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FOCUS 52/2022_Vorschau

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AUSGABE <strong>52</strong>/1 27. Dezember <strong>2022</strong> € 4,90 EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER <strong>2022</strong> POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC<br />

Andy Warhol<br />

In der Herzkammer<br />

der Pop Art<br />

Die neuen<br />

Sinnf luencer<br />

Erkenntnis<br />

oder Eitelkeit?<br />

Exklusiv<br />

Frank-Walter<br />

Steinmeier<br />

Unterwegs mit unserem<br />

Bundespräsidenten<br />

EINFACH<br />

SCHLANK<br />

Wie Sie mühelos abnehmen und<br />

auf Dauer gesünder leben<br />

So zählen Sie Kalorien richtig


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JETZT<br />

E-PAPER LESEN:


EDITORIAL<br />

Wer gibt uns den Glauben<br />

an uns selbst zurück?<br />

Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />

Fotos: Peter Rigaud für <strong>FOCUS</strong>-Magazin, dpa<br />

Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

wenn ich in diesen Tagen Menschen<br />

„frohe Weihnachten“ oder ein „gutes<br />

neues Jahr“ wünsche, werde ich oft<br />

verblüfft angeschaut. Einige atmen<br />

erst mal schwer durch, bevor sie Danke<br />

sagen, viele stöhnen einfach nur<br />

ein „Mal-schauen-wie-schlimm-eswird“<br />

heraus.<br />

Okay, Gründe für Verdruss und<br />

Zukunftsängste gibt es auch genug:<br />

Krieg ohne Ende in Sicht in der Ukraine,<br />

zu wenig Gas oder zu teuer, eine<br />

große Rezession droht, bei der Fußball-WM<br />

politisch und sportlich schmachvoll<br />

gescheitert, unser Puma-Panzer ein<br />

Totalausfall. Es gibt nicht einmal mehr<br />

genug Medikamente in dem Land, das<br />

einst die „Apotheke der Welt“ war.<br />

Das alles ist wahr, und doch ist es nicht<br />

die ganze Wirklichkeit. Millionen Deutsche<br />

haben das Interview mit dem gerade<br />

aus britischer Haft entlassenen Boris<br />

Becker verfolgt. Unser abgestürzter Held,<br />

einer, der einst auf dem Center-Court mehr<br />

zustande brachte als jeder andere auf der<br />

Welt, schilderte die Abgründe, in die er<br />

nicht nur geblickt hat.<br />

In der Haft wurde aus Boris Becker eine<br />

Chiffre: „Mich als Namen gab es nicht<br />

mehr, sondern meine Nummer A-2923-EV.<br />

Und so wurde ich angesprochen.“ Und: „Ja,<br />

ich habe zum ersten Mal in meinem Leben<br />

Hunger gefühlt.“ Mitgefangene haben versucht,<br />

ihn zu erpressen oder ihn sogar umzubringen.<br />

Dennoch saß da kein gebrochener<br />

Mann vor den Fernsehkameras, der ein<br />

unverdientes Schicksal bejammerte. Ganz<br />

im Gegenteil! Freimütig gab er zu: „Natürlich<br />

war ich schuldig.“<br />

Come-Becker Boris Becker im Sat.1-Interview<br />

