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Heinrich Bedford-Strohm | Peter Bubmann | Hans-Ulrich Dallmann | Torsten Meireis (Hrsg.): Kritische Öffentliche Theologie (Leseprobe)

Das Programm der Öffentlichen Theologie ist in unterschiedlichen internationalen Kontexten auf je eigene Weise entstanden und lässt sich als Diskursformat verstehen, das auf eine veränderte Öffentlichkeit reagiert und mittlerweile im Global Network for Public Theology zu einer eigenen akademischen Gestalt gefunden hat. Da diese Geschichte nicht nur im deutschsprachigen Kontext ohne Wolfgang Hubers Einfluss nicht nachvollzogen werden kann, ist es sinnvoll und angemessen, ihm einen Band zu widmen, der die Begründung und Weiterentwicklung der von ihm angestoßenen kritischen Spielart Öffentlicher Theologie zum Thema hat.

Das Programm der Öffentlichen Theologie ist in unterschiedlichen internationalen Kontexten auf je eigene Weise entstanden und lässt sich als Diskursformat verstehen, das auf eine veränderte Öffentlichkeit reagiert und mittlerweile im Global Network for Public Theology zu einer eigenen akademischen Gestalt gefunden hat. Da diese Geschichte nicht nur im deutschsprachigen Kontext ohne Wolfgang Hubers Einfluss nicht nachvollzogen werden kann, ist es sinnvoll und angemessen, ihm einen Band zu widmen, der die Begründung und Weiterentwicklung der von ihm angestoßenen kritischen Spielart Öffentlicher Theologie zum Thema hat.

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<strong>Heinrich</strong> <strong>Bedford</strong>-<strong>Strohm</strong> | <strong>Peter</strong> <strong>Bubmann</strong><br />

<strong>Hans</strong>-<strong>Ulrich</strong> <strong>Dallmann</strong> | <strong>Torsten</strong> <strong>Meireis</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Kritische</strong><br />

<strong>Öffentliche</strong> <strong>Theologie</strong><br />

<strong>Öffentliche</strong> <strong>Theologie</strong>


Vorbemerkung<br />

Wolfgang Huber, den der vorliegende Band zuseinem 80. Geburtstag ehren<br />

und erfreuen soll, ist im deutschsprachigen und internationalen ökumenischen<br />

Kontext nicht nur als scharfsinniger theologischer Intellektueller, als akademischer<br />

Lehrer, als Kirchenreformer und Bischof hervorgetreten. Darüber hinaus<br />

hat er eine besondere Art <strong>Öffentliche</strong>r <strong>Theologie</strong> begründet, die eine selbstkritische<br />

Einschätzung von <strong>Theologie</strong> und Kirche mit dem materialethisch informierten<br />

und entschiedenen Benennen gesellschaftlicher Missstände und Probleme<br />

verbindet, wie siesich im Licht des Evangeliums darstellen. Sie fordert das<br />

Eintreten für diejenigen, deren Menschenwürde und Menschenrechte missachtet<br />

und denen gesellschaftliche Teilhabe, Teilnahme und Anerkennung verweigert<br />

werden.<br />

Das Programm der <strong>Öffentliche</strong>n <strong>Theologie</strong> ist in unterschiedlichen internationalen<br />

Kontexten auf je eigene Weise entstanden und lässt sich als Diskursformat<br />

verstehen, das auf eineveränderte Öffentlichkeit reagiert und mittlerweile<br />

im Global Network for Public Theology zu einer eigenen akademischen Gestalt<br />

gefunden hat. Da diese Geschichte nicht nur im deutschsprachigenKontext ohne<br />

Wolfgang Hubers Einfluss nicht nachvollzogen werden kann, ist es sinnvoll und<br />

angemessen, ihm einen Band zu widmen, der die Begründung und Weiterentwicklung<br />

der von ihm angestoßenen kritischen Spielart <strong>Öffentliche</strong>r <strong>Theologie</strong><br />

zum Thema hat.<br />

Dieser Intention entspricht die systematische Gliederung des Werkes, das<br />

an den Anfang eine Vergegenwärtigung des von Wolfgang Huber entwickelten<br />

Programms stellt und im ersten Teil zentraleElemente und Aspekte des Konzepts<br />

beleuchtet, um im zweiten Teil materialethische und weiterführende Fragestellungen<br />

zu behandeln, denen das zentrale Interesse solcher kritischen <strong>Öffentliche</strong>n<br />

<strong>Theologie</strong> gilt.<br />

Die Herausgebenden lehren selbst akademisch und haben sich im Doktoranden-<br />

und Doktorandinnenkolloquium Wolfgang Hubers kennengelernt. Prof.<br />

Dr. Helga Kuhlmann, die dem Gremium von Anfang an angehört hat, musste


6 Vorbemerkung<br />

sich zu unserem Bedauern aus unabweisbaren Gründen von der Mitwirkung<br />

zurückziehen.<br />

Besonderer Dank gebührt Dr. Florian Höhne und Dr. Clemens Wustmans, die<br />

erheblich zum Gelingen des Projekts beigetragen haben, besonderer Dank auch<br />

Bettina Schön und Saskia von Münster sowieden studentischen Hilfskräften der<br />

Professurfür Systematische <strong>Theologie</strong> mit Schwerpunkt Ethik und Hermeneutik<br />

der Humboldt-Universität zu Berlin sowieder Professur für Praktische <strong>Theologie</strong><br />

der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die sich in der Redaktion<br />

und formalen Durchsicht großeVerdienste erworben haben – und natürlich<br />

allen Beitragenden.<br />

Zu danken ist schließlich dem Kirchenamt der Evangelischen Kirche in<br />

Deutschland sowie der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische<br />

Oberlausitz, die die Herausgabe mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss<br />

gefördert haben.<br />

In der Passionszeit 2022<br />

<strong>Heinrich</strong> <strong>Bedford</strong>-<strong>Strohm</strong> *<strong>Peter</strong> <strong>Bubmann</strong><br />

<strong>Hans</strong>-<strong>Ulrich</strong> <strong>Dallmann</strong> *<strong>Torsten</strong> <strong>Meireis</strong>


Inhalt<br />

Vorbemerkung ............................................. 5<br />

I. <strong>Kritische</strong> <strong>Öffentliche</strong> <strong>Theologie</strong>: Strukturwandel kirchlicher<br />

Öffentlichkeit<br />

<strong>Torsten</strong> <strong>Meireis</strong><br />

Berliner Realismus<br />

Wolfgang Hubers Begründung der kritischen Funktion <strong>Öffentliche</strong>r<br />

<strong>Theologie</strong> ................................................. 13<br />

Dirk J. Smit<br />

On the Witness of the Church ................................. 31<br />

<strong>Hans</strong> Joas<br />

Kirche – gesellschaftskritische Instanz oder Moralagentur? ........... 47<br />

Rainer Forst<br />

Grenzgänger<br />

<strong>Öffentliche</strong> <strong>Theologie</strong> und politische Gerechtigkeit .................. 55<br />

<strong>Heinrich</strong> <strong>Bedford</strong>-<strong>Strohm</strong><br />

Kirchenleitung als Praxis der Gesellschaftskritik? .................. 65<br />

Christina-Maria Bammel<br />

Kirchenleitung als selbstkritisch-praktische Gestaltung von Übergängen<br />

im gegenwärtigen Jahrzehnt .................................. 79<br />

Eva Harasta<br />

Differenz und Prozess<br />

Überlegungen zur »Ökumene der Profile« ........................ 91<br />

Willem Fourie<br />

Boundary Crossing and the Church<br />

Collective and individual mechanisms ........................... 101<br />

Florian Höhne<br />

Die Verantwortung kritischer <strong>Öffentliche</strong>r <strong>Theologie</strong> ................ 111


8 Inhalt<br />

Christine Schliesser<br />

Dietrich Bonhoeffer und <strong>Öffentliche</strong> <strong>Theologie</strong><br />

Plädoyer für eine christologische Kontur <strong>Öffentliche</strong>r <strong>Theologie</strong> ....... 127<br />

Frederike van Oorschot<br />

<strong>Öffentliche</strong> Kirche in pluralen digitalen Öffentlichkeiten ............. 137<br />

II. Ethische Reflexion als öffentliche Praxis<br />

<strong>Hans</strong>-Richard Reuter<br />

Der internationale Rechtsfrieden zwischen Realismus und Idealismus ... 149<br />

<strong>Peter</strong> Dabrock<br />

<strong>Öffentliche</strong> <strong>Theologie</strong> und die Ethik gesundheitsbezogener Lernender<br />

Systeme (KI) .............................................. 159<br />

Clemens Wustmans<br />

Sensibilität für Verletzungserfahrungen<br />

<strong>Kritische</strong> Anthropologie und Intersektionalität .................... 173<br />

Christian Polke<br />

Kleine öffentlich-theologische Vorschule der Rechtsethik ............. 189<br />

Ruth Gütter<br />

Nachhaltigkeitsethik in kirchlicher Praxis ........................ 203<br />

<strong>Hans</strong>-<strong>Ulrich</strong> <strong>Dallmann</strong><br />

»Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.«<br />

<strong>Öffentliche</strong>s Handeln und <strong>Öffentliche</strong> <strong>Theologie</strong> in der Migrationsdebatte 217<br />

Gotlind Ulshöfer<br />

Theologische Wirtschaftsethik angesichts digitaler Öffentlichkeiten<br />

VonSharing, Caring und Managing ............................. 227<br />

Günther Bauer<br />

<strong>Öffentliche</strong> Diakonie<br />

Kennzeichen der Kirche ...................................... 241


Inhalt 9<br />

Susanne Edel<br />

Öffentlichkeitssensible kirchliche Ausbildung<br />

Pfarrer*innen außerhalb des Raums der verfassten Kirche als Phase des<br />

Ausbildungsvikariats in der Evangelischen Landeskirche in<br />

Württemberg .............................................. 253<br />

Joachim von Soosten<br />

»Sand fürs Getriebe«<br />

Rezitationen verdankter Freiheit ............................... 261<br />

<strong>Peter</strong> <strong>Bubmann</strong><br />

<strong>Kritische</strong> Lebenskunst ....................................... 275<br />

Verzeichnis der Autoren und Autorinnen ......................... 287


I. <strong>Kritische</strong> <strong>Öffentliche</strong><br />

<strong>Theologie</strong>:<br />

Strukturwandel<br />

kirchlicher Öffentlichkeit


Berliner Realismus<br />

Wolfgang Hubers Begründung der kritischen Funktion<br />

<strong>Öffentliche</strong>r <strong>Theologie</strong><br />

<strong>Torsten</strong> <strong>Meireis</strong><br />

1. Einleitung<br />

Schon ein oberflächlicher Blick auf die Herausforderungen, mit denen die gegenwärtige<br />

Gesellschaftkonfrontiert ist, eröffnet eine breite Palette von Themen.<br />

Christinnen und Christen müssen ebenso wie die Kirchen, denen sie verbunden<br />

sind, als Glieder dieser Gesellschaft darauf reagieren, wenn sie die Realität<br />

nicht ausblenden wollen. Diese Themen reichen vom Umgang mit dem<br />

menschlich verursachten Klimawandel und pandemischen Bedrohungen über<br />

die digitale Umwälzung der globalen Wirtschaftsverbindungen und die Rekonfiguration<br />

der geopolitischen Machtverhältnisse hin zu damit verbundenen<br />

Phänomenen wie Migration, Krieg und Flucht und die Bewirtschaftung entsprechender<br />

gesellschaftlicher Konfliktlagen durch neo-nationalistische und<br />

populistische, teils demokratieaverse Strömungen – um nur einige zu nennen.<br />

Selbstverständlich sind auch die kirchlichen Organisationen in ihrer Eigenschaft<br />

als zivilgesellschaftliche Verbände indie teils als Herausforderung, teils als<br />

Chance verstandenen Veränderungsdynamiken eingebunden, sie müssen mit<br />

pandemischen Herausforderungen, Chancen und Mühen digitalen Wandels, mit<br />

dem globalen Horizont des christlichen Glaubens, der zunehmenden religiösen<br />

und weltanschaulichen Pluralität, der Frage nach innergesellschaftlicher wie<br />

globaler Verteilungsgerechtigkeit, mit neo-nationalistischen Herausforderungen<br />

in den eigenen Reihen, mit innerorganisatorischen Versäumnissen in der Verhinderung<br />

von Missbrauch oder dem organisationellen Umbruch, der sich im<br />

deutschen Kontext als Mitgliederschwund der Großkirchen zeigt, umgehen.<br />

Angesichts dieser Lage ist es sinnvoll, hier an das Frühwerk Wolfgang Hubers<br />

zu erinnern, der bereits in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts realistisch<br />

orientiert und materialethisch engagiert auf die Notwendigkeit einer<br />

öffentlichkeitsorientierten, interdisziplinär informierten theologischen Reflexion<br />

materialethischer Sachverhalte und gesellschaftlicher Herausforderungen insistiert<br />

und dabei eine entschlossene Modernisierung von Kirchenkonzept, Öffentlichkeitsvorstellung<br />

und ethischer Aufgabe auf den Weg gebracht hat.


