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Klaus Hock | Claudia Jahnel | Klaus-Dieter Kaiser (Hrsg.): Mission in Film und Literatur (Leseprobe)

Erzählungen von Grenzüberschreitungen sind in Literatur und Film nicht selten. Sie sind aber geradezu unvermeidbar, wenn es um Mission geht. Das gilt sowohl für Literatur und Filme, die Mission in einem engeren Sinn verstehen, wie es etwa in »End of the Spear« von Jim Hanon, Abdulrazak Gurnahs »Nachleben« oder in dokumentarischen »Missionsfilmen« verschiedener Missionsgesellschaften der Fall ist. Grenzüberschreitungen sind aber auch zentral in Büchern und Filmen, die ein eher weites Verständnis von Mission konstruieren wie etwa »Dune« von Frank Herbert bzw. David Lynch oder Denis Villeneuve oder »Karte und Gebiet« von Michel Houellebecq. Die Beiträge analysieren eine Fülle literarischer und filmischer Beispiele, in denen Mission implizit oder explizit thematisch wird. Aus verschiedenen Disziplinen werden hegemoniale Dynamiken der Grenzziehungen und Identitätsbestimmungen, aber auch Ambivalenzen in der Begegnung mit »dem anderen« aufgezeigt. Zugleich wird nach dem Erkenntnisgewinn dieser Filme und Romane für die gegenwärtige Missionstheologie gefragt.

Erzählungen von Grenzüberschreitungen sind in Literatur und Film nicht selten. Sie sind aber geradezu unvermeidbar, wenn es um Mission geht. Das gilt sowohl für Literatur und Filme, die Mission in einem engeren Sinn verstehen, wie es etwa in »End of the Spear« von Jim Hanon, Abdulrazak Gurnahs »Nachleben« oder in dokumentarischen »Missionsfilmen« verschiedener Missionsgesellschaften der Fall ist. Grenzüberschreitungen sind aber auch zentral in Büchern und Filmen, die ein eher weites Verständnis von Mission konstruieren wie etwa »Dune« von Frank Herbert bzw. David Lynch oder Denis Villeneuve oder »Karte und Gebiet« von Michel Houellebecq.
Die Beiträge analysieren eine Fülle literarischer und filmischer Beispiele, in denen Mission implizit oder explizit thematisch wird. Aus verschiedenen Disziplinen werden hegemoniale Dynamiken der Grenzziehungen und Identitätsbestimmungen, aber auch Ambivalenzen in der Begegnung mit »dem anderen« aufgezeigt. Zugleich wird nach dem Erkenntnisgewinn dieser Filme und Romane für die gegenwärtige Missionstheologie gefragt.

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Klaus Hock | Claudia Jahnel

Klaus-Dieter Kaiser (Hrsg.)

Mission in Film

und Literatur

Band 2

Grenzüberschreitungen:

Plots – Akteur:innen – Kontexte

Veröffentlichungen der

Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie



Inhaltsverzeichnis

Klaus Hock, Claudia Jahnel und Klaus-Dieter Kaiser

Einleitung ...................................................................................................................... 7

Georg Seeßlen

Die Grenze ................................................................................................................... 17

Mission im Film und in der Literatur –

historische und systematische Zugänge

Andreas Nehring

Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen: Mission und

Interkulturelle Theologie auf der Grenze ........................................................... 29

Torsten Voß

Missionare (und Missionierte) als liminale Figuren im Spannungsfeld

von Exotismus, Katholizismus und Kolonialismus: Stationen

filmischer Missionsnarrative ................................................................................ 49

Julia Helmke

Mission als blinder Fleck in der Evangelischen Filmarbeit? Eine

exemplarische Spurensuche durch 75 Jahre Verhältnisbestimmung

von Kirche und Kino / Theologie und Film ......................................................... 67

Genres der Grenzüberschreitung

Diana Lunkwitz

Mission – Macht – Humor: Das Thema ›Mission‹ als Machtkritik in der

Filmkomödie ............................................................................................................... 79

Stefan Sonntagbauer

Das Motiv des Missionary Backlash im Horror - Dracula, Cannibal

Holocaust und Midsommar ..................................................................................... 97

Michael Biehl

Grenzüberschreitungen in Frank Herberts Roman Dune und in dessen

Verfilmungen ............................................................................................................ 109

Missionar:innen als Grenzgänger:innen

Elmar Spohn

Der christliche Erfolgsfilm End of the Spear: Postkoloniale

Erkundungen und Analysen ................................................................................. 123

Klaus-Dieter Kaiser

Grenzüberschreitung, Ausgrenzung und Identitätskonstruktionen:

Color Line und Mission bei Abdulra-zak Gurnah, Eva Knopf und

Ursula Trüper ........................................................................................................... 135


6 Inhaltsverzeichnis

Jonas Licht

Deutsche Missionar:innen und Missionsmanager:innen und die Color

Line: Eine kurze Zeitreise durch fast 200 Jahre Missions- und

Literaturgeschichte ................................................................................................. 149

Noëlle Miller

Es weihnachtet sehr! Die Trinität und die Funktion des (Künstler)Sohnes

in Michel Houellebecqs Karte und Gebiet ......................................................... 161

Grenzaushandlungen zwischen dem Eigenen und dem Anderen – Beispiele

aus afrikanischen Kontexten

Stefanie Burkhardt

»… and we have fallen apart«: Vom Zerfallen, Verschieben und

Aushandeln von Grenzen in Chinua Achebes Things Fall Apart ............... 173

Judith Bachmann

Wole Soyinka (1988): Aké – Jahre der Kindheit. Erzählen von Grenzen

am Beispiel Dorf und Geschlecht im Kontext von Mission und

Kolonisierung ........................................................................................................... 185