mit dem Moderator Steven Gätjen<br />

Neuer <strong>FOCUS</strong>-Podcast<br />

Missing Magic Money –<br />

Den gestohlenen<br />

Bitcoin-Milliarden<br />

auf der Spur<br />

?<br />

R’S DAS MIT WOHLSTAND?<br />

20 Jahren verriet er: „Umringt von meinen<br />

Kindern.“ Und dann ein Wunsch, der<br />

einen umhaut: „Ich hoffe, es kommen<br />

noch ein paar (Kinder) dazu.“ Das sagt<br />

ein Mann, der hoffentlich genau weiß,<br />

dass für ihn die Altersgrenze von 67 nicht<br />

gilt. Der seinen Lebensstandard wieder<br />

neu erarbeiten muss, weil all die Millionen<br />

aus seiner Tennisgott-Zeit weg sind.<br />

Es ist der 28. Februar 2014, als der Franzose Mark<br />

Karpelès auf einer Pressekonferenz in Japan zugeben<br />

muss, dass auf seiner Kryptobörse Mt.Gox<br />

850 000 Bitcoins verschwunden sind. Mt.Gox ist<br />

pleite, und 127 000 Kundinnen und Kunden<br />

weltweit verlieren ihr Geld. Auch heute, acht<br />

Jahre später, sind die Täter noch nicht identifiziert.<br />

Der Verbleib des Geldes: unklar. Die gestohlenen<br />

GIBT ES FÜR DIE ZUKUNFT?<br />

Beeindruckt hat mich aber etwas anderes:<br />

Boris hat über all den Abstürzen<br />

einen Wert von mehr als 34 Milliarden Dollar.<br />

Bitcoins haben im Jahr <strong>2022</strong> zwischenzeitlich<br />

seinen Angriffsgeist und seinen Erfolgshunger<br />

offenkundig nicht verloren. Nur<br />

den größten Bankraub aller Zeiten. Unser<br />

Damit handelt es sich vermutlich um<br />

wenige Tage nach der Entlassung aus<br />

Reporter Thilo Mischke und sein Team haben sich<br />

achtmonatiger Haft schmiedet er Zukunftspläne<br />

für sich und die Seinen. Jetzt könne<br />

Money“ auf die Suche nach dem Geld und den<br />

für den neuen <strong>FOCUS</strong>-Podcast „Missing Magic<br />

er zum ersten Mal darü ber nachdenken,<br />

Tätern gemacht. Die Spuren führen dabei nicht<br />

„was ich mit dem Rest meines Lebens<br />

nur zu russischen Geheimdiensten, sondern<br />

mache“. Über seine Gemütsver-<br />

auch in die Ostukraine und zur Manifassung<br />

berichtete er: „Ich freue<br />

pulation der US-Wahlen im Jahr 2016.<br />

mich, ich bin motiviert.“ Über<br />

Ein hoch spannender, geopolitischer<br />

seine Vision für sein Leben in<br />

Thriller von aktueller Brisanz.<br />

Die Becker-Rolle war das Symbol<br />

für Boris’ unbändigen Siegeswillen.<br />

Nie wieder hat sich ein Spieler so in<br />

den roten Sand geworfen, um auch<br />

unmögliche Bälle zu retournieren.<br />

Und darum geht es nach meiner festen<br />

Überzeugung im kommenden<br />

Jahr für unser Land: Vor dem Erfolg<br />

steht der Wille zum Erfolg.<br />

Wir können uns doch nicht im<br />

Ernst damit abfinden, dass es wie<br />

bei der Autobahn A45 jahrelang nicht<br />