14 <strong>Torsten</strong> <strong>Meireis</strong><br />

Besondere Pointe der von Huber vertretenen <strong>Theologie</strong>, so die These dieses Essays,<br />

ist ihr krisensensibler, kritischer theologischer Realismus, der konkrete<br />

gesellschaftliche Herausforderungeninterdisziplinär informiert in der Spannung<br />

von Kreuzeswahrnehmung und Reich-Gottes-Verheißung thematisiert.<br />

Weil es nicht unplausibel erscheint, die von Huber maßgeblich mitgeprägte<br />

Wendung einer ›<strong>Öffentliche</strong>n <strong>Theologie</strong>‹ eher als Namen einer von ihm mitbegründeten<br />

Diskursformation denn als theologische Position zuverstehen, soll<br />

diese Vergegenwärtigung stattdessen unter dem Titel des Berliner Realismus<br />

vorgenommen werden, weil Berlin über Jahrzehnte hinweg bis heute zentrale<br />

Wirkungsstätte WolfgangHubers ist, weil seine Anstöße in diesem Kontext einer<br />

im emphatischen Sinne realistischen <strong>Theologie</strong> verpflichtet sind und diese Anstöße<br />

auch gegenwärtig im Berliner Kontext aufgenommen werden.<br />

Zu diesem Zweck ist zunächst Hubers grundlegende – und von ihm selbst<br />

immerwieder aktualisierte – Verhältnisbestimmungvon Öffentlichkeit undKirche<br />

zu thematisieren, die sowohl eine ekklesiologische wie kirchentheoretische Neubestimmung<br />

des Begriffs der Kirche als auch eine Konzeptualisierung des Öffentlichkeitsbegriffs<br />

einschließt und ein grundlegendes Umdenken hinsichtlich<br />

des Öffentlichkeitsauftrags wie der zu erwartenden Öffentlichkeitsrelevanz der<br />

Evangelischen Kirche motiviert. In einem zweiten Schrittlassen sich dann knapp<br />

die theologisch-ethischen Maßstäbe darstellen, die diese Neuorientierung motivieren<br />

und die kritische Öffentlichkeitsorientierung methodisch und material<br />

fundieren. Die Überlegungen schließen mit der Benennung weitergehender Wirkungen<br />

und Herausforderungen einer Ethik, die als Berliner theologischer Realismus<br />

qualifiziert werden kann.<br />

2. Öffentlichkeit, Kirche und <strong>Öffentliche</strong> <strong>Theologie</strong><br />

»Das Verhältnis von Kirche und Öffentlichkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten<br />

tiefgreifend verändert. […]Mit diesen Veränderungen […]hat die theologische<br />

Reflexion[…]nicht Schritt gehalten.« (Huber, 1973: VII–VIII) Mit diesem Befund<br />

eröffnet Wolfgang Huber seine epochemachende Untersuchung zum Verhältnis<br />

von Kirche und Öffentlichkeit, die sich allererst als kritische Reflexionvon Kirche<br />

und <strong>Theologie</strong> selbst versteht (Huber, 1973: 487). Dabei hat Huber nicht nur<br />

Veränderungen im innerdeutschen Kontext vor Augen, die vorrangig das Verhältnis<br />

von Staat und Kirchebetreffen, sondern vor allem auch ökumenischeund<br />

internationale Entwicklungen, die das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft<br />

und die wachsende Bedeutung bürgerlicher und politischer sowie wirtschaftlicher,<br />

sozialer und kultureller Menschenrechte tangieren. Es sind insofern die<br />

Herausforderungen durch gesellschaftliche und politische Problemlagen und<br />

Diskurse, die den Entdeckungszusammenhang theologischer Aufmerksamkeit<br />

markieren. Dieses Verfahren ist keineswegs trivial, weil es eine Umstellung


Berliner Realismus 15<br />

evangelischer Ethik von der Fokussierung fundamental-ethisch-dogmatischer<br />

auf materialethische Problemzusammenhänge signalisiert (<strong>Meireis</strong>, 2021: 10–<br />

16). Diese impliziert eine Priorisierung von Themen von öffentlicher Relevanz<br />

gegenüber bloßen Selbstverständigungsdebatten und lässt sich ihrerseits als<br />

Echo auf Bonhoeffers Forderung einer ›Kirche für andere‹ verstehen (vgl. Bonhoeffer,<br />

1944).<br />

Im Rekurs auf Jürgen Habermas’ Untersuchung zum Strukturwandel der<br />

Öffentlichkeit unterzieht Huber das Konzept der Öffentlichkeit, den Begriff der<br />

Kirche und die Relation beider einer deskriptiven wie präskriptiven Analyse.<br />

Habermas hatte die bürgerliche Öffentlichkeit als historisch kontingenten Vermittlungsort<br />

zwischenStaat undZivilgesellschaftbestimmt, als das Forum, »auf<br />

dem die zum Publikum versammelten Privatleute sich anschickten, die öffentliche<br />

Gewalt zur Legitimation vor der öffentlichen Meinung zu zwingen« (Habermas,<br />

1962: 84).<br />

2.1 Öffentlichkeit<br />

Zunächst unterscheidet Huber verschiedene ›Schichten‹ innerhalb eines deskriptiven<br />

Konzepts der Öffentlichkeit, in dem diese – in Abgrenzung von einem<br />

sektoralen Verständnis, das Phänomene entweder als ›öffentlich‹ oder als ›privat‹<br />

kategorisiert – als Dimension begriffen wird, die alle gesellschaftlichen<br />

Lebensbereiche betrifft: auch etwa intime Nahbeziehungen oder religiöse Vollzüge<br />

sind so gesehen nicht einfach nur Privatsache, sondern haben stets auch<br />

eine öffentliche Seite: »Sosehr Religionund Kirche eine private Dimension eigen<br />

ist, sosehr ist auch ihre öffentliche Dimension unverzichtbar.« (Huber, 1973: 47)<br />

›Öffentlichkeit‹ beschreibt dann »diejenige Dimension aller gesellschaftlichen<br />

Institutionen und Lebensvollzüge, in der die gemeinsamen Interessen und<br />

Bedu rfnisse, Rechte und Pflichten der Glieder einer Gesellschaftbetroffen sind.«<br />

(Huber, 1973: 45) In der Differenzierung und Relationierung der Bezugsgrößen<br />

Gesellschaft und Staat sowie der diesbezüglichen Gehalte und Kommunikationsformen<br />

gelangt Huber dann zu vier systematischen Ausprägungen von<br />

Öffentlichkeit. Diese kann sich material im Sinne eines öffentlichen Interesses<br />

auf gesellschaftliche Bedürfnisse und Aufgaben (1) und kommunikativ als öffentliche<br />

Diskussion dann auf deren Artikulation und Erörterung (2) beziehen,<br />

sie kann sich inhaltlich als öffentliches Recht aber auch auf staatliche Gegenstände<br />

und Institutionen (3) richten, kommunikativ geht es um die Bekanntgabe<br />

und Kritik entsprechender Zusammenhänge (4). Dass sich diese Debatten faktisch<br />

natürlich in einer Vielzahl pluraler Öffentlichkeiten vollziehen, ist dabei<br />

vorausgesetzt und wird in späteren Veröffentlichungen immer wieder breit expliziert<br />

(vgl. Huber, 1994, 1998: 112–115).


16 <strong>Torsten</strong> <strong>Meireis</strong><br />

Kants Argumentation folgend, die dieser vor allem im Kontext der Schrift<br />

›Zum ewigen Frieden‹ entfaltet hatte, sieht Huber diese vier Aspekte normativ<br />

so aufeinander bezogen, dass die öffentliche Erörterung von gesellschaftlichem<br />

Interesse hier und staatlichem Handeln dort als kritische Prüfung fungiert, die<br />

sicherstellen soll, dass das staatliche Handeln auch tatsächlich dem gesellschaftlichen<br />

Interesse folgt, dessen Bestimmung allen Beteiligten und Betroffenen<br />

obliegt: Aus diesem Grund zielt Öffentlichkeit in HubersVerständnis nie nur<br />

auf allgemeine Information oder Kommunikation, sondern auf dieErhöhung der<br />

Partizipationschancen durch die demokratische Rationalisierung von Herrschaft,<br />

deren Horizont im Sinne der erstrebtenIdentität von Betroffenenund Beteiligten<br />

die Weltgesellschaftdarstellt. Weil aber die Betroffenensich in der Regel nichtals<br />

Einzelne beteiligen, sondern durch Zusammenschlüsse und Organisationen wie<br />

Gewerkschaften, Vereine oder Verbände vermittelt, ist auch die Demokratisierung<br />

solcher Gruppierungen zu erstreben (Huber, 1973: 46–47).<br />

2.2 Kirche<br />

Es erhellt schon aus diesem Verständnis der Öffentlichkeit, dass Huberauch das<br />

Verständnis der Kirche nicht allein unter Bezug auf dogmatische Quellen rekonstruiert,<br />

sondern eine sozialwissenschaftlich informierte Kirchentheorie mit<br />

einer dogmatisch informierten, auf Wesensbestimmungen der Kirche abzielenden<br />

Ekklesiologie zu verbinden sucht (Huber, 1973: 126–133).<br />

Im Verhältnis zur Öffentlichkeit thematisiert Huber Kirche schon früh und<br />

sozialwissenschaftlich informiert als Verband unter Verbänden in einer pluralen<br />

Gesellschaft (Huber, 1973: 28–31, 48, 545–549 u. ö.). Er entwickelt diese<br />

Bestimmung zum Verständnis der Kirche als einer zivilgesellschaftlich agierenden<br />

intermediären Institution weiter, die sich intern wie extern in pluralen<br />

Öffentlichkeiten bewegt (Huber, 1994, 1998). Ekklesiologisch wie kirchentheoretisch<br />

sind dabei drei Abgrenzungen bedeutsam: erstens gegen ein Verständnis<br />

der Kirche als hoheitlicher oder obrigkeitlicher Institution, zweitens gegen eine<br />

abstrakte Vorordnung konkreter christlicher Individualität unter Absehung von<br />

sozialen Bedingungsfaktoren, die sich letztlich als Ausspielen der individuellen<br />

Christinnen und Christen gegen die Kirche darstellt, drittens aber gegen eine<br />

Reduktion der Kirche entweder auf einen dogmatisch beschreibbaren Bekenntnisgegenstand<br />

oder eine soziologisch beobachtbare Organisation.<br />

Aus der Einsicht der Bedeutung einer nicht nur staats-, sondern auch gesellschaftsorientierten<br />

Perspektive – so etwa in der kritischen Würdigung der<br />

Barmer Theologischen Erklärung (Huber, 1983b: 102–103) – und in der Überwindung<br />

eines historisch wirkmächtigen, aber in de- wie präskriptiver Hinsicht<br />

hochproblematischen Verständnisses der christlichen Kirche als staatsanaloger,<br />

hoheitlicher Institution auch noch nach 1945 (Huber, 1973: 541, 621–625)


Berliner Realismus 17<br />

wird die Bedeutung der Kirche als eines gesellschaftlichen Verbands, einer intermediären<br />

Institution(Huber, 1998) betont, die – wie anderesolcherVerbände<br />

auch – auf Beteiligung und also fortlaufende Demokratisierung angelegt ist<br />

(Huber, 1973: 46).<br />

Während Huber die neuzeitliche Unterscheidung von privater und öffentlicher<br />

Religion als Schutzbestimmung gegen die »Instrumentalisierung der Religion<br />

durch den absoluten Staat« (Huber, 1973: 33) durchaus zu würdigen vermag,<br />

tritt er einer abstrakten Vorordnung der Individualität auch in christlicher<br />

Perspektive immer wieder entgegen. Die normative Bedeutung der Individualität<br />

wird von Huber vielmehr unter Rekurs auf die Einsicht einer Gleichursprünglichkeit<br />

von Individualität und Sozialität (Huber, 1973: 42–43, Huber,<br />

1990a: 57–65) eingeschärft. Daraus leitet er die Verpflichtung ab, dass Verbände<br />

die gleichmäßige soziale Partizipation der Individuen gewährleisten müssen<br />

(Huber, 1973: 47 u. ö.). Die Gleichursprünglichkeit und Wechselseitigkeit von<br />

Individualität und Sozialität konzeptualisiert Huber dann weitergehend mit dem<br />

Begriff der kommunikativen Freiheit (Huber, 1983a: 113–127, vgl. dazu auch<br />

insgesamt Fourie, 2009). Sie gilt es auch und gerade im Kontext der als intermediäre<br />

Institution beschreibbaren Kirche zu berücksichtigen, weil diese nicht<br />

nur einen gegebenen Ort der Betätigung individueller Freiheit darstellt, sondern<br />

zur Gewährleistung dieser Freiheit auch in der Weise beizutragen hat, dass sie<br />

sich als durch die Betätigung individueller Freiheit kritikfähig und veränderbar<br />

erweist (Huber, 1983a: 122–123, 1998: 86–96). Gegenüber einer weitgehend<br />

unvermittelten, additiven Aufzählung individueller bzw. privater, kirchlicher<br />

und gesellschaftlicher Formen des neuzeitlichen Christentums (vgl. etwa Rössler,<br />

1994: 90–94) insistiert Huber auf dem sozial vermittelten Charakter auch hoch<br />

individueller Ausprägungen und kultureller Sedimentierungen des christlichen<br />

Glaubens (Huber, 1973: 42–45), ein Befund, der sich auch in historischen Detailstudien<br />

bestätigen lässt (vgl. z. B. Albrecht/Anselm, 2015: 390–392). 1<br />

1<br />

Albrecht/Anselm reagieren auf die Widerlegung der christentumstheoretischen Grundannahme<br />

eines kirchenunabhängigen individuellen und gesellschaftlichen Protestantismus,<br />

die sich aus ihren historischen Forschungen ergibt, unter dem Versuch der Beibehaltung<br />

eines nicht unproblematischen methodologischen Individualismus durch die<br />

theologische Deutung des öffentlichen Engagements der untersuchten individuellen Akteuremit<br />

denDenkmitteln deraltprotestantischen Ständelehre, folgen also Hubers Impuls<br />

der Vermittlung von theologischen Aussagen und historischen bzw. soziologischen Befunden.Plausibilisierungsgrund<br />

istfür Anselm undAlbrecht, dass derStändelehre zufolge<br />

alle Christinnen und Christen an allen drei Ständen – status ecclesiasticus, politicus und<br />

oeconomicus – (Albrecht/Anselm, 2015: 391–393) partizipieren. Auch wenn die Stände<br />

nicht mehr als »gottgegebene und damit auch invariante Anordnungen«, sondern als<br />

»Teilbereicheder Gesellschaft« (a.a.O., 391) aufgefasst werden,fällt dieDeutung nichtnur<br />

deswegen hinter Hubers Ansätze zurück, weil die Identifikation der status mit einer so-


18 <strong>Torsten</strong> <strong>Meireis</strong><br />

Zentral ist in dieser Perspektive schließlich das Argument, dass die als gesellschaftlicher<br />

Verband unter Verbänden beschreibbare Kirche in genau dieser<br />

Beschreibung nicht vollständig aufgeht: Genau deswegen insistiert Huberauf der<br />

Vermittlung von theologischen Wesensaussagen und sozialer Beschreibbarkeit<br />

der Kirche im und durch den Diskurs ihrer Mitglieder. Und daher betont Huber<br />

die Bedeutung des processus confessionis, der inhaltlichen Auseinandersetzung<br />

um die Perspektiven des Glaubens, die für die immer wieder neue theologische<br />

Wesensbestimmung innerhalb der beobachtbaren Pluralität kirchlicher Gruppierungen<br />

und Organisationen zentral ist (Huber, 1983c: 262–269).<br />

2.3 <strong>Öffentliche</strong> Kirche und ö ffentliche <strong>Theologie</strong><br />

Öffentlichkeit wird von Huber also als Ort der kommunikativen Aushandlung und<br />

Kritik gesellschaftlicher Interessen und staatlicherAufgaben verstanden. Kirche<br />

fokussiert er als intermediäre zivilgesellschaftliche Institution, als Verband unter<br />

Verbänden, vermittelt diese Auffassung aber immer mit theologischen Wesensaussagen,<br />

die in kontroversen und auf Beteiligung angelegten Diskursen der<br />

Kirchenglieder zur Geltung kommen sollen (z. B. Huber, 1973: 633, 648–649,<br />

Huber, 1983c oder Huber, 1998: 97–162).<br />

Weil es die zivilgesellschaftlichen Gruppierungen – Gewerkschaften, Verbände,<br />

Parteien, Religionsgemeinschaften etc. – sind, über welche die öffentliche<br />

Aushandlung der gesellschaftlichen Interessen und die kritische Begleitung<br />

staatlichen Handelns vermittelt sind und die Kirchen nach ihrer organisatorischen<br />

Seite jedenfalls auch große gesellschaftliche Verbände darstellen, stehen<br />

auch die Kirchen unter dem Partizipationsimperativ. Zudem haben Äußerungen<br />

und Praxen der Kirchen immer auch eine politische Dimension, weil auch das<br />

Schweigen zu einem gesellschaftlichen Problem oder das Unterlassen einer Intervention<br />

politischer Bedeutungszuschreibung unterliegen. Die Behauptung<br />

einer politischen Neutralität hat Huber zufolge insofern verschleiernden Charakter<br />

(Huber, 1973: 475), zumal »gesamtgesellschaftliche Prozesse den Horizont<br />

bilden, in dem der Glaube verantwortet und deshalb auch <strong>Theologie</strong> formuliert<br />

werden muß« (Huber, 1973: 478) – unddas gilt für einzelne Christinnen<br />

und Christen genauso wie für ihre Zusammenschlüsse.<br />

Weil es in Hubers Perspektive die Einsichten des Glaubens,die theologischen<br />

Gehalte sind, die den Anlass der Genese und Wirksamkeit der verschiedenen<br />

ziologischen Gegenwartsdeutung der Gesellschaft fragwürdig bleibt, sofern etwa die Interrelationder<br />

›Teilbereiche‹ nichtweitergehenderläutert werden kann,sondernvor allem<br />

deswegen,weildie theologische Anwendungeiner vormodernenKategorialitätnicht ohne<br />

weiteres mitden Auffassungen derAkteure undAkteurinnen selbst vermittelt ist, während<br />

für Huber genau diese Vermittlung zentral ist.


