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Heinrich Bedford-Strohm | Peter Bubmann | Hans-Ulrich Dallmann | Torsten Meireis (Hrsg.): Kritische Öffentliche Theologie (Leseprobe)

Das Programm der Öffentlichen Theologie ist in unterschiedlichen internationalen Kontexten auf je eigene Weise entstanden und lässt sich als Diskursformat verstehen, das auf eine veränderte Öffentlichkeit reagiert und mittlerweile im Global Network for Public Theology zu einer eigenen akademischen Gestalt gefunden hat. Da diese Geschichte nicht nur im deutschsprachigen Kontext ohne Wolfgang Hubers Einfluss nicht nachvollzogen werden kann, ist es sinnvoll und angemessen, ihm einen Band zu widmen, der die Begründung und Weiterentwicklung der von ihm angestoßenen kritischen Spielart Öffentlicher Theologie zum Thema hat.

Das Programm der Öffentlichen Theologie ist in unterschiedlichen internationalen Kontexten auf je eigene Weise entstanden und lässt sich als Diskursformat verstehen, das auf eine veränderte Öffentlichkeit reagiert und mittlerweile im Global Network for Public Theology zu einer eigenen akademischen Gestalt gefunden hat. Da diese Geschichte nicht nur im deutschsprachigen Kontext ohne Wolfgang Hubers Einfluss nicht nachvollzogen werden kann, ist es sinnvoll und angemessen, ihm einen Band zu widmen, der die Begründung und Weiterentwicklung der von ihm angestoßenen kritischen Spielart Öffentlicher Theologie zum Thema hat.

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Kirche –gesellschaftskritische Instanz oder Moralagentur? 53<br />

selbst habe unter dem Eindruck der bedingungslosen Rechtfertigung einer liberalen<br />

Einwanderungspolitik durch die beiden großen christlichen Kirchen in<br />

Deutschland mit diesem Begriff nicht etwa ihre politische Rolle überhaupt in<br />

Frage stellen wollen, wie mir verschiedentlich unterstellt wurde. Ich habe allerdings<br />

Vorbehalte gegen die Eindeutigkeit geäußert, mit der in diesem Fall auf<br />

einem einzelnen Politikfeld christlich argumentiert wurde, und auf die Selektivität<br />

hingewiesen, mit der aus dem Ethos des Evangeliums in der Migrationspolitik,<br />

aber z. B. nicht in Sachen Frieden und Abrüstung, ohne großeVermittlung<br />

politische Konsequenzen abgeleitet wurden. Der zentrale Punkt meiner Argumentation<br />

ist dabei, dass der moralische Universalismus nur unter der gleichzeitigen<br />

Berücksichtigung inkommensurabler partikularer Verpflichtungen gelebt<br />

werden kann. Das gilt für Individuen wie für Institutionen. Auch moralische<br />

Universalisten haben partikulare Verpflichtungen, die sie mit ihren universalistischen<br />

balancieren müssen und die nicht immer schon hinter die universalistischen<br />

zurücktreten. Anhand des Samaritergleichnisses erläutert: Natürlich<br />

will Jesus demonstrieren, dass die Verpflichtung zur Hilfe über das eigene Volk<br />

hinaus gilt. Das ist indiesem Gleichnis unübertrefflich ausgedrückt. Aber wir<br />

müssen bedenken, dass der Samariter, nachdem erErste Hilfe geleistet hat, Geld<br />

fürdas verwundete Opferdes Raubüberfallszurücklässt,damit andere nunfür den<br />

Verwundeten sorgen: »Und am nächsten Tagholte er zwei Denare hervor,gab sie<br />

demWirt undsagte:Sorge fürihn,und wenn du mehr fürihn brauchst,werdeich es<br />

dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.« (Lk 10,35) Das heißt aber doch, dass er<br />

weiterzieht, weil an anderemOrt die anderen Verpflichtungen seines alltäglichen<br />

Lebens, vermutlich die seiner Familie und seiner Geschäfte, auf ihn warten. Das<br />

eben meineich.Würde derSamariter seineFamilie,Sippe usw. vor lauter Hilfefür<br />

Dritte vernachlässigen, wäre ergewiss inderen Augen und vielleicht auch in<br />

unseren keineswegs moralisch vorbildlich. Werdiesem Gedanken widersprechen<br />

will, darf nichteinfach denmoralischen Universalismus alssolchen verfechten. 3 So<br />

wichtig also der moralische Universalismus des Christentums für mein Verständnis<br />

von Kirche ist, sowenig darf Kirche in meiner Sicht zur bloßen Moralagentur<br />

werden, auch nicht imNamen einer universalistischen Moral.<br />

Zu fragen ist freilich auch, ob gegenwärtige Kirchenreformbestrebungen<br />

selbst immer wirklich an diesen universalistischen Idealen orientiert sind und<br />

ob der Austrag der Konflikte im Rahmen dieser Bestrebungen wirklich Außenstehenden<br />

das Bild geschwisterlicher Liebe unter den Christen vermittelt. Auf<br />

beiden Seiten in Sachen Kirchenreform, bei »Konservativen« und »Progressiven«,<br />

gibt es oftdie Neigung, »Geist« und »Struktur« gegeneinander auszuspielen. Doch<br />

lässt sich schnell erkennen, dass zwar bloße Strukturreformen keinen Geist le-<br />

3<br />

Vongroßem Einfluss auf meine Argumentation sind dabei die Schriften eines jüdischen<br />

Sozialphilosophen und eines protestantischen Theologen: Walzer, 1983/1992; Niebuhr,<br />

1951/2001. ZuNiebuhr jetzt ausführlich: Joas, 2020: 428–462.

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