gelingt, eine marode Brücke zu ersetzen.<br />

Oder dass es keine Regierung<br />

in den vergangenen zehn Jahren<br />

geschafft hat, die selbst gesteckten Ziele<br />

bei den erneuerbaren Energien zu erfüllen.<br />

Von der Abwirtschaftung der Bundeswehr<br />

ganz zu schweigen.<br />

Vor dem Erfolg steht der Wille zum<br />

Erfolg: Ich denke da auch an den ukrainischen<br />

Präsidenten Wolodymyr Selenskyj,<br />

der den Glauben an den Sieg seines Landes<br />

auch in den dunkelsten Stunden des<br />

Krieges nicht verliert. Und am<br />

Ende dieses Fußball-Jahres darf<br />

man sich auch wünschen, dass<br />

sich die Männer-Nationalmannschaft<br />

etwas von der Leidenschaft<br />

und dem Siegeswillen der Frauen<br />

abguckt, die im EM-Finale<br />

zwar an England scheiterten, in<br />

Wahrheit aber viel für den Fußball<br />

gewonnen haben.<br />

2023 ist ein Jahr, das nach meiner Überzeugung<br />

genauso viele Chancen und Risiken<br />

bietet wie jedes andere Jahr auch. Für<br />

Schwarzmalerei und nationale Depression<br />

besteht kein Anlass, wenn es uns gelingt,<br />

den Glauben an uns selbst, an unsere Stärken<br />

und Fähigkeiten zurückzugewinnen.<br />

PS: Eine Inspiration für „Die Welt in<br />

2023“ bietet unser gleichnamiges Sonderheft,<br />

das Sie hier auf der linken Seite<br />

neben dieser Kolumne beworben sehen.<br />

Ich wünsche viel Spaß und Erkenntnisfreude<br />

beim Lesen und selbstverständlich<br />

ein gesundes Neues!<br />

.<br />

Herzlich Ihr<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>52</strong>/<strong>2022</strong> 01/2023<br />

Mit dem QR-Code können Sie zu dem Podcast gelangen<br />

5


Die nächste Ausgabe<br />

von <strong>FOCUS</strong> erscheint am<br />

Samstag, dem 7. Januar 2023<br />

Tief betroffen<br />

Steinmeier hörte<br />

sich im sächsischen<br />

Freiberg<br />

die Sorgen der<br />

Bürger an<br />

Seite 30<br />

Stark beansprucht<br />

Kann Verkehrsminister<br />

Volker<br />

Wissing das<br />

Chaos bei der<br />

Bahn lösen?<br />

Seite 56<br />

Hoch begabt<br />

Andy Warhol<br />

1965. Steve Schapiro<br />

dokumentierte<br />

die Geburt<br />

eines Phänomens<br />

Seite 84<br />

Reich bedacht<br />

Die Ukrainerin<br />

Oleksandra<br />

Matwijtschuk<br />

bekam den Friedensnobelpreis<br />

Seite <strong>52</strong><br />

Heiß begehrt<br />

Schauspieler<br />

Daniel Giménez<br />

Cacho versteht<br />

in „Bardo“ die<br />

Welt nicht mehr<br />

Seite 92<br />

Den Ranger Rover Sport gibt’s auch in elektrisch Seite 108<br />

6 <strong>FOCUS</strong> <strong>52</strong>/<strong>2022</strong> 01/2023


INHALT NR. <strong>52</strong>/<strong>2022</strong>_01/2023 | 27. DEZEMBER <strong>2022</strong><br />