Berliner Realismus 19<br />

Dimensionen kirchlicher Sozialgestalten bilden, kann keine dieser Sozialgestalten<br />

Selbstzwecksein – weder die bloßeErhaltung bestimmter Organisationen<br />

noch die Gewährleistung sozialer Konventionen macht letztlich den Geltungsgrund<br />

von Kirche aus, auch wenn sie als Organisation – wie andere Verbände<br />

auch – auf die Spielregeln demokratischer Öffentlichkeit zu verpflichten ist.<br />

Schon aus diesem Grund versteht Huber den Dienst am Öffentlichkeitsanspruch<br />

des Evangeliums als erstes und zentrales Kriteriumder öffentlichen Wirksamkeit<br />

von Kirche und grenzt sich damit von jedem Programm eines ›Öffentlichkeitsanspruchs‹<br />

oder ›Öffentlichkeitswillens‹ der Kirche als Selbsterhaltungsinteresse<br />

eines gesellschaftlichen Verbands ab (Huber, 1983d: 27). Als zweites Kriterium<br />

benennt er im Rekurs auf Bonhoeffer das diakonische Handeln im Versuch der<br />

Entsprechung zum Dasein Jesu für andere (Huber, 1973: 620–623).<br />

In kritischer Anknüpfung an das Programmder politischen <strong>Theologie</strong>, wie es<br />

in den 1960er und 1970er Jahren auf katholischerSeite von Johann Baptist Metz,<br />

auf evangelischer von Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann vertreten wurde,<br />

erörtert Huber schon 1973 den Vorschlag <strong>Hans</strong> Maiers, in Analogie zur französischen<br />

histoire publique die Semantik einer ›öffentlichen <strong>Theologie</strong>‹ an die Stelle<br />

des Begriffs der ›politischen <strong>Theologie</strong>‹ zu setzen, wobei er sich von Maiers Intention<br />

einer Abschwächung der Gesellschaftskritik im Programm der politischen<br />

<strong>Theologie</strong> ausdrücklich distanziert (Huber, 1973: 478, Anm. 161). Für den<br />

Vorschlag spricht Huber zufolge, dass die kritische Intention der ›politischen<br />

<strong>Theologie</strong>‹ Metz’, Moltmanns und Sölles in der Semantik öffentlicher <strong>Theologie</strong><br />

besser aufgehoben sein könnte, geht es jenen doch um einen gegen die Ideologie<br />

der scheinbaren politischen Neutralität und Privatisierung des Christentums<br />

gerichteten umfassenden Ansatz. Die Semantik ›politischer <strong>Theologie</strong>‹ hingegen<br />

legt das Missverständnis einer verengten,bloß auf den Sektor des Politischen<br />

bezogenen Teildisziplin nahe und lässt überdies die Prägung des Begriffs durch<br />

Carl Schmitts problematische, aber wirkungsvolle politischen Diagnosen außer<br />

Acht. Im Anschluss an Dorothee Sölles Programm einer politischen Interpretation<br />

des Evangeliums (Sölle, 1972: 72–75) spricht Huber dann von einer<br />

»theologischen Hermeneutik, die die öffentliche Dimension des Evangeliums zum<br />

Zuge bringen will« (Huber, 1973: 480–481), und bezieht sich affirmativ auf die<br />

Idee, dass »gesellschaftskritische <strong>Theologie</strong> damit einzusetzen hat, daß sie die<br />

kirchliche und christliche Wirklichkeit selbst mit ihrem eigenen christlichen<br />

Anspruch konfrontiert.« (Huber, 1973: 483) Sofern auch bei einer gesellschaftskritischen<br />

<strong>Theologie</strong> die Differenz von Letztem und Vorletztem zu berücksichtigen<br />

bleibt, gilt, »daß es der Kirche in jedem Fall verwehrt ist, christliche<br />

Programme der Gesellschaftsgestaltung zu entwickeln und fu rderen Durchsetzung<br />

zu sorgen.« (Huber, 1973: 485) Stattdessen arbeitet solche <strong>Theologie</strong><br />

einerseits im Modus der Kritik, der vorrangig die Fähigkeit zur Selbstkritik<br />

der Kirche auf allen Ebenen voraussetzt, andererseits aber mit dem »Mut<br />

zum ›kontingent-hypothetischen Sprechen‹, zur Entwicklung vorläufiger Hand-


20 <strong>Torsten</strong> <strong>Meireis</strong><br />

lungsorientierungen angesichts begrenzter Ziele« einhergehen muss, die ihrerseits<br />

nicht ›lehramtlich dekretiert‹, sondern ›partnerschaftlich entwickelt‹ werden<br />

sollen (Huber, 1973: 486).<br />

Während Huber an dieser Stelle die Semantik einer ›öffentlichen <strong>Theologie</strong>‹<br />

aufgrund ihrerUnschärfe noch verwirft (Huber,1973: 478),bezieht er sich seit den<br />

neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts – auch unter dem Eindruck der internationalen<br />

undökumenischenDebatte (Huber,1993) – ausdrücklich darauf undsieht<br />

sie vor allem durch drei Aspekte gekennzeichnet, deren erste beiden inhaltlich<br />

auch schoninder Ausarbeitung zu Kirche undÖffentlichkeitleitend waren: durch<br />

den Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums, der jetzt als Auftrag zur Deutung<br />

der Wirklichkeit imLicht der Gottesbeziehung artikuliert wird; durch die allgemeine<br />

Beteiligung am öffentlichen Diskurs über die gesellschaftlichen Interessen<br />

und Bedürfnisse, die Huber unter den Aspekten von Gerechtigkeit und wechselseitiger<br />

Anerkennungaufgreift sowie – alsneu hinzugekommenerAspekt – durch<br />

das Verhältnis zur außermenschlichen Natur (Huber, 1998: 115–121).<br />

3. Zur Kriteriologie der Kirchen- und<br />

Gesellschaftsanalyse<br />

In seiner Arbeit an der theoretischen wie praktischen Rekonstruktion des Verhältnisses<br />

der Kirchen zur Öffentlichkeit begnügt sich Huber freilich nicht mit<br />

der Beschreibung des notwendigen Prozesses der Vermittlung von theologischen<br />

Wesensaussagen über die Kirche und ihrer sozialen Beschreibbarkeit, sondern<br />

entwirft auch eine normative theologische Position, die sein Verständnis<br />

<strong>Öffentliche</strong>r <strong>Theologie</strong> als einer theologie-, kirchen- und gesellschaftskritischen<br />

Unternehmung informiert. In dieser Position verarbeitet er christozentrische<br />

Motive, für die er auf Bonhoeffer und Barth zurückgreift und in deren Licht er<br />

auch die Reformationinterpretiert, eschatologische Einsichten, für die er – neben<br />

den bereits genannten – auch die politische <strong>Theologie</strong> Metz’, Moltmanns und<br />

Sölles rezipiert und entwickelt – gemeinsam mit seinem Lehrer Heinz-Eduard<br />

Tödt – eine Methodologie, die der bereits erwähnten Aufmerksamkeit für Herausforderungen<br />

durch gesellschaftliche und politische Entwicklungen als Entdeckungszusammenhang<br />

theologischer Aufmerksamkeit entspricht.<br />

Die christozentrische Formierung der Ekklesiologie gewinnt Huber vorrangig<br />

aus der Auseinandersetzung mit der Barmer Theologischen Erklärung, die<br />

er mit Bonhoeffer als vollgültigen Anschluss an die altkirchlichen und reformatorischen<br />

Bekenntnisse interpretiert (Huber, 1983d: 23–24). Erst durch die<br />

Christologie wird nämlich der Zusammenhang »zwischen dem Geschehen von<br />

Kirche und dem die Kirche begründenden Geschehen« (Huber, 1973: 117–118,<br />

vgl. auch 643–645) deutlich. Die christozentrische Formulierung der <strong>Theologie</strong><br />

gilt ihm dabei auch deswegen als angemessene Repräsentation der Offenbarung,


On the Witness of the Church<br />

Dirk J. Smit<br />

Witness involves something personal, born in experience and perspective. We<br />

witness to what we have heard with our ears, seen with our eyes, touched with<br />

our hands. This witness to what some of us saw and heard in Wolfgang Huber’s<br />

witness thus only reflects aparticular South African perspective – it claims no<br />

final word about his views on the church’switness. That would be far too rich and<br />

complex – and others may see things differently, from much closer, perhaps far<br />

better.<br />

Moments and Memories<br />

Thinkingback, several moments come to mind in which we witnessed his witness<br />

to the witness of the church. Reflecting on some of these may help form some<br />

picture of his views on the church’switness. At least six such moments seem significant<br />

– each with its own contribution.<br />

1986<br />

In 1986 the South African Council of Churches (SACC) invited WolfgangHuber to<br />

address their National Conference on the conference theme »Hope in Crisis«. It<br />

was an enormous challenge, with the apartheid society in astate of emergency<br />

and the ecumenical church at the heart of the struggle. In many ways this address<br />

can still be seen as paradigmatic, representing some of his lasting insights and<br />

convictions, rooted in his earlier life and work yet continuing to bear fruit.<br />

He expressed his hesitation to speak at all. He would rather be silent and listen<br />

as expression of solidarity and to learn from South African experiences. He<br />

came from acountry and church not without guilt in the continued existence of<br />

the apartheid regime. He prepared his speech on June 16, he said, commemorating<br />

the revolt of Soweto students ten years before and he quoted the Kairos Docu-


32 Dirk J. Smit<br />

ment approvingly, claiming that the message of hope »is the center of the gospel«<br />

and »the proclamation of this message of hope is the most important task of the<br />

church«. (Huber, 1986: 39)<br />

He describedthe dynamicsofour crisis as he sawitand then spoke about the<br />

dynamics ofhope – talking about the God of freedom, the God of righteousness,<br />

and the God of love – and the dynamicsoffellowship, namely the consequences of<br />

this message for the church. When fellowship in holy communion has broken up,<br />

the church’sstructures have become heretical,heargued,and when political accommodation<br />

destroys fellowship a status confessionis exists. In such amoment of<br />

truth, overcoming the heretical structures of the church coincides with bringing<br />

about political change. It seems inevitable,hesaid, that the renewal of fellowship<br />

in the church is acrucial step towards the church’spolitical witness. The church<br />

itself should become an order of justice in order to bear credible political witness.<br />

Through practical action the church becomes an exemplary symbol of freedom,<br />

denying co-operation with violent rule and helping victims of violence.<br />

Many of these claims were not only prophetic, but clearly flowed from his<br />

past experiences – participation in the peace movement, research in the Protestant<br />

Institute for Interdisciplinary Research in Heidelberg (FEST), responsibilities<br />

of leadership in the popular Kirchentag.<br />

At the same time, many of these convictions had alreadybeen articulated in<br />

his earlier academic writings, originally in his ground-breaking thesis called Kirche<br />

und Öffentlichkeit (1973), but also in essays on ecumenical witness called Der<br />

Streit um die Wahrheit und die Fähigkeit zum Frieden. Vier Kapitel ökumenische<br />

<strong>Theologie</strong> (1980), and particularly in the instructive volume Folgen christlicher<br />

Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer TheologischenErklärung<br />

(1983). Those of us interested in the background and further implications of<br />

his speech could consult these and similar sources. It already then became clear<br />

how much his thought on the church’s witness was indebted toBonhoeffer and<br />

the Theological Declaration of Barmen. The subtitle of Folgen christlicher Freiheit<br />

explained that he was doing ethics and ecclesiology in the tradition of Bonhoeffer<br />

and Barmen – which meant for him drawing consequences from the gospeloffreedom.<br />

In years to follow, all this becameonly more and more clear and consequential.<br />

1987<br />

In 1987 he was again invited for alecture tour. This time he spoke at different<br />

universities to academic audiences, but again reflected on the public witness of<br />

the church. Two of his themesinparticular becameinfluential, both dealing with<br />

issues central to the church’s witness.


