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Sarah Jäger | Eberhard Martin Pausch (Hrsg.): Kampf der Kulturen und gerechter Frieden (Leseprobe)

1996 erschien Samuel P. Huntingtons Buch »Der Kampf der Kulturen«. Im Deutschen sind die Begriffe »Kultur« und »Zivilisation« fast deckungsgleich. Huntington vertritt vor diesem Hintergrund drei Hauptthesen: (1) Kultur zählt. (2) Jede Kultur hat eine eigene, unverwechselbare Identität. (3) Wenn Kulturen aufeinanderprallen, ist der Friede gefährdet. Aber gibt es wirklich die je eigenen, unverwechselbaren Identitäten von Kulturen? Das wäre eine Form von »Essentialismus«. Im Gegenteil scheint die Welt ein Gewebe von inter- und transkulturellen Beziehungen zu sein. Daher lässt sich Frieden jedenfalls dann gewinnen oder bewahren, wenn diese Beziehungen auf der Grundlage von multilateralen Gesprächen (Dialogen oder Polylogen) gepflegt werden.

1996 erschien Samuel P. Huntingtons Buch »Der Kampf der Kulturen«. Im Deutschen sind die Begriffe »Kultur« und »Zivilisation« fast deckungsgleich. Huntington vertritt vor diesem Hintergrund drei Hauptthesen: (1) Kultur zählt. (2) Jede Kultur hat eine eigene, unverwechselbare Identität. (3) Wenn Kulturen aufeinanderprallen, ist der Friede gefährdet. Aber gibt es wirklich die je eigenen, unverwechselbaren Identitäten von Kulturen? Das wäre eine Form von »Essentialismus«. Im Gegenteil scheint die Welt ein Gewebe von inter- und transkulturellen Beziehungen zu sein. Daher lässt sich Frieden jedenfalls dann gewinnen oder bewahren, wenn diese Beziehungen auf der Grundlage von multilateralen Gesprächen (Dialogen oder Polylogen) gepflegt werden.

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10 Einleitung<br />

des Buches falle zeitlich mit <strong>der</strong> erstmaligen Machtergreifung <strong>der</strong> Taliban in<br />

Afghanistan zusammen, die jetzige Re-Lektüre 25 Jahre später korrespondiere<br />

mit <strong>der</strong>en Rückkehr an die Macht. Das von Huntington beleuchtete Neben- <strong>und</strong><br />

Gegeneinan<strong>der</strong> von <strong>Kulturen</strong> in einer komplexen globalen Lage in Relation zur<br />

Frage des Sicherheitsgefüges dieser Welt zu setzen, bedeute, »ein wichtiges<br />

Thema zum richtigen Zeitpunkt« aufzugreifen.<br />

<strong>Eberhard</strong> <strong>Martin</strong> <strong>Pausch</strong>, Pfarrer <strong>und</strong> Studienleiter <strong>der</strong> Evangelischen<br />

AkademieFrankfurt, skizziertWerk <strong>und</strong>Wirkung HuntingtonsimLicht <strong>der</strong>bis<br />

heute maßgeblichen <strong>Frieden</strong>sdenkschrift <strong>der</strong> EKD aus dem Jahr 2007 (siehe<br />

oben). <strong>Pausch</strong> zufolge sind Huntingtons Thesen nach wie vor relevant. Ob man<br />

ihnen zustimmen o<strong>der</strong> sie ablehnen mag, man müsse sich jedenfalls mit ihnen<br />

auseinan<strong>der</strong>setzen. Dabei ließen sich hinsichtlich seiner Analysen <strong>und</strong> Prognosen<br />

Urteile <strong>und</strong> Fehlurteile unterscheiden. Manche Entwicklungen habe er<br />

sehr präzise vorausgesehen, etwa das Erstarken des Islamismus in<strong>der</strong> Türkei<br />

o<strong>der</strong> die Zunahme von Abwehrbereitschaft gegenüber Migration <strong>und</strong> Einwan<strong>der</strong>ungsbestrebungen<br />

invielen Län<strong>der</strong>n des Westens. Auch seine These, dass<br />

die Welt <strong>der</strong> Staaten zunehmend inden Hintergr<strong>und</strong> treten werde gegenüber<br />

einer Welt zahlreicher <strong>Kulturen</strong>, erweise sich großenteils als plausibel. Seine<br />

Einschätzung des Islams als»Religion desSchwertes« stellehingegen ehereine<br />

Hypothek als eine Hilfe dar, wenn man den Islam in seiner ganzen Vielgestaltigkeit<br />

wahrzunehmen versuche. <strong>Pausch</strong> weist explizit darauf hin, dass<br />

Huntingtonden Kulturbegriffüber den Identitätsbegriff definiert.Damit ergäbe<br />

sicheineerstaunlicheBrücke zu den gegenwärtigen (nichtunproblematischen)<br />

identitätspolitischen Diskussionen. Jedoch behaupte Huntington nicht, dass <strong>der</strong><br />

»ClashofCivilizations«notwendigaus <strong>der</strong>Pluralität <strong>der</strong> <strong>Kulturen</strong> folgen werde.<br />

Im Gegenteil empfehle er die »Enthaltung von Interventionen« inan<strong>der</strong>en<br />

Kulturkreisen, umden Weltfrieden zusichern. Im Licht <strong>der</strong> EKD-<strong>Frieden</strong>sdenkschrift<br />

zeige sich überdies, dass Dialoge o<strong>der</strong> Polyloge <strong>der</strong> <strong>Kulturen</strong> <strong>und</strong><br />

Religionen eine lebendige <strong>und</strong> realistische Alternative zum »<strong>Kampf</strong> <strong>der</strong> <strong>Kulturen</strong>«<br />

darstellen – dass aber diese Polyloge nur dann friedensför<strong>der</strong>lich sein<br />

würden, wenn sie auch eine fruchtbare Streitkultur einschließen.<br />

Eva Senghaas-Knobloch, Arbeitssoziologin, Politologin <strong>und</strong> <strong>Frieden</strong>sforscherin,<br />

setzt sich in ihrem Beitrag kritisch mit HuntingtonsBuch auseinan<strong>der</strong>, indem<br />

sie zunächst in ebenso knapper wie präziser Weise dessenArgumentationsgang<br />

rekonstruiert <strong>und</strong> dann an drei zentralen Punkten Wi<strong>der</strong>spruch anmeldet. Die<br />

drei Einwände gegen Huntingtons Analyse betreffen erstens dessen mangelnde<br />

Wahrnehmung <strong>der</strong> globalen sozialen Ungerechtigkeiten, zweitens dessen gravierende<br />

Unterschätzung <strong>der</strong> weltweit auch innerhalb <strong>der</strong> von ihm unterschiedenen<br />

Kulturkreise bzw. Zivilisationen vorhandenen Diversitäten <strong>und</strong> schließlich<br />

die unzureichende Entfaltung realistischer friedenspolitischer Perspektiven für<br />

die gegenwärtige Weltgesellschaft. Die globalen sozialen Ungerechtigkeiten<br />

entstehen, soSenghaas-Knobloch, aufgr<strong>und</strong> von Machtasymmetrien, die zu er-

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