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Heinrich Bedford-Strohm | Peter Bubmann | Hans-Ulrich Dallmann | Torsten Meireis (Hrsg.): Kritische Öffentliche Theologie (Leseprobe)

Das Programm der Öffentlichen Theologie ist in unterschiedlichen internationalen Kontexten auf je eigene Weise entstanden und lässt sich als Diskursformat verstehen, das auf eine veränderte Öffentlichkeit reagiert und mittlerweile im Global Network for Public Theology zu einer eigenen akademischen Gestalt gefunden hat. Da diese Geschichte nicht nur im deutschsprachigen Kontext ohne Wolfgang Hubers Einfluss nicht nachvollzogen werden kann, ist es sinnvoll und angemessen, ihm einen Band zu widmen, der die Begründung und Weiterentwicklung der von ihm angestoßenen kritischen Spielart Öffentlicher Theologie zum Thema hat.

Das Programm der Öffentlichen Theologie ist in unterschiedlichen internationalen Kontexten auf je eigene Weise entstanden und lässt sich als Diskursformat verstehen, das auf eine veränderte Öffentlichkeit reagiert und mittlerweile im Global Network for Public Theology zu einer eigenen akademischen Gestalt gefunden hat. Da diese Geschichte nicht nur im deutschsprachigen Kontext ohne Wolfgang Hubers Einfluss nicht nachvollzogen werden kann, ist es sinnvoll und angemessen, ihm einen Band zu widmen, der die Begründung und Weiterentwicklung der von ihm angestoßenen kritischen Spielart Öffentlicher Theologie zum Thema hat.

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48 <strong>Hans</strong> Joas<br />

lassen, dann erschrecktdas die meisten Menschen zutiefst. Das liegt daran, dass<br />

wir intuitiv wissen: Nicht alle menschlichen Beziehungen beruhen auf Wahl und<br />

Entscheidung, diejenigen nämlich nicht, die für das, was wir sind, konstitutiv<br />

sind oder für das, was wir zu sein anstreben.<br />

Aber anders als Verwandtschaft und Volk und mehr als jeder Staat hat die<br />

Kirche andererseits auch eine Dimension des Ideals, das uns ergreift und das<br />

über alle bloß vorgefundene Zugehörigkeit hinausgeht. Deshalb können Menschen<br />

sich von diesem Ideal angezogen fühlen, ohne schon immer mit Kirche<br />

verbunden gewesen zu sein. Die christliche Botschaft kann zwar immer nur<br />

bestimmte Träger haben; aber der Appellcharakter ihres Ideals ist es gerade,<br />

nicht auf diese beschränkt zu bleiben und bei allen Überlegungen über das Gute<br />

und Entscheidungen für das Rechte alle Menschen im Blick zu haben, nicht<br />

nur die Angehörigen des eigenen Volkes oder Staates oder sogar der eigenen<br />

Glaubensgemeinschaft. Um in den heutigen tiefen Krisen der Kirchen nicht die<br />

Orientierung zu verlieren, müssen wir neu verstehen, warum es überhaupt zur<br />

Entstehung der Kirche kam und es von der christlichenBotschaftErgriffenen nie<br />

genügen konnte,einfach unter sich in einer Art privater Vereinigung zu bleiben<br />

oder mit einem bestimmten Volk oder Staat eins zuwerden.<br />

Universalistische Ideale stehen nämlich am Ursprung der Kirche. Wir<br />

sprechen heute oftvom »moralischenUniversalismus«. Damitist einemoralische<br />

Orientierung gemeint, die das Gute nicht nach seiner Nützlichkeit für eine partikulare<br />

Menschengemeinschaft bemisst. Gemeint ist nicht etwa ein kleinster<br />

gemeinsamer Nenner der Moral aller Menschen, sondern eine Vorstellung von<br />

Menschheit, die alle solche partikularen Kollektive wie Familie, Stamm, Volk,<br />

Nation, Staat, ja selbst Religionsgemeinschaft überschreitet, ein normativ aufgeladener<br />

Begriff von »Menschheit« also, der auch noch über die gegenwärtig<br />

lebenden Menschen hinaus auf die Existenzbedingungen der zukünftigen<br />

Menschen zielt. In Ideen Kants über die Universalisierung von Handlungsmaximen<br />

im Überprüfungsverfahren des kategorischen Imperativs hat diese moralisch-universalistische<br />

Intuition vielleicht ihre klarste philosophische Ausdrucksform<br />

gefunden. Aber es gab sie selbstverständlich – und Kant hätte dies<br />

nie bestritten – schon lange vor ihm und in einer Fülle von kulturellen Artikulationen.<br />

Diese moralische Überzeugung ist dem Menschen aber weder angeboren<br />

noch entwickelt siesich von selbst in einer Art moralischemReifeprozess. Doch<br />

kam sie auch nicht nur im Christentum zur Welt. Die Frage nach der Entstehung<br />

des moralischen Universalismus in mehreren der großen Zivilisationen – und<br />

nicht nur den »abendländischen« –, die Klärung der genauen Ursachen und<br />

Verläufe, die zu ihm geführt haben, scheint mir eine der wichtigsten Herausforderungen<br />

für die historisch orientierte Sozialwissenschaft, aber auch für<br />

Philosophie und <strong>Theologie</strong> in unserer Zeit zu sein. Einen pionierhaften Schritt in<br />

dieser Richtung hat Ernst Troeltsch getan (Joas, 2021a). Für ihn lag ein we-

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