Titelthema<br />

Wirtschaft<br />

Kultur<br />

56 Kann er ein Wunder vollbringen?<br />

Verkehrsminister Wissing über Chaos, Ausfälle<br />

und die Sanierung der Deutschen Bahn<br />

62 So rettet Innovation den Wohlstand<br />

Professor Gassmann erklärt, warum zur Digi -<br />

talisierung mehr gehört als ein Start-up-Lab<br />

84 In der Herzkammer der Pop Art<br />

Der Fotograf Steve Schapiro begleitete Andy<br />

Warhol Mitte der Sechziger. Sein Bildband<br />

dokumentiert die Geburt eines Phänomens<br />

90 Nachtgestalten und Tagträumer<br />

Unsere Kultur-Tipps der Woche<br />

64 Abgebrannt<br />

Der Feuerwerkshersteller Weco kämpft mit<br />

dem harschen deutschen Debattenwind<br />

92 Fremd im eigenen Land<br />

Starregisseur Alejandro G. Iñárritu schickt<br />

sein Alter Ego in „Bardo“ in die Identitätskrise<br />

70 Kampf den Kilos<br />

Frust und Krisenstimmung haben für<br />

ordentlich Speck auf den Hüften der Deutschen<br />

gesorgt. Doch wie wird man den wieder<br />

los? Ein Selbstversuch über 12 Wochen<br />

66 Die Erleuchtung<br />

Ein Start-up entwickelt smarte Straßenlaternen,<br />

die selbst Storm erzeugen können<br />

68 Geldmarkt<br />

Leben<br />

98 Klarheit und Wahrheit<br />

Warum es keine schlechte Idee ist, den<br />

Trend „Dry January“ mitzumachen<br />

Titel: Shutterstock, dpa<br />

77 Training für die Muskeln<br />

7 Übungen, die alle Körperpartien erreichen<br />

Agenda<br />

24 Die neuen Sinnfluencer<br />

Lange haben sie bloß über Mode und Fitness<br />

gepostet. Inzwischen sind Influencer aber<br />

auch politisch. Und relevanter denn je<br />

Wissen<br />

83 Gefräßige Winzlinge<br />

Pflanzliches Plankton ist offenbar immer<br />

besser in der Lage, Phosphor zu verwerten<br />

102 Front statt Flitterwochen<br />

Wie es sich anfühlt, als ukrainischer<br />

Soldat mitten im Krieg zu heiraten<br />

105 Ein extrascharfer Start ins neue Jahr<br />

Ottolenghi kocht sein Süppchen mit Chili<br />

106 Zurück auf den Gipfel<br />

Skifahrer Aleksander Kilde will den Weltcup<br />

Politik<br />

30 Der Volks-Empfänger<br />

Was kann ein Bundespräsident in Krisenzeiten<br />

tun? Steinmeier hat seine neue Rolle<br />

gefunden. Er will vor allem zuhören<br />

108 The Car after Tomorrow<br />

Der Range Rover Sport sorgt für Action<br />

Rubriken<br />

Fotos: Ingmar Björn Nolting für <strong>FOCUS</strong>-Magazin, Daniel Hofer/laif, Steve<br />

Schapiro/taschen.com, Oleksandra Matviichuk, SeoJu Park<br />

36 Der Richter und sein Denker<br />

Ist die Justiz zu lasch mit Klimaaktivisten?<br />

Generalstaatsanwalt Knispel im Interview<br />

42 Eine politische Schockwelle<br />

Ex-US-Botschafter John Kornblum erklärt,<br />

was die Ermittlungen gegen Trump bedeuten<br />

44 Amt und Würde<br />

Arbeitsmarkt-Debatten spalten das Land.<br />

Doch was braucht die Agentur wirklich?<br />

48 Durch die Hintertür nach Europa<br />

Zypern steht im Zentrum einer neuen Flücht -<br />

lingskrise und wird damit alleingelassen<br />

51 Politischer Datenstrudel<br />

Markus Söder im Weihnachtspulli und<br />

Karl Lauterbach auf dem Twitter-Thron<br />

<strong>52</strong> „Wir werden nicht kapitulieren“<br />

Die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin<br />

über Mut und den Traum von Demokratie<br />

Nüchtern betrachtet<br />

Jetzt kommt die Zeit der guten Vorsätze. Der<br />

„Dry January“ ist schon mal ein guter Start<br />

Seite 98<br />

5 Editorial<br />

8 Kolumne von<br />

Jan Fleischhauer<br />

11 Nachrichten<br />

12 Fotos der Woche<br />

18 Grafik der Woche<br />

Vierschanzentournee<br />

20 Menschen<br />

82 Echt irre<br />

Titelthemen sind rot markiert<br />

91 Salon<br />

94 Bestseller<br />

94 Impressum<br />

110 Die Einflussreichen<br />

112 Leserbriefe<br />

113 Nachrufe<br />

113 Servicenummern<br />

114 Tagebuch<br />

DER HAUPTSTADTBRIEF<br />

Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch<br />

Jetzt noch mehr Letzte Politik Gesetze<br />

im digitalen Format<br />

Zur Güte: Zehn Zukunftsentscheidungen,<br />

die es nicht geben wird<br />

Der Hauptstadtbrief Von John von Düffel für Seite 2 <strong>FOCUS</strong>-Leser<br />

