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Vorschau Scheidegger & Spiess Herbst 2023

NFT-Kunst von Wolfgang Beltracchi, der Jubiläumsband des Schweizer Fotografen Ernst Scheidegger und vieles mehr - entdecken Sie die Neuerscheinungen im Herbstprogramm!

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9 Exemplarische Auskünfte hierzu bietet die Studie „The new artist“ von<br />

31 Was Bleibt<br />

wertvoll gilt und daher sorgfältig dokumentiert werden sollte. Hingegen<br />

drückt sich im konträren bilderstürmerischen Charakter der Moderne<br />

eine eher instrumentelle Vorstellung von Kunst aus. Ihr zufolge entfaltet<br />

ein künstlerisches Werk seine grösstmögliche Wirkung zum Zeitpunkt<br />

seiner Entstehung, bezogen auf einen bestimmten Gebrauch, eine<br />

spezifische Gesellschaft. Danach verliert es an Strahlkraft, wird im<br />

extremen Fall zu einem stumpfen Instrument, höchstens noch tauglich<br />

als historisches Zeitzeugnis.<br />

4 Ein Blick in die Kunst- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts zeigt<br />

jedoch, dass die Aggression gegenüber der Kunst vor allem der Vorgängergeneration<br />

meist rhetorischer (und partieller) Natur ist. Es geht<br />

weniger um physische Zerstörung als darum, sich von ihr abzusetzen<br />

(oder alternativ, sie sich einzuverleiben). Einen Konvergenzpunkt bildet<br />

die von der schon kurz vorgestellten Rezeptionsästhetik formulierte<br />

Annahme, dass ein Kunstwerk für künftige Generationen interessant<br />

bleiben kann, sofern sie neue Anknüpfungspunkte für sich findet.<br />

Polemisch zugespitzt: Wenn es die Mona Lisa nicht gäbe, würden wir<br />

sie wohl kaum vermissen. Ihre heutige Berühmtheit hat in mancherlei<br />

Hinsicht weniger mit dem „Werk an sich“ zu tun als zunächst mit seiner<br />

Mystifizierung unter anderem durch Künstler wie Marcel Duchamp, in<br />

der Folge mit der Stilisierung ihres Urhebers Leonardo da Vinci zum<br />

Exponenten einer idealisierten Renaissancekultur. Hinzu kommen die<br />

Mechanismen der gegenwärtigen Aufmerksamkeitsökonomie, die sich<br />

inzwischen verselbständigt haben.<br />

Der Wunsch, sich in die Geschichte einzuschreiben, spielt für<br />

Kunstschaffende nach wie vor eine wichtige Rolle 11 . In der Nachlass-<br />

Johannes Hedinger (2017). Auf die Frage, was von ihrer Kunst über ihren<br />

Tod hinaus Bestand haben solle, antworteten 65%: „einige Werke“ und<br />

45%: „Werke in öffentlichen Sammlungen“ sowie immerhin fast 30%<br />

„Ein Platz in der Kunstgeschichte“. (Mehrfachnennungen waren möglich).<br />

Download: https://thenewartist.net<br />

13 Was Bleibt<br />

14 Was Bleibt 15 Was Bleibt<br />

sich hinzuträumen schienen wie rätselhafte Überbleibsel einer früheren<br />

Zivilisation.<br />

Zum Zeitpunkt dieses ersten Augenscheins im Atelier wusste ich<br />

noch nicht, dass die drei Obelisken von Peter Storrer für mich bald zu<br />

Torhütern auf meinem bald regelmässigen Weg in den Ateliertrakt der<br />

Roten Fabrik werden sollten. Dort galt es eine Art Endmoräne abzutragen:<br />

Storrers Erbmasse.<br />

2 „Erbmasse“: Im kühl juristischen Begriff schwingen negative Assoziationen<br />

