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Vorschau FOCUS 09/2023

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EDITORIAL<br />

Cool in Kiew. Wie Präsident Biden<br />

den Falken in Moskau und den Friedenstauben<br />

in Deutschland eine Lektion erteilte<br />

Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />

Fotos: Peter Rigaud/<strong>FOCUS</strong>-Magazin, Uncredited/Ukrainian Presidential Press Office/AP/dpa<br />

Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

wir im Westen nennen den US-Präsidenten,<br />

unabhängig davon, wer das Amt gerade<br />

innehat, gerne den „Anführer der freien<br />

Welt“, weil dies nicht zuletzt Teil der Job-<br />

Description des Mannes im Weißen Haus<br />

ist. Mit seinem Scoop von Kiew in dieser<br />

Woche hat sich Joe Biden diesen Ehren titel<br />

auch ganz persönlich verdient!<br />

Wie aus dem Nichts kommend tauchte<br />

der Oberbefehlshaber der immer noch<br />

stärksten Armee der Welt in der Hauptstadt<br />

eines mit Russland im<br />

Krieg befindlichen Staates<br />

auf – vergleichbar vielleicht<br />

nur mit der berühmten Reise<br />

von John F. Kennedy 1963<br />

in das von sowjetischen<br />

Truppen eingeschlossene<br />

Westberlin.<br />

Cool mit Sonnenbrille spazierte<br />

Top-Gun-Biden mit<br />

dem ukrainischen Helden-<br />

Präsidenten Wolodymyr<br />

Selenskyj offenkundig entspannt<br />

durch Kiew, während<br />

im Osten des Landes<br />

heftige Kämpfe toben.<br />

Zugleich war es das ganz<br />

persönliche Überlebens- und Freiheitsversprechen<br />

des Präsidenten für die Ukraine,<br />

die seit dem Überfall der Russen vor einem<br />

Jahr „einen Platz in meinem Herzen hat“<br />

(Biden zu Selenskyj). Ein russischer Sieg<br />

im Krieg gegen die Ukraine wäre folglich<br />

gleichbedeutend mit einem politischen<br />

Herzinfarkt dieses US-Präsidenten.<br />

Welch ein Unterschied 24 Stunden später<br />

in Moskau, als Kriegstreiber-Präsident<br />

Wladimir Putin vor Apparatschiks mit verpanzerten<br />

Herzen und Hirnen emotionslos<br />

eine Durchhalte-Rede an die Nation vortrug.<br />

Die Vorwürfe an den Westen, die<br />

Verdrehung aller Tatsachen über seinen<br />

Krieg – geschenkt. Aufhorchen ließ Putins<br />

Rückgriff auf ein historisches Zitat: „Es<br />

gibt die Formulierung: Kanonen statt Butter.“<br />

Zur Beruhigung der Bevölkerung fuhr<br />

Freiheitsfreunde<br />

Wolodymyr Selenskyj und<br />

Joe Biden am<br />

Montagmittag in Kiew<br />

er fort, man habe alles, um Sicherheit und<br />

eine gute Entwicklung zu schaffen. „Kanonen<br />

statt Butter“ war übrigens das Motto,<br />

das Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß 1936<br />

im oberfränkischen Hof bei der Eröffnung<br />

einer „Adolf-Hitler-Halle“ für die nationalsozialistische<br />

Wirtschaft prägte.<br />

Bemerkenswert: Während Joe Biden politisch<br />

an Kennedys Freiheitsversprechen<br />

für Westberlin anknüpfte, nahm Wladimir<br />

Putin (negativen) Bezug auf eine Parole der<br />

Nazis. Seltsam auch, weil man ja angeblich<br />

gegen Nazis in Kiew kämpft.<br />

Welch ein Unterschied aber<br />

auch zwischen Kiew auf<br />

der einen und Berlin sowie<br />

Paris auf der anderen Seite.<br />