Claudia Jahnel

»Ich betrachtete meinen Einzug in die Mission gern als

Wiedergeburt«: Mission als Methode der Dezentrierung europäischer

Deutungsmacht in Tsitsi Dangarembgas Nervous Condition ...................... 195

Klaus Hock

Mission aus dem Busch? Die Geisterwelt als Grenzagentur ....................... 207

Giresse Macaire Teikeu

Missionsliteratur im Spannungsverhältnis zwischen kolonialer und

religiöser Wertschätzung: Hermann Skolasters Im Banne der Ngil .......... 221

Filme als Medien der Mission

Marie Nadège Tsogo Momo

Christus im Urwald, ein Kameruner Missionsfilm (1931): Analysis

of German Missionary and Colonial Propaganda Through Images .......... 233

Stefan van der Hoek

Nada a perder – Nichts zu verlieren – oder: Narrative der

Grenzüberschreitungen und Missionserzählungen in Biopics

eines brasilianischen Missionars ....................................................................... 245

Oulia Makkonen

Mission- and Missionary Reels in the History of Postcolonial

African Film .............................................................................................................. 259

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ........................................................ 271


Klaus Hock, Claudia Jahnel und Klaus-Dieter Kaiser

Einleitung

Erzählungen von Grenzüberschreitungen sind in Literatur und Film nicht selten.

Sie sind aber geradezu unvermeidbar, wenn es um Mission geht. Das gilt für Werke,

die Mission in einem engeren Sinn verstehen, wie es etwa in Martin Scorceses

Silence (2016) und der Buchvorlage von Shūsaku Endō (1966) oder in The Mission

von Roland Joffé (1986) der Fall ist. Doch Grenzüberschreitungen sind auch zentral

in Büchern und Filmen, die ein eher weites Verständnis von Mission konstruieren:

In Dune beispielsweise fließen fluide, von konkreten Religionsformationen abstrahierende,

aber doch religionsaffine Elemente zusammen; in Avatar geht es – unter

anderem – um eine ökologische vs. eine ökonomische ›Mission‹.

Im Frühjahr 2022 hatte sich die Fachgruppe der Sektion Religionswissenschaft

und Interkulturelle Theologie in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für

Theologie auf ihrer Tagung in Neuendettelsau mit einem sehr breiten Fragespektrum

befasst. Die Beiträge dazu wurden in einem ersten Band zum Thema

»Mission in Film und Literatur« unter der Titelergänzung »Heuristische Annäherung:

Kontexte – Akteur:innen – Ambivalenzen« veröffentlicht. Ein Jahr

später fand innerhalb desselben institutionellen Rahmens vom 30. März bis 1.

April 2023 in Wittenberg eine Anschlusstagung statt, die den Fokus diesmal auf

den Aspekt der Grenzüberschreitungen richten sollte: Wer überschreitet welche

Grenzen? Wessen Grenzen werden wie überschritten? Wie und durch wen

werden diese Grenzen überhaupt definiert – wer hat hier die Deutungsmacht?

Welche Praktiken (Rituale, Konversionen …) sind grenzüberschreitend? Wie beschreibt/erzählt

der/die Autor:in oder Regisseur:in aus der Außenperspektive die

Grenze und Grenzüberschreitungen? Inwiefern lassen sich Grenzüberschreitungen

ausmachen, die für Missionserzählungen spezifisch sind? Wie wirken die

Grenzüberschreitungen in den Genres (etwa von Buch zu Film oder von Graphic

Novel zu Serie) mit erzählten Grenzüberschreitungen zusammen? – Damit sollte

das Thema weiter vertieft und differenziert werden.

Die hier nun im einem zweiten Band unter der Titelergänzung »Grenzüberscheitungen:

Plots – Akteur:innen – Kontexte« veröffentlichten Beiträge spiegeln

zunächst das nochmals erweiterte Spektrum von Disziplinen und Diskursen

wider, die mit dem Thema »Mission in Film und Literatur« befasst sind. Trotz

dieser Verbreiterung ließ sich diesmal doch eine gewisse Strukturierung der eingegangenen

Texte vornehmen, die auch im Aufbau dieses Bandes abgebildet ist.

Jede Grenzüberschreitung hat etwas Missionarisches. Der eröffnende Beitrag von

Georg Seeßlen, »Die Grenze«, zeichnet die Frage nach der Bedeutung der Grenze

in der missionarischen Erzählung in die grundsätzlichen und höchst ambiguen


8 Klaus Hock, Claudia Jahnel und Klaus-Dieter Kaiser

Erfahrungen der Grenze und der Grenzüberschreitung ein, die das Menschsein

von Lebensbeginn bis Lebensende prägen und im wahrsten Sinne des Wortes

definieren – von seinen Grenzen her festlegen. Schon der Körper markiert eine

Grenze, die von gegensätzlichen Ängsten begleitet wird: einerseits dem bedrängenden

Gefühl, in den Körper eingesperrt zu sein, andererseits der bangen Sorge,

dass die Grenzen nicht halten. Was liegt jenseits der Grenze? Welche Arten der

Grenzüberschreitung gibt es und in welchem Dienst geschieht die Grenzüberschreitung?