On the Witness of the Church 33<br />

One lecture was on human rights. It was later published as»Menschenrechte«,<br />

in avolume called Hoffnung in der Krise,honoring WolframKistner, the<br />

General Secretary of the SACC who hosted Huber in 1986. This was the first time<br />

that Huber spoke about human rights in South Africa, but by far not the beginning<br />

of his impact in this regard – nor the end. In 1982 the SACC initiated aCommission<br />

on Human Rights at atime when the notion was still widely regardedascontroversial,<br />

even contested, in church circles, including ecumenical ones, yet a<br />

time when gross violations of human rights were endemic in our society. Afirst<br />

task was to work on a»Theological Basis of Human Rights« hoping for constructive<br />

conversations in churches about human dignity as central to the church’slife<br />

and witness. At the time, the study byHeinz Eduard Tödt and Huber, Menschenrechte.<br />

Perspektiven einer menschlichen Welt (1977), played acrucial role in the<br />

drafting of such atheological basis in the Commission.<br />

Over the following decades several significant contributions by Huber on<br />

questionsofjustice and human rights impacted our circles. Some examples may<br />

suffice. In 1996, for example, he wrote the introduction for avolume of sermon<br />

guidelines on justification and justice widely used by pastors during atime in<br />

which these questions were often silenced in preaching and worship. In 2012,<br />

for example, he gave the opening lecture in asemester long series onhuman<br />

rights initiated by the Theology Faculty of the Humboldt University in Berlin as<br />

collaboration between German and South African scholars, later published by<br />

Wilhelm Gräb and Lars Charbonnier as Religion and Human Rights. Global Challenges<br />

from Intercultural Perspectives (2015a). In 2014, for example, he was invited<br />

to give apublic STIAS lecture – the Stellenbosch Institute for Advanced Studies<br />

(STIAS), aprestigious think tank for scholars in Africa, where he collaborated as<br />

fellow with <strong>Hans</strong> Joas on »Faith and Fabric«, reflecting on the place and role of<br />

faith in public life. He once again spoke on »Human Rights and Globalisation« to<br />

alarge inter-disciplinary audience.<br />

Over all these years, the witness of the church was always integral to his<br />

thought on human rights. His magnum opus on this theme, Gerechtigkeit und<br />

Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik (1996a), discussed in detail relations<br />

between theology and justice and argued that the way forward was »a criticaltheology<br />

of justice« concerned withboth loyalty to and reform of existingforms and<br />

practices of justice. It would therefore include three crucial dimensions, »drei<br />

grundlegenden Einstellungen zur Wirklichkeit des Rechts: seiner nüchternen<br />

Anerkennung, der Arbeit an seiner Verbesserung, dem Protest gegen Unrecht bis<br />

hin zu den Grenzsituationen von zivilem Ungehorsam und Widerstand«. (Huber,<br />

1996a: 148)<br />

Already in 1987 he published asmall but significant collection of essays on<br />

Protestantismus und Protest. Zum Verhältnis von Ethik und Politik in which he considered<br />

the third aspect of such acritical theology of justice, namely the possibility<br />

of protest and the boundary situations calling for civil disobedience and resist-


34 Dirk J. Smit<br />

ance. He took South Africa as case study. In South Africa the Bible is asubversive<br />

book, he said, and acommunion that really hears the gospel disobeys the state of<br />

emergency.Headded amemory from his visit to the SACC the previous year. After<br />

the National Conference he traveled with Kistner to aLutheran missionstation<br />

but on arrival they were awaited by security forces and Kistner was arrested. Kistner<br />

said apublic prayer and also prayed for those arresting him, which reminded<br />

Huber of Jesus’ words in the Sermon on the Mount.<br />

»Und erstaunt erinnerte ich mich daran, daß wir in der Bundesrepublik Jahr und Tag<br />

darüber gestritten hatten, ob die Bergpredigt für die politische Verantwortung der<br />

Christen etwas zu bedeuten hat […]. Sicherheitshalber will ich hinzufügen: Für die<br />

Überwindung der Apartheid hält die biblische Tradition […] ebensowenig Patentrezepte<br />

bereit wie für die Frage, mit welchen Mitteln dem Wahnsinn des Wettrüstens<br />

Einhalt geboten werden kann. Schritte zu politischen Lösungen zu finden, ist in all<br />

diesen Fragen eine Aufgabe der politischen Vernunft – aber einer durch die Liebe bewegten<br />

Vernunft, einer lernfähigen Vernunft, die, wenn sie von der Bibel lernen will,<br />

auch von der dort bezeugten Parteinahme Gottes für die Armen und Gedemütigten zu<br />

lernen bereit ist, einer leidenschaftlichen Vernunft auch, die sich von der Leidenschaft<br />

dieses Gottes für den Frieden anstecken läßt.« (Huber, 1987a: 18)<br />

This quote leads to the second important paper from the 1987 lecture tour. It was<br />

on the worldwide process in the Ecumenical Movementatthe timecalled »Justice,<br />

Peace and the Integrity of Creation« (JPIC). This contributionwould again become<br />

influential, in more ways than one. The theme itself caught the attention of local<br />

scholars until the national Theological Society of South Africa made it their focus<br />

for the whole academic year of 1991 and the topic of the Annual Meeting. Many<br />

students would later study his essaysonour many forms of daily violence and the<br />

need for aplanetary ethos, in Die tägliche Gewalt. Gegen den Ausverkauf der Menschenwürde<br />

(1993), translated as Violence. The Unrelenting Assault on Human Dignity<br />

(1996c). Perhaps even more influential atthe time, however, was the way<br />

in which he drew attention to the importance of church deliberation on ethical<br />

and political issues, on church studies, church documents, ecclesial ways of decision-making.<br />

During another visit, as member of the Council of the Evangelical<br />

Church, he also lectured on the 1997joint study of the Protestant Church and the<br />

Catholic Bishops’ Conference on the economic and social situation called Für eine<br />

Zukunft inSolidarität und Gerechtigkeit.<br />

The 1987 paper spoke much about processes of conciliarity – again in the<br />

tradition of Bonhoeffer – but many South African ethicists also becameinterested<br />

in the earlier work by Tödt and Huber on ethical decision-making, in his work on<br />

ethics and discourse, and in the Evangelical Church of Germany’sways of studying<br />

themes and producing documents for discussion in the church itself. Aflood<br />

of scholarlyessays appeared and severaldoctoral dissertations made use of these


On the Witness of the Church 35<br />

documents, including the much earlier Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen<br />

zu gesellschaftlichen Fragen (1970), popularly known as Denkschrift über<br />

Denkschriften of the Protestant Church. For the public witness of South African<br />

churches,these were extremely urgent questions and conversations. Both during<br />

the struggle against apartheid and indeed later, after the demise of apartheid and<br />

during the transformation to anew democratic society, these questions aboutthe<br />

way in which the (deeply divided) church should find its way and find its voice,<br />

should discern and engageand – perhaps – critique and even resist,were at the<br />

heart of beingchurch.Could the church speak prophetically and critically?Could<br />

the church speak withone voice?Could the church claim any authority?Could the<br />

church learn to speak in apluralist and democratic and secularsociety? Couldthe<br />

church claim to say anything publicly in the light of its own tragic past – and in<br />

fact its tragic present structures and life? What does the church claim to know?<br />

Who is the church and who speaks for the church?<br />

1990<br />

In 1990 Huberreturned for public lectures,but now duringtimes of radical transformation,<br />

in Europe after the Berlin Wall and in South Africa with apartheid’s<br />

crumblingand the birth of anew society. Once again, two papers were impactful.<br />

One titled »The Role of the Church in Situations of Transition« inspired the Black<br />

Reformed pastor and theologian Russel Botman. What is the public role of the<br />

church, Huber asked, and answered that »the political responsibility of the church<br />

is nothing else than its confession of Jesus Christ as Lord and Saviour« (Huber,<br />

1991a: 15), but that the concrete and faithful shape of this confession depends on<br />

the particularities of different situations. As simple typology he distinguished<br />

three characteristic settings in which the public responsibility of the church is<br />

at stake and called them situations of statusconfessionis,oftransition, and of critical<br />

loyalty. This was of course only heuristic – over years he would demonstrate<br />

his sensitivity to changing historical circumstances again and again. Although<br />

one could thus claim that the ministry of »reconciliation is really at the center of<br />

the Christian message« (Huber, 1991a: 19), the concrete form in which the church<br />

witnesses to this message in specific historical moments will depend on many<br />

factors, since there can be no reconciliation without justice, no reconciliation<br />

without historical truth, and no reconciliation without self-determination, he explained.<br />

Botman was at the time searching for aspirituality that could inform the calling<br />

of South African churches in this new historicalmoment with avision for the<br />

radically new future. Directly engaging these questionsraised by Huber, Botman<br />

wrote his dissertation on Discipleship as Transformation? Towards aTheology of<br />

Transformation,inconversationwith Bonhoeffer. Botman would become amajor


36 Dirk J. Smit<br />

ecumenical figure and public intellectual – amongst others President of the SACC<br />

and Rector of Stellenbosch University – and internationally known for his pedagogy<br />

of hope. As ecumenical leader he was actively involved in the envisioning<br />

that led to the formation of the South African Truth and Reconciliation Commission.<br />

He would later be present in the French Cathedral in Berlin in 1999 when<br />

Huber awarded the Bonhoeffer Prize to the TRC Chair Archbishop Desmond Tutu<br />

and Vice-Chair Alex Boraine.<br />

The second essay was called »The Barmen Declaration and the Kairos-Document.<br />

On the Relationship between Confessionand Politics«. It again addressed a<br />

burning issue in South African church circles at the time, since Black Reformed<br />

Christians adopted the Confession of Belhar (1986) and challengedthe apartheid<br />

ideology, theology and ecclesiology in the spiritof Barmen. Huber quoted Luther<br />

that our whole life, all our action, is confession, and argued that witness, confession,<br />

the Christian life are all identical and take place in different ways, from<br />

words and texts to actions and practices and structures. Modifying aword of Bonhoeffer,<br />

he argued that »the first confession of the Christiancommunity is the living<br />

witness in the unity of word and deed«. (Huber, 1991b: 50) He thendeveloped<br />

arich typology of ways in which word and deed may be related in the church’s<br />

witness – responding to real issues in South Africa at the time.<br />

In the same year he published avolume on an ethics of responsibility, Konflikt<br />

und Konsens. Studien zur Ethik der Verantwortung (1990). Even in this book on<br />

ethics asection on »hope for the church« formed amajor part and the book concluded<br />

with an essay on »Auf dem Wegzueiner Kirche der offenen Grenzen«. The<br />

calling of the church was clearly integral to his thoughts on ethics and responsible<br />

life. The confession or witness of the church always takes form under concrete<br />

circumstances, in specific contexts,inparticular times – and therefore the church<br />

should always also read the signs of the time inorder to discern how to confess<br />

Jesus Christ there and then. This is what concrete responsibility requires. Future<br />

generations will know whether the church only sought tomaintain and protect<br />

itself during crises or whether it asked how tomorrow’s children will be able to<br />

live. This is what Huber heard in Bonhoeffer and this is what again motivated Botman<br />

and many others.<br />

1995<br />

In 1995 Wolfgang Huber was invited once more, now as Bishopofthe Evangelical<br />

Church of Berlin-Brandenburg. At the University of the Western Cape he was<br />

asked to lecture on the church. Remarkably, he drew alarge public audience on<br />

aSaturday morning during school holiday, lecturing on »Kirche – wohin? Eine<br />

Problemanzeige in zwanzig Thesen«. As usual, he began with arich description<br />

of the context and crisis of the moment. Then he argued – again as usual – that


On the Witness of the Church 37<br />

insightabout the church’sfuture could only come by reflecting on the basic event<br />

of beingchurch, »das Grundgeschehen von Kirche« (Huber, 1995: 99), and not by<br />

beginningwith the crises and challenges, however real and serious. The Lutheran<br />

Confessionssaw this basic event in the gospel’spure proclamation and the sacraments’<br />

proper administration and against this backdrop, drawing on his earlier<br />

work like Folgen christlicher Freiheit,heexplained that for Barmen and Bonhoeffer<br />

not only the church’s message and faith, but indeed its order and obedience<br />

should be seen in light of the presence of Christ through the Holy Spirit in Word<br />

and Sacrament. He therefore claimed, »Es liegt deshalb nahe, das Handeln der<br />

Kirche insgesamt vom Grundgeschehen der Predigt des Evangeliums und der Feier<br />

von Taufe und Abendmahl aus zu verstehen« (Huber, 1995: 99; my italics).<br />

In the rest of the theses, this was literally what he did. Renewal of the church<br />

begins with renewed joy over worship and preaching, he said, with renewal of<br />

baptism and catechesis, with renewal of communion with Christ as both Giver<br />

and Giftand solidarity with the weak and oppressed and the natural world in the<br />

Lord’s Supper. The three most basic public activities of the church all flow from<br />

this three-fold form of its basic event. Fromproclamation flows the call of teaching<br />

and education, from baptism flows the call to equal freedom and justice for all,<br />

from the supper flows the call to compassion, service, sustainability, and care for<br />

creation. Visions for the church’s future – »Leitvorstellungen« – should not be<br />

sought in populist images and slogans – like »Volkskirche« or »Minderheitskirche«<br />

– but in this spirit of Barmen. The church is acommunity in which hope is<br />

stronger than fear – afavorite expression that would later become the title of interviews<br />

with him by Stefan Berg, Meine Hoffnung ist größer als meine Angst<br />

(1996b). The church is acommunity »die beten und das Gerechte tun and auf<br />

Gottes Zeit warten« (Huber, 1995: 101) – quoting Bonhoeffer.<br />

For the witness of the church in societythis meant that the traditional focus<br />

on church and state relations – whether on partnership in West Germany or on<br />

creating distance in East Germany – was no longer adequate. Political theology<br />

should make room for public theology.<br />

»Neue Akzente sind nötig. Die Suchrichtung bezeichne ich mit der Formel <strong>Öffentliche</strong><br />

Kirche in pluralen Öffentlichkeiten. Damit ist unter anderem gesagt: Die Kirche muß<br />

ihr Verhältnis zur Gesellschaftsointensiv wahrnehmen wie ihr Verhältnis zum Staat.<br />

Die öffentliche Kirche muß selbstbewußte Eigenständigkeit nicht nur gegenüber dem<br />

Staat, sondern auch gegenüber der Wirtschaft, den Medien und anderen gesellschaftlichen<br />

Kräften entwickeln und bewahren. Der Kern ihrer Eigenständigkeit liegt darin,<br />

daß sie aus Gnade lebt und deshalb auf Erbarmen verpflichtet ist. Sie nimmt ihren Ort<br />

in der Gesellschaft wahr als eine Gemeinschaft, die der Verheißung Gottes vertraut<br />

und deshalb Ermutigung ausstrahlt.« (Huber, 1995: 103; my italics)


38 Dirk J. Smit<br />

What is critical for the future of the church, he concluded, is to concentrate on its<br />

own task – and this task is so broad precisely because its center is so clear. He<br />

soon developed these concerns more fully in Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher<br />

Wandel und Erneuerung der Kirche (1998), for his views on the<br />

church’s public witness, particularly instructive.<br />

2010<br />

In 2010 he returned once more for two lectures on the church’stask in overcoming<br />

violence. At Pretoria University he gave the keynote address during aconference<br />

on violence in ademocratic South Africa. He spoke on »Religion and Violence<br />

in aGlobalised World«, once again describing the challenges of that<br />

historical moment with atypology. Against that background the second lecture –<br />

aprestigious public one in Stellenbosch – focused on »Overcoming Violence –<br />

ABasic Task of ChristianChurches«. The word »basic« already suggestedthat this<br />

was not simply yet another challenge on along list of challenges, but that overcoming<br />

violence somehow has to do with the nature of the church as church.<br />

Again taking his departure in the Augsburg Confession’s view of the community<br />

of saints as pure proclamation of the gospel and proper administration of the<br />

sacraments, he argued that this gospelproclaimed and celebrated entails apreferential<br />

option for non-violence that also includes the responsibility to put an end<br />

to existing violence. His criticalclaim was once again that the Barmen Declaration<br />

and later the Belhar Confession »made clear the inner dependencybetween faith<br />

and obedience, witness and service, proclamation and existence of the church«<br />