Während Präsident Biden<br />

persönliche Risiken und<br />

nicht zuletzt einige Strapazen<br />

in Kauf nahm, um<br />

der Ukraine zum Jahrestag<br />

des Putin-Überfalls dauerhafte<br />

Beistandsgarantien<br />

zu geben, wehrte die<br />

SPD-Vorsitzende Saskia<br />

Esken die Forderung des<br />

neuen Verteidigungsministers<br />

Boris Pistorius (auch<br />

SPD) nach einer Erhöhung des Bundeswehretats<br />

um zehn Milliarden Euro ab.<br />

Wovon soll eigentlich die Munition z. B.<br />

für die Gepard-Panzer bezahlt werden, die<br />

Pistorius bestellt und der Ukraine versprochen<br />

hat? So demontiert man den eigenen<br />

Shootingstar!<br />

Und als ob es keine Zeitenwende gäbe,<br />

weichte Esken am Sonntag auch das<br />

Kanzler-Versprechen von Freitag auf,<br />

künftig auf jeden Fall zwei Prozent des<br />

Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung<br />

auszugeben. Für die SPD-Chefin<br />

sollen nämlich Investitionen in Zivil- und<br />

Katastrophenschutz sowie die Kosten der<br />

Entwicklungshilfe mit eingerechnet werden.<br />

Schade nur, dass die Ukraine in ihrem<br />

Überlebenskampf davon ebenso wenig<br />

etwas hat wie die bedrohten Nato-Staaten<br />

im Osten.<br />

Befremdlich auch Alice Schwarzer:<br />

Die Publizistin mobilisiert zusammen mit<br />

Sahra Wagenknecht von der Linken einen<br />

Appell gegen Waffenlieferungen – mutmaßlich<br />

auch mit Unterschriften von<br />

Rechtsradikalen, Neonazis und AfD-<br />

Anhängern. Man will so Verhandlungen<br />

erzwingen, in Wahrheit aber gäbe<br />

man Putin freie Hand für die Auslöschung<br />

der Ukraine. Am Samstag soll vor dem<br />

Brandenburger Tor demonstriert werden.<br />

Es würde mich sehr wundern, wenn dabei<br />

nicht auch Anhänger von SPD und<br />

Grünen dabei wären, die vom Ohnemichel-Pazifismus<br />

nicht lassen wollen. In<br />

diesen Kreisen setzt man auch viel Hoffnung<br />

auf die angekündigte Friedensinitiative<br />

Chinas. Doch wie soll Peking<br />

vermitteln, solange es an der Seite des<br />

Aggressors steht?<br />

Doch nicht nur in Berlin, auch in Paris<br />

wird geirrlichtert. Während die Nato in<br />

München auf der Sicherheitskonferenz<br />

zumindest den Schein vollständiger Einigkeit<br />

in der Frage der Unterstützung der<br />

Ukraine wahrte, philosophierte der französische<br />

Präsident Emmanuel Macron<br />

darüber, dass er die Niederlage Russlands<br />

in der Ukraine wolle, aber nicht die Vernichtung<br />

Russlands. Das hat bislang auch<br />

keine Regierung gefordert. Möglich, dass<br />

Macron, der keiner Seite den Sieg zutraut,<br />

damit indirekt auch seine Weigerung verteidigen<br />

wollte, der Ukraine Kampfpanzer<br />

zu liefern.<br />

Zu den Erkenntnissen in der Woche des<br />

Kriegs-Jahrestags gehört jedenfalls, auf<br />

wen man sich, wenn es darauf ankommt,<br />

verlassen kann. Auf Paris und Berlin eher<br />

nicht. Ohne die westliche Führungsmacht<br />

USA gäbe es zum Jahrestag höchstwahrscheinlich<br />

eine Siegesparade in Kiew,<br />

abgenommen von Wladimir Putin.<br />

Herzlich Ihr<br />

<strong>FOCUS</strong> 9/<strong>2023</strong><br />

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