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Klaus Hock | Claudia Jahnel | Klaus-Dieter Kaiser (Hrsg.): Mission in Film und Literatur (Leseprobe)

Mission hat in Film und Literatur weiterhin Konjunktur – sei es explizit wie in Scorseses »Silence« (2016) oder in der Netflix-Neuverfilmung von »Black Narcissus« (2020), sei es en passant wie im »Kanonenboot am Yangtse-Kiang« (1966) oder implizit wie in Herzogs »Der Nomade – Auf den Spuren von Bruce Chatwin«. Die Beiträge dieses Bandes befassen sich mit der Inszenierung von Mission in Romanen und Filmen. Dabei zeigen sich verbindende Motive wie etwa das der Grenzüberschreitung, der Begegnung mit dem »Fremden«, des Scheiterns oder der Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Macht. Gleichzeitig bleibt in der Spannung von Fiktion und Faktizität, Story und History das Verständnis von Mission offen und entzieht sich klassischen historischen, religionswissenschaftlichen und interkulturell-theologischen Deutungsmustern.

Mission hat in Film und Literatur weiterhin Konjunktur – sei es explizit wie in Scorseses »Silence« (2016) oder in der Netflix-Neuverfilmung von »Black Narcissus« (2020), sei es en passant wie im »Kanonenboot am Yangtse-Kiang« (1966) oder implizit wie in Herzogs »Der Nomade – Auf den Spuren von Bruce Chatwin«.
Die Beiträge dieses Bandes befassen sich mit der Inszenierung von Mission in Romanen und Filmen. Dabei zeigen sich verbindende Motive wie etwa das der Grenzüberschreitung, der Begegnung mit dem »Fremden«, des Scheiterns oder der Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Macht. Gleichzeitig bleibt in der Spannung von Fiktion und Faktizität, Story und History das Verständnis von Mission offen und entzieht sich klassischen historischen, religionswissenschaftlichen und interkulturell-theologischen Deutungsmustern.

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32 Andreas Heuser<br />

existiert nur noch e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige, die GOD BOX – alle übrigen zerstört Chatw<strong>in</strong> noch<br />

vor se<strong>in</strong>em Tod selbst.<br />

Sie hat die Form e<strong>in</strong>er größeren Zigarrenkiste <strong>und</strong> trägt die Aufschrift GOD<br />

BOX <strong>in</strong> fettgedruckten, weißen Großbuchstaben. Aus dem Innern des hölzernen<br />

Kästchens, entfernt man die obere Abdeckplatte, blickt e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>e skurrile Mischung<br />

aus tierischen Überresten <strong>und</strong> fetischartigen Objekten entgegen. Die Collage<br />

ist zusammengestellt h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em Schaufenster, e<strong>in</strong>er hellen <strong>und</strong> verschiebbaren<br />

dünnen Glasplatte. Die h<strong>in</strong>tere Innenseite des Kästchens ist <strong>in</strong> blassgrüne<br />

Farbe e<strong>in</strong>getaucht, <strong>in</strong> die weiße l<strong>in</strong>ienförmige Muster e<strong>in</strong>geritzt s<strong>in</strong>d. Die <strong>in</strong>neren<br />

vier Seitenteile s<strong>in</strong>d mit Wellpappe ausgedeckt, stellenweise dürftig ausgekleidet<br />

mit blauen Pfauenfedern. E<strong>in</strong>e Gruppe westafrikanischer »Juju«-Figuren oder<br />

auch sog. »Fetische«, denen magische Kräfte nachgesagt werden, f<strong>in</strong>det sich gegen<br />

die Innenwände aus Pappe ausgerichtet. Es s<strong>in</strong>d hölzerne, zumeist aber tierische<br />

Objekte. Darunter f<strong>in</strong>det sich die Ohrtrommel e<strong>in</strong>es Löwen, e<strong>in</strong> getrocknetes<br />