Es gehört zu den Paradoxien der Grenze, dass sie sich nicht be-grenzen,

de-finieren lässt. Die missionarische Grenzüberschreitung ist davon nicht

ausgenommen. Sie zeichnet sich aber vielleicht, so regt Seeßlen an, dadurch aus,

dass sie die Widersprüchlichkeit der Grenze ausdrückt: »Sie geht gewissermaßen

ins Jenseits, um ihm die Jenseitigkeit zu nehmen, aber sie kann gar nicht anders,

als sich an dieser Jenseitigkeit auch zu infizieren.«

Die Beiträge des ersten Teils unter dem Titel »Mission im Film und in der Literatur

– historische und systematische Zugänge« führen ein in grundsätzliche

Fragen zum Verständnis der Grenze aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen

und analysieren die Bedeutungszuweisungen, die sich mit der Thematisierung

von Mission verbinden – bzw. das vollständige Fehlen der Thematisierung

von Mission.

Grenzen und Grenzüberschreitungen sind konstitutiv für eine kulturwissenschaftlich

fundierte Interkulturelle Theologie. Der Beitrag von Andreas Nehring,

»Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen – Mission und Interkulturelle

Theologie auf der Grenze«, koppelt die vielfältigen imaginativen Inszenierungen

der Grenze und der Grenzverschiebungen in Film und Literatur zurück an kolonial-

und missionshistorische Entwicklungen, die es mit Hilfe diskurstheoretischer

und postkolonialer Zugänge zu analysieren gelte. Die Thematisierung von Mission

in der Kunst – wie in der Interkulturellen Theologie – ist daher immer politisch

und interventionistisch. In beiden Fällen verweist die Debatte auf machtvolle

Grenzbegegnungen, Dynamiken der Marginalisierung und der Neuerfindung

von Identitäten und auf das Aushandeln von Gegensätzen und Gemeinsamkeiten

im »Third Space« – auch in den hybriden, globalen Christentümern.

Ausgehend von Francois-René de Chateaubriands romantischer Erzählung

Atala (1801) und der Inzenierung der vom hybriden Konfliktmodell zwischen

christlicher und indianischer Kultur determinierten Titelfigur einer zum Christentum

konvertierten Indianerin beleuchtet Torsten Voß in seinem Beitrag »Missionare

(und Missionierte) als liminale Figuren im Spannungsfeld von Exotismus,

Katholizismus und Kolonialismus« verschiedene filmische Repräsentationen des

Missionsnarrativs. Im Vergleich von Darstellungen der Mission in Roland Joffés

Mission (USA 1986), Bruce Beresfords Black Robe – am Fluß der Irokesen (Kanada/Australien

1991) und Luis Alberto Lamatas Jericó (Venezuela 1991) geht

der Beitrag der Frage nach, worin die Affinität des Motivs des »bon sauvage«

in der romantischen Erzählung Chateaubriands und der erwähnten Filme liegt.

Die besondere Anziehungskraft, die die erzählten und verfilmten »heiligen Experimente«

(Otto Rommel) der Mission ausüben, liegt, so resümiert Voß, in der


Einleitung 9

»Krisenhaftigkeit des Narrativs« und damit im Moment des Tragischen und des

Scheiterns.

»Mission als blinder Fleck in der evangelischen Filmarbeit? Eine exemplarische

Spurensuche durch 75 Jahre Verhältnisbestimmung von Kirche und

Kino / Theologie und Film« ist der Beitrag von Julia Helmke überschrieben. Der

kursorische Durchgang mündet in der Feststellung, dass gerade die Thematisierung

von Grenzen und Grenzüberschreitungen oder Grenzöffnungen von besonderer

filmtheologischer Relevanz sind. Das Thema Mission und Film stellt allerdings

momentan noch ein beträchtliches Desiderat dar und verlangt dringend

nach vertiefter filmwissenschaftlicher sowie theologischer Analyse und Reflexion.

Die Beiträge des zweiten Teils »Genres der Grenzüberschreitung« konzentrieren

sich auf die Genres des Actionfilms, des Comedy-Films, des Horrorfilms und

des Science-Fiction-Romans und -Films.

Diana Lunkwitz fragt in ihrem Beitrag »Die lieben Padres wollen Kohle haben

von Keule Eminenz!« nach dem Ziel humoristischer Darstellungen von christlicher

Mission im Film. Ihre Analyse der Filme Porgi l’altra guancia (Italien/Frankreich

1974), The Missionary (Großbritannien 1982) und The Boondock Saints

(Kanada/USA 1999 / 2009) zeigt, dass sich die humoristische Kritik nicht auf

christliche Institutionen per se konzentriert, sondern auf spezifische hierarchische

Machtverhältnisse innerhalb der von den Filmen thematisierten Kontexten.

Diese Einsicht bietet Anknüpfungspunkte an empirische und historiographische

Arbeiten zum Thema Mission, Medien, Gesellschaft und Agency. Humor verweist

als machtkritische Strategie des Widerstands auf Resilienzen und Ambivalenzen

in konkreten kontextuellen Systemen, eröffnet aber auch interkulturelle und intergenerationale

Kommunikationsräume zur Thematisierung von gesellschaftlichen

Missständen.

