Vorschau FOCUS 11/2023
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EDITORIAL<br />
Christian Lindner,<br />
Minister für gestörten Koalitionsfrieden<br />
und gegen Staatswirtschaft<br />
Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />
Foto: Peter Rigaud/<strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
in den großen Themen – von der Unterstützung<br />
der Ukraine bis zum Klimaschutz<br />
– herrscht zwischen den bürgerlich-anständigen<br />
Parteien in diesem Land<br />
ein derartiges Maß an Übereinstimmung,<br />
dass man schon von einer Giga-Koalition<br />
anstatt von einer GroKo sprechen kann.<br />
Viele Bürger denken deshalb: Die Richtung<br />
muss im Großen und Ganzen stimmen,<br />
denn es sind ja fast alle dafür. In solchen<br />
Situationen ist ein Störenfried schier<br />
unverzichtbar.<br />
Und das ist der Grund, warum für mich<br />
derzeit die FDP die wichtigste Partei des<br />
Landes ist. Denn die Liberalen haben<br />
nicht nur theoretisch die Macht, Dinge,<br />
die sie stören, zu verhindern, sie machen<br />
davon auch täglichen Gebrauch, zum Beispiel<br />
im Bereich Verkehr und Mobilität.<br />
Am umstrittensten ist wohl die Entscheidung<br />
von Verkehrsminister Volker Wissing<br />
(FDP), die endgültige Entscheidung über<br />
ein Verbot für den Verkauf von Neuwagen<br />
mit Verbrennungsmotor in der EU ab<br />
2035 zu blockieren, wenn es keine Ausnahme<br />
gibt für den Einsatz von synthetischen<br />
Kraftstoffen (E-Fuels), die so gut<br />
wie CO₂-neutral sind.<br />
Wissing begründet die stark angefeindete<br />
Haltung der FDP mit der enormen<br />
Bestandsflotte an Pkw allein in Deutschland.<br />
Außerdem möchte der Minister verhindern,<br />
dass die Option der E-Fuels vorzeitig<br />
durch ein Totalverbot für Verbrenner<br />
verschüttet wird. Sein Parteichef, Finanzminister<br />
Christian Lindner, steht ihm zur<br />
Seite: „Weltweit wird mit Sicherheit der<br />
Verbrennungsmotor noch eine große Rolle<br />
spielen.“ Dazu passen Planungen von<br />
BMW, SUVs der X-Reihe bis weit ins kommende<br />
Jahrzehnt hinein mit Diesel- und<br />
Benzinmotoren zu bauen. Und auch Mercedes<br />
will laut „Handelsblatt“ auf „Electric<br />
only“ nur dort setzen, „wo die Marktbedingungen<br />
es zulassen“.<br />
Das ist leicht nachvollziehbar, denn in<br />
China und den USA (mit Ausnahme weniger<br />
Bundesstaaten) ist ein Ende des<br />
Verbrenners nicht in Sicht. Und auch in<br />
Deutschland könnte angesichts der überschaubaren<br />
Fortschritte im Bereich Elektromobilität<br />
seit Verabschiedung eines ent-<br />
sprechenden Regierungsprogramms im<br />
Mai 20<strong>11</strong> (!) etwas Technologieoffenheit<br />
nicht schaden. Von den damals anvisierten<br />
eine Million Elektroautos bis 2020 waren<br />
zu diesem Zeitpunkt lediglich 310 000 auf<br />
deutschen Straßen unterwegs.<br />
Ähnliches gilt, wenn es um den Streit zwischen<br />
FDP und Grünen geht, ob beim Ausbau<br />
der Verkehrswege Autobahnen oder<br />
Schienen Vorrang haben sollen. Wissing<br />
will eine Planungsbeschleunigung für die<br />
Straße und begründet dies damit, dass<br />
der Verkehr dort laut einer neuen Prognose<br />
bis 2051 stärker steigen wird als<br />
der auf der Schiene. Dagegen leisten die<br />
Grünen erbitterten Widerstand. Ich bin<br />
kein Verkehrsexperte, aber ich verstehe<br />
nicht, warum die Grünen das Auto selbst<br />
dann noch so heftig bekämpfen, wenn es<br />