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Analysen zur aktuellen Politik.<br />

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10. Dezember <strong>2022</strong> | #49<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>52</strong>/<strong>2022</strong> 01/2023


AGENDA<br />

Die neuen Sinnfluencer<br />

Mode und Fitness, das war einmal. Die Influencer<br />

von heute sprechen über Nachhaltigkeit, Klimaschutz<br />

oder psychische Krankheiten. Geht es dabei<br />

um Erkenntnisse oder Eitelkeiten?<br />

TEXT VON PHILLIPKA VON KLEIST<br />

Foto: action press/Petra Stadler for Events by CH<br />

24


Für die gute Sache?<br />

Cathy Hummels lud andere<br />

Instagram-Stars zum Sun&Soul<br />

Retreat nach Rhodos ein. Im<br />

Luxushotel kochte die Gruppe mit<br />

den Produkten von Sponsoren<br />

gegen Depressionen an und teilte<br />

alles online<br />

Für ihr Land<br />

ZEITGEIST<br />

Natalia Yegorova war 25 Jahre<br />

lang mit Vitali Klitschko<br />

verheiratet. Die Sängerin<br />

setzt sich für Geflüchtete aus<br />

der Ukraine ein<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>52</strong>/<strong>2022</strong> 01/2023 25


POLITIK<br />

Präsident<br />

zum Anfassen<br />

Bei seiner Tour ins<br />

sächsische Freiberg<br />

ging’s Frank-Walter<br />

Steinmeier vor allem<br />

um Dialog und Austausch.<br />

Erinnerungsfotos<br />

inklusive<br />

Staatsgeschäfte<br />

unterm Dach<br />

Der Bundespräsident<br />

in seinem für<br />

drei Tage in ein Hotel<br />

ausgelagerten<br />

Homeoffice<br />

Unterschrift gefällig? Auf seinem Behelfsschreibtisch<br />

lagen neben Akten aus dem Bundespräsidialamt<br />

auch Autogrammkarten<br />

Wenn Demokratie ein<br />

Gesellschaftsspiel wäre,<br />

wie sähe das aus?<br />

Mensch ärgere dich<br />

nicht? Schach? Halma?<br />

Oder eher so, wie es<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

neulich im Café Hartmann im sächsischen<br />

Freiberg probiert hat?<br />

Zwölf Mitspieler (sogenannte „Vertreter<br />

der Zivilgesellschaft“) warfen sich dort<br />

Argumente zu. Es gab Eierschecke und<br />

Stollen. Und wenn mal jemand durchzudrehen<br />

drohte, vermittelte der Bundespräsident,<br />

der den Kaffee übrigens gern fast<br />

schwarz mit einem kleinen Klecks Kondensmilch<br />

trinkt.<br />

Am festlich gedeckten Tisch saßen zwar<br />

weder salafistische Hassprediger noch<br />

woke WDR-Redakteur*innen aus urbanen<br />

Akademikerzirkeln. Und es klebte<br />

sich auch kein Mitglied der „Letzten<br />

Generation“ an Steinmeiers Sakko fest<br />

oder bewarf ihn mit Kartoffelsalat. Hier<br />

in Freiberg würde allenfalls übers Rezept<br />

gestritten. Mit Mayonnaise oder ohne?<br />

Aber immerhin: Draußen schrie jemand<br />

„Kriegstreiber“, als Steinmeier ankam.<br />

Und drinnen saßen dann tatsächlich ein<br />

paar Impf-, Kriegs- oder gar Parteienkritiker<br />

mit am Tisch. Demokratie in der<br />

Fortgeschrittenen-Edition namens „Kaffeetafel<br />

kontrovers“. So heißt das Format,<br />

das zugleich Höhepunkt jeder „Ortszeit“<br />

ist, die Steinmeier in diesem Jahr begonnen<br />

und in Freiberg nun zum fünften Mal<br />

durchgespielt hat.<br />

Immer drei Tage lang geht’s mit Entourage,<br />

Staatskarosse (Kennzeichen: 0-1, was<br />

für null-eins steht, also die Nummer eins<br />

»<br />

Mit dem Krieg<br />

kamen auf<br />

Steinmeier zunächst<br />

auch etliche<br />

unangenehme<br />

Fragen zu<br />

«<br />

im Land), Standarte und Polizeihundertschaften<br />

