ohne staatliche<br />
Unterstützung verdienen und in Annelies habe ich eine Partnerin,<br />
mit der ich mich sehr gut verstehe. Ich bin also zufrieden, denn ich<br />
habe auch eure Wertschätzung, was meine Arbeit bei euch anbelangt.<br />
Die von dir …»<br />
Beatrice unterbricht ihn mit der Bemerkung: «Ja, Robert, wir sind<br />
wirklich froh, dass du bei uns bist …»<br />
«Das freut mich, und ich erlaube mir auch, einen Wunsch anzubringen:<br />
Könnte ich nicht auch an euren Veranstaltungen teilnehmen,<br />
denn die Fragen über Arm und Reich, die in den Zeitungen zu<br />
lesenden Berichte über die überrissenen Managerlöhne und die riesigen<br />
Gewinne, die die Superreichen über die Börse erzielen, machen<br />
mich beinahe krank. Ich wäre lediglich Zuhörer und weiss,<br />
dass ich keinen Beitrag zur Meinungsbildung der anderen leisten<br />
kann, bin aber an vertieften Informationen zu diesen Themen sehr<br />
interessiert.»<br />
Roberts Mimik und Gestik zeigen Beatrice, wie ernst es ihrem<br />
Gegenüber mit seinem Anliegen ist. Selbstverständlich würde es<br />
nicht der von den Forumsmitgliedern getroffenen Abmachung entsprechen,<br />
wonach jede teilnehmende Person sich aktiv an der Themenbearbeitung<br />
mit Kurzreferaten beteiligen muss. Bei Robert<br />
kann aber ihrer Meinung nach eine Ausnahme gemacht werden.<br />
«Dies habe ich nicht alleine zu entscheiden, aber komm doch das<br />
nächste Mal einfach vorbei und ich werde alle diejenigen, die an diesen<br />
Diskussionsrunden teilnehmen, vorgängig darüber informieren.<br />
15
Ich kann mir nicht vorstellen, dass gegen Zuhörer im Wüeribach-<br />
Forum irgendjemand etwas einzuwenden hätte.»<br />
Von der spontanen zustimmenden Antwort ist Robert sehr berührt<br />
und fasst Beatrice an der Hand mit den Worten: «Ich danke<br />
dir, Beatrice.»<br />
16
Fünfzehn<br />
<strong>Graf</strong> sitzt entspannt an seinem Swimmingpool auf einem bequemen<br />
Stuhl an einem leicht zu tiefen Tisch. Ist er Briefmarkensammler?<br />
Was macht er denn sonst mit einer Pinzette? Offenbar hat er alle<br />
Zeitungen gelesen, denn das Aussehen der auf dem Tisch liegenden<br />
Zeitungsstapel lässt keinen anderen Schluss zu.<br />
Der heimliche Beobachter hinter dem Zielfernrohr nimmt <strong>Graf</strong> ins<br />
Fadenkreuz … und dessen Lebensgeschichte läuft vor seinem geistigen<br />
Auge flimmernd wie ein Streifen aus den Filmanfängen ab.<br />
Amadeus <strong>Graf</strong> studierte Jurisprudenz. Der hohe Ausländeranteil an<br />
der Gesamtbevölkerung störte ihn und so gründete er schon während<br />
der Studienzeit mit Gleichgesinnten die ausländerfeindliche<br />
Partei JIZ (Jetzt Ist Zuviel) mit dem Ziel, die Zahl der nach seiner<br />
Lesart zumeist ungebildeten Ausländer zu reduzieren. Schon kurz<br />
nach Studienabschluss wurde er in den Grossrat und einige Jahre<br />
später in den Nationalrat gewählt. Er war ein glühender Anhänger<br />
des Faschismus und verherrlichte den italienischen Diktator Mussolini<br />
und den spanischen Diktator Franco. Doch nicht nur als Fremdenhasser<br />
mit faschistischer Gesinnung machte er sich einen<br />
Namen, sondern auch als Wortführer gegen eine Vermögens- und<br />
Erbschaftssteuer. Als Patrizier, der nie Geld verdienen musste und<br />
ein sorgenfreies Leben als Berufspolitiker führte, tritt er gegen alles<br />
an, was seiner Meinung nach auch nur den Anschein eines Linksanstrichs<br />
hat. Für ihn sind alle Linken potentielle Subversive.<br />
Neben seinen zumeist schamlosen und ignoranten Voten als Parlamentarier,<br />
die oft jenseits mitteleuropäischer Anstandsnormen<br />
liegen, offenbart sich auch seine destruktive Einstellung gegenüber<br />
asylsuchenden Migranten, die er auch schon als Parasiten bezeichnete.<br />
Er ist auch Mitglied einer Gruppe, die subtil zu Hass und Gewalt<br />
gegen missliebige Politiker aufruft und ein hohes Aggressionspotential<br />
aufweist. Aus dieser Gruppe erhält Amadeus <strong>Graf</strong> häufig<br />