Der Horrorfilm beschäftigt sich seit jeher mit Grenzüberschreitungen – sei

es im Sinne der unheimlichen Usurpation der Gegenwart durch die Vergangenheit

(der Lebenden durch die Toten), im Sinne von grenzwertigen Existenzen, die

an der sogenannten Normalität nur als schreckliche Störungen teilnehmen (Das

Monster als Halbmensch, der deformierte Verbrecher), oder sei es ganz einfach

im Sinne der räumlichen Entgrenzung zwischen Realität und Phantasma (das

gotische Labyrinth oder die bösen Träume, die Wirklichkeit werden). In seinem

Beitrag »Das Motiv des Missionary Backlash im Horror – Dracula, Cannibal Holocaust

und Midsommar« beschäftigt sich Stefan Sonntagbauer mit Filmen aus

dem Sub-Genre des Horrorfilms, die von einem Scheitern einer transkulturellen

Mission im weitesten Sinne handeln. Der Horror stellt hier zur Disposition, was

geschieht, wenn sich die stabilen Dominanzbeziehungen zwischen den Kulturen

(zivilisiert – primitiv, katholisch – pagan, technisch – natürlich) als reine Projektionen

erweisen, die auf einer grundlegenden Ignoranz gegenüber »dem Anderen«

oder »den Anderen« basiert. Sonntagbauer zeigt, wie Horror klassische

Eroberungsnarrative an ihre Grenzen bringt – und weit darüber hinaus.


10 Klaus Hock, Claudia Jahnel und Klaus-Dieter Kaiser

Frank Herberts Dune-Zyklus entstand in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die

politischen, gesellschaftlichen und religiösen Landschaften jener Zeit beeinflussen

die Erzählbögen und insbesondere die Darstellungen der Akteure innerhalb

der Welt von Dune deutlich. 1984 versuchten sich dann David Lynch, 2000 John

Harrison und 2021 Denis Villeneuve mit ihren Verfilmungen an einer visuellen

Interpretation von Dune. Alle diese Visualisierungen thematisieren unterschiedliche

Grenzziehungen in der Geschichte der Herrschaftskriege um den Wüstenplaneten

und bringen damit die politisch, sozial und religiös geprägte Sicht Herberts

mit den jeweiligen Grenzüberschreitungen ihrer eigenen Zeit in Dialog. Die

Messias-Gestalt des P. Atreides wandelt so ihr Gesicht genauso wie das personifizierte

Böse in Gestalt des W. Harkonnen. Das Motiv eines Jihad, welches in der

Verfilmung durch David Lynch zumindest in den Frauengestalten wie eine Referenz

auf die iranische Revolution daherkommt, findet sich in den Büchern Frank

Herberts ambivalenter. Die missionarische Arbeit des Ordens der Bene Gesserit,

die bei Lynch weitgehend vernachlässigt wird, spielt bei Villeneuve eine stark

herausgehobene Rolle. Die Frage nach der problematischen Herkunft einer weißen

Messias-Gestalt (»Die Stimme der Außenwelt«) kann postkolonial oder sozialkritisch

angefragt werden, wie es z. B. in Villeneuves Verfilmung bzw. Herberts

Buch geschah. Der Beitrag von Michael Biehl, »Grenzüberschreitungen in Frank

Herberts Roman Dune und in dessen Verfilmungen«, bietet eine vergleichende

Darstellung dieser zeitgenössischen Interpretationen eines theologisch hochinteressanten

Werkes und seiner künstlerischen Transformationen.

Im dritten Teil dieses Bandes werden unter dem Titel »Missionar:innen als

Grenzgänger:innen« im Kontext eines engen wie auch eines weiten Missionsbegriffs

die Akteur:innen von Grenzüberschreitungen anhand konkreter historischer

Ereignisse und deren fiktionaler Bearbeitung analysiert. Dabei werden

sowohl die Akteur:innen von Grenzziehungen in den Blick genommen wie auch

das bewusste Überschreiten von Grenzen thematisiert. Missionar:innen sind in

beiden Fällen als aktiv Beteiligte und als Reagierende und Betroffene der Grenzziehungen

und Grenzüberschreitungen wahrzunehmen.

In seinem Beitrag »Der christliche Erfolgsfilm End of the Spear – Postkoloniale

Erkundungen und Analysen« analysiert Elmar Spohn den mit über 20 Millionen

verkauften DVDs erfolgreichen Film End of the Spear von Jim Hanon (2005)

aus postkolonialer Perspektive. Mission als Grenzüberschreitung wird zwischen

Erfolg und Scheitern thematisiert. Der Film erzählt die reale Geschichte von fünf

amerikanischen christlichen Missionaren, die versuchten, die Ethnie der Waodani

im tropischen Regenwald im Osten Ecuadors zu evangelisieren. Sie wurden

dabei getötet. Den Witwen der Getöteten gelang es, die Waodani zum christlichen

Glauben zu bekehren. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des

Sohnes des getöteten Missionspiloten Nate Saint und mündet in dessen Vergebungsbereitschaft.

So werden die getöteten Missionare zu Märtyrern stilisiert.

Hintergrund der Erzählung ist eine Grenzüberschreitung. Im Fokus steht der

missglückte »Erstkontakt« zwischen den fünf wehrlos wirkenden weißen Missionaren

und den exotisch und martialisch dargestellten Waodani. In der Analyse


Einleitung 11

des Films werden die westliche, amerikanische sowie evangelikale Deutungsmacht

offengelegt, Zuschreibungen, Stereotypisierungen, Opferumkehr und cineastische

Klischees entlarvt. Koloniale Konstruktionen wirken so auch durch die

publikumswirksame Verfilmung fort.

In den folgenden beiden aufeinander bezogenen Beiträgen wird das Überschreiten

der Color Line durch Missionar:innen thematisiert.