Chamäleon, die Feder e<strong>in</strong>es Gu<strong>in</strong>eahuhns; zwei Vogelkrallen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Indigotuch<br />

e<strong>in</strong>geschlagen <strong>und</strong> es gibt Reste e<strong>in</strong>es nicht identifizierten <strong>in</strong>neren tierischen Organs.<br />

Von dem Schädel e<strong>in</strong>es Äffchens fehlt heute jede Spur. 14<br />

Die GOD BOX Chatw<strong>in</strong>s ist e<strong>in</strong>e bricolage, oder Bastelei. Nach Lévi-Strauss<br />

lässt e<strong>in</strong>e bricolage e<strong>in</strong> vielschichtiges Netz an Bedeutung <strong>und</strong> Bezügen zu. Es<br />

geht um e<strong>in</strong>e Art Dialog mit e<strong>in</strong>em F<strong>und</strong>us von Materialien, die <strong>in</strong> ihrer Verschiedenheit<br />

nicht von vornehere<strong>in</strong> zweckbestimmt s<strong>in</strong>d, die aber durch e<strong>in</strong>e Zusammenstellung<br />

an Aussagekraft gew<strong>in</strong>nen können. Lévi-Strauss unterscheidet e<strong>in</strong>e<br />

materielle <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e geistige bricolage. Die materielle Bastelei stellt mit beliebig<br />

vorgef<strong>und</strong>enen Materialen neue Ordnungen her, die <strong>in</strong>tellektuelle bricolage überführt<br />

kont<strong>in</strong>gente diskursive Fragmente <strong>in</strong> e<strong>in</strong> S<strong>in</strong>nkonstrukt, von Lévi-Strauss<br />

als das »wilde« oder auch mythische Denken bezeichnet. 15 Auch die GOD BOX<br />

setzt e<strong>in</strong>e Denkbewegung frei. Die Gottesbox be<strong>in</strong>haltet e<strong>in</strong>e rätselhaft komponierte<br />

Schaubühne. Die Aufschrift der GOD BOX <strong>in</strong> großen, klaren Lettern verrät<br />

Chatw<strong>in</strong>s Suchbegriff, um e<strong>in</strong>en F<strong>und</strong>us an wahllos selektierten Materialien zu<br />

korrelieren. Doch täuscht sie e<strong>in</strong>e trügerische Gewissheit vor: E<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>n konstituierende<br />

Bedeutung der GOD BOX liegt eben nicht auf der Hand. Ihr offenbar zufällig<br />

angeordneter Inhalt, alle Gegenstände <strong>und</strong> natürlichen Überreste, ergeben<br />

für sich genommen ke<strong>in</strong>e Bedeutung. Ausgestellt auf engstem Raum, widersetzen<br />

sich die E<strong>in</strong>zelbauste<strong>in</strong>e der begrifflichen Taxonomie der Aufschrift. E<strong>in</strong>e Neukonstruktion<br />

von S<strong>in</strong>n erklärt sich weder aus der Addition der E<strong>in</strong>zelteile noch<br />

aus der Betrachtung des Ensembles, denn die Gotteskennung, die die GOD BOX<br />

suggeriert, ist kaum objektivierbar <strong>in</strong> Worte zu fassen. Die trennende Glasplatte<br />

lässt sich als Sichtfenster <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e fremdartige Welt, die der Gottessammler Chat-<br />

14<br />

E<strong>in</strong>e doppelseitige Abbildung der GOD BOX f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> David K<strong>in</strong>g/Francis<br />

Wyndham (Eds.), Bruce Chatw<strong>in</strong>: Photographs and Notebooks, London/Bas<strong>in</strong>gstoke 1996,<br />

16–17. Fälschlich wird im Begleittext das Chamäleon, mit der Fähigkeit, sich im Raum<br />

zugleich nach vorne <strong>und</strong> nach h<strong>in</strong>ten auszurichten, als Gecko identifiziert, der diese<br />

Fähigkeit der Multiperspektivität nicht hat.<br />

15<br />

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, 1968, 31.

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