mit. Eine „Masse“ ist etwas Unförmiges, Unstrukturiertes.<br />

Zugleich erscheint mir dieser Begriff seiner Spannweite wegen passend.<br />

Denn er spielt auf das genetische Erbmaterial ebenso an wie<br />

auf das materielle und immaterielle Erbe einer Person, ihr Vermächtnis.<br />

Dazu zählen neben dem sozialen Umfeld die Kontexte, die sie geprägt<br />

haben. In der folgenden Auseinandersetzung mit dem Nachlass Peter<br />

Storrers geht es vor allem um diese Kontexte, nicht um ein detailliertes<br />

oder gar vollständiges Inventar.<br />

Das Atelier gehörte inzwischen der Stadt. Doch nach Storrers<br />

Tod musste zunächst die Erbangelegenheit geregelt werden. Peter<br />

Storrer (1928-2016) hatte sein Atelier während rund vierzig Jahren<br />

benutzt. Direkte Nachfahren hatte er keine. Als gesetzmässige Erben<br />

wurden vier entferntere Verwandte ausfindig gemacht. Sie schlugen<br />

das Erbe aus verschiedenen Gründen aus: hohes Alter, Respekt vor<br />

der Aufgabe.<br />

Für die Stadt Zürich stand zunächst im Vordergrund, den<br />

Atelierraum bald wieder vermieten zu können. Es handelte sich um<br />

eines ihrer grössten und besten Ateliers. Oberlicht, Blick auf den See<br />

und die Alpen, wunderbar geeignet für Malerei, Bildhauerei, raumgreifende<br />

Werke und Ideen. Unter normalen Umständen wäre nun ein<br />

Auftrag zur Räumung an einen Entrümpelungsdienst gegangen. Doch<br />

im vorliegenden Fall gab es gute Gründe dafür, den Inhalt des Ateliers<br />

durch die Kulturabteilung zu übernehmen, um ihn genauer prüfen und<br />

auswerten zu können. So befanden sich im Atelier etliche Kunstwerke<br />

von Peter Storrer wie auch teilweise vorsortierte Dokumente zu<br />

seinem Schaffen 2 . Zugleich galt es zu bedenken, dass Storrers Werk,<br />

gemessen an seiner eher lokalen künstlerischen Ausstrahlung, in den<br />

Kunstsammlungen von Stadt und Kanton Zürich schon gut vertreten<br />

war. Die Übernahme kompletter Künstler*innennachlässe gehört nicht<br />

zu ihrem Auftrag.<br />

Daher waren weitere gute Argumente für die Übernahme willkommen.<br />

Aus dem knappen Inventar des Notariats ging unter anderem<br />

hervor, dass sich im Atelier auch Dokumente von Peter Storrers<br />

Vater Willy Storrer befinden sollten. Dieser hatte in den 1920er Jahren<br />

die Zeitschrift „Individualität“ und den bis heute existierenden anthroposophischen<br />