In seinem Roman Nachleben aus dem Jahr 2020 erzählt der tansanisch-britische

Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger des Jahres 2021 Abdulrazak

Gurnah anhand von vier Protagonisten aus dem südöstlichen Afrika eine Geschichte

der Identitätssuche und Identitätsvergewisserung in den politischen,

kolonialen und rassistischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. Die

damit verbundenen Grenzüberschreitungen der literarischen Figuren sind auch

Überschreitungen der Color Line. Den historischen Hintergrund des Romans bildet

die tatsächliche Geschichte des Askari Mahjub, der Kindersoldat in Deutsch-

Ost-Afrika war und im KZ Sachsenhausen zu Tode kam. 2013 hat die Ethnologin,

Medienwissenschaftlerin und Filmemacherin Eva Knopf den Filmessay Majubs

Reise über das Überschreiten der Color Line anhand des Lebens von Mahjub Hussein/Husen

gedreht. Die Autorin und Journalistin Ursula Trüper wiederum beschreibt

in ihrem 2022 veröffentlichten Buch Zara oder das Streben nach Freiheit.

Eine koloniale Familiengeschichte in Schwarz-Weiß einen Aspekt der deutschen

Missionsgeschichte in Namibia. Johann Heinrich Schmelen, einer ihrer Vorfahren,

hat im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts als deutscher Missionar in Westafrika

die farbige Zara Hendrich geheiratet. Die Autorin beschreibt die Ambivalenzen

dieser die Color Line überschreitende Ehe zwischen ängstlicher Verleugnung

und Marginalisierung. Im Beitrag von Klaus-Dieter Kaiser, »Grenzüberschreitung,

Ausgrenzung und Identitätskonstruktionen. Color Line und Mission bei Abdulrazak

Gurnah, Eva Knopf und Ursula Trüper«, werden die unterschiedlichen

Überschreitungen der Color Line in ihren jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontexten

analysiert, nach den Interessen der jeweiligen Autor:innen gefragt und die

Verbindung zur Missionsgeschichte thematisiert.

Jonas Licht untersucht in seinem Beitrag »Deutsche Missionar:innen und

Missionsmanager:innen und die Color Line. Eine kurze Zeitreise durch fast 200

Jahre Missions- und Literaturgeschichte«, warum einige deutsche Missionare die

imaginierte Grenze der Color Line überschritten und Women of Color heirateten

und wie dies in der Missionstheologie und in der missionarischen Praxis diskutiert

wurde. Ausgehend von einem literarischen Disput aus dem Jahr 1930/31

zwischen dem Reiseschriftsteller Colon Ross und dem Missionsmanager Siegfried

Knak werden die unterschiedlichen Bewertungen einer solchen Grenzüberschreitung

in Deutschland in der vorkolonialen Zeit, während der Kolonialzeit, in der

von einem biologistischen Rassismus geprägten Zwischenkriegszeit und in der

Gegenwart analysiert. Dabei wird der Einfluss rassistischer und kolonialistischer

Weltanschauungen auf missionstheologische Ansätze und Debatten im Laufe

der letzten 200 Jahre deutlich. Denn im Laufe des missionsinternen Diskurses

um interracial-Ehen von Missionaren kam es zu einer Positionsverschiebung, sodass

diese Praxis an der Wende zum 20. Jahrhundert nahezu komplett tabuisiert



Georg Seeßlen

Die Grenze

Kaum ist man, wie man so sagt, »zur Welt gekommen«, stehen einem auch schon

drei große Aufgaben bevor. Die erste Aufgabe besteht darin, primäre Unterscheidungen

zu treffen: hell/dunkel, glatt/rau, essbar/nicht essbar, lustvoll/schmerzhaft

usw. Die zweite Aufgabe besteht darin zu verstehen, dass Personen und Dinge

Bezeichnungen haben. Die Bezeichnung für diesen wärmenden und schützenden

Körper ist Mama, die Bezeichnung für dieses runde Ding ist Ball und es gibt nicht

nur Apfelbrei, es gibt auch das Wort Apfelbrei. Die dritte vielleicht schwerste

Aufgabe von allen ist es zu erkennen, dass die Welt, in die ich gekommen bin,

nichts zur Verfügung stellt, was nicht in der einen oder der anderen Art begrenzt

ist. Am Beginn der schweren Aufgabe, die Welt durch Grenzen zu dimensionieren,

steht die Erkenntnis, dass mein eigener Körper eine Grenze ist. Ich bin nicht,

oder nicht mehr, mit dem Körper der Mutter verschmolzen, oder allgemeiner gesagt,

ich bin nicht mit der Welt, kurz: mit allem, verschmolzen. Im Gegenteil:

Die Trennung bedeutet, dass alles Empfinden, Schmerz, Lust, Erkenntnis, Frieden

oder Aufruhr an der Grenze geschieht, die mein Körper ist. Jede Empfindung,

jede Wahrnehmung, jede Erkenntnis lässt sich als Grenzerfahrung deuten und

jede Handlung als Versuch, Grenzen zu schließen oder zu öffnen, zu erweitern

oder zu verschieben. Doch es ist nicht nur so, dass wir die Grenzen aller Dinge

erkennen müssen, sondern es verhält sich, wie Deleuze und Guattari behaupten,

auch genau umgekehrt: Nur weil es Grenzen gibt, gibt es überhaupt das Erkennen

der Dinge. Entgrenzung ist also zugleich ein paradiesischer und ein höllischer

Zustand. Und das heißt, die Grenze ist ein prekärer Ort oder eher Un-Ort, Tabu

und Provokation. Geschichten – Storys – entstehen aus der Überschreitung von

Grennzen, Geschichte – history – entsteht aus der Veränderung von Grenzen.