CO₂-neutral fährt. Es wirkt ein wenig so,<br />
als wenn hier veraltete Obsessionen und<br />
Gewohnheiten fortwirkten.<br />
Sehr verständlich finde ich auch den<br />
Widerstand der FDP gegen die überhasteten<br />
Pläne zum Ausstieg aus Gas- und<br />
Ölheizungen. Ich befinde mich damit in<br />
guter Gesellschaft, denn die Wirtschaftsweise<br />
Veronika Grimm warnte diese<br />
Woche, die Regierung könne sich damit<br />
„ins Knie schießen“. Denn möglicherweise<br />
ließen sich nicht genug Wärmepumpen<br />
herstellen, um die Gasheizungen zu<br />
ersetzen. Eine aktuelle Studie von Forschern<br />
aus den Bereichen Wärmeschutz<br />
und Energie kommt zu dem Ergebnis, dass<br />
etwa zehn Millionen Wohngebäude – also<br />
die Hälfte (!) aller Wohnhäuser – für den<br />
Einbau einer Wärmepumpe nicht geeignet<br />
sind.<br />
Die Nationale Akademie der Wissenschaften<br />
Leopoldina hat dieser Tage die<br />
Ampel davor gewarnt, sich bei der Energiewende<br />
im Klein-Klein zu verstricken.<br />
Aufgabe des Staats sei es, Rahmenbedingungen<br />
zu schaffen, zum Beispiel<br />
durch die europäische Ausweitung der<br />
CO₂-Bepreisung oder die Förderung der<br />
Wasserstofftechnologie, und nicht zuletzt<br />
Investoren Planungssicherheit zu geben.<br />
Rechtzeitig zur Kabinettsklausur in<br />
Meseberg mahnten die Wissenschaftler<br />
Technologieoffenheit beim Klimaschutz an.<br />
Lindner wird es gerne gehört haben. Meine<br />
Sorge: Ohne die FDP würden Klimaminister<br />
Robert Habeck, Umweltministerin<br />
Steffi Lemke (beide Grüne) und Bauministerin<br />
Klara Geywitz (SPD) neben den bisherigen<br />
Luftschlössern Energie- und Verkehrswende<br />
bedenkenlos das Luftschloss<br />
Klimawende errichten.<br />
Und das ist für mich der entscheidende<br />
Punkt: Dieses Land braucht wieder mehr<br />
Markt- und weniger Staatswirtschaft. Die<br />
Politik und insbesondere Rot-Grün mögen<br />
ja glauben, dass der Staat es besser kann<br />
als die Wirtschaft. Wenn dem so wäre,<br />
dann müssten wir in Deutschland die beste<br />
aller Bahnen haben, die uns pünktlich<br />
an alle Orte der Republik brächte. Denn<br />
die Bahn ist bis heute zu 100 Prozent im<br />
Besitz des Bundes. Weitere eindrucksvolle<br />
Beispiele sind der desaströse Zustand<br />
unserer Bundeswehr, der Berliner Flughafen<br />
oder der beklagenswerte Digitalisierungszustand<br />
Deutschlands.<br />
Für mich ist die FDP alles andere als eine<br />
Neinsager-Partei. Denn es hat doch nichts<br />
mit verhindern zu tun, wenn man dem<br />
Land Zukunfts- und Handlungsoptionen<br />
erhält, nicht zuletzt durch das Beharren<br />
auf soliden Finanzen in Berlin und Brüssel.<br />
Dort gibt es genügend Kräfte, die für ihre<br />
staatsübergriffige Politik keine Grenzen<br />
beim Schuldenmachen kennen.<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
dieses Editorial ist mein letztes als Chefredakteur<br />
dieses wunderbaren Magazins.<br />
Ich schaue mit Demut und Dankbarkeit<br />
auf sieben Jahre und eine Woche <strong>FOCUS</strong>-<br />
Leben zurück – und ich möchte Danke<br />
sagen. Denn es war eine schöne Zeit, es<br />
hat Spaß gemacht.<br />
Ich danke dieser tollen Redaktion, in der<br />
fleißige und kreative Menschen arbeiten,<br />
die mir ans Herz gewachsen sind. Ich danke<br />
dem <strong>FOCUS</strong>-Leserbeirat für die Unterstützung<br />
und Inspiration. Ich danke dem<br />
BurdaVerlag für insgesamt zwölf Jahre<br />
