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Buchtis<br />

Kimberly McCreight<br />

»Freunde. Für immer.«<br />

Offen gesagt, habe ich mich über »Freunde. Für immer.« anfangs etwas aufgeregt.<br />

Aber um es gleich vorweg zu sagen, ich bin froh, <strong>das</strong>s ich dann doch<br />

zu Ende gelesen habe. Also die Aufreger sind, <strong>das</strong>s Kimberly McCreight <strong>das</strong><br />

gemacht hat, was heute offenbar bei fast jedem Krimi, der etwas auf sich<br />

hält, sein muss: die Chronologie ist durcheinander und die Perspektive<br />

wechselt ständig. Ich finde, <strong>das</strong> nervt. Was beim Film »Pulp Fiction«, der<br />

mittlerweile längst Kultfilmstatus erreicht hat, ja noch ausgesprochen originell<br />

war, nämlich, <strong>das</strong>s die zeitliche Reihenfolge durcheinander ist, nervt<br />

mich mittlerweile, weil <strong>das</strong> Lesen einfach anstrengender wird. Zumal man<br />

die vielen Figuren zu Beginn des Ro mans natürlich nicht kennt. Eigentlich<br />

müsste man sich einen Zeitstrahl basteln, denn mal spielt die Handlung<br />

am Sonntagmorgen, mal am Samstag oder am Freitagabend davor.<br />

Gut, <strong>das</strong>s ist jetzt keine Werbung für <strong>das</strong> Buch der studierten Juristin<br />

McCreight. Doch auch für den Krimi spricht tatsächlich einiges. Die Gruppe<br />

der Freunde, die sich zehn Jahre nach dem College in einem hippen<br />

Wochenendhaus mitten auf dem Land treffen, ist so interessant wie ungewöhnlich.<br />

Nicht nur, <strong>das</strong>s die fünf Freunde ein gemeinsames dunkles<br />

Geheimnis aus ihrer Vergangenheit eint. Nein, auch voreinander haben sie<br />

reichlich Geheimnisse, die allerdings nach und nach an den Tag dringen,<br />

denn Unfälle, Zufälle, Zwischenfälle und jeden Menge Irrungen, Wirrungen<br />

wirbeln <strong>das</strong> Freundschaftsgefüge ordentlich durcheinander. Zumal da<br />

auch noch zwei nicht eingeladene Gäste eine entscheidende Rolle spielen.<br />

Die Freunde sind zudem nicht<br />

gerade sympathisch. Als es dann<br />

auch noch einen Todesfall gibt, ist<br />

es mit der Harmonie endgültig vorbei.<br />

Allein die junge Polizistin Julia<br />

ist Sympathieträger, allein schon,<br />

weil ihr die undankbare Aufgabe<br />

zufällt, Licht in die obskuren Umstände<br />

bringen zu müssen. Bis zum<br />

Schluss weiß man nicht, wer wohinter<br />

steckt und <strong>das</strong> macht die nervigen<br />

Aspekte des Thrillers absolut<br />

wett. Erschienen als Taschenbuch<br />

bei Droemer, 367 Seiten, 15,99 Euro.<br />

Martin Puchner<br />

»Die Sprache der Vagabunden«<br />

Viele Familien haben ihre ganz eigenen Geschichten, die bei jeder Wiederholung,<br />

etwa bei Familientreffen, immer wahrer werden. In unserer Familie<br />

war <strong>das</strong> beispielsweise die Geschichte, <strong>das</strong>s unsere Vorfahren mütterlicherseits<br />

Raubritter gewesen waren. Das erklärte als Kind so einiges für mich,<br />

der ich mit meinen Freunden in voller<br />

Plastikrüstung durch den Hambusch<br />

streifte und imaginäre Feinde<br />

mit dem Stöckchenschwert samt<br />

Handschutz aus einem Bierdeckel<br />

vermöbelte. Allerdings hat sich der<br />

Mythos, bedauerlicher Weise, verflüchtigt,<br />

als eine Verwandte viel<br />

Zeit und Energie daran setzte, eine<br />

Familienchronik zu recherchieren.<br />

Von den Raubrittern blieb der Besitzer<br />

eines Bauernhofes irgendwo<br />

im Sauerland übrig. Schade auch.<br />

Martin Puchner, genauer gesagt<br />

der Sprachwissenschaftler Dr. Martin Puchner, Professor für vergleichende<br />

Literaturwissenschaft in Harvard, hatte da Aha-Erlebnisse ganz anderer<br />

Qualität als ein nicht vorhandener Raubritter. Der Wissenschaftler, der in der<br />

fränkischen Provinz aufwuchs, war schon als Kind fasziniert vom Rotwelsch,<br />

also der Sprache des fahrenden Volkes, der Vagabunden. Diese Sprache klang<br />

wie Deutsch, war aber so stark codiert, <strong>das</strong>s man nicht verstehen konnte,<br />

was gemeint war – es sei denn, man beherrschte diese Sprache. Das aber war<br />

gar nicht so einfach, denn sie existierte nur in gesprochener Form, so<strong>das</strong>s<br />