(Huber, 2011: 3). Once again he consideredpractical consequences flowing from<br />

this basic calling as acommunity of peace – peace-making activities, peace-education,<br />

promoting justice, solidarity with those in need. Once again he underlined<br />

that »one will not find detailed guidelinesinthe Biblical Scriptures on how to deal<br />

with those questions under present circumstances, but there isclearly acertain<br />

tendency and direction«. (ibid.) In arecent address on »Overcoming Violence –<br />

Church and Civil Society« in Rwanda in 2019, he again underlined that churches<br />

should see their public responsibility as part of civil society. They should therefore<br />

not oppose worship and public witness with one another, but see their own<br />

commitment to education, to just peace, and to cultures of care as motivated by<br />

basic theological reasons and ecclesiological convictions.<br />

2015<br />

In 2013 the Vice-Chancellor of Stellenbosch, Russel Botman, invited him as Honorary<br />

Professor. By then his ties with Stellenbosch University had grown strong,


On the Witness of the Church 39<br />

including an honorary doctorate. His inaugural public lecture as Honorary Professor<br />

in 2015 was called »Why Ethics?«. Looking back on his own development<br />

he acknowledged the importance of South African experiences for his life and<br />

work. During the very critical 1980s, he said, helearned to develop an ethics of<br />

hope. In fact, it becameamotto for his personal life as well, »My hope is stronger<br />

than my anxiety«. This motto formed the decisive continuity between his work as<br />

ethicist and his later responsibilities as bishop and church leader. Without ethical<br />

reflection, he argued, therewill be no hope in the ever-changingcrises of our days,<br />

»we need an ethics of solidarity in hope, of hope in solidarity«. (Huber, 2015b:<br />

155)<br />

In the inter-disciplinary discourse needed for ethical reflection, theology<br />

should contribute in its own way, and he provided arich description of theology’s<br />

»specific access to reality in three main dimensions«, namely »gratitude and<br />

hope« based on trust in God’s presence and promises, »sober analysis of human<br />

errors and mistakes« based on insight into separation and seduction, and »open<br />

eyes for processes in which people are encouraged to transform realities« in the<br />

spirit of love, with equalrespect for all in theirdifferences, oriented towardsthe<br />

protection of human rights, the partiality of justice, the sustainable use of natural<br />

resources, and the promotion of peace. To this he added another dimensionofthe<br />

theological task, namely aspirit of self-criticism. Theological ethics based on its<br />

own competencies will be such »an integrative ethics of responsibility«. (Huber,<br />

2015b: 161)<br />

Insights and Impact<br />

More memories come to mind, but these moments are already reminders of at<br />

least six insights.<br />

Firstly, he showed the need to distinguish between social forms of the<br />

church – which became important to us in many ways. Already in Kirche<br />

(1973) he distinguished four »Gestalten der Kirche«. With us it became popular<br />

to talk of six social forms – worship, local congregation, denomination, ecumenical<br />

bodies, believers in everyday life, movements. These distinctions were used<br />

from conversations to church documents to dissertations. We saw the need to look<br />

at the dynamics – both promises and dangers – of all six forms. One example can<br />

suffice. In an intriguing essay he showed how the establishment of many new<br />

evangelical academies, the formation of FEST in Heidelberg, and the popularity<br />

of the Kirchentag movement could all be interpreted as concrete attempts to respond<br />

to the failures of the church’s witness in Nazi-Germany – and imagining<br />

such practical initiatives fascinated many in our circles. During the apartheid<br />

struggle some of us were even tempted to contrast the social forms of the church<br />

with one another as if some were more important than others. Such an ecclesiol-


Kirche –gesellschaftskritische<br />

Instanz oder Moralagentur?<br />

<strong>Hans</strong> Joas<br />

Die Schwierigkeit, der »Kirche« aus sozialwissenschaftlicher Perspektive gerecht<br />

zu werden,ergibt sich aus einem doppelten Balanceakt.Die Kirche hat einerseits<br />

für diejenigen Menschen, die in und mit ihr aufgewachsen sind, etwas für die<br />

eigene Persönlichkeit und Selbstwerdung Konstitutives, und das gilt trotz aller<br />

Vorwürfe und Kritik, die man gegenüber der Institution haben mag. Das hat<br />

unser Verhältnis zur Kirche gemeinsam mit unserem Verhältnis zuunseren<br />

Eltern, Großeltern und Geschwistern, und insofern ähnelt dieses auch dem unserer<br />

Zugehörigkeit zu einem Volk oder einem Staat. In der katholischen Tradition<br />

reden wir sogar gernevon der »Mutter Kirche« (Joas, 2021b: 15–16) 1 ,von<br />

der Kircheals Mutter. Dies kann leicht kitschig klingen. Das ist aber nurder Fall,<br />

wenn wir ein idealisiertesBild von Mütterlichkeit haben, dem zufolge die Mutter<br />

nur aus Güte und immerwährender Unterstützungsbereitschaft besteht und gar<br />

nicht als eigene Person mit eigenen Bedürfnissen und Fehlern erkennbar wird.<br />

Würde die Mutter Kirche sogedacht, dann würde ihrer gefährlichen Selbstverklärung<br />

nur eine weitere Gestalt gegeben. Wenn wir aber realistisch an unsere<br />

Mütter denken, dann sind wir vermutlich schon in der Pubertät oder im frühen<br />

Erwachsenenalter zum Schluss gekommen, dass unsere Mutter nicht fehlerlos<br />

war, dass mancher gut gemeinte Ausdruck ihrer Liebe uns in falsche Richtungen<br />

trieb oder sich sogar Selbstsucht in ihre Liebe mischte und sie uns vielleicht für<br />

unsere wachsende Unabhängigkeit manchmal auch strafen wollte. Doch erkennen<br />

wir dann auch, dass eine illusionslos betrachtete Mutter doch unsere Mutter<br />

bleibt. Das Verhältnis zu ihr, der wir unser Leben verdanken, wird nie ein beliebig<br />

kündbares werden. Wenn erwachsen gewordene Kinder den Gesprächsfaden zu<br />

ihren Eltern ganz abreißen lassen, wenn sie sich mit alten Vorwürfen an sie<br />

wenden oder sie bei Krankheit oder Not und in der Stunde ihres Todes im Stich<br />

1<br />

Ausführlicher dargestellt findet sich mein Verständnis von Kirche in Joas, 2016 und<br />

2022; zum erstgenannten der beiden Bücher ist ein Diskussionsband erschienen:<br />

Sautermeister, 2019. Ich verwende in diesem Text einige Passagen aus Joas, 2021a und<br />

2021b.


48 <strong>Hans</strong> Joas<br />

lassen, dann erschrecktdas die meisten Menschen zutiefst. Das liegt daran, dass<br />

wir intuitiv wissen: Nicht alle menschlichen Beziehungen beruhen auf Wahl und<br />

Entscheidung, diejenigen nämlich nicht, die für das, was wir sind, konstitutiv<br />

sind oder für das, was wir zu sein anstreben.<br />

Aber anders als Verwandtschaft und Volk und mehr als jeder Staat hat die<br />

Kirche andererseits auch eine Dimension des Ideals, das uns ergreift und das<br />

über alle bloß vorgefundene Zugehörigkeit hinausgeht. Deshalb können Menschen<br />

sich von diesem Ideal angezogen fühlen, ohne schon immer mit Kirche<br />

verbunden gewesen zu sein. Die christliche Botschaft kann zwar immer nur<br />

bestimmte Träger haben; aber der Appellcharakter ihres Ideals ist es gerade,<br />

nicht auf diese beschränkt zu bleiben und bei allen Überlegungen über das Gute<br />

und Entscheidungen für das Rechte alle Menschen im Blick zu haben, nicht<br />

nur die Angehörigen des eigenen Volkes oder Staates oder sogar der eigenen<br />

Glaubensgemeinschaft. Um in den heutigen tiefen Krisen der Kirchen nicht die<br />

Orientierung zu verlieren, müssen wir neu verstehen, warum es überhaupt zur<br />

Entstehung der Kirche kam und es von der christlichenBotschaftErgriffenen nie<br />

genügen konnte,einfach unter sich in einer Art privater Vereinigung zu bleiben<br />

oder mit einem bestimmten Volk oder Staat eins zuwerden.<br />

Universalistische Ideale stehen nämlich am Ursprung der Kirche. Wir<br />

sprechen heute oftvom »moralischenUniversalismus«. Damitist einemoralische<br />

Orientierung gemeint, die das Gute nicht nach seiner Nützlichkeit für eine partikulare<br />

Menschengemeinschaft bemisst. Gemeint ist nicht etwa ein kleinster<br />

gemeinsamer Nenner der Moral aller Menschen, sondern eine Vorstellung von<br />

Menschheit, die alle solche partikularen Kollektive wie Familie, Stamm, Volk,<br />

Nation, Staat, ja selbst Religionsgemeinschaft überschreitet, ein normativ aufgeladener<br />

Begriff von »Menschheit« also, der auch noch über die gegenwärtig<br />

lebenden Menschen hinaus auf die Existenzbedingungen der zukünftigen<br />

Menschen zielt. In Ideen Kants über die Universalisierung von Handlungsmaximen<br />

im Überprüfungsverfahren des kategorischen Imperativs hat diese moralisch-universalistische<br />

Intuition vielleicht ihre klarste philosophische Ausdrucksform<br />

gefunden. Aber es gab sie selbstverständlich – und Kant hätte dies<br />

nie bestritten – schon lange vor ihm und in einer Fülle von kulturellen Artikulationen.<br />

Diese moralische Überzeugung ist dem Menschen aber weder angeboren<br />

noch entwickelt siesich von selbst in einer Art moralischemReifeprozess. Doch<br />

kam sie auch nicht nur im Christentum zur Welt. Die Frage nach der Entstehung<br />

des moralischen Universalismus in mehreren der großen Zivilisationen – und<br />

nicht nur den »abendländischen« –, die Klärung der genauen Ursachen und<br />

Verläufe, die zu ihm geführt haben, scheint mir eine der wichtigsten Herausforderungen<br />

für die historisch orientierte Sozialwissenschaft, aber auch für<br />

Philosophie und <strong>Theologie</strong> in unserer Zeit zu sein. Einen pionierhaften Schritt in<br />

dieser Richtung hat Ernst Troeltsch getan (Joas, 2021a). Für ihn lag ein we-


Kirche –gesellschaftskritische Instanz oder Moralagentur? 49<br />

sentlicher Teil der Erklärung in der Geschichte der antiken Imperien. Schon die<br />

Diadochenreiche, in die Alexanders Imperium zerfallen war, vor allem aber das<br />

römische Imperium hatten – so stellte Troeltsch fest – zur »Zertrümmerung der<br />

alten Nationalreligionen und der alten festgewachsenen Volksverhältnisse« geführt<br />

(Troeltsch, 2014: 781). Ohne diese aber musste sich eine doppelte Tendenz<br />

ergeben: hin zum Individuum einerseits, zum Universalismus jenseits der Partikularitäten<br />

von Volk und Staat andererseits. »Das Weltreich verlangte nach<br />

einer Weltreligion undlenkte, indem es die Güter der alten Zivilisation zerstörte,<br />

den Blick auf das Überweltliche und Jenseitige.« (Ebd.) Transzendenzvorstellungen<br />

und moralischer Universalismusgewannen damit an Anziehungskraft –<br />

in allen Schichten. Inder Oberschicht konnten die so entstandenen Bedürfnisse<br />

zum Beispiel durch die stoische Philosophie befriedigt werden; für die Unterschicht<br />

aber brauchte es anderes als Philosophie, nämlich einen neuen Kultus<br />

und eine neue religiöse Organisation jenseits von Ethnizität und archaischer<br />

Staatlichkeit. Das Christentum konnte diese bieten und dabei auch schrittweise<br />

die philosophischen Impulse in seine Lehre integrieren.<br />

Das neu entstehende christliche Ethos war eben gerade nicht bloß Ausdruck<br />

des Ressentiments der Schwachen oder utopischer Erlösungshoffnungen einer<br />

Klasse, wie Nietzscheaner oder Marxisten es nahelegten, sondern löste sich von<br />

allen vorgefundenen soziologischen Gliederungen. Für diese Sicht findet sich<br />

bei Troeltsch neuerdings ein weiterer wichtiger Beleg. Bis zu seinem frühen Tod<br />

trug er in das Handexemplar seines großen Werkes über »Die Soziallehren der<br />

christlichen Kirchen und Gruppen« immer wieder umfangreiche Ergänzungen<br />

ein, die er bei einer späteren Neuauflage berücksichtigen wollte. Am Ende des<br />

Kapitels zum Evangelium, das heißt vor dem Übergang zu Paulus, findet sich<br />

unter diesen neuen Einschüben die wohl klarste Darstellung dieser genialischen<br />

Einsicht in direkter neuerlicher Konfrontation mit Nietzsche. Bei der Entstehung<br />

des Christentums sei es gerade um die Lösung von Klassenbedingtheit,<br />

»von der Polis, vom Imperium« gegangen, um »die Entdeckung des Menschen<br />

und der Menschheit« (Troeltsch, 2021: 243). »Das Entscheidende dabei ist« – so<br />

Troeltsch – »dass dieses neue Ethos« – und er erkannte, dass es sich eben um ein<br />

neues Ethos handelt –<br />

»ein von den natürlichen soziologischen Gliederungen lösendes, ein menschheitliches<br />

ist und dementsprechend nicht in den naturgegebenen Gliederungen, sondern in<br />

der allumfassenden monotheistischen Idee des Absolut-Guten verankert ist. Es steckt<br />

in diesen Ideen keine nationale und keine Klassenbedingtheit, sie sind absolute<br />

Forderungen an das Individuum und an die Menschheit, sie bedeuten den unendlichen<br />

Wert der Seele und die Geistesgemeinschaft der Menschheit als erst in Erkenntnis<br />

oder Glaube zu erwerbende und zu schaffende höchste Güter, hinter denen<br />

alle anderen als bloß irdische verschwinden.« (A. a.O., 242f.).