Vertrauen. Und ich danke insbesondere<br />
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, für Ihre<br />
Treue, Ihr Lob und Ihre Kritik.<br />
Herzlichst Ihr<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2023</strong><br />
3
Für das Klima<br />
Philosoph Peter<br />
Sloterdijk beschreibt<br />
eine Welt<br />
in Flammen und<br />
den Menschen als<br />
Brandstifter<br />
Seite 22<br />
Für die Menschen<br />
Annalena Baerbock<br />
steht für eine<br />
feministische<br />
Außenpolitik.<br />
Wie viel Ideologie<br />
passt in den politischen<br />
Alltag?<br />
Seite 28<br />
Für den Mond<br />
Alexander Gerst<br />
trainiert für<br />
eine mögliche<br />
Mondmission<br />
Seite 60<br />
Für die Musik<br />
Depeche Mode<br />
machen nach dem<br />
Tod des Keyboarders<br />
weiter – mit<br />
einem neuen Album<br />
Seite 78<br />
Für die Macht<br />
Markus Söder ist<br />
ein halbes Jahr<br />
vor der Landtagswahl<br />
bereits im<br />
Wahlkampfmodus<br />
Seite 38<br />
Für die Mode HipHop erobert die Laufstege Seite 86<br />
4 <strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2023</strong>
Seite 4<br />
Seite 5<br />
INHALT NR. <strong>11</strong> | <strong>11</strong>. MÄRZ <strong>2023</strong><br />
Titelthema<br />
Wirtschaft<br />
Kultur<br />
54 Krisen als Unterhaltungsstoff<br />
Ufa-Chef Nico Hofmann über Eskapismus als<br />
Geschäft, Fluch und Segen der Streamingdienste<br />
und deutsche Oscar-Hoffnungen<br />
58 Die Rechnung, bitte!<br />
Schulden oder Steuern – IW-Chef<br />
Michael Hüther zur Frage, wie der Bund<br />
seine Aufgaben finanzieren soll<br />
78 Wenn die Musik Trauer trägt<br />
Eine Band im Selbstfindungsmodus:<br />
Auf „Memento Mori“ verarbeiten<br />
Depeche Mode den Tod des Keyboarders<br />
Andy Fletcher<br />
84 Reisende soll man nicht aufhalten<br />
Unsere Empfehlungen der Woche handeln<br />
von Sehnsucht, Aufbruch, Ankommen<br />
Titel: Svenja Kruse für <strong>FOCUS</strong> Magazin Foto: Ralf Pollack/Getty Images<br />
Fotos: Carl de Souza/AFP via Getty Images, Michael Kappeler/dpa, ES/NASA, imago images, Sebastian Lock für <strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />
42 Wege aus der Wohnungsnot<br />
Rund 700 000 Wohnungen fehlen in<br />
Deutschland. Dabei wären manche<br />
Pro bleme einfach zu lösen. Was Politik<br />
und Industrie nun tun können<br />
50 „Wir müssen schneller werden“<br />
Interview mit SPD-Bundesbauministerin<br />
Klara Geywitz über den Konflikt zwischen<br />
Klimaschutz und günstigem Wohnen<br />
Agenda<br />
22 Die Reue des Prometheus<br />
Der Philosoph Peter Sloterdijk legt<br />
ein klimapolitisches Manifest vor:<br />
Der Mensch hat die Gabe des Feuers<br />
missbraucht und wurde zum Brandstifter<br />
Politik<br />
28 Ein neuer Blick auf die Welt<br />
Außenministerin Annalena Baerbock definiert<br />
Außenpolitik vollkommen neu. Damit<br />
verschafft sie sich international Respekt<br />
34 In der Vorwärtsverteidigung<br />
Deutschland und die Nachbarländer<br />
wollen endlich Leopard-Panzer in die<br />
Ukraine liefern. Doch so richtig kommt<br />
die Unterstützung nicht voran<br />
36 Krankes Krankenhaussystem<br />
Ambulant statt stationär – Sana-Vorstandsvorsitzender<br />
Thomas Lemke über seine Idee<br />
von einem neuen Gesundheitswesen<br />
37 Politischer Datenstrudel<br />
Jens Spahn im Fußballstadion und Omid<br />
Nouripour in der Montagehalle<br />
38 Mister Superlativ<br />