Außenstehende, vor allem Gesetzeshüter aller Art nicht verstehen konnten,<br />

was gemeint war. Schriftliche Aufzeichnungen gab es paradoxer Weise nur<br />

von den Feinden des Rotwelschen, die die Gaunersprache entschlüsseln<br />

wollten. Die einzigen schriftlichen Zeugnisse waren geheime Zeichen, die<br />

sogenannten Zinken, etwa an Hauswänden, um den Nachfolgenden anzuzeigen,<br />

wo man willkommen war und wo nicht.<br />

Den Linguisten interessierte die seltsame Zusammensetzung des Rotwelschs<br />

aus Deutsch, Jiddisch, Hebräisch sowie auch Begriffen aus dem<br />

Tschechischen, Latein, Französisch und der Sprache der Sinti und Roma, dem<br />

Romanes. Und auch <strong>das</strong> Verbreitungsgebiet der Sprache, die er als universelle<br />

Sprache der Unterwelt einstuft, faszinierten Puchner. Also machte sich der<br />

Harvard-Professor auf die Suche nach den Ursprüngen dieser Sprache. Diese<br />

hatte schon einen Onkel von ihm fasziniert, der Karteikästen mit Vokabeln<br />

gefüllt hatte. Doch wie <strong>das</strong> halt bei Archiven so ist: Sie fördern oftmals<br />

Unerwartetes zu Tage. Puchner fällt ein kleines Parteiabzeichen am Revers<br />

seines Großvaters auf einem Familienfoto auf. Daraufhin schaut sich der<br />

Wissenschaftler genau die Geschichte verschiedener Familienmitglieder an<br />

und fördert zu Tage, was gerne verschwiegen worden wäre.<br />

»Die Sprache der Vagabunden« liefert kluge Erkenntnisse zu einer nicht<br />

mehr gesprochenen Sprache, die aber dennoch auch in unserer Sprache noch<br />

vorkommt, zum Beispiel durch <strong>das</strong> Baldowern, also <strong>das</strong> Auskundschaften,<br />

<strong>das</strong> Flachsen, im Sinne von schmeicheln aber auch betrügen, und <strong>das</strong> Kaspern,<br />

ebenfalls im Sinne von betrügen. Es beschreibt auch, welche Funktionen<br />

Sprache überhaupt erfüllen kann. Auch werden die Zinken genannten<br />

Zeichen erläutert und Rotwelsch-Wörter übersetzt und deren Ursprung erklärt.<br />

Und zudem ist <strong>das</strong> Aufdecken der Familiengeheimnisse ausgesprochen<br />

spannend. Erschienen als Hardcover bei Siedler, 284 Seiten, 24 Euro.<br />

Bjørn Andreas Bull-Hansen<br />

»Viking – Kampf in Vinland«<br />

In Bull-Hansens historischem Roman, der nicht weniger als 639 Seiten umfasst,<br />

geht es nicht etwa um Wikinger, die in Finnland einfallen. Vinland ist<br />

vielmehr Weinland. So bezeichneten die Wikinger 500 Jahre vor Kolumbus<br />

den Teil des amerikanischen Kontinents, zu dem sie vorgedrungen waren.<br />

Das ist mittlerweile keine Spekulation mehr, sondern archäologisch erwiesene<br />

Erkenntnis. Selbst die genaue Datierung der entsprechenden Funde<br />

aus dem Jahr 1961 ist im <strong>Oktober</strong> 2021 gelungen, als die Geochronologen<br />

Michael Dee und Margot Kuitems von der Universität Groningen in einem<br />

mit Metall bearbeitetem Holzstück die Spuren eines Sonnensturms im Jahr<br />

992 n.Chr. nachweisen konnten. Das Knowhow für Metallwerkzeuge stand<br />

der indigenen Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt nicht zur Verfügung. Das<br />

bedeutet natürlich keineswegs, <strong>das</strong>s die Geschichte der zeitweisen Besiedlung<br />

der nordamerikanischen Ostküste durch die Nordmänner lückenlos<br />

dokumentiert wäre. Und genau da bietet sich die Chance für einen historischen<br />

Roman, der alles beinhaltet, was sich der geneigte Leser dicker<br />

Schmöker so wünscht. Es gibt also jede Menge Abenteuer, Action, Liebe,<br />

Verrat und große Entdeckungen in gewaltiger Natur.<br />

38 Das Stadtgespräch

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