50 <strong>Hans</strong> Joas<br />

Das scheint mir eine klare Formulierung dessen, was ich mit der historischen<br />

Entstehung des moralischen Universalismus inVerbindung mit der Entstehung<br />

von Vorstellungen über Transzendenz meine. Troeltsch nennt auch keineswegs<br />

nur das Evangelium an dieser Stelle als Ausdruck der »neuen Idealbildung«<br />

(a. a.O., 243), sondern auch »das platonische Ideal der von Vernunft und Erkenntnis<br />

geleiteten Gesellschaft und dann das stoische Ideal der auf die Würde<br />

des Geistes begründeten Reformpolis«. Wiedieses neue Ideal bewertet wird, ob es<br />

als hohes Ideal anerkannt, vielleicht sogar als unübertrefflich aufgefasst wird,<br />

oder ob es in Nietzsches Art als »Vernichtung der aristokratischen Herrlichkeit<br />

durch plebejische Massenverherrlichung«, als »Auflösung einer ästhetisch-intellektuellen<br />

Höhenkultur durch eine lediglich ethisch-religiöse Phantastik der<br />

Geistig-Armen« undals »Vernichtung der Natur durch einen phantastischenund<br />

blutlosen Idealismus« abzulehnen oder zu verdammen sei – das ist keine Frage,<br />

die von der Geschichtswissenschaft mit ihren Mitteln zu entscheiden ist (ebd.).<br />

Da aber nichts Menschliches in der Luftschweben kann, bedeuteteeben die<br />

Loslösung des moralischen Universalismus von allen existierenden Sozialformen<br />

die Notwendigkeit der Schaffung neuer Sozialformen. Das ist die Logik, die zur<br />

Entstehung der Sozialform Kirche führte. Philosophenvereine und -schulen, die<br />

den Platonismus oder Stoizismus pflegten, konnten den Bedürfnissen der Unterschichten<br />

gewiss nicht genügen. Das ist wiederum der wahre Kern von<br />

Nietzsches bekannter Bemerkung in der Vorrede zu seiner Schrift »Jenseits von<br />

Gut und Böse«, das Christentum sei »Platonismus fürs ›Volk‹«. Es ist selbstverständlich,<br />

dass diese neue und potentiell universalistische Sozialform »Kirche«<br />

von bestimmten Klassen mehr als von anderen in Beschlag genommen werden<br />

wird, von bestimmten Staaten und Zivilisationen auch, von denen sie sich aber<br />

immer wieder auch lösen und absetzen kann. Der Idee nach, aber selbstverständlich<br />

den Anspruch in der Wirklichkeit nicht völlig verwirklichend, ist die<br />

christliche Kirche »der erste großeVersuch einer davon [das heißt von Staat und<br />

Klassen, H. J.] unabhängigen und dann selbständig erfolgenden Gemeinschaftsbildung<br />

der Idee« (ebd.). Das ist Troeltschs produktiver Ausgangspunkt<br />

für eine Soziologie der Kirche.<br />

Dieser Zusatz Troeltschs für die geplante Neuausgabe seiner »Soziallehren«<br />

ist vielleichtder klarste Beleg für seine Einsicht in die Zusammenhänge von<br />

moralischem Universalismus und dem, was ich politischen Universalismus<br />

nenne,d.h.dem Weltherrschaftsanspruch von Imperien. Sensibilisiert von dieser<br />

Stelle kann man wahrnehmen, dass Troeltsch sich in all den Arbeiten, in denen er<br />

die Frage nach dem Christentum als bisher höchster oder für alle Zeit unübertrefflicher<br />

Stufe der Religionsentwicklung erörtert, besonders für diejenigen<br />

Religionen interessierte, die er als »Erlösungs-« oder eben als »Universalreligionen«<br />

klassifizierte. Seine Begriffsverwendung ist dabei nicht ganz klar, aber<br />

deutlich wird, dass Universalreligionen nicht solche Religionen sind, die sich auf<br />

dem ganzen Globus finden – das könnte ja einfach die Folge von Migrations-


Kirche –gesellschaftskritische Instanz oder Moralagentur? 51<br />

bewegungen sein –, sondern diejenigen, die »mit der natürlichen Gebundenheit<br />

der Religion an Staat, Blut und Ort und mit der Verflechtung der Gottheit in<br />

Naturkräfte und Naturerscheinungen« gebrochen und die Vorstellung einer<br />

»deutlich in die Sinnenwelt hineintretenden übersinnlichen Welt absoluter jenseitiger<br />

religiöser Güter« hervorgebracht haben (Troeltsch, 1998: 191–193). Individualisierung<br />

der Religion und Universalisierung erscheinen hier als logisch<br />

miteinander verknüpft, weil die Beziehung der Gottheit »nicht mehr nur auf<br />

Familie, Sippe, Staat und Bundesschließung« sowohl das Individuum wie eine<br />

alle Partikularitäten überschreitende universale Sozialität ins Zentrum der Religion<br />

rückt.<br />

Zu diesen Formen des Universalismus rechnete Troeltsch, wie wir gesehen<br />

haben, auch die philosophischen Schulen des Platonismus und der Stoa, aber an<br />

anderen Stellen auch indische religiöse Traditionen, Ansätze im Neuplatonismus<br />

und Gnostizismus der Spätantike sowie in Judentum und Islam, die er aber als<br />

bloße »Gesetzesreligionen« von den »Erlösungsreligionen« im Vollsinn unterscheidet.<br />

Damit befindet sich das Christentum in einem Feld des Vergleichs religiöser<br />

und philosophischer Formen des moralischen Universalismus. Es kann<br />

der Frage nicht ausgewichen werden, wie konsequent das Christentum in seiner<br />

Geschichte dem moralischen Universalismus seiner Grundinspiration eigentlich<br />

treu geblieben ist, welche institutionellen und intellektuellen Formen dieser<br />

Universalismus annahm oder wie sehr er sich zu neuen Partikularismen wandelte.<br />

Das Christentum kann weiterhin im Vergleich der Religionen dann nicht<br />

wie selbstverständlich eine Überlegenheit in Hinsicht auf moralischen Universalismus<br />

in Anspruch nehmen.<br />

Die Ideale des moralischen Universalismus sind in der Welt der Politik und<br />

der Wirtschaft oder gar des Krieges und der Rüstung allerdings nie einfach zu<br />

verwirklichen. Das ist bei der Kritik anden Institutionen des Christentums immer<br />

auch zu berücksichtigen. Waswäre aus dem Christentum in seiner Frühzeit<br />

geworden, wenn es sich entschieden gegen die Institution der Sklaverei gestellt<br />

hätte?Anpassungen und Kompromissbildungen erscheinen im Rückblick, wenn<br />

dieser ohne die wohlfeile moralische Überlegenheitsgeste von Nachgeborenen<br />

erfolgt, als nötig, wenn schon nicht als geboten, dann doch als nachvollziehbar.<br />

Eben aber wegen dieser Schwierigkeit der Idealverwirklichung werden diejenigen,<br />

die das einmal Erkannte auch nicht zynisch ins Reich der nutzlosenTräume<br />

verbannenwollen, sich bemühen, diese Ideale zusammen mit anderen am Leben<br />

zu erhalten, sie den Nachkommen weiterzugeben, neuen Menschen die Augen<br />

für sie zuöffnen, die eigene Gemeinschaft zuschützen vor den Übergriffen von<br />

Staaten, welche in jedem Universalismus mangelnde Loyalität zum partikularen<br />

Gemeinwesen argwöhnen, in gemeinsamen Ritualen die Ideale immer wieder<br />

neu zu verlebendigen und eigene Formen des Zusammenlebens zu entwickeln,<br />

die wenigstens in etwas größerer Harmonie mit den Idealen sich befinden als das<br />

alltägliche Leben sonst.


52 <strong>Hans</strong> Joas<br />

Nur universalistische Religionen haben dieses Organisationsproblem; nursie<br />

können sich nicht einfach auf die bestehenden Sozialformen stützen und in<br />

diesen ihr Leben führen. Doch haben nicht alle universalistischen Religionen eine<br />

Kirche; auch konkurrieren selbst im Christentum andere Organisationsformen<br />

mit derjenigen der Kirche; zudem entspricht, wie wir heute wieder besonders<br />

deutlich sehen, die Kirche oft nicht dem für sie grundlegenden und von ihr<br />

verkündeten Ideal. Unumgänglich sind deshalbFragen wie die, was die Christen<br />

von anderen universalistischen Religionen in spiritueller, aber auch in institutioneller<br />

Hinsicht lernen können; was etwa die katholische Kirche, die dazu neigt,<br />

sich als Kirche schlechthin zu verstehen, von anderen Formen der sozialen Organisation<br />

des Christentums in Protestantismus und Orthodoxie demütig aufzunehmen<br />

bereit ist; wie sich die Kirchen selbst, und zwar durch institutionelle<br />

Vorkehrungen, verstärkt an ihren eigenen Idealen messen und sich selber<br />

»evangelisieren« können.<br />

Wenn die christlichen Kirchen sich als Vereinigungen von moralischen Universalistenverstehen,trifft<br />

sicher aufsie zu,dassman vonihnen kritischeDistanz<br />

zu jedem bestimmten politischen Gemeinwesen erwarten kann. Im Zusammenhang<br />

der Debatten über die Unterscheidung von Staat und »Zivilgesellschaft« hat<br />

sich seit den 1990er Jahren in<strong>Theologie</strong> und Sozialwissenschaften das Bewusstsein<br />

dafür verstärkt, dass Staatsferne nicht Verzicht auf öffentliches Wirken der<br />

Kirchen und Religionsgemeinschaften bedeuten muss. In der Soziologie war es<br />

eine international vergleichende Studie von José Casanova, welche die epochale<br />

Umorientierung wegvon derVorstellung einerfortschreitendenPrivatisierungder<br />

Religion herbeiführte (Casanova, 1994). 2 In der <strong>Theologie</strong> hat Wolfgang Huber<br />

(1998) eineninvielenHinsichtenwegweisendenBeitrag zuröffentlichenRolle der<br />

Kirchenvorgelegt.Erwandtesichdarin gegenjedes Lamentoüberden drohenden<br />

Verlust des unmittelbaren Einflusses der Kirchen auf staatliche Entscheidungen<br />

und plädierte für die aktive Mitwirkung der Kirchen an zivilgesellschaftlichen<br />

Prozessen. Damit trat erzugleich für den Abschied von autoritären Formen der<br />

Verkündigung und Belehrung ein und für die Initiierung von öffentlichen Konsultationsprozessen,<br />

dieauchdie Grenzender Konfessionen überwinden müssen.<br />

Die Kennzeichnung der Kirchen als »gesellschaftskritische Instanz« ist, wie<br />

es der Titeldieses Beitrags nahelegt, also nicht abwegig, selbst dann nicht, wenn<br />

durch übergroße Staatsnähe in Geschichte und Gegenwart immer wieder der<br />

gegenteilige Eindruck entstehen kann, nämlich der, sie seien nur »verlängerter<br />

Arm« des Staates. Dennoch besteht auch im Fall der geradezu demonstrativen<br />

Konzentration der Kirchen auf moralische Fragen und den Einsatz für Belange,<br />

die über ein begrenztes Gemeinwesen hinausgehen, eine Gefahr, die unter dem<br />

Begriff der »Kirche als Moralagentur« gegenwärtig heiß diskutiert wird. Ich<br />

2<br />

Zu Casanova vgl. Joas, <strong>Hans</strong>: Religion und Globalisierung, in: Joas, 2020: 555–575.<br />

Außerdem (für die USA) zentral: Tipton, 2007.


Kirche –gesellschaftskritische Instanz oder Moralagentur? 53<br />

selbst habe unter dem Eindruck der bedingungslosen Rechtfertigung einer liberalen<br />

Einwanderungspolitik durch die beiden großen christlichen Kirchen in<br />

Deutschland mit diesem Begriff nicht etwa ihre politische Rolle überhaupt in<br />

Frage stellen wollen, wie mir verschiedentlich unterstellt wurde. Ich habe allerdings<br />

Vorbehalte gegen die Eindeutigkeit geäußert, mit der in diesem Fall auf<br />

einem einzelnen Politikfeld christlich argumentiert wurde, und auf die Selektivität<br />

hingewiesen, mit der aus dem Ethos des Evangeliums in der Migrationspolitik,<br />

aber z. B. nicht in Sachen Frieden und Abrüstung, ohne großeVermittlung<br />

politische Konsequenzen abgeleitet wurden. Der zentrale Punkt meiner Argumentation<br />

ist dabei, dass der moralische Universalismus nur unter der gleichzeitigen<br />

Berücksichtigung inkommensurabler partikularer Verpflichtungen gelebt<br />

werden kann. Das gilt für Individuen wie für Institutionen. Auch moralische<br />

Universalisten haben partikulare Verpflichtungen, die sie mit ihren universalistischen<br />

balancieren müssen und die nicht immer schon hinter die universalistischen<br />

zurücktreten. Anhand des Samaritergleichnisses erläutert: Natürlich<br />

will Jesus demonstrieren, dass die Verpflichtung zur Hilfe über das eigene Volk<br />

hinaus gilt. Das ist indiesem Gleichnis unübertrefflich ausgedrückt. Aber wir<br />

müssen bedenken, dass der Samariter, nachdem erErste Hilfe geleistet hat, Geld<br />

fürdas verwundete Opferdes Raubüberfallszurücklässt,damit andere nunfür den<br />

Verwundeten sorgen: »Und am nächsten Tagholte er zwei Denare hervor,gab sie<br />

demWirt undsagte:Sorge fürihn,und wenn du mehr fürihn brauchst,werdeich es<br />

dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.« (Lk 10,35) Das heißt aber doch, dass er<br />

weiterzieht, weil an anderemOrt die anderen Verpflichtungen seines alltäglichen<br />

Lebens, vermutlich die seiner Familie und seiner Geschäfte, auf ihn warten. Das<br />

eben meineich.Würde derSamariter seineFamilie,Sippe usw. vor lauter Hilfefür<br />

Dritte vernachlässigen, wäre ergewiss inderen Augen und vielleicht auch in<br />

unseren keineswegs moralisch vorbildlich. Werdiesem Gedanken widersprechen<br />

will, darf nichteinfach denmoralischen Universalismus alssolchen verfechten. 3 So<br />

wichtig also der moralische Universalismus des Christentums für mein Verständnis<br />

von Kirche ist, sowenig darf Kirche in meiner Sicht zur bloßen Moralagentur<br />

werden, auch nicht imNamen einer universalistischen Moral.<br />

Zu fragen ist freilich auch, ob gegenwärtige Kirchenreformbestrebungen<br />

selbst immer wirklich an diesen universalistischen Idealen orientiert sind und<br />

ob der Austrag der Konflikte im Rahmen dieser Bestrebungen wirklich Außenstehenden<br />

das Bild geschwisterlicher Liebe unter den Christen vermittelt. Auf<br />

beiden Seiten in Sachen Kirchenreform, bei »Konservativen« und »Progressiven«,<br />

gibt es oftdie Neigung, »Geist« und »Struktur« gegeneinander auszuspielen. Doch<br />

lässt sich schnell erkennen, dass zwar bloße Strukturreformen keinen Geist le-<br />

3<br />

Vongroßem Einfluss auf meine Argumentation sind dabei die Schriften eines jüdischen<br />

Sozialphilosophen und eines protestantischen Theologen: Walzer, 1983/1992; Niebuhr,<br />

1951/2001. ZuNiebuhr jetzt ausführlich: Joas, 2020: 428–462.