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder<br />
wird die Landtagswahl im Oktober wohl gewinnen.<br />
Aber um welchen Preis für die CSU,<br />
und mit welchem Partner will er regieren?<br />
59 Geldmarkt<br />
Wissen<br />
60 Unser Überflieger<br />
Astronaut Alexander Gerst zählt zu<br />
den aussichtsreichsten Kandidaten<br />
für die nächste Reise zum Mond<br />
66 Nachbeben im Kreislaufsystem<br />
Gefährliche Folgen: Covid-19-Erkrankungen<br />
können Herz und Gefäße schädigen<br />
71 Orcas greifen Jachten an<br />
Vor Gibraltar spielt „Der Schwarm“ in echt<br />
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Leben<br />
86 Vom Bordstein auf den Laufsteg<br />
Der Siegeszug des HipHop katapultierte<br />
auch den dazugehörenden Modestil aus den<br />
Ghettos amerikanischer Großstädte auf<br />
die Catwalks internationaler Luxusmarken<br />
92 Feel-good-Food<br />
Ottolenghis Kürbis-Reis-Fritter mit Chili<br />
94 Nur mal kurz die Welt retten<br />
Ausgerechnet der Discounter Aldi Süd<br />
will kein Billigfleisch mehr verkaufen<br />
96 Zauber einer Dreckschleuder<br />
Porsche feiert mit dem 9<strong>11</strong> Dakar<br />
die eigene Rallye-Geschichte<br />
98 Rasenschachmatt?<br />
Manchester City zelebriert Fußball in<br />
Perfektion. Aber verkünstelt sich bisweilen<br />
3 Editorial<br />
6 Kolumne von<br />
Jan Fleischhauer<br />
9 Nachrichten<br />
10 Fotos der Woche<br />
16 Grafik der Woche<br />
Oscar-Verleihung<br />
18 Menschen<br />
70 Wir müssen reden<br />
Rubriken<br />
Titelthemen sind rot markiert<br />
IKONE<br />
Günter Bannas über Leben<br />
und Sterben Petra Kellys<br />
83 Bestseller<br />
83 Impressum<br />
85 Salon<br />
102 Die Einflussreichen<br />
104 Leserbriefe<br />
105 Nachrufe<br />
105 Servicenummern<br />
106 Tagebuch<br />
WUNDERWUMMSIS<br />
Inge Kloepfer über<br />
politische Neologismen<br />
DER HAUPTSTADTBRIEF<br />
Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch<br />
Jetzt noch mehr Politik im digitalen Format<br />
Der Hauptstadtbrief Der für <strong>FOCUS</strong>-Leser<br />
Lesen Sie digital und kostenlos noch mehr<br />
Osten<br />
Analysen zur aktuellen Politik.<br />
Über eine politische Himmelsrichtung<br />
Von Gabriel Kords Seite 2<br />
Scannen Sie dazu einfach diesen<br />
QR-Code: 15. Oktober 2022 | #41<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2023</strong><br />
5
POLITIK<br />
Westliche Flanke<br />
Bundesaußenministerin<br />
Annalena Baerbock (r.)<br />
konsultiert ihre<br />
Positionen mit der französischen<br />
Amtskollegin<br />
Catherine Colonna<br />
Miss Germany<br />
Sie punktet mit Klartext und beherzten Auftritten:<br />
Als oberste Diplomatin prägt Außenministerin Annalena<br />
Baerbock einen neuen Stil in der Amtsführung. Aber<br />
wächst damit auch der Einfluss Deutschlands in der Welt?<br />
TEXT VON GUDRUN DOMETEIT<br />
Foto: IMAGO/Florian Gaertner<br />
28 <strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2023</strong>
AUSSENPOLITIK<br />
Klare Worte<br />
Am 2. März trafen sich<br />
in Indien die Außenminister<br />
der G20-Staaten<br />
zu Beratungen. Gegenüber<br />
von Annalena Baerbock<br />
(o.) saß Russlands<br />
Vertreter Sergej Lawrow,<br />
den sie in ihrer Rede<br />
mehrmals direkt ansprach<br />
und aufforderte,<br />
den Ukraine-Krieg<br />
zu stoppen<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2023</strong><br />
29
POLITIK<br />
Dienstbereit Viel beschäftigt,<br />