Eine der ersten Reaktionen auf die Erfahrung der Grenze ist die Neugier auf

das, was jenseits liegt. Diesseits der Grenze ist das Reich der Sicherheit, jenseits

ist das Doppelwesen von Gefahr und Lust, das utopische oder das barbarische

Reich der Freiheit. Diesseits der Grenze ist die Gewissheit, jenseits die unendliche

Suggestion. Die erste Erfahrung der Grenze schon führt zur tragischen Dialektik.

Der Impuls, die Grenze zu schließen, um an ihr alles Fremde, Unklare,

Ungewisse abweisen zu können, und der Impuls, die Grenze zu überschreiten, ins

Neue, ins Freie, ins Andere zu gelangen – sie bedingen einander und führen zu

einer endlosen Arbeit an Regeln, Überwachungen, Ausnahmen. Lernen, erst als

Kind, ebenso aber auch als soziales System, als Gesellschaft oder Kultur, das bedeutet

eine Balance von Grenzen-Erkennen, Grenzen-Respektieren und Grenzen-

Überschreiten.


18 Georg Seeßlen

Nachdem ich die Grenzbeziehung zwischen Körper und Welt erkannt habe,

werde ich diese Grenze immer mehr zu kontrollieren lernen; ich will bestimmen,

was in diesen Körper hineinkommt und was und wie etwas diesen Körper wieder

verlässt. Bei beidem erkenne ich indes schon sehr früh, dass andere dort mitbestimmen.

Die Trennung von der Mutter oder von der Umwelt beschleunigt sich

wohl durch eben diese Erfahrung: Die Grenze, die mein Körper ist, wird nicht nur

von mir, sondern vielleicht mehr noch von anderen gezogen. Und die Arten, auf

denen die anderen meine Grenzen bearbeiten, sind sehr unterschiedlich, das mag

von hartnäckiger und liebevoller Nahrungsgabe bis zu heimtückischen Nadelstichen

reichen, deren medizinischen Nutzen man mir vergeblich zu erklären versucht.

Das Reich der Fiktionen, in das wir mit solchen Widersprüchen auszuweichen

lernen, ist nicht zuletzt eine Organisation symbolischer Bearbeitungen traumatischer

Grenzerfahrungen von Frühauf. Eine von Jacques Lacan angehauchte

Psychoanalyse kann uns sehr genau erklären, was und wie viel bei dieser ersten

Grenzerfahrung schiefgehen kann. Auf jeden Fall werden uns ab da zwei Ängste

begleiten. Die Angst, dass die Grenze, die mein Körper ist, zum Gefängnis wird,

in dem alles in mir – mein Begehren, mein Wissen, meine Energie – unterdrückt

wird, und die Angst, dass diese Grenze nicht halten könnte, dass der Körper unter

inneren oder äußeren Einflüssen zerfallen, zerstückeln, zerfließen, brechen und

auslaufen kann. Alle Grenzen, die uns im Lauf unseres Lebens begegnen werden,

und es werden eine Menge sein, verhalten sich neben vielem anderen auch als

Widerschein dieser allerersten Grenze und der Ängste, die mit ihr verbunden

sind. Möglicherweise werden wir sogar, wenn wir einst von den Grenzen unseres

Landes sprechen und von der Notwendigkeit, sie zu festigen und zu verteidigen,

vielleicht ohne es zu wissen, in Wirklichkeit von der Grenze unserer Körper und

der Angst vor ihrer Auflösung sprechen. Und umgekehrt werden wir vielleicht,

wenn wir die geheime oder offene Aktion einer Grenzüberschreitung erfahren,

auch die Angstlust einer Selbstüberschreitung erfahren. Keine Grenze, sei sie

territorial, militärisch, politisch, ökonomisch, kulturell, religiös oder semantisch

bestimmt, ist je zu denken ohne die ursprüngliche fundamental menschliche Erfahrung

der Grenze zwischen Ich und Welt.

Von der Erfahrung der ersten Grenze, nämlich der Grenze, die wir sind, führt

der Weg zu den Grenzen, die wir haben. Die Grenzen unserer Welt sind die Grenzen

unseres Gitterbettes, unseres Kinderzimmers, unserer Wohnung, unseres

Gartens, unserer Straße, unseres Viertels, unserer Stadt usw. Jede Überschreitung

einer dieser Grenzen macht uns als Person vollständiger und autonomer,

aber damit verbunden ist auch eine weitere Unterscheidung, nämlich die zwischen

den Grenzen, die wir haben (etwa den Raum, den unser Blick erfassen

kann, den Raum, den wir mit unseren noch nun eben limitierten Bewegungsformen

erreichen, den Raum, der ohne unüberwindbare Hindernisse ist usw.), und

den Grenzen, die uns gesetzt werden, entweder in der rigiden Form von Zäunen

oder vom strafenden Zurückweisen, oder in der Form von Bedingungen und Reflexionen:

Du darfst dich so lange frei bewegen, solange du dieses Areal nicht

verlässt. Oder: Du darfst noch spielen, aber nur noch eine Stunde. Und später, du

darfst diese Grenzstation passieren, wenn du dich ausweist und deine Rückkehr


Die Grenze 19

garantierst. Womit auch klar wird, dass Grenzen in aller Regel eine Funktion

im Raum und eine Funktion in der Zeit haben. Das Märchen oder die Heldenreise,

der Hollywoodfilm oder das Computerspiel: Es geht um den Wunsch oder die

Notwendigkeit, mindestens eine Grenze zu überschreiten, und es geht um eine

anschließende glückliche Rückkehr oder die Einrichtung einer neuen Grenze,

und sei es die um das halbe Königreich, das der standhafte Held, nachdem er

allen seinen und unseren Teufeln und Dämonen standgehalten hat, mitsamt der

Prinzessin bekommt. Und so geht es auch für den Missionar oder die Missionarin

darum, über eine Grenze zu gehen, und die Frage nach der Rückkehr zu stellen.