Verlag Freies Geistesleben gegründet. Angeblich<br />

sollte dieser Nachlass auch Briefe von Robert Walser, Hermann Hesse,<br />

Oskar Schlemmer und anderen kulturhistorisch bedeutenden Persönlichkeiten<br />

enthalten. Sie würden durch die Übernahme für die Öffentlichkeit<br />

erhalten werden können.<br />

Ausgerechnet die Briefe Robert Walsers (abgesehen von ein,<br />

zwei eher unbedeutenden Schreiben) und Schlemmer waren jedoch<br />

nicht aufzufinden. Von letzteren waren nur schlechte Fotokopien und<br />

Hinweise auf einen Verkauf vorhanden. Hingegen tauchte ein ganzer<br />

kulturgeschichtlicher Zusammenhang auf, der sich als mindestens so<br />

interessant erwies wie einzelne Handschriften-Trophäen. Dieser Konnex<br />

umfasst neben dem Künstler Peter Storrer sowie seinem künstlerischen<br />

Umfeld auch seine Herkunftsfamilie: seinen Vater Willy Storrer<br />

und weitere bemerkenswerte Persönlichkeiten, insbesondere seine<br />

Mutter Florianna Storrer-Madelung und deren Vater, den dänischstämmigen<br />

Schriftsteller, Übersetzer und Kulturpublizisten Aage Madelung.<br />

Dieser ungewöhnliche familiäre Hintergrund barg etliche Überraschungen.<br />

So fand sich beispielsweise ein Konvolut von mehr als<br />

vierzig bisher unbekannten Briefen der Schriftstellerin und Fotografin<br />

Annemarie Schwarzenbach an Florianna Storrer-Madelung. Die beiden<br />

Frauen waren sich wenige Jahre vor Schwarzenbachs Tod nähergekommen.<br />

Peter Storrer wiederum hatte ab den 1950er Jahren etliche<br />

Freundschaften in den damaligen Künstlerkreisen gepflegt, unter anderem<br />

mit André Thomkins. Von diesem fanden sich zahlreiche als kleine<br />

Kunstwerke gestaltete Briefe im Atelier. Soviel zunächst zur materiellen<br />

„Erbmasse“.<br />

3 Die Räumung des Künstlerateliers von Peter Storrer führte zu einer<br />

besonderen Art der Begegnung mit dem Künstler und den faszinierenden<br />

Persönlichkeiten aus seinem Umfeld – und dies in Form von unzähligen<br />

Gegenständen und Dokumenten, die plötzlich den Charakter von<br />

Indizien annahmen. Selbst wenn man zur Person, deren Nachlass man<br />

auflöst, keinerlei persönliche Verbindungen hat, gerät man unmerklich in<br />

den Sog einer fremden Lebensgeschichte und damit in ein Verhältnis<br />

zum Verstorbenen. Man bemerkt dies erst, wenn es schon passiert ist.<br />

Der posthume Dialog mit den materiellen Hinterlassenschaften<br />

und einigen Verstorbenen, namentlich Familienangehörigen von Peter<br />

Storrer, kann nichts anderes sein als ein von mir geführter Geister-Dialog.<br />

Der nachfolgende Bericht will keinen objektiven Blick auf Storrers<br />

„Erbmasse“ vorspiegeln, da er diesen nicht bieten kann. Sein Angelpunkt<br />

ist bewusst meine subjektive Perspektive. Bereichert wird sie<br />

punktuell durch Gespräche mit einigen noch lebenden Zeitgenossen,<br />

die ihn persönlich kannten. Die Beobachtungen, die ich während der<br />

nicht wenigen Besuche im Atelier machen konnte, haben mich dabei<br />

ebenso wie manche Fundstücke sowie die erwähnten Gespräche nicht<br />

zuletzt dazu angeregt, über die stark gewandelten Bedingungen der<br />

künstlerischen Existenz in den letzten Jahrzehnten nachzudenken.<br />

Mein eigenes Verhältnis zur Kunst und genereller zu den Dingen<br />

ist hier also der Filter der Wahrnehmung und Ausgangspunkt einer<br />

2 Diese Dokumente, darunter Künstlerbriefwechsel und Fotografien,<br />

konnten grösstenteils vom Kunstarchiv des SIK-ISEA Zürich<br />

übernommen werden. Einzelne Bestände (namentlich Konvolute<br />

mit Zeichnungen) haben in erster Linie die Kunstsammlung der<br />

Stadt Zürich sowie die Graphische Sammlung der Zentralbibliothek<br />

Zürich übernommen.<br />

Kunstnachlässe: Herausforderung<br />

und grossartige Chance zur<br />

Entdeckung unbekannter Universen<br />

21 Was Bleibt<br />

35 Was Bleibt<br />

Der Kunstnachlass<br />

als Herausforderung<br />

Mapping the Studio –<br />

Mythos Künstleratelier<br />

1 Die Räumung des Ateliers von Peter Storrer und die damit verbundenen<br />

Herausforderungen interessierten mich auch aus der Perspektive der<br />

Kulturförderung. Für diese sind Kunstnachlässe ein ausgesprochen<br />

anspruchsvolles, mit vielen Erwartungen, Ansprüchen und auch Emotionen<br />

verbundenes Thema. Anfragen, die solche Nachlässe betreffen,<br />

gehören längst zum Alltag der Kunstförderung. Manchmal nehmen sie<br />

polemische Dimensionen an. In Zürich lautet die entsprechende Chiffre<br />

«Hagenholz». Sie steht für die städtische Müllverbrennungsanlage<br />

und wird als drohende Endstation genannt, wenn es darum geht, die<br />

Aufmerksamkeit auf bedrohte Kunstnachlässe zu richten. Im Kern geht<br />

es um Verteilkämpfe, wie sie sich rund um öffentliche Mittel abspielen.<br />

Das Anliegen der Kreise, die die Sicherung von Kunstnachlässen als<br />

öffentlichen Auftrag verstanden wissen wollen, lässt sich zunächst<br />

gut nachvollziehen. Denn es weist auf kulturpolitische und kulturphilosophische<br />