machtbewusst und mitunter<br />
extrem unterhaltsam:<br />
Markus Söder im Nürnberger<br />
Dienstsitz der Bayerischen<br />
Staatskanzlei<br />
38
CSU<br />
Mr. Superlativ. Oder: Peterle auf allen Suppen<br />
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder will und wird die Landtagswahl im Oktober gewinnen.<br />
Aber um welchen Preis? Feucht, Nürnberg, Regensburg, Weilheim, München – auf recht rastloser<br />
Reise mit einem, der sich ganz viel Mühe gibt, alles im Griff zu behalten<br />
TEXT VON ANJA MAIER FOTO VON SEBASTIAN LOCK<br />
Wohlauf, die Luft geht<br />
frisch und rein, wer<br />
lange sitzt, muss<br />
rosten. Den allerschönsten<br />
Sonnenschein<br />
lässt uns der<br />
Himmel kosten.“<br />
Der Chor der Realschule<br />
Feucht ist gut bei Stimme, und das<br />
freut Markus Söder natürlich. Schon montagmorgens<br />
um neun das Frankenlied<br />
vorgesungen zu bekommen – die Woche<br />
könnte schlechter starten. Bereits ab der<br />
zweiten Strophe, „Der Wald steht grün,<br />
die Jagd geht gut“, kann der Ministerpräsident<br />
nicht mehr an sich halten. Aus<br />
seinem anfänglichen Mitwippen wird<br />
erst eine Lippenbewegung, schließlich<br />
deutliches Mitsingen. Und ab der dritten<br />
Strophe gibt er, hinter dem Chorleiter<br />
stehend, mit der Rechten den Takt vor.<br />
„Valleri, vallera, valleri, vallera!“<br />
So ist ein Peterle auf allen Suppen. Peterle,<br />
oder Pederla, werden in Söders fränkischer<br />
Heimat liebevoll-ironisch jene<br />
genannt, die überall mitmischen. So wie<br />
die Petersilie, die auf jeden Teller gestreut<br />
wird, ist dieser Hansdampf immer<br />
irgendwo dabei: als omnipräsenter Erklärer,<br />
wichtigtuerischer Kümmerer, wortgewandter<br />
Organisator. Ganz so wichtig,<br />
wie die Petersilie sich nimmt, ist sie<br />
natürlich mitnichten. Aber es ist eben<br />
auch gut, dass es sie gibt: gesundheitlich,<br />
ästhetisch, geschmacklich ohnehin.<br />
Auch Markus Söder ist in Bayern überall.<br />
In der Schule von Feucht, beim Empfang<br />
in Regensburg, auf Kinotour in Weilheim<br />
und auf der Handwerksmesse in<br />
München. Auch in den sozialen Medien,<br />
wo er nahezu in Echtzeit auf Volksfesten<br />
winkt, in Stadien jubelt, Tiere streichelt,<br />
Reden hält, isst, schwimmt und spazieren<br />
geht. Selbst das Private ist dem Peterle<br />
ein politisches Anliegen.<br />
Manches bleibt im öffentlichen Gedächtnis<br />
stärker haften, etwa wenn Markus<br />
Söder mit Angela Merkel über den<br />
Chiemsee schippert oder Olaf Scholz<br />
ein schlumpfiges Grinsen bescheinigt.<br />
Anderes, etwa sein Corona-Zickzackkurs<br />
vom „Team Vorsicht“ zum „Team<br />
Augenmaß“ bis zum „Team Freiheit“, fällt<br />
unter södersche Anpassung. Die Zeiten<br />
seien – zum Glück für den Markus und die<br />
CSU – unübersichtlich, sagt ein Kritiker<br />
aus seiner eigenen Partei. Das mache die<br />
Wähler vergesslich. Aber jetzt, im Landtagswahljahr,<br />
gibt er noch mal richtig<br />
Gas. Wer den CSU-Chef und Ministerpräsidenten<br />
begleitet, muss Tempo aufnehmen.<br />
Söders Tage beginnen in aller<br />
Frühe und enden meist spät.<br />
Die politische Konkurrenz spottet ja<br />
gerne, der Ministerpräsident wäre am<br />
liebsten bei jeder Geburt im Freistaat<br />
dabei, um gleich im Kreißsaal<br />
persönlich einen Bayern-<br />
Strampler überreichen zu können.<br />
Aber diesem Spott wohnt<br />
auch Hochachtung inne. Söder,<br />
