2022
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Wallis
«Es gibt wohl
nicht viele Chefs,
bei denen sich
Angestellte
bedanken, dass sie
arbeiten dürfen»
Das Atelier Manus feiert sein 50-Jahr-Jubiläum. Was mit einigen
wenigen Sockenstrickerinnen für die Schweizer Armee begonnen
hat, ist heute ein Betrieb mit 190 Mitarbeitenden. Geschäftsführer
Christian Escher wirft einen Blick zurück und voraus.
Mitten im Wohngebiet: Das Grundstück am Standort der Atelier-Manus-Werkstätten am Jesuitenweg ist inzwischen vollständig ausgenutzt.
Manuela Pfaffen
Christian Escher, Sie sind seit
2015 Geschäftsführer des Atelier
Manus. Davor war es Ihr
Vater Stefan Escher. Ist das
Atelier Manus eine Herzensangelegenheit?
Ja, es ist schon eine Herzensangelegenheit.
Seit ich mich erinnern
kann, hat sich mein Vater
für das Atelier Manus engagiert.
Es war zwar nie mein erklärtes
Ziel, in seine Fussstapfen zu treten,
aber ich habe meine Tätigkeit
hier noch keinen einzigen Tag
bereut.
Was beschäftigt Sie als
Geschäftsführer besonders?
Das Atelier Manus ist inzwischen
sehr gross. Wir haben unseren
Umsatz in den letzten 15
Jahren verdoppelt. Wir betreiben
zwölf verschiedene Abteilungen.
Das sind quasi zwölf kleine
Firmen unter einem Dach.
Es ist spannend, aber auch eine
grosse Herausforderung, sicherzustellen,
dass in allen Abteilungen
ideale Rahmenbedingungen
herrschen. Das ist das eine.
Und das andere?
Wer hierherkommt, hat oft einen
schwierigen Weg hinter sich.
Es gibt persönliche Schicksale,
die einen sehr betroffen machen
und teilweise auch nach der Arbeit
noch beschäftigen. Andererseits
gibt es wohl nicht allzu viele
andere Geschäftsführer und
Chefs im Oberwallis, bei denen
sich Angestellte nach den Betriebsferien
bedanken, dass sie
wieder arbeiten dürfen.
Welche konkreten Ziele verfolgt
die Stiftung Atelier Manus?
Ich würde es aktuell so definieren:
Wir bieten Menschen, die keinen
oder einen erschwerten Zugang
zum allgemeinen Arbeitsmarkt
haben, ein wertschätzendes
Umfeld, eine berufliche Ausbildung
und eine Perspektive.
Braucht man Arbeit, um ein
sinnhaftes Leben zu führen?
Davon bin ich überzeugt. Ich
habe ein eindrückliches Beispiel
aus der Corona-Zeit dafür: Als
der Bundesrat empfohlen hat,
wann immer möglich daheimzubleiben,
haben wir es unseren
Mitarbeitenden freigestellt,
ob sie zur Arbeit kommen oder
bei 100 Prozent Lohnfortzahlung
daheimbleiben wollen. 80
Prozent der Leute kamen in den
Betrieb. Und wer zu Hause geblieben
ist, hat das vor allem
aus gesundheitlichen Gründen
getan. Das zeigt mir, dass Arbeit
mehr ist als der Lohn, den man
Ende Monat erhält. Hierzulande
wird man ja zudem stark über
die Arbeit definiert. Deshalb reden
wir auch nicht von Klienten,
sondern von Mitarbeitenden.
Wenn Ihre Mitarbeitenden erzählen,
dass sie im Atelier Manus
arbeiten, was assoziieren
die Leute Ihrer Meinung nach
damit?
Ich denke, man nimmt uns als
wirtschaftlich orientiertes Unternehmen
mit sozialem Hintergrund
wahr. Wir können fast alles,
wir brauchen einfach mehr
Zeit dafür oder machen es auf
einen anderen Weg. Aber alle
Dienstleistungen und Produkte,
die unser Haus verlassen,
werden verkauft. Damit sind
wir schon sehr nahe am allgemeinen
Arbeitsmarkt. Die Qualität
und der Preis stimmen,
denn keiner kauft aus purem
sozialen Gedanken bei uns. So
haben wir uns auch einen respektablen
Selbstfinanzierungsgrad
erarbeitet.
Seid ihr ein Konkurrent für
das lokale Gewerbe?
Überhaupt nicht. 85 Prozent
unserer Produkte und unserer
Dienstleistungen stehen in keiner
direkten Konkurrenzsituation
zu anderen. Für mich gibt es ausserdem
keinen ersten und zweiten
Arbeitsmarkt. Es gibt nur einen
und wir alle – insbesondere
unsere Mitarbeitenden – haben
das Recht, darauf aufzutreten.
Wo haben wir im Umgang mit
Menschen mit Behinderungen
noch Luft nach oben?
Ein grosses Schlagwort ist sicher
die Wahlfreiheit. Es gibt Mitarbeitende
bei uns, die haben keine
Wahlfreiheit darüber, wo sie
wohnen, arbeiten oder in welchem
Verein sie mitmachen. Ein
anderes Beispiel: Wenn eine Person
mit Mobilitätseinschränkun-
gen in ihrem Rollstuhl eine Zugreise
unternehmen will, kann sie
nicht mit jedem Zug mitfahren.
Sie muss sich teilweise vorher
anmelden, um in den Zug gehievt
zu werden. Da hat sie keine
Wahlfreiheit und wird von den
Umständen behindert. Es wäre
schön, wenn Menschen mit Behinderungen
ein selbstverständlicher
Teil des gesellschaftlichen
Lebens wären.
«Arbeit ist
mehr als der
Lohn, den
man Ende
Monat erhält.»
Christian Escher
Geschäftsführer Atelier Manus
Sie sagten in einem Interview,
Ausbildung und Jobcoaching
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
werde immer wichtiger.
Inwiefern?
Es ist wann immer möglich unser
Ziel, die Mitarbeitenden in
den allgemeinen Arbeitsmarkt
zu integrieren. Das geschieht
auch regelmässig. Mehrere unserer
Leute arbeiten Voll- oder
Teilzeit in anderen Unterneh-
men, zum Beispiel bei der Post.
In einem ersten Schritt bleiben
sie bei uns angestellt. Sie
und das Unternehmen werden
von uns professionell begleitet.
Wir als Atelier Manus stellen
dem betreffenden Unternehmen
Ende Monat die Leistung
dieser Mitarbeitenden in Rechnung.
Wenn sich das Unternehmen
und unser Mitarbeitender
sicher genug fühlen, kann die
Christian Escher ist seit 2015 Geschäftsführer des Atelier Manus.
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