raus aus der Berlin-Blase. Viermal<br />

bislang nach Ostdeutschland, weil es<br />

da einfach mehr knallt als im alten Westen.<br />

Steinmeier will „den Dialog suchen<br />

mit den Menschen draußen im Land“.<br />

Man könnte auch sagen: Er geht dahin,<br />

wo’s wehtut. Und in den längst nicht mehr<br />

so neuen Bundesländern tut vieles weh.<br />

Auch weil sie sich das teils anders vorgestellt<br />

haben mit der Demokratie, als<br />

sie vor 33 Jahren auf die Straße gingen,<br />

um selber endlich mitspielen zu dürfen.<br />

Wer könnte da besser moderieren als das<br />

gesamtdeutsche Staatsoberhaupt?<br />

Sie haben schon richtig gehört: Frank-<br />

Walter Steinmeier, 66 Jahre alt, gebürtiger<br />

Detmolder, promovierter Jurist aus<br />

kleinen Verhältnissen, SPD-Mitglied und<br />

Berufspolitiker, ist offiziell die Nummer<br />

eins im Staat. Vor Scholzhabecklindner.<br />

Also auch vor Wolfgang Kubicki, Luisa<br />

Neubauer oder Günther Jauch. Insofern<br />

ist Steinmeier jetzt ganz oben. Andererseits<br />

ist er dieses Jahr bisweilen ganz<br />

unten gelandet, wovon noch die Rede<br />

sein wird. Bundespräsident ist alles und<br />

nichts zugleich. Obwohl ihm acht Artikel<br />

im Grundgesetz gewidmet sind, bleibt<br />

als Jobbeschreibung im Alltag vor allem:<br />

Orden verleihen, Gesetze durchwinken,<br />

Reden halten, würdevoll gucken.<br />

Ein Grüß-Gott-August und Wohlfühl-<br />

Onkel, wenn’s gut läuft. Ein irgendwie<br />

demokratischer König von Deutschland<br />

und wie viele andere Könige heute einer<br />

ohne Land und Macht, aber wenigstens<br />

mit adrettem Amtssitz: Schloss Bellevue,<br />

Spreeweg 1, 10557 Berlin. Daneben steht,<br />

im Gehölz versteckt, das Bundespräsidialamt.<br />

Das Ensemble aus Neu und Alt<br />

gleicht einem mittelständischen Betrieb<br />

mit 220 Mitarbeitern und 44,9-Millionen-<br />

Euro-Budget. Eine Manufaktur zur Produktion<br />

staatsmännischer Auftritte.<br />

Bundespräsident – das ist die zur Institution<br />

geronnene Idee von parteiunab-<br />

32 <strong>FOCUS</strong> <strong>52</strong>/<strong>2022</strong> 01/2023


hängiger Kontrolle der Exekutive. Wichtig<br />

erst, wenn’s doch mal kriselt wie 2017,<br />

als der Jamaika-Flirt scheiterte, einfach<br />

keiner regieren wollte und Steinmeier<br />

symbolisch auf den Tisch hauen und ein<br />

paar Wochen lang viel telefonieren durfte.<br />

In normalen Zeiten ist er eher Show. Das<br />

geht schon bei der Bundesversammlung<br />

los, die ihn auf fünf Jahre wählt: zur einen<br />

Hälfte besetzt mit den siebenhundertvielzuvielen<br />

Bundestagsabgeordneten. Zur<br />

anderen mit Sportlern, Komikern und weiteren<br />

deutschen Weltstars. Mit 72,7 Prozent<br />

der Stimmen wurde Steinmeier am<br />

13. Februar wiedergewählt. Er küsste liebevoll<br />

seine Frau Elke Büdenbender, der<br />

er vor zwölf Jahren eine Niere gespendet<br />

hat. So harmonisch, diese Demokratie! Elf<br />

Tage später ging die Welt unter.<br />

Was war da mit Putin?<br />

Es kamen Krieg, Krise und kritische Fragen<br />

nicht nur aus der ukrainischen Regierung<br />

in Kiew: Wie nah stand Steinmeier<br />

als SPD-Außenminister einst dem Kreml?<br />

Hat er nach Putins Krim-Annexion zu lange<br />

am Dialog festgehalten? Es wurde sehr<br />

schnell sehr persönlich und damit ziemlich<br />

kleinkariert. Gespielt wird seither<br />

eher „World of Warcraft“ als Mikado.<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>52</strong>/<strong>2022</strong> 01/2023<br />

