50 bilder bilden sprachen – Ästhetisch-künstlerischeSprachbildung für Kinder„Wenn ein Individuum mit seiner Umgebung nicht auf komplexe, subtile undanregende Weise in Verbindung tritt, wird es wenig Bedeutsames zu sagengeben.“ Elliot EisnerEine Sprache zu lernen heißt auch, etwas in dieser Sprache zu sagen zuhaben. Das bedeutet, Wahrgenommenes, Erlebtes und Erfahrenes inseiner Vielfalt und Dichte auszudrücken und sich darüber mit Anderenauszutauschen. Eine ästhetisch-künstlerische Sprachbildung fördert indiesem Sinne das Wahrnehmen und Imaginieren.Sie gibt Kindern Raum für das Spielen und Experimentieren mitSprache. Sie ermöglicht ihnen, Sprache zu gestalten.Welche Medien können Kinder in ästhetisch-künstlerischenSprachbildungsprozessen unterstützen?In diesem Heft stellt Kirsten Winderlich internationale ZeitgenössischeBilderbücher vor, die auf bemerkenswerte Weise mit dem Alphabetspielen, und macht zahlreiche Vorschläge für die Bildungspraxis inKita, Grundschule und Hort.Dieses und weitere Kooperationsprojekte der grund_schule der künsteund wamiki findest Du auf: bilderbuchkunst.deBilder bilden SprachenKirsten Winderlich ∫wamiki extra ∫48 Seiten, mit Bildern ∫ISBN 978-3945-810-49-19,90 Euro, zzgl. Versand
VIELE ALPHABETE1 . EinführungWir kennen sie alle, die Fibeln des ersten Schuljahrs, Heiligtümer derABC-Schützen. Viele von uns erinnern sich bestimmt gut an den Moment,in dem wir dieses Buch ehrfürchtig entgegennahmen. Doch die Enttäuschungließ nicht lange auf sich warten. Da gab es Kinder, die schon vordem Schuleintritt lesen konnten und sich bald langweilten, erzählte diesesBuch ihnen doch keine neuen Geschichten. Dann gab es all die anderen,die noch nicht lesen konnten und sich ebenfalls langweilten, weil diestreng abstrakte Ordnung der Fibel, ihre eindimensionalen und reduziertenInhalte den Zugang zum ABC erschwerten. Umso erfreulicher, dasses mittlerweile Bücher gibt, die zwar nicht mehr Fibel heißen, aber nebender Annäherung an die Buchstabenwelt etwas ganz Anderes ermöglichen:Neugier und Lust auf Sprache — bis zur letzten Seite. Und vielleicht nichtnur in der Schuleingangsphase, sondern auch noch in höheren Jahrgangsstufen.Vielleicht sind ja gerade diese ABC-Bücher, die sich zwischen Buchstabeund Bild bewegen, besonders geeignet für Kinder, die die deutscheSprache erst erlernen.Vor diesem Hintergrund ging die grund_schule der künste der UdKBerlin 1 der Frage nach, auf welche Weise ein Sprachbildungsbuch konzipiertund gestaltet sein müsste.Neu ist das Projekt „Sprachbildungsbuch“ nicht. Bereits 1930 veröffentlichteTom Seidmann-Freud 2 eine „Spielfibel“, die Kinder einlädt, Buchstabenin Bildern zu entdecken, Dinge zu zeichnen und deren Begriffenach ihren Anfangsbuchstaben zu sortieren. Das Besondere an diesemfrühen Sprachbildungsbuch ist, dass die Annäherung an den Buchstabennicht nur über Wörter und Bilder erfolgt, sondern gleichzeitig über dieEinbindung der Lebenswelt und Alltagserfahrung des Kindes. Deshalb istes erfreulich, dass das Buch im Berliner Verlag Walde+Graf 2017 neu aufgelegtwurde. Auf der Rückseite des Buches regt Walter Benjamin zumExperimentieren mit Sprache an: „Selbstvertrauen und Sicherheit werdenin dem Kinde erwachen, das seine Schrift- und Zeichenproben zwischendiesen Buchdeckeln anstellt.