Weihnachtsgrüße aus der Region - 2022
Weihnachtsgrüße aus der Region - Ausgabe vom 24.12.2022
Weihnachtsgrüße aus der Region - Ausgabe vom 24.12.2022
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<strong>Weihnachtsgrüße</strong> <strong>aus</strong> Wittlich und <strong>der</strong> VG Wittlich-Land<br />
Der Weihnachtsbraten<br />
Paula Kettern, 7 Jahre, Klüsserath<br />
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Noah Klein, 8 Jahre, Arenrath<br />
Til Neises, 8 Jahre, Kastel-Staadt<br />
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Diese Geschichte hat meine Mutter mir vor vielen Jahren erzählt,<br />
als ich sie fragte, ob sie sich noch an mein erstes Weihnachtsfest 1957 erinnern kann.<br />
„Ja sicher, und ich habe es bis heute nicht<br />
vergessen“, war ihre Antwort.Wie jedes<br />
Jahr haben wir uns zu Fuß auf den Weg<br />
nach Pallien zu Oma und Opa aufgemacht,<br />
um dort gemeinsam mit ihnen Weihnachten<br />
zu feiern. Peter war damals elf Jahre<br />
und du drei Monate alt. Am späten Nachmittag<br />
haben wir unsere kleine Wohnung<br />
in <strong>der</strong> Judengasse, die nur <strong>aus</strong> einer Küche<br />
und einem Schlafzimmer bestand, verlassen.<br />
Dein Vater nannte sie immer „unser<br />
Kapellchen“, er liebte die Ordnung und<br />
Gemütlichkeit, die wir uns trotz <strong>der</strong> bescheidenen<br />
Unterkunft geschaffen hatten.<br />
Kurz bevor wir aufbrachen, legte er noch<br />
ein paar Briketts in das Feuer im Ofen, damit<br />
es auch nach unserer Rückkehr schön<br />
warm in <strong>der</strong> Wohnung sein sollte. In <strong>der</strong><br />
Wohnküche hatten wir einen kleinen Tannenbaum<br />
aufgestellt und mit bunten Weihnachtskugeln<br />
geschmückt. Peter hatte<br />
einen Fotoapparat von uns geschenkt bekommen,<br />
auf den wir lange gespart hatten.<br />
Er freute sich sehr und wollte dich unbedingt<br />
mit mir vor dem Tannenbaum fotografieren.<br />
Es war sein erstes Weihnachtsfest<br />
mit seiner kleinen Schwester.Draußen<br />
war es schon dunkel geworden, die Trierer<br />
Innenstadt erstrahlte im hellen Lichterglanz.<br />
Beson<strong>der</strong>s die Brot- und die Fleischstraße<br />
waren wun<strong>der</strong>schön weihnachtlich<br />
geschmückt. Der Weg führte unsere kleine<br />
Familie über die Kaiser-Wilhelm-Brücke.<br />
Peter schob voller Stolz deinen Kin<strong>der</strong>wagen,<br />
in dem wir dich unter einem Daunenkissen<br />
schön warm eingepackt hatten. Den<br />
ganzen Weg über sang er „Kling Glöckchen<br />
klingelingeling“ für dich. Zum Glück<br />
waren wir alle warm angezogen, denn auf<br />
<strong>der</strong> Brücke pfiff ein eisiger Wind. Am steilen<br />
Reverchonweg übernahm dein Vater<br />
den Kin<strong>der</strong>wagen und schob ihn hoch<br />
über die holprigen Pflastersteine zur Römerstraße.<br />
Unter dem Torbogen am Ende<br />
des Weges angekommen, sahen wir schon<br />
Opa <strong>aus</strong> dem Fenster winken. Er hatte bereits<br />
nach uns Ausschau gehalten. Bevor<br />
wir ins H<strong>aus</strong> gingen, warfen wir noch einen<br />
Blick hinunter auf das weihnachtlich<br />
beleuchtete Trier. Der Ausblick von <strong>der</strong> Römerstraße<br />
<strong>aus</strong> war sehr schön. In einem<br />
schmalen Spalt zwischen dem H<strong>aus</strong> und<br />
den roten Sandsteinfelsen des Markusberges<br />
hatte Opa einige Kaninchenställe gebaut.<br />
Dein Bru<strong>der</strong> Peter liebte es, bei unseren<br />
Besuchen die Tiere gemeinsam mit<br />
ihm zu füttern und zu streicheln. Im vergangenen<br />
Jahr hatte er allen einen Namen gegeben.<br />
Sein Liebling war ein großes Kaninchen<br />
mit schwarz-weiß geflecktem Fell. Er<br />
hatte es Hansi getauft.Als wir an diesem<br />
Heiligen Abend in die gemütliche Wohnküche<br />