54 <strong>Hans</strong> Joas<br />

bendig machen, aber auch vom Geist verlassene Strukturen nicht unverändert<br />

bleiben können, wenn der Geist wieder lebendig werden soll. Die Erschütterung<br />

und die Empörung durch die Skandale von Missbrauch und Vertuschung, aber<br />

auch die Konflikte über Migration und Frieden, Partizipation und Kontrolle<br />

werden nur dann fruchtbar werden, wenn sie nicht zu verschärften Gegnerschaften<br />

in den Kirchen führen, sondern zur Erneuerung der ursprünglichen<br />

Impulse des Christentums. Diese könnten – davon bin ich überzeugt – in unserer<br />

Zeit eine unerhörte Attraktivität entwickeln, wenn nicht in Vergangenheit und<br />

Gegenwart so vieles geschehen wäre, was die frohe und befreiende Botschaft<br />

verdeckt und unhörbar macht.<br />

Literaturverzeichnis<br />

Casanova, José: Public Religions in the Modern World. Chicago: University of Chicago<br />

Press 1994.<br />

Huber, Wolfgang: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung<br />

der Kirche. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 1998.<br />

Joas, <strong>Hans</strong>: Kirche als Moralagentur? München: Kösel Verlag 2016.<br />

Joas, <strong>Hans</strong>: Im Bannkreis der Freiheit. Religionstheorie nach Hegel und Nietzsche. Berlin:<br />

Suhrkamp 2020.<br />

Joas, <strong>Hans</strong>: Christentum und moralischer Universalismus. Überlegungen zu ihrer Genealogie<br />

im Anschluss an Ernst Troeltsch, in: Voigt, Friedemann (<strong>Hrsg</strong>.): Die Kreativität<br />

des Christentums. Vonder Wahrnehmung zur Gestaltung der Welt (Troeltsch-<br />

Studien, Bd. 7). Berlin: De Gruyter 2021a, 30–58.<br />

Joas, <strong>Hans</strong>: Mutter Kirche, in: Herder Korrespondenz 75 (2021b), 15–16.<br />

Joas, <strong>Hans</strong>: Warum Kirche? Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft. Freiburg:<br />

Herder 2022.<br />

Niebuhr, H. Richard: Christ and Culture (1951). New York: Harper Perennial 2001.<br />

Sautermeister, Jochen (<strong>Hrsg</strong>.): Kirche – nur eine Moralagentur? Eine Selbstverortung.<br />

Freiburg: Herder 2019.<br />

Tipton,StevenM.: Public Religionsinthe Modern World. Methodists andMainlineChurches<br />

in the Moral Argument of Public Life. Chicago: University ofChicago Press 2007.<br />

Troeltsch, Ernst: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/<br />

1912), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (KGA Bd. 5).<br />

Berlin: De Gruyter 1998.<br />

Troeltsch, Ernst: Die Sozialphilosophie des Christentums (1911), in: ders.: Schriften zur<br />

Religionsphilosophie und Ethik (1903–1912), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit<br />

mit Katja Thörner. Berlin: De Gruyter 2014 (KGA Bd. 6.1), 779–808.<br />

Troeltsch, Ernst: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), hrsg. von<br />

Friedrich Wilhelm Graf (KGA Bd. 9.1). Berlin: De Gruyter 2021.<br />

Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit<br />

(1983). Frankfurt a.M.: Campus Verlag 1992.


Grenzgänger<br />

<strong>Öffentliche</strong> <strong>Theologie</strong> und politische Gerechtigkeit<br />

Rainer Forst<br />

1. Teil und Ganzes<br />

Eine jede Religion, die über sich selbst nachdenkt, muss ihr Verhältnis zum<br />

politischen Gemeinwesen und seinen Prinzipien bestimmen. Dies gilt nicht nur<br />

in Gesellschaften, in denen eine weitgehende Übereinstimmung zwischen der<br />

Gemeinschaft der Gläubigen und der politischen Gemeinschaft besteht, sondern<br />

auch und besonders in solchen, die eine Pluralität religiöser und nichtreligiöser<br />

ethischer Überzeugungen aufweisen.Die europäische Geschichteist von<br />

den diesbezüglichen Konflikten gekennzeichnet, war doch der religiöse Kampf,<br />

insbesondere nach der Reformation, der Auslöser einer bis in die Gegenwart<br />

reichenden gesellschaftlichen und politischen Dynamik. Die immer wiederkehrende<br />

Frage, inwiefern europäische Gesellschaften bzw. Europa selbst vom<br />

Christentum geprägt ist und was das bedeutet, zeugt von der Unabgeschlossenheit<br />

dieser Geschichte.<br />

In einer solchen Situation ist es von großer Bedeutung, eine wirkmächtige<br />

Stimme innerhalbdes Protestantismus zu haben, die dessen Glaubensprinzipien<br />

auf den Prüfstand einer <strong>Öffentliche</strong>n <strong>Theologie</strong> stellt, die sich einem kommunikativen<br />

Freiheitsverständnis verpflichtetweiß und den Glauben konsequent auf<br />

die Grundsätze der Menschenrechte, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit<br />

hin ausrichtet. Diese Stimme ist die von Wolfgang Huber, und nicht zuletzt<br />

dank ihm ist sie nicht die einzige geblieben (wie dieser Band bezeugt).<br />

Huber ist ein wahrhaftdialogischer Denker, der in dem komplexen Gedanken<br />

der kommunikativen Freiheit das Gespräch unter Gleichen selbst zum Grundsatz<br />

menschlicher und religiöser Praxis macht. Und jeder, der das Privileg hatte,mit<br />

ihm zu diskutieren, weiß, dass es Huber darauf ankommt, dieses Gespräch als<br />

eines zu führen, das der Verständigung mit dem anderen dient, dabei aber zuvorderst<br />

der gemeinsamen Suche nach Wahrheit. Deshalb ist ihm kaum etwas<br />

ein größerer Graus als der Relativismus, und zwar nicht nur auf theologischem,<br />

sondern auch auf politischem Gebiet, etwa, wenn es um die Menschenwürde und<br />

die Geltung der entsprechenden Rechte geht.


56 Rainer Forst<br />

Es ist im Geiste dieses Dialogs, wenn ich in den folgenden kurzen und angesichts<br />

des immensen Œuvres von Wolfgang Huber sehr ungenügenden Bemerkungen<br />

mir die kommunikative Freiheit nehme, auf eine Spannung hinzuweisen,<br />

die Hubers Denken innerhalb der Tradition theologisch-politischer<br />

Ortsbestimmung, die er auf so kraftvolle Weise fortführt, kennzeichnet. In der<br />

Spannung selbst liegt keine Idiosynkrasie, sondern sie ist der Ausgangsfrage<br />

immanent: der Frage, wie sich der protestantische Glaube – eingedenk seiner<br />

Geschichte und der vielen Lehren aus falschen Weichenstellungen, die mal eine<br />

zu große Entfernung von der Politik (Stichworte Untertanengeist und politische<br />

Gleichgültigkeit) und mal einezugroße Nähe aufwiesen (Stichwort Landes- oder<br />

Staatskirche) – als Teil einer demokratischen Ordnung und Öffentlichkeit verstehen<br />

sollte. Die Wendung »als Teil« ist dabei die Problemanzeige, denn Hubers<br />

<strong>Theologie</strong> markiert die Schnittstelle der Einsicht, dass der Glaube einerseits aufs<br />

Ganze geht und sich dabei nicht als bloß partikularer Teil der (universalen)<br />

Gemeinschaft, an die er sich mit seiner Wahrheit wendet, verstehen kann, andererseits<br />

aber weiß, dass er genau das ist, zumal in einem sozialen Prozess<br />

stehend,indem dies von TagzuTag mehr der Fall ist. Die Virtuosität von Hubers<br />

Werk liegt meines Erachtens darin, wie er diese Bruchstelle, diese Spannung<br />

immer wieder anzielt und thematisiert und doch nicht lösen kann. Denn das<br />

Wandern zwischen den Polen des Glaubens, der ein besonderer ist, und dem<br />

Ausgreifen auf das Allgemeine, ja Universale, kann nicht zur Ruhe kommen. Es<br />

bleibt ein gewagtes Grenzgängertum, das seine Position stets aufs Neue bestimmen<br />

muss.<br />

2. Unverfügbarkeit<br />

Näher an Michael Theunissen (1981) als an Jürgen Habermas (1983), durchaus<br />

aber auch in Bezug zur Diskursethik, dreht sich Hubers Verständnis kommunikativer<br />

Freiheit als genuin christliche Freiheit um den protestantischen<br />

Grundgedanken, dass sie eine von Gott »geschenkte Freiheit« ist (Huber, 2012:<br />

19; vgl. <strong>Bedford</strong>-<strong>Strohm</strong> u. a., 2014). Aus dieser Gabe folgt das Wesentliche – dass<br />

sie nicht verdient ist und werden kann, sondern Teil göttlicher Gnade ist, und<br />

dass sie dennoch verpflichtet: zu einem bestimmten Verständnis seiner selbst<br />

und anderer als unverfügbare Wesen, die ihre Würde diesem Geschenk verdanken.<br />

Aber auch ein dialektisches Verhältnis zur Politik folgt daraus, nämlich<br />

einerseits zu ihr Distanz zu wahren, weil das eigene Sein von einer politikunabhängigen<br />

Wahrheit umfangen wird, andererseits die Verpflichtung, an<br />

einer politischen Ordnung mitzuwirken, die Prinzipien der Gleichachtung aller<br />

und der solidarischen Gerechtigkeit realisiert.<br />

Huber versteht es, Kernbestände der lutherischen <strong>Theologie</strong>, die christliche<br />

Freiheit als Bindung an Gott versteht, luzide so zu deuten, dass aus ihr eine


Grenzgänger 57<br />

»<strong>Theologie</strong> der Befreiung« (Huber, 2012: 22) folgt. Die Freiheit des (Gott allein<br />

verantwortlichen) Gewissens wird in seinem Denken zu einer Verpflichtung,<br />

»sich seiner freien Vernunft und seines unbefangenen Verstandes zu bedienen«<br />

(a. a.O., 23). Zugleich aber soll die christliche Freiheit den Sinn erfüllen, »den<br />

Ketten der Sünde« (a. a. O., 31) und der Selbstsucht zu entkommen; sie ist eine<br />

»Freiheit zum Gotteslob« (a. a. O., 42). Sie als Geschenk zu erkennen, bedarf des<br />

rechten Glaubens,und sie soll in diesem Geiste gelebt werden; sie ist eineFreiheit<br />

zur Wahrheit.<br />

Das heißt, dass die Einsicht in die Würde aller Menschen, welchen Glaubens<br />

sie auch sind, sich erst vollständig erschließt, wenn man versteht, dass es »allein<br />

Gott ist«, der »jedem Menschen durch den Glauben an Christus Freiheit<br />

und Würde zuspricht« (a.a. O., 33). Oder wie es in einem späteren Werk heißt:<br />

»Der christliche Glaube schließt die Überzeugung ein, dass alle Menschen zum<br />

Ebenbild Gottes geschaffen sind und ihnen, wie man seit der Renaissance sagt,<br />

deshalb die gleiche Würde zukommt. Diese Überzeugung begründet eine Achtung<br />

gegenüber jedem Menschen, die von Glaubensunterschieden unabhängig<br />

ist.« (Huber, 2013: 222) Hier kommt die oben erwähnte Spannung inmitten des<br />

Würdebegriffs, der streng universalistisch angelegt ist, zum Tragen. Denn zwar<br />

gilt dem Gläubigen, der diese Überzeugung hat, jeder Mensch als »gleich unmittelbar<br />

zu Gott« (Huber, 2012: 33), aber um diese Einsicht in die universale<br />

moralische Geltung zu haben, bedarf es dieses spezifischen Glaubens und Gottesverständnisses.<br />

Diejenigen, denen dieser Glaube fehlt, sind dann sozusagen<br />

»anonyme« moralisch Handelnde (wenn die Anspielung auf Rahner erlaubt ist),<br />

die auf anderen Wegen zu einem Verständnis von Würde gekommen sind, das<br />

aber dessen tiefere Wahrheit nicht kennt bzw. nicht auszuschöpfen vermag.<br />

Anders gesagt, führt diese Deutung des christlichenGlaubens, sofern sie das<br />

Handeln leitet,zueiner »Religion der Aufklärung und der Vernunft« (a. a. O., 46),<br />

weil die kommunikative Freiheit nurindialogischer Nächstenliebe gelebt werden<br />

kann. Aber zugleich kommt bei dieser Deutung die Wucht des Luther’schen<br />

Bekenntnisses zum Tragen, ein der Gnade bedürftiges Wesen zu sein, das sich<br />

nicht durch seine Werke rechtfertigen kann. Die Vernunft muss folglich an diese<br />

Glaubenswahrheit rückgebunden werden, um nicht der Selbstsucht und dem<br />

egoistischen, eigennützigen Denken zu verfallen: »Für den christlichen Glauben<br />

aber ist Freiheit nicht Selbstverfügung, nicht Selbstbesitz, sondern die dem<br />

Kommen Gottes verdankte Identität und damit eineradikale Unverfügbarkeit der<br />

menschlichen Person […].« (A. a. O., 64)<br />

Es bleibt eine der großen Leistungen und weiter zu erforschenden Geheimnisse<br />

des lutherischen Glaubens, wie mit dem Gedanken der radikalen Unwürdigkeit<br />

eigener »Leistungen« der Gedanke der gleichen Würde und Unverfügbarkeit<br />

aller verknüpft werden konnte, die Wolfgang Huber hier hervorhebt.<br />

Und ich will auch nicht auf die komplexen Verbindungen und Widersprüche<br />

zwischen einem solchen lutherischen und einem humanistischen Freiheitsver-


58 Rainer Forst<br />

ständnis hinaus(vgl. Forst, 2003: Kap. 3). Es gehtmir vielmehr darum, an diesem<br />

Punkt aufzuzeigen, was das Grenzgängertum zwischen protestantischen Glaubenswahrheiten<br />

und einer universalistischen Kultur der Gleichachtung hier<br />

kennzeichnet, nämlich ein umfassender Akt der Universalisierung sehr spezifischer<br />

Glaubenseinstellungen. Dabei werden deren Implikationen im Sinne der<br />

menschenrechtlich gedeuteten Nächstenliebe verallgemeinert (zumindest setze<br />

ich das an dieser Stelle einmal voraus), nicht aber deren Grundlagen, denn diese<br />

bleiben an genuin christliche Überzeugungen gebunden. Die Universalisierung<br />

bleibt damit unvollständig und nicht-reziprok, denn es bleibt offen, wie die<br />

Christin die Überzeugung bildet, von anderen, die diesen Glauben nicht haben,<br />

wahrhaft geachtet und als unverfügbar angesehen werden zu können.<br />

Die Spannung, die sich hier zeigt, führt dazu, dass die zentrale Freiheitsrelation<br />

nicht primär die zu sich selbst (wie im Deutschen Idealismus) oder zu<br />

anderen (wie in einer Dialogethik) ist, sondern »vor allem« (Huber,2012: 105) die<br />

Relation zuGott. Dies ist theologisch konsequent, denn die existenziell und<br />

normativ vorrangige Beziehung ist die zu Gott – hier ist der wesentliche Ort der<br />

Verantwortung des eigenen Handelns und auch die Grenze der Freiheit. Denn<br />

hier herrscht reine Heteronomie. Sie erst begründet im protestantischen Verständnis<br />