“Mitte der 1970er Jahre entstand ein weiteres Buch, das ein Vorbild fürdas Sprachbildungsbuch der grund_schule der künste war. „Opa Hucke’sMitmachkabinett“ von Friedrich Karl Waechter 3 führt uns vor, wie Kindernunterschiedliche Bild-Ästhetiken und Geschichten angeboten werden können– nicht ohne immer wieder ausgeprägtes Interesse an den eigenen Narrativender Kinder zu signalisieren.Beispiel 8: Buchstaben-HumoreskenBruno Munari: Bruno Munari’s ABCIn seinem englischsprachigen ABC mit italienischer Übersetzung trägtBruno Munari überwiegend schwarz konturierte, aus ihrem ursprünglichenKontext herausgelöste Objekte rund um jeweils einen schwarzenGroßbuchstaben zusammen. Es handelt sich um Gegenstände, Pflanzen,4 Früchte, Gemüse, Tiere, Insekten, 5Naturmaterialien, Speisen, ein Buchund ein Kind – also um alles, was zur Alltagswelt von Kindern gehört undfür sie Bedeutung haben könnte.Eine Doppelseite wird jeweils von einem Buchstaben „bespielt“. Beispielsweisefindet der Buchstabe F sein Gegenüber in einer Pflanze (a flower),einer Feder (a feather), einem Fisch (a fish), die als Bild und Wort gelesenwerden können. Auf jeder Seite wird das „Bilderlesespiel“ durch ein humoristischesMoment gebrochen. Bei dem Buchstaben F kommt links vonoben eine Fliege (a fly) ins Bild, deren Flugkapriolen wir einer gestricheltenLinien wegen zurückverfolgen können. Als Steigerung dieser Einlagefinden wir auf der rechten Seite „more flies“, also zwei Fliegen. Zu unseremVergnügen treffen wir die beiden Fliegen zum Schluss wieder: Beim BuchstabenZ gehen sie schlafen (a fly going Zzzz…).Ein weiteres humoristisches Element findet sich im Spiel mit den Größenverhältnissender einzelnen Gegenstände. Zum Beispiel zeichnet Munariein Schiff (a ship) in Form eines Frachters im Verhältnis zum darunterplatzierten Stein (a stone) wesentlich kleiner. In der Vorstellung könntedas Schiff am Stein zerschellen. Die Krähe (a crow) wird im Verhältnis zurKatze im Käfig gegenüber wesentlich größer dargestellt. Dadurch wird dasMachtverhältnis beider Tiere hinterfragt.Schließlich ist es die Auswahl der Gegenstände und Figuren, aber auchihre Kombination, die uns immer wieder über das ABC schmunzeln lassen.Im Mittelpunkt der Seite für das H schwebt ein Hammer (a hammer) übereinem Hut (over a hat). Und die Fliege ruht sich gerade auf dem Hut aus:„Look out, fly!“Geschickt bindet Munari unter dem Buchstaben B eines seiner erstenBücher ein – „Il venditore di animali“ aus dem Jahr 1945 – und bringt dieSeiten mit dem Flamingo, der vom „Tierverkäufer“ an der Leine geführtwird, in ein Wechselspiel mit einer Banane und dem blauen Schmetterling(a blue butterfly), der wegen seiner Größe niemals eingefangen wird.Das ist sicher.Ideen für die erweiterte ästhetische RezeptionImpuls: Geschichten rund um das Alphabet erfinden (Jahrgangsstufe 4)Die Schülerinnen und Schüler erkunden das Besondere des Munari-ABCs,nämlich die Pointe und den Witz. Indem sie eine Sammlung von Gegenständenund Objekten anlegen, generieren sie selbst Buchstaben-Bild-Zeichen-Kompositionenund entdecken darin Geschichten, die sie im Hinblickauf Pointen ausdifferenzieren. Dies kann auch im Austausch miteinanderoder beim Rotieren einzelner Kompositionen geschehen.Erfahrungsraum: Buchstaben initiieren ImaginationMaterial: Sammlung von Gegenständen und Objekten, Zeichenpapier,verschiedene StifteRaum: Atelier(Sprach-)Handlung: pointiert und witzig erzählen34 35