deiner Großeltern eintraten, leuchtete<br />
uns <strong>der</strong> Weihnachtsbaum mit vielen bunten<br />
Kugeln und brennenden roten Kerzen<br />
entgegen. Opa hatte ihn, wie jedes Jahr,<br />
selbst im Wald geschlagen, und Oma hatte<br />
ihn geschmückt. Zu unsrer Begrüßung<br />
und zur großen Freude deines Bru<strong>der</strong>s hatte<br />
Opa ein paar Wun<strong>der</strong>kerzen angezündet.<br />
Ich hielt dich auf dem Arm und deine Augen<br />
strahlten vor Freude. Alle zusammen<br />
stimmten wir „Oh Tannenbaum“ an und<br />
schauten glücklich in die Runde.Es war behaglich<br />
warm und <strong>der</strong> Tisch war zur Feier<br />
des Tages festlich gedeckt. Oma hatte ihre<br />
selbst bestickte Tischdecke aufgelegt und<br />
das Sonntagsgeschirr mit Goldrand eingedeckt.<br />
Es lagen Stoffservietten auf den<br />
Tellern und in einem silbernen dreiarmigen<br />
Kerzenstän<strong>der</strong> brannten rote Kerzen.<br />
Auf dem gusseisernen Ofen in <strong>der</strong> Ecke <strong>der</strong><br />
Wohnküche stand <strong>der</strong> große schwarze Bräter,<br />
den schon deine verstorbene Urgroßmutter<br />
benutzt hatte, und verströmte einen<br />
Geruch, <strong>der</strong> allen - außer dir natürlich - das<br />
Wasser im Munde zusammenlaufen ließ.<br />
Wir freuten uns auf den Weihnachtsbraten,<br />
<strong>der</strong> traditionell wie jedes Jahr mit Kartoffelklößen<br />
und Rotkraut serviert werden sollte.<br />
Doch in diesem Jahr hatte dein Opa ein Geheimnis.<br />
Bevor er den schweren Bräter mitten<br />
auf dem festlich gedeckten Tisch abstellte,<br />
flüsterte er deinem Vater ins Ohr:<br />
„Peter darf heute nicht hinters H<strong>aus</strong>!“. Zu<br />
spät. Peter hatte schon unbemerkt die Gelegenheit<br />
genutzt und war r<strong>aus</strong> zu den Kaninchenställen<br />
geschlichen. Er wollte wohl<br />
kurz den Kaninchen Frohe Weihnachten<br />
wünschen, bevor wir mit dem Essen begannen.<br />
Aufgeregt kam er zurück in die Küche<br />
gestürzt und rief verzweifelt: „Opa, Opa!<br />
Hansi ist weggelaufen! Wir müssen ihn suchen!“.<br />
Seine Stimme überschlug sich und<br />
er begann laut zu schluchzen. Wir Erwachsenen<br />
schauten uns betroffen an und anschließend<br />
auf den schwarzen Bräter in<br />
<strong>der</strong> Mitte des Tisches. Deiner Oma und mir<br />
standen sofort die Tränen in den Augen.<br />
Peter schien zu begreifen und zeigte mit<br />
dem Finger auf den Braten im Topf. „Ist da<br />
etwa Hansi drin?!“, schluchzte er herzzerreißend<br />
und schaute mit seinen verweinten<br />
Kin<strong>der</strong>augen vorwurfsvoll von einem<br />
zum an<strong>der</strong>en. „Ja“, antwortete dein Opa,<br />
„Kaninchen sind zum Essen da und nicht<br />
zum Spielen!“, legte sich einen Schenkel<br />
<strong>aus</strong> dem Topf auf den Teller und zwei Klöße<br />
dazu. Uns an<strong>der</strong>en war <strong>der</strong> Appetit vergangen,<br />
niemand konnte jetzt noch ein Stück<br />
von Hansis Braten essen. Das war das erste<br />
Mal, dass an Heiligabend nur dein Großvater<br />
von dem Weihnachtsbraten gegessen<br />
hat. Es dauerte eine Weile, bis wir Peter beruhigen<br />
konnten. Später sind wir noch gemeinsam<br />
in die Christmette gegangen und<br />
anschließend haben wir vier uns auf den<br />
Heimweg gemacht, zurück in „unser warmes<br />
Kapellchen“ in <strong>der</strong> Judengasse. Ob sie<br />
in <strong>der</strong> Kirche die Gelegenheit genutzt haben,<br />
um Buße zu beten, kann ich lei<strong>der</strong><br />
nicht sagen. Peter hat jedenfalls bis zu seinem<br />
Lebensende niemals mehr Kaninchenbraten<br />
gegessen.<br />
<br />
Lisa Neunkirch<br />
Lisa Neunkirch mit<br />
ihrer Mutter am Heiligabend 1957<br />
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