„Kaffeetafel<br />

kontrovers“<br />

Hier diskutiert der<br />

Bundespräsident<br />

mit zwölf Bürgern.<br />

Anfangs etwas<br />

steif, aber die wohlkuratierte<br />

„Zivilgesellschaft“<br />

taute<br />

dann schnell auf<br />

Im April wollte Steinmeier in die Ukraine<br />

reisen wie viele andere Politiker. Kiew<br />

ließ wissen, dass er unerwünscht sei. Auf<br />

einmal gab es Schlagzeilen, die man als<br />

Bundespräsident nicht wirklich sucht.<br />

Steinmeier war nicht mehr nur Kommentator<br />

wachsender gesellschaftlicher<br />

Spannungen zu Hause, sondern deren<br />

Zielscheibe.<br />

„Ich habe mich geirrt“, sagte er und<br />

gab damit also eigene Fehler zu. Etwa<br />

sein langes Festhalten an der russischen<br />

Pipeline Nord Stream 2. Reichte nicht.<br />

Rücktrittsforderungen kamen auf. „Der<br />

Verwalter von Bellevue“ („Welt“) sei ein<br />

„Kaiser ohne Kleider“, spottete der frühere<br />

Linken-Politiker Fabio De Masi.<br />

Steinmeier schien es niemandem mehr<br />

recht machen zu können und fand aus den<br />

Empörungsschleifen kaum mehr heraus.<br />

Wem nur begann er da immer mehr zu<br />

ähneln? Wem erging es ebenso? Egal, der<br />

Präsident konzentrierte sich jedenfalls<br />

fortan auf zwei Aufgaben, die ihm trotz<br />

Krieg und Krise ja niemand absprach:<br />

Reden und Zuhören. Das mit den Ansprachen<br />

lief fehlerfrei bis okay. Zur Eröffnung<br />

der Documenta redete er zum Beispiel den<br />

Machern ins Gewissen, Verantwortung<br />

könne man „nicht outsourcen“. Kurz darauf<br />

platzte in Kassel die Antisemitismus-<br />

Bombe. Er hielt eine anrührende Rede zum<br />

Gedenken an die ausländerfeindlichen<br />

Exzesse von Rostock-Lichtenhagen vor<br />

30 Jahren. Er kritisierte die Pro-Putin-Haltung<br />

der russisch-orthodoxen Kirche, was<br />

die gar nicht gut fand. Und zum 50. Jahrestag<br />

des Münchner Olympiaterrors bat er<br />

die Hinterbliebenen um Vergebung.<br />

Eine Rede mit Ansage<br />

Nur einmal rutschte er aus, und das lag<br />

weniger an einer Rede als an der Bugwelle,<br />

die sein Amt ihr vorausschickte. Am<br />

27. Oktober wurde per Pressekonferenz<br />

seine tags darauf geplante Ansprache so<br />

bedeutungsschwanger angekündigt, dass<br />

auch dem letzten Vorstadt-Influencer die<br />

nationale Bedeutung klar werden musste.<br />

ZDF-Chefredakteurin Bettina Schausten<br />

sah schon „eine Art Kennedy-Moment<br />

entstehen“.<br />

Derartige PR-Aktionen provozieren<br />

Medienleute in der Regel nur dazu, sie<br />

voll ins Leere laufen zu lassen. Soweit<br />

bekannt, hat ja schon Jesus seine Bergpredigt<br />

nicht per Pressekonferenz angeteasert.<br />

Es gilt der Überraschungsfaktor,<br />

und der war im Fall Steinmeier am<br />