Fragen und Widersprüche hin – und vor allem auf einige<br />

Besonderheiten der Kunstökonomie 5 .<br />

Kurz gesagt, ist der Kunstbetrieb spätestens seit dem 19. Jahrhundert<br />

zunehmend durch eine explodierende Zahl von künstlerisch<br />

tätigen Individuen geprägt. Sie und ihre schon allein mengenmässig<br />

zunehmende, aber auch stilistisch immer diversere Produktion prägen<br />

das zunehmende Wechselspiel von Angebot und Nachfrage auf<br />

einem sich erweiternden Markt. Auch auf Käuferseite treten regelmässig<br />

neue Akteure auf. Die zuvor dominierende Abhängigkeit von den<br />

Aufträgen feudaler oder kirchlicher Kreise tritt in den Hintergrund (oder<br />

wird wenigstens zum Teil von staatlichen Institutionen übernommen).<br />

Selbst die einst strengen Kontroll- und Juryfunktionen der zunächst<br />

königlichen, später staatlichen Kunstakademien wird immer häufiger<br />

1 Storrer zählte zu den Künstlern, die ihr Atelier bewusst vor fremden<br />

Blicken schützen. Doch kaum waren die Fenster in Storrers Atelier, die<br />

sich so lange hinter schweren Rollläden verborgen hatten, zum Lüften<br />

geöffnet, reckten sich neugierige Köpfe hinein. Ältere Künstlerinnen<br />

und Künstler aus der Roten Fabrik, die Storrer noch gekannt hatten<br />

und denen er offenbar nie Zugang gewährt hatte, wollten unbedingt<br />

einen Blick in seinen Raum erhaschen.<br />

Je weniger zugänglich ein Atelier ist, desto mehr Legenden<br />

ranken sich darum. Dass Peter Storrer sein Atelier als Rückzugsraum<br />

wichtig gewesen war, hatte mir schon mein erster Besuch dort klar<br />

gemacht. Die Sorgfalt, mit der er es eingerichtet hatte, sprach dafür,<br />

selbst wenn die Ordnung schliesslich aus den Fugen geraten war. Es<br />

musste ihm ein Studiolo vorgeschwebt haben. Ein Hieronymus-Gehäuse,<br />

in dem er auch ruhen, nachdenken, notfalls sogar übernachten,<br />

handwerklich arbeiten, lesen, musizieren konnte.<br />

Wie soll man mit einem solchen Atelier, mit einer Fülle, die Züge<br />

einer theatralischen Inszenierung trägt, angemessen umgehen? Man<br />

kann hier nur Fehler machen. Mit ein Grund dafür ist der Kultstatus,<br />

den Ateliers im 20. Jahrhundert erreicht haben. Sie sind Pilgerorte für<br />

Kunstfans, werden insbesondere von den Medien als geheimnisvolle<br />

Maschinenräume der Kreativität dargestellt. Mit der Geschichte der<br />

Stilisierung des Ateliers zu einem mythisch aufgeladenen Raum liesse<br />

sich ein substantielles Unterkapitel der modernen Kunstgeschichte<br />

schreiben. Üppiges Material hierzu liefert das Textgenre des Atelierbesuchs<br />

durch gewogene Zeitzeugen, das parallel zur modernen Kunst<br />

entstanden ist. Klassiker des Genres sind hier etwa Jean Genets Text<br />

«L’Atelier d’Alberto Giacometti» (zusammen mit Ernst <strong>Scheidegger</strong>s<br />

Fotografien des Pariser Ateliers von Giacometti 1958/1963 erschienen)<br />

5 Exemplarisch: Pierre-Michel Menger, Le travail créateur, Paris 2009.<br />

oder David Sylvesters legendäre Gespräche mit Francis Bacon.

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