Bleibt man gleichsam im Jenseits? Oder erweitert man den Grenzbereich eines

Erzähl- und Wertesystems, sei es ein religiöses, ein weltanschauliches, ein ökonomisches

oder auch ein ökologisches System – schließlich gehören zu den vielen

Nachfahren und Nebenfiguren der christlichen Mission der Öko-Aktivist und die

Öko-Aktivistin. Macht man Grenzen durchlässiger oder zieht man etwa Grenzen

dort, wo vorher gar keine waren? Wenn jede Grenze zugleich eine politische oder

soziale Realität und eine symbolische oder semantische Anordnung ist, dann ist

klar, dass die missionarische Grenzüberschreitung vor allem die symbolischen

Trennungen betrifft. So wie der Eroberer und Kolonialist die äußere Grenze überschreitet,

überschreitet der Mensch mit der Mission die innere Grenze, und stets

wird uns die Frage begleiten, welche von beiden Grenzüberschreitungen denn

eigentlich die nachhaltigere oder die destruktivere war. Doch in unseren Erzählungen,

gleichgültig ob es sich um christliche Mission oder um kulturelle Botschaften

zwischen Revolution und Coca Cola handelt, geraten immer wieder die

beiden Aspekte der Grenze, ihr realer und ihr symbolischer Gehalt, in Konflikt

miteinander. Und dies führt immer wieder zu Erfahrungen des unglücklichen

Bewusstseins: Der Mensch erzeugt nicht nur Grenzen, er wird auch durch Grenzen

erzeugt. Die Grenze ist immer zugleich notwendig und absurd. Jede Grenze

organisiert das Leben und droht zugleich mit dem Tod. Daher gibt es immer wieder

die Assoziation zwischen der Überschreitung einer Grenze und einer Wiederoder

Neugeburt.

Was aber ist jenseits der Grenze? Erstens natürlich: Das Gefährliche und Verbotene.

Etwas, das man zugleich begehren und fürchten kann. Das Gras ist grüner

dort drüben, aber die Schlangen darin sind auch giftiger. Zweitens: Das Unbekannte.

Dort gilt eine andere Sprache, eine andere Währung, ein anderer Code,

ein anderes Gesetz. Ein anderes Wissen und ein anderer Glaube. Wenn du dort

hinübergehst, bist du ein Fremder und ohne Schutz. Drittens: Die Konkurrenz.

Jenseits der Grenze ist jemand oder etwas, das wie ein feindlicher Bruder oder

eine feindliche Schwester nicht wegen des Anders-, sondern wegen des Gleichseins

gefürchtet werden muss. Etwas, das haben will, was du hast, und sei’s die

Zuwendung der Mutter oder das Wohlwollen des Vaters (Mutter Heimat und Vater

Staat in der bürgerlichen Sozialisation dann: »Nation« und »Volk«, beides nicht zu

denken ohne Grenzen). Jürgen Wertheimer spricht dann von »toxischer Nähe«,

wenn etwa ein Gebiet von einem anderen abgegrenzt wird, wo sich Menschen

aufhalten, die in wesentlichen Dingen gleich organisiert sind, zum Beispiel der

gleichen Sprache, der gleichen Religion, der gleichen Grünndungsmythologie,


20 Georg Seeßlen

der gleichen Kultur. Und auch das reicht in unsere Kindheit zurück: die Empfindung

von willkürlich gezogenen Grenzen oder von Grenzen, die ausschließlich

Machtbereiche voneinander trennen. Jede Grenze benötigt ihre Erzählung, ihre

Erklärung, ihr Bild und ihren Begriff. An Grenzen wie der einstigen Mauer in

Berlin, der Grenze zwischen Nord- und Südkorea, der Mauer in Jerusalem und so

weiter, wird das zum wahren Schrecken. Die Grenze wird zur Todeszone.

Die Grenze ist immer zugleich Bild und Spiegel. Sie ist aber auch die Begrenzung

des Bildes und die Begrenzung der Spiegelung. Durch die Grenze wird das

Bild vage und die Spiegelung düster. Jede Grenze bedeutet auch ein Ende von

Sehen-Dürfen, Sehen-Können und manchmal auch Sehen-Wollen. Daher lauert

Viertens da drüben: die Leere, der Nicht-Sinn, das Chaos. Aus der Grenze des

Körpers zum Schmutz der Welt wurde die Grenze zwischen Kultur und Wildnis,

Zivilisation und Barbarei. Fünftens: Verbrechen und Sünde. Jenseits der Grenze

herrscht gott- und moralloses Treiben. Sechstens: Das Getrennte und Abgespaltene.