Ende so dürftig wie der Kennedy-Gehalt.<br />

Schmallippig vermerkten die Chronisten,<br />

dass aus der Bundesregierung überhaupt<br />

niemand anwesend gewesen sei.<br />

Dabei hat Steinmeier gar nichts Falsches<br />

gesagt. Er sprach davon, dass nun<br />

„härtere Jahre auf uns zukommen“. Eher<br />

Churchill light als Kennedy. Von den<br />

wachsenden Spaltungen im Land, die es<br />

zu überwinden gelte. Vom so wichtigen<br />

Dialog. Vom Ehrenamt und dass man<br />

33


POLITIK<br />

„Wir werden<br />

niemals<br />

aufgeben“<br />

Die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin<br />

Oleksandra<br />

Matwijtschuk über den Mut<br />

der Frauen und den Traum von<br />

einem demokratischen Land<br />

TEXT VON LAURA EWERT<br />

O<br />

leksandra Matwijtschuk<br />

ist ukrainische<br />

Juristin, Menschenrechtsaktivistin<br />

und<br />

Vorsitzende des Center<br />

for Civil Liberties,<br />

das gerade den Friedensnobelpreis gewonnen<br />

hat. Sie kommt gegen Mittag im<br />

Berliner „Hotel de Rome“ an. Der Grund<br />

ihres Besuchs ist die Premiere des Dokumentarfilms<br />

„Oh, Sister!“ über die Rolle<br />

ukrainischer Frauen, besonders im Krieg<br />

gegen Russland. Bis zum frühen Abend<br />

wird sie durchgehend Interviews geben,<br />

mit der grünen Kulturstaatsministerin<br />

Claudia Roth diskutieren und nicht mal<br />

mehr Zeit haben, um sich umzuziehen.<br />

Matwijtschuk spricht leise und ernst, aber<br />

mit fester Stimme, als sie vom Bombenalarm<br />

erzählt, der auch an diesem Morgen<br />

wieder in ihrer Heimat Kiew zu hören war.<br />

Selbst wenn sie auf Reisen ist, kommt er<br />

per App bei ihr an. Die 39-jährige Anwältin<br />

bestellt einen Kaffee, schwarz, dann<br />

geht es los.<br />

Unbeirrbar<br />

Matwijtschuk setzte<br />

sich früher vor allem<br />

für eine unabhängige<br />

Justiz in der Ukraine<br />

ein. Inzwischen<br />

liegt der Fokus auf<br />

der Dokumentation<br />

russischer Kriegsverbrechen<br />

Woher kommen Sie gerade?<br />

Aus Straßburg, dort war ich anlässlich<br />

des Sacharow-Preises für geistige Freiheit,<br />

den das Europäische Parlament in<br />

diesem Jahr dem ukrainischen Volk verliehen<br />

hat. Es war das erste Mal in der<br />

Geschichte des Preises, dass ein Land<br />

ausgezeichnet wurde. Er würdigt die<br />

Bemühungen einer ganzen Nation. Als<br />

die Invasion begann, haben die internationalen<br />

Organisationen ihre Mitarbeiter<br />

evakuiert, während die Leute vor Ort ihre<br />

Arbeit übernahmen. Normale Menschen<br />

<strong>52</strong><br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>52</strong>/<strong>2022</strong> 01/2023

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