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THEMA <strong>ERF</strong> MEDIEN MAGAZIN ı 11.<strong>2023</strong> ı 7 Heimat haben, als hätte man sie nicht VON DANIEL ZINDEL Auf dem Weg zu unserem Bahnhof gibt es ein Haus, unter dessen Giebel folgende Inschrift angebracht ist: «Berge schützen die Heimat – 1943.» Ich hatte als Kind eben lesen gelernt und verschlang darum alles, was irgendwie mit Buchstaben zu tun hatte. So fand auch dieser Hausspruch Eingang in mein Bewusstsein. Mit sieben Jahren begegnete ich also dem Begriff «Heimat», den ich intuitiv mit «daheim» in Verbindung brachte, zum ersten Mal bewusst. Die Verknüpfung von «Heimat» mit den Bergen erschien rungsbunkern tief im Innern des Gotthardmassivs seine Regierungsarbeit weitergeführt hätte. Unser Geschichtslehrer glühte vor Eifer und Patriotismus, als er uns diesen strategischen Rückzugsplan ins «Reduit» mir logisch, erhoben sich doch an unserem Wohnort rechts und links des Alpenrheins viele Berggipfel, auf die uns unser Vater zu führen begann. Aber warum stand da auch noch etwas von «schützen»? Das blieb mir HEIMAT ERMÖGLICHT MIR EIN ENTSPANNTES, BERECHEN- BARES LEBEN, BEI DEM ICH WEISS, WER ICH BIN, WO ICH BIN UND WORAN ICH BIN. der Innerschweiz schilderte. «Berge schützen die Heimat – 1943.» Alles klar. Heimatbilder Dieser heimatliche Bergmythos wurde rätselhaft. Auch die Jahreszahl 1943 sagte mir nichts. War in diesem Jahr das Haus erbaut worden? Zehn Jahre später, als ich als Gymnasiast von unserem Bahnhof nach Hause lief, fiel mein Blick wieder einmal wie zufällig auf diesen Hausspruch. Diesmal blieb ich an der Jahreszahl 1943 hängen. Wir nahmen zu jener Zeit gerade den Zweiten Weltkrieg durch. Plötzlich begriff ich: 1943 war nicht nur das Baujahr dieses Hauses, es war auch das Jahr, in welchem der neutrale Kleinstaat Schweiz militärisch höchst bedroht war. Aha, deshalb war der Wunsch nach Schutz und Sicherheit fast beschwörend als Motto an die Fassade gepinselt worden. Unser Geschichtslehrer hatte uns eben eindrücklich geschildert, wie unsere Grossväter im Aktivdienst die Grenzen gesichert hatten und dass darum die Schweiz dank ihres Wehrwillens im Besonderen und der politischen Neutralität im Allgemeinen vom Krieg verschont geblieben war. Und: Wäre sie tatsächlich angegriffen worden, hätte sich die Armee in die Alpen zurückgezogen, wo der Bundesrat in den Füh- viel später entzaubert. Es waren nicht einfach die Berge, welche damals unsere Heimat schützten. Neben dem Wehrwillen meiner Grossväter und unserer Neutralität hatte auch die taktisch geschickte, heimliche Kooperation der Landesregierung mit den Achsenmächten ihre schützende Wirkung entfaltet. Nicht nur die Berge schützten, sondern auch der vorauseilende Gehorsam der Schweizer Behörden, die Grenzen für jüdische Flüchtlinge dichtzumachen, weil ja angeblich das Boot voll war und man den mächtigen germanischen Nachbarn nicht vergraulen wollte. Der Begriff «Heimat» ist wie eine grosse Lego-Platte, auf der man alles bauen kann, was einem gefällt. Man kann sein Geschichtsbild, seine Zukunftsangst und seine Gegenwartsanalyse darauf konstruieren. Wir könnten jetzt miteinander zu ringen beginnen, welches Heimatverständnis denn das richtige sei, so wie die Theologen über Gottesbilder streiten. Fruchtbarer scheint mir zunächst die Frage: Welches Heimatbild tragen wir im Herzen?