17
unterstützende Kommentare für seine zumeist deplatzierten Äusserungen<br />
als Nationalrat.<br />
Seine haltlosen Behauptungen, seine antisemitischen Verschwörungstheorien,<br />
seine rassistische Hetze und manchmal auch sexistischen<br />
Abwertungen lösen in weiten Kreisen resigniertes Kopfschütteln<br />
aus. Ausgeprägt ist nicht nur seine Aversion gegenüber<br />
allem Fremden, seine militante Haltung gegenüber Steuererhöhungen<br />
und seine Ablehnung einer Erbschaftssteuer, sondern auch die<br />
verwerfliche Zusammenarbeit mit der dubiosen Werbeagentur<br />
ImmI AG. Die Geisteshaltung des Leiters dieser Firma, Adelbert<br />
Müller, manifestiert sich auch in dessen Hetzkampagnen im Auftrag<br />
ausländischer Rechtspopulisten. Wieso gebietet niemand diesen<br />
beiden aggressiven Rechtsradikalen und ihrer offensichtlich faschistoiden<br />
Hasspropaganda Einhalt?<br />
<strong>Graf</strong> ist mit viel Geld in einer Firma investiert, die Unternehmen<br />
mit einem hohen inneren Aktienwert eruiert. Die Analysten dieser<br />
Firma ermitteln mit in die Tiefe gehenden Berichten diesen Wert<br />
mit einem eigens dafür kreierten Bewertungs-Algorithmus. Die so<br />
ermittelte Firma wird gekauft und an die Börse gebracht. In den<br />
allermeisten Fällen erzielen diese neu börsenkotierten Firmen hohe<br />
Renditen. Der Vorteil der so übernommenen Firma liegt auf der<br />
Hand: Über diesen Börsengang gelangt man zu neuem Kapital. Die<br />
Vermehrung seines geerbten Vermögens geht zu einem grossen Teil<br />
auf diese Aktivitäten als Firmenjäger mit den daraus resultierenden<br />
sehr hohen Gewinnen zurück. Der Sitz dieser Firma ist auf den<br />
Bahamas – mit rund zehntausend anderen Briefkastenfirmen.<br />
<strong>Graf</strong> stellt sich gern selber als Patrioten dar. Seine überbordende<br />
Selbstsicherheit verhindert aber offensichtlich das Erkennen seines<br />
widersprüchlichen Handelns: Einerseits postuliert er Swissness, anderseits<br />
hintergeht er den Staat mit Steuerhinterziehung durch seine<br />
Beteiligung an einer Briefkastenfirma in einem Steuerparadies.<br />
Würde man <strong>Graf</strong> die Frage nach seinem Vermögen stellen, würde<br />
er kaltschnäuzig antworten: Er sei AHV-Bezüger und ihm gehe es<br />
18
Der Autor<br />
<strong>Richard</strong> <strong>Bisig</strong> ist Betriebswirtschaftler mit Promotion. Er war in<br />
einem Bezirksspital tätig als Spitalverwalter/Verwaltungsdirektor<br />
und als Finanzchef in einer kantonalen Gesundheitsdirektion. Nach<br />
einer Tätigkeit als Seniorberater bei Ernst & Young machte er sich<br />
als Unternehmensberater selbständig und übernahm mehrere interimistische<br />
Aufgaben wie beispielsweise als Klinikmanager, Departementsmanager<br />
und als Direktor Dienste in einem Universitätsspital.<br />
Im Weiteren übernahm er als Spitaldirektor in mehreren<br />
Spitälern die operative Leitung. Neben diesen operativen Leitungsaufgaben<br />
war er auch auf strategischer Spitalleitungsebene als Spitalrat<br />
und Spitalratspräsident engagiert. In der Privatwirtschaft<br />
übernahm er als Verwaltungsratspräsident in einer familieneigenen<br />
KMU-Firma und einer Härterei in der metallverarbeitenden Industrie<br />
strategische Führungsaufgaben. Daneben war er Dozent an<br />
einer Fachhochschule.<br />
Politisch war er aktiv als Mitinitiant zur Gründung der Grünen<br />
Partei des Kantons Zürich im Jahre 1978 und als Kantonsrat von<br />
1983 bis 1991. Daneben war er während rund fünf Jahren an seinem<br />
Wohnort Gemeinderat (Exekutive).<br />
Dankeswort<br />
Dem Team des Versus Verlags danke ich ganz herzlich für das wiederum<br />
kompetente Lektorat mit zielführenden Verbesserungsvorschlägen<br />
und für die vertrauensvolle Zusammenarbeit.<br />
Für das kritische Durchlesen des Erstentwurfs und für die inhaltlichen<br />
Anregungen danke ich Dr. Bernhard Burkhardt, Dr. Rudolf<br />
Duttweiler und Philipp Kaufmann.