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VIELE ALPHABETE
1 . Einführung
Wir kennen sie alle, die Fibeln des ersten Schuljahrs, Heiligtümer der
ABC-Schützen. Viele von uns erinnern sich bestimmt gut an den Moment,
in dem wir dieses Buch ehrfürchtig entgegennahmen. Doch die Enttäuschung
ließ nicht lange auf sich warten. Da gab es Kinder, die schon vor
dem Schuleintritt lesen konnten und sich bald langweilten, erzählte dieses
Buch ihnen doch keine neuen Geschichten. Dann gab es all die anderen,
die noch nicht lesen konnten und sich ebenfalls langweilten, weil die
streng abstrakte Ordnung der Fibel, ihre eindimensionalen und reduzierten
Inhalte den Zugang zum ABC erschwerten. Umso erfreulicher, dass
es mittlerweile Bücher gibt, die zwar nicht mehr Fibel heißen, aber neben
der Annäherung an die Buchstabenwelt etwas ganz Anderes ermöglichen:
Neugier und Lust auf Sprache — bis zur letzten Seite. Und vielleicht nicht
nur in der Schuleingangsphase, sondern auch noch in höheren Jahrgangsstufen.
Vielleicht sind ja gerade diese ABC-Bücher, die sich zwischen Buchstabe
und Bild bewegen, besonders geeignet für Kinder, die die deutsche
Sprache erst erlernen.
Vor diesem Hintergrund ging die grund_schule der künste der UdK
Berlin 1 der Frage nach, auf welche Weise ein Sprachbildungsbuch konzipiert
und gestaltet sein müsste.
Neu ist das Projekt „Sprachbildungsbuch“ nicht. Bereits 1930 veröffentlichte
Tom Seidmann-Freud 2 eine „Spielfibel“, die Kinder einlädt, Buchstaben
in Bildern zu entdecken, Dinge zu zeichnen und deren Begriffe
nach ihren Anfangsbuchstaben zu sortieren. Das Besondere an diesem
frühen Sprachbildungsbuch ist, dass die Annäherung an den Buchstaben
nicht nur über Wörter und Bilder erfolgt, sondern gleichzeitig über die
Einbindung der Lebenswelt und Alltagserfahrung des Kindes. Deshalb ist
es erfreulich, dass das Buch im Berliner Verlag Walde+Graf 2017 neu aufgelegt
wurde. Auf der Rückseite des Buches regt Walter Benjamin zum
Experimentieren mit Sprache an: „Selbstvertrauen und Sicherheit werden
in dem Kinde erwachen, das seine Schrift- und Zeichenproben zwischen
diesen Buchdeckeln anstellt.“
Mitte der 1970er Jahre entstand ein weiteres Buch, das ein Vorbild für
das Sprachbildungsbuch der grund_schule der künste war. „Opa Hucke’s
Mitmachkabinett“ von Friedrich Karl Waechter 3 führt uns vor, wie Kindern
unterschiedliche Bild-Ästhetiken und Geschichten angeboten werden können
– nicht ohne immer wieder ausgeprägtes Interesse an den eigenen Narrativen
der Kinder zu signalisieren.
Beispiel 8: Buchstaben-Humoresken
Bruno Munari: Bruno Munari’s ABC
In seinem englischsprachigen ABC mit italienischer Übersetzung trägt
Bruno Munari überwiegend schwarz konturierte, aus ihrem ursprünglichen
Kontext herausgelöste Objekte rund um jeweils einen schwarzen
Großbuchstaben zusammen. Es handelt sich um Gegenstände, Pflanzen,
4 Früchte, Gemüse, Tiere, Insekten, 5Naturmaterialien, Speisen, ein Buch
und ein Kind – also um alles, was zur Alltagswelt von Kindern gehört und
für sie Bedeutung haben könnte.
Eine Doppelseite wird jeweils von einem Buchstaben „bespielt“. Beispielsweise
findet der Buchstabe F sein Gegenüber in einer Pflanze (a flower),
einer Feder (a feather), einem Fisch (a fish), die als Bild und Wort gelesen
werden können. Auf jeder Seite wird das „Bilderlesespiel“ durch ein humoristisches
Moment gebrochen. Bei dem Buchstaben F kommt links von
oben eine Fliege (a fly) ins Bild, deren Flugkapriolen wir einer gestrichelten
Linien wegen zurückverfolgen können. Als Steigerung dieser Einlage
finden wir auf der rechten Seite „more flies“, also zwei Fliegen. Zu unserem
Vergnügen treffen wir die beiden Fliegen zum Schluss wieder: Beim Buchstaben
Z gehen sie schlafen (a fly going Zzzz…).
Ein weiteres humoristisches Element findet sich im Spiel mit den Größenverhältnissen
der einzelnen Gegenstände. Zum Beispiel zeichnet Munari
ein Schiff (a ship) in Form eines Frachters im Verhältnis zum darunter
platzierten Stein (a stone) wesentlich kleiner. In der Vorstellung könnte
das Schiff am Stein zerschellen. Die Krähe (a crow) wird im Verhältnis zur
Katze im Käfig gegenüber wesentlich größer dargestellt. Dadurch wird das
Machtverhältnis beider Tiere hinterfragt.
Schließlich ist es die Auswahl der Gegenstände und Figuren, aber auch
ihre Kombination, die uns immer wieder über das ABC schmunzeln lassen.
Im Mittelpunkt der Seite für das H schwebt ein Hammer (a hammer) über
einem Hut (over a hat). Und die Fliege ruht sich gerade auf dem Hut aus:
„Look out, fly!“
Geschickt bindet Munari unter dem Buchstaben B eines seiner ersten
Bücher ein – „Il venditore di animali“ aus dem Jahr 1945 – und bringt die
Seiten mit dem Flamingo, der vom „Tierverkäufer“ an der Leine geführt
wird, in ein Wechselspiel mit einer Banane und dem blauen Schmetterling
(a blue butterfly), der wegen seiner Größe niemals eingefangen wird.
Das ist sicher.
Ideen für die erweiterte ästhetische Rezeption
Impuls: Geschichten rund um das Alphabet erfinden (Jahrgangsstufe 4)
Die Schülerinnen und Schüler erkunden das Besondere des Munari-ABCs,
nämlich die Pointe und den Witz. Indem sie eine Sammlung von Gegenständen
und Objekten anlegen, generieren sie selbst Buchstaben-Bild-Zeichen-Kompositionen
und entdecken darin Geschichten, die sie im Hinblick
auf Pointen ausdifferenzieren. Dies kann auch im Austausch miteinander
oder beim Rotieren einzelner Kompositionen geschehen.
Erfahrungsraum: Buchstaben initiieren Imagination
Material: Sammlung von Gegenständen und Objekten, Zeichenpapier,
verschiedene Stifte
Raum: Atelier
(Sprach-)Handlung: pointiert und witzig erzählen
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