das ist einer, der sich<br />
reinhängt und sichtbar ist.<br />
Der gut im Stoff ist, vernetzt<br />
ist, alle und alles im Blick zu<br />
behalten versucht. Einer, der<br />
viel arbeitet, extrem unterhaltsam<br />
sein kann, der strategisch<br />
denkt und notfalls auch<br />
harte Personalentscheidungen<br />
trifft. Zurückhaltung ist seine<br />
Sache nicht. Den Realschülern<br />
in Feucht bescheinigt er, sie seien<br />
in der Pandemie „die Coolsten“ gewesen.<br />
Den ostbayerischen Handwerkern erzählt<br />
er ohne jede Ironie, der Freistaat gehöre<br />
„zu den erfolgreichsten Ländern der<br />
Welt“. Den oberbayerischen Kinobesuchern<br />
gesteht er seine Bratwurst-Obsession:<br />
„Da kann ich zwölf essen.“<br />
Und auch im persönlichen Gespräch<br />
spricht er am liebsten in Superlativen.<br />
Alles ist bei ihm gigantisch. Bayerns Hightech-Agenda:<br />
weltweit top. In München<br />
„In Bayerns<br />
Kabinett<br />
herrscht ein<br />
guter Team-<br />
Spirit.<br />
Ebenso in<br />
der ganzen<br />
Partei“<br />
Markus Söder<br />
die allergrößte Fakultät für Luft- und<br />
Raumfahrt. Das beste Essen, die allerschönste<br />
Lebensart sowieso. Ein „saugutes“<br />
Land eben. Viele stößt diese Art<br />
Selbstbeweihräucherung ab. Doch in<br />
komplexen Zeiten wie diesen kommen<br />
Verkürzungen gut an. Zudem ist Söder<br />
ein begnadeter Redner, der jede Tonlage<br />
beherrscht: witzig oder böse, tragisch<br />
oder packend.<br />
Lauter Sound, hoher Ton<br />
Jetzt, zum Beginn des Wahljahres, ätzt<br />
und poltert er lautstark gegen die in<br />
Berlin, wo seit 2021 statt der Union die<br />
SPD die Regierung anführt. Man spüre<br />
„aus jeder Faser des Ampelkörpers“, wie<br />
wenig die Bundesregierung den Süden<br />
möge, bollerte Söder beim politischen<br />
Aschermittwoch.<br />
Der CSU-Chef konstatierte<br />
zudem eine deutliche „Fleischund<br />
Wurst-Phobie“ bei Grüns.<br />
Zuletzt hat er angekündigt,<br />
vor dem Bundesverfassungsgericht<br />
gegen den Landesfinanzausgleich<br />
zu klagen.<br />
2016, damals noch als Horst<br />
Seehofers Finanzminister, hatte<br />
er den gefundenen Länder-<br />
Kompromiss gelobt. Heute sitzt<br />
er im Nürnberger Dienstsitz<br />
der Staatskanzlei am Besprechungstisch<br />
und schimpft:<br />
„Wettbewerb gerne, aber doch<br />
bitte zu fairen Bedingungen für alle. Wir<br />
wollen schwimmen, aber nicht mit einem<br />
Betonklotz am Bein.“<br />
Der Sound ist laut, die Tonlage hoch.<br />
Wüsste man nicht, dass Söders CSU in<br />
den Umfragen bei komfortablen vierzig<br />
Prozent liegt – man könnte meinen, hier<br />
kämpfe einer um sein politisches Überleben.<br />
Dabei ist schon jetzt so gut wie sicher,<br />
dass die CSU am 8. Oktober die Wahl<br />
gewinnt. Spannend sind lediglich diese<br />
Fragen: Kann er ein besseres Ergebnis<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2023</strong> 39
WIRTSCHAFT<br />
Gewachsen<br />
2019 zogen Ricardo Ewert und<br />
Virginia Leffke in eine 60-Quadratmeter-Wohnung<br />
im Süden Berlins.<br />
2020 kamen die Zwillinge Lilli und<br />
Emily. Damit wurde die Wohnung<br />
zu klein. Motiviert starteten die gebürtigen<br />
Berliner vor drei Jahren<br />
die Wohnungssuche. Bis heute hatten<br />
sie damit keinen Erfolg. „Man<br />
resigniert irgendwann“, sagt Leffke<br />
Fotos: Steffen Roth für <strong>FOCUS</strong>-Magazin, iStock<br />
42 <strong>FOCUS</strong> <strong>11</strong>/<strong>2023</strong>