Autonomie, aber stets als bedingte, inBezug auf das Heil vollkommen<br />

abhängige (a. a. O., 104). Die protestantische Ethik, die Huber ausbuchstabiert,<br />

basiert auf dieser Ambivalenz.<br />

Am Grund der <strong>Theologie</strong> Wolfgang Hubers liegt somit der Luther’sche Einspruch<br />

gegen die Definition des Menschen als mit Vernunft begabtes Wesen,<br />

allerdings nicht so, dass die Vernunft abgelehnt wird (wie in einigen anderen<br />

Deutungen), sondern so, dass der Mensch allein durch den Glauben gerechtfertigt<br />

wird, nicht durch Vernunft: »[N]icht seine substantielle Rationalität oder seine<br />

rationale Substanz, sondern seine Beziehung zu Gott im Glauben konstituiert sein<br />

Sein.« (A. a. O., 81) Wieder zeigt sich der Grenzgang in seinen nahezu paradoxen<br />

Wendungen: Der Wegzueiner Gesellschaft, in der die Einzelnen einander als<br />

Gleiche achten und sich füreinander undvoreinander verantwortlich sehen und<br />

danach streben, ihre Institutionen auf diese Weise diskursiv-demokratisch zu<br />

rechtfertigen, führt über ein ganz anderes Verständnis von Rechtfertigung, eines<br />

des Gottvertrauens und des Sichüberantwortens. Eines, das nicht irrational, wohl<br />

aber jenseits der Imperative der Vernunft liegt, wie Pierre Bayle es ausdrückte<br />

(Bayle, 2016; Buddeberg/Forst, 2016).<br />

3. Beruf zur Politik<br />

Es ist keine neue Erkenntnis, dass der Glaube an Gott, jedenfalls einer, der wie<br />

der christliche strukturiert ist, eine universale normative Gemeinschaft begründet<br />

und diese doch auch wieder differenziert, wo es um die Gemeinschaftder


Grenzgänger 59<br />

Gläubigen geht. Daraus folgt, wie Huber klar darlegt, die doppelte Aufgabe einer<br />

»Kirche für alle«, nämlich das Eintreten für recht verstandene Freiheit und<br />

Solidarität als »Option für die Armen« (Huber, 2012: 52) sowie die Aufgabe der<br />

Mission (ebd.) bzw. der »gesellschaftlichen Diakonie« (a. a.O., 151), die den<br />

christlichenFreiheitsbegriff zur Geltungbringt. Diese doppelte Aufgabe hat nicht<br />

nur für diejenigen Konsequenzen, die kirchliche Verantwortung tragen, was<br />

Wolfgang Huber als Bischof und Ratsvorsitzender vorgelebt hat, sondern für eine<br />

jede Person, die den »Beruf zur Politik« (a. a. O., 139), wie Huber es im Anschluss<br />

an Max Weber formuliert, im christlichen Verständnis anerkennt.<br />

Huber zufolge muss die Kirche sich als »Anwalt der Freiheit« verstehen und<br />

darf keinen Monopolanspruch (a. a.O., 142) bezüglich der Begründung der Demokratieerheben<br />

bzw. für ihren Auftrag der Verkündigung »keinerlei staatliche<br />

Autorität« (ebd.) in Anspruch nehmen. Ihr kommt primär eine »demokratische<br />

Partizipationsfunktion« (ebd.) zu, und diese ist einerseits an Prinzipien der<br />

Menschenrechte und der demokratischen Solidarität orientiert, nimmt es andererseits<br />

aber auch auf sich, die interpretatio christiana der Freiheit gesellschaftlich<br />

zu verbreiten. Deshalb geht der christliche Beruf zur Politik nicht ganz im demokratischen<br />

Handeln auf; es kommt auch darauf an, den rechten Geist dieses<br />

Handelns zu befördern.<br />

Für die Kirche in der demokratischen Öffentlichkeit heißt das, dass sie<br />

sich als »öffentliche Kirche« (a. a. O., 159) versteht, die das Evangelium als eine<br />

der Gesellschaft »fremde Wahrheit« verkündet und zugleich dieser Wahrheit<br />

zur Praxis verhilft. Dabei ist sie sich dessenbewusst, dass sie sich in einer religiös<br />

pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft bewegt und sich nach den<br />

Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats richten muss, der ein »Zusammenleben<br />

der Verschiedenen sichert« (a. a. O., 167). In Hubers profunder Reflexion<br />

auf den Begriff der Öffentlichkeit macht er klar, dass zwischen der<br />

Kommunikation innerhalb kultureller oder religiöser »Interpretationsgemeinschaften«<br />

(a.a. O., 170) und dem Diskurs zwischen ihnen als einer »Kommunikation<br />

zwischen den Verschiedenen« (a. a. O., 172) unterschieden werden muss.<br />

Letzterer muss im demokratischen Geiste geführt werden, aber nicht umden<br />

Preis der Relativierung eigener Wahrheitsansprüche, sondern geleitet von der<br />

»Suche nach einer für alle verpflichtenden Wahrheit« (a. a. O., 173). Entsprechend<br />

»widerspricht die Kircheder Tendenz zur kommunikativen Enthaltsamkeit über<br />

Wahrheitsfragen, die den gesellschaftlichen Dialog von allen Wahrheitsansprüchen<br />

entlasten soll« (a. a. O., 176). Der politische Diskurs soll kein von religiösen<br />

Wahrheiten gereinigter sein.<br />

An dieser Stelle ist eine Rückfrage, vielleicht ein Einwand, von Seiten einer<br />

philosophischen Konzeption der Gerechtigkeit angebracht (vgl. Forst, 1994:<br />

Kap. 3; Forst, 2003: Kap. 9–12). Denn die Kirche als »Anwalt der Freiheit« ist in<br />

einer Demokratie zwar nicht dazu verpflichtet, ihre Glaubenswahrheiten und die<br />

politischen Schlussfolgerungen daraus zu verheimlichen, aber sie hat, wie alle


60 Rainer Forst<br />

anderen Interpretationsgemeinschaften auch, die Pflicht, diese in einer demokratisch-pluralen<br />

Öffentlichkeit so weit zu übersetzen (Forst, 1994: 158ff.; auch<br />

Habermas, 1996; beide mit Bezug auf die Konzeption von Rawls, 1998), dass<br />

dort, wo es um allgemein bindende Gesetze geht – sei es bei der Sterbehilfe<br />

oder bioethischen Fragen, aber auch bei Fragen sozialer Gerechtigkeit oder der<br />

Deutung der Menschenrechte –, reziprok und allgemein akzeptable bzw. nicht<br />

zurückweisbare Gründe ausschlaggebend sind und nicht religiöse, die vernünftigerweise<br />

akzeptabel, aber auch zurückweisbar sind. Dasselbe gilt für<br />

atheistische Positionen, denn antireligiöse und religiöse Positionen können in<br />

einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaftnicht dieGründe für allgemeine<br />

Regeln liefern; vielmehr ist es eine Implikation öffentlicher Vernunft, einander<br />

Gründe zu liefern, die – sofern es um moralisch relevante Fragen geht – moralisch<br />

tragfähig sind, dabei aber die für alle verbindliche Moral mit einem Verständnis<br />

von Würde, Respekt und Gleichachtung begründen, das weder die Wahrheit noch<br />

die Unwahrheit einer bestimmtenReligion voraussetzt. Eine religiöse Einbettung<br />

dieser Moral ist, wie Rawls (1998: Kap. 2) argumentiert, damit weder ausgeschlossen<br />

noch erforderlich, und sie darf auch öffentlich vorgetragen und diskutiert<br />

werden, aber in ihrer Rolle als demokratische Mitgesetzgeber dürfen<br />

Gläubige oder Ungläubige die Möglichkeit, Mehrheiten zu bilden, nicht dazu<br />

nutzen, ihre religiösen oder anti-religiösen Überzeugungen in Recht und Gesetz<br />

zu gießen – sei es bei der Deutung von Kleidervorschriften oder bei bioethischen<br />

Fragen. Ich interpretiere Wolfgang Hubers Hinweis darauf, dass in einer demokratischen<br />

Gesellschaft Kirchen keine Privilegien beanspruchen dürfen (Huber,<br />

2012: 178), ebenso in diesem Sinne wie seine unzweideutige Betonung des<br />

»weltlichen Charakter[s] der Rechtsordnung« (a. a.O., 197, 199). Auch die Hervorhebung<br />

der Differenz zwischen persönlichen religiösen Überzeugungen von<br />

Amtsträger*innen und »ihrem Auftreten in der Ausübung eines öffentlichen<br />

Amtes« (a.a. O., 201) geht klar indiese Richtung.<br />

Entsprechend der Idee eines »Berufs zur Politik«, die Huber vertritt, weitet<br />

sich dieses Amtsverständnis in meinen Augen auf das Selbstverständnis demokratischer<br />

Bürger*innen dort aus, wo sie sich im kantischen Sinne als Mitgesetzgeber<br />

verstehen und sich im politischen Diskurs der Öffentlichkeit darüber<br />

streiten, welche Normen für alle gelten sollen. Dieser Diskurs ist, um es zu<br />

wiederholen, nicht wahrheitsbefreit, weder in Bezug auf religiöse, ethische oder<br />

moralische Wahrheiten. Aber die Pflicht der Übersetzung besagt, dass der Versuch<br />

unternommen werden muss, die eigene ethisch-religiöse Position in eine<br />

moralisch-politische zu transformieren, so dass diejenigen, die eine andere oder<br />

gar keine Religion haben, die Gründe einsehen und teilen können, die für bestimmte<br />

Politikenund Normen sprechen. Das ist es, was Achtung unter Gleichen<br />

im Modus öffentlicher Vernunft erfordert.<br />

So wird auch ein Toleranzverständnis aus Respekt möglich(vgl. Forst, 2003;<br />

Huber, 2013: Kap. 16), das impliziert, dass ethisch-religiöse Differenz die Suche


Grenzgänger 61<br />

nach gemeinsamen Rechtfertigungen ebenso wenig ausschließt wie den Streit<br />

um religiöse Wahrheit. Man muss nur die Diskurse auseinanderhalten – einerseits<br />

den Diskurs über religiöse Wahrheit(en), andererseits den um eine Rechtfertigung,<br />

die teilbar ist unter denen, die über religiöse Wahrheit streiten.Solche<br />

Rechtfertigungen sind weder hohl noch oberflächlich, sondern sie setzen das<br />

Vermögender praktischen Vernunftvoraus,die Menschenwürde so zu verstehen,<br />

dass sie für Menschen mit unterschiedlichen ethischen oder religiösen Vorstellungen<br />

als moralisch geltend angesehenwerden kann – bis hin zu dem Punkt, wo<br />

die Möglichkeit aufscheint, die eigene Religion in diesem Lichte moralisch zu<br />

kritisieren.<br />

Das Vernunftvermögenöffentlicher Rechtfertigung führt auch zu dem Punkt<br />

der Toleranz, an dem eine gläubige Person den Schmerz empfindet, gegen eine<br />

rechtliche Regelung sozialer Praktiken – etwa beim Tragen religiöser Symbole,<br />

beim Religionsunterricht, beim Bau von Moscheen oder in Fragen der Selbstbestimmung,<br />

etwa der Abtreibung – sehr starke religiöse, aber keine hinreichenden<br />

politisch-moralischen Gründe vorbringen zu können, die ihre religiöse Position<br />

stützen. Die Ablehnung darf dann bestehen bleiben, und sie darf auch geäußert<br />

werden, aber sie darf nicht zur Zurückweisung des im Sinne der Gleichachtung<br />

geforderten Rechts führen, Menschen gleichen Geschlechts zu heiraten, Beamtin<br />

zu sein, ohne die eigene Identität ablegen zu müssen, Gotteshäuser zu bauen oder<br />

in existenziellen Krisen selbst zu entscheiden, wie man leben möchte, bis hin zur<br />

Frage des Zeitpunkts des eigenen Todes. WolfgangHubers <strong>Öffentliche</strong> <strong>Theologie</strong><br />

hat ihn stets zu einer Ethik geführt, die in solchen Streitfragen markant Position<br />

bezog, aber an einigen Stellen würde ich denken,dass die Pflicht zur Suche nach<br />

reziprok-allgemein nicht zurückweisbaren Gründen für die Regelung solcher<br />

Fragen zu anderen Antworten führen würde (Forst, 2003: Kap. 12). Aber das<br />

bleibt der Gegenstand weiterer Diskussionen.<br />

4. Wahrheit und Vernunft<br />

Diese Diskussionen führen weit in nicht nur politische und rechtliche, sondern<br />

moralische und metaphysische Dimensionen hinein. Dabei ist es offensichtlich,<br />

dass dies bedeutsame Implikationen dafür hat, wie dieGrundprinzipien der<br />

christlichenEthik von Wolfgang Huber verstandenwerden (Huber, 2012: 174 f.).<br />

Denn meine Position zieht diesbezüglich eine Unterscheidung zwischen den<br />

Wahrheiten, die aus dem Glauben begründet werden, und den moralischen<br />

Prinzipien, die verallgemeinerbar sind, insbesondere solche des gleichen Respekts<br />

unddes Einspruchs gegen Ungleichheit und verweigerte Anerkennung, in<br />

das normative Denken ein. Obwohl erdiese Unterscheidung nicht explizit trifft<br />

und sie zu seinem Verständnis von Grundsätzen querliegt (vgl. auch seine Diskussion<br />

des Unterschieds von Ethik undMoral in Huber, 2013: 19 f.), scheintmir,


62 Rainer Forst<br />

dass der Grenzgänger Huber diese Differenz in seinen Reflexionen auf den säkularen<br />

Verfassungsstaat immer wieder thematisiert und es als Herausforderung<br />

annimmt, die Position der Kirche bzw. der Gläubigen mit derjenigen demokratisch<br />

verantwortlicher Bürger*innen, die sich zudem als Weltbürger*innen<br />

verstehen müssen, zu vereinbaren. Aber wo vereinbart wird, wird auch unterschieden,<br />

und um diese Unterscheidung geht es. Sie ist der Gegenstand der<br />

klassischen philosophischen Auseinandersetzung darüber, was die Vernunft<br />

aus eigener Kraft vermag und was allein der Glaube begründen und bewirken<br />

kann – eineDebatte, die eine lange Geschichte hat, die immer wieder erzählt und<br />

reflektiert werden muss (etwa Forst, 2003, und jüngst Habermas, 2019). Die<br />

Position, die ich vertrete, traut der Vernunft, die sich weder religiös noch antireligiös,<br />

sondern areligiös versteht, einiges zu in Bezug auf die Begründung<br />

moralischer Wahrheiten. Sie lässt damit dem Glauben den Raum, der ihm gebührt,<br />

nämlich den des Glaubens, und sie maßt sich nicht an, in diesem Raum<br />

Beweise liefern zu wollen. Aber sie zählt darauf, dass die Vernunfthinreicht, um<br />

die Geltung der Menschenwürde zu begründen (Forst, 2021). Waswäre, wenn wir<br />

diesen Glauben verlören?<br />

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