Etwas, das sich eigensinnig gegen den Ursprung gestellt hat, das sich befreit

und isoliert hat, das eine »Heilige Union« verlassen hat, das einmal zu uns gehörte

und nun gerade deshalb um so bedrohlicher wirkt. Wenn wir die Ideen der

Grenze von dieser ersten, der Grenze zwischen Körper und Welt, oder zwischen

Ich und Welt, fortsetzen, dann sind die äußeren Grenzen das Symptom dafür, dass

auch die Welt keine Einheit bildet, und die inneren Grenzen sind das Symptom

dafür, dass auch der Körper, das Subjekt, das Ich keine wirkliche Einheit sind.

Nun haben wir vielleicht eine erste, mythische Beschreibung für einen missionarischen

Grenzübertritt. Die Sehnsucht danach, die verlorene Einheit der Welt

wiederherzustellen. Oder eben, anders herum, die Sehnsucht danach, die verlorene

Einheit des Ich wiederherzustellen.

Sehen wir uns zwölf Arten an, die Grenze zu überschreiten:

1. Der Krieg. Ein Feind ist immer jemand, der damit droht, die Grenze zu überschreiten,

oder er ist jemand, dessen Grenzen wir überschreiten wollen oder

glauben, sie überschreiten zu müssen.

2. Der Handel. Um Wachstum und Wohlstand zu ermöglichen, müssen Waren

und Geld sowie ihre menschlichen, tierischen und mechanischen Transportmittel

Grenzen überschreiten. Der Schatten des legalen Grenzverkehrs ist

der Schmuggel, eine der verschiedenen Arten, sich die Grenze selbst zum

Lebensinhalt zu machen.

3. Das Exil. Das Wort Elend ist ein antikes Code-Relikt für Verbannung und Leben

in der Fremde, im Jenseits der Grenze, das für manche schlimmer schien

als der Tod.

4. Die Reise. Um Welt-erfahren, gebildet oder auch Status-sicher zu sein, muss

der bürgerliche Mensch reisen, und er nannte es, was die Bereiteten anbelangt

nicht ganz korrekt, eine Bildungsreise. Daraus entwickelte sich der

Tourismus, weniger an Bildung denn an Genuss orientiert. Und es blieb die

Erinnerung an das Reisen als Abenteuer. Und es blieb das Reisen als Kultur

und Kunstform.


Die Grenze 21

5. Die Diplomatie. Man ist als Gesandter oder Botschafterin ein Element des

eigenen im Fremden, sondiert und verhandelt, vermeidet Konflikte oder bereitet

sie vor.

6. Emigration und »Gastarbeiter«. Die Krisen und Katastrophen im eigenen

Land zwingen einen Menschen dazu, sich temporär oder auch für immer im

Ausland zu verdingen, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dort immer

ein Mensch zweiter Klasse zu bleiben.

7. Die Flucht. Im eigenen Land ist das blanke Leben bedroht, es bleibt nichts

anderes, als über die Grenze zu gehen, mit ungewissem Ausgang.

8. Die Liebe. Eine dramatische Liebesgeschichte besteht in nichts anderem als

in der Kraft der Liebenden, die Grenzen zu überschreiten, die ihnen gesetzt

wurden.

9. Der Wissensdrang. Man muss die Grenze überschreiten, weil nur jenseits

ihrer Erkenntnis und Wahrheit zu finden sind.

10. Der Kolonialismus. Die Grenze wird gleichsam nur in einer Richtung aufgehoben;

im Jenseits wird Herrschaft und Ausbeutung errichtet, auf der Basis

einer Ideologie der Überlegenheit der eigenen Grenzziehungen.

1 1. Die Besiedlung. Das Territorium jenseits der Grenze wird zu einem »freien

Land« erklärt, in das man, wie in der US-amerikanischen National-Erzählung,

dem Westen, ein moving frontier, eine sich ständig nach vorn bewegenden

Grenze einsetzt, die schließlich Teil der Selbst-Identifikation wird und, nur

zum Beispiel, im Weltraum oder in der Entwicklung der kapitalistischen Produktion

fortgesetzt wird. Und schließlich

12. Die missionarische Grenzüberschreitung. Was jenseits der Grenze liegt, wird

als unerlöste und offene Welt verstanden, die auf die eine oder andere frohe

Botschaft gewartet hat. Die missionarische Grenzüberschreitung trägt paradoxerweise

die Gewissheit der Selbstbegrenzung in die offene Welt hinaus,

weshalb schon im Alltagsleben Menschen mit missionarischem Eifer als Zumutung

und nun eben Grenzverletzer gesehen werden. Aber neben diesem

Aspekt des Übergriffigen haben missionarische Grenzverletzungen eben

auch diesen sonderbaren Aspekt des Utopischen. Indem sie die zerfallene

Welt wieder einen wollen, tragen missionarische Menschen den Gedanken in

sich, es könne auch eine Welt ohne Grenzen geben.

Es kommt also in dieser Grammatik der Grenzüberschreitungen darauf an, ob

der Missionar oder die Missionarin im Dienst ihres Glaubens, im Dienst ihrer

Religion, im Dienst ihrer Kirche, im Dienst ihrer Kultur, im Dienst ihrer Ideologie,

im Dienst ihrer Solidarität, im Dienst ihres Wissens, im Dienst ihrer moralischen

Codes oder im Dienst einer Nation oder eines Reiches die Grenze überschreiten.

Und es gibt noch eine Besonderheit, die den Missionar und die Missionarin mit

Abenteurern, Forschern und Kolonialisten verbinden: Man betritt eine Welt, die

die Grenzen, die die Missionarin überschritten hat, gar nicht kennt.

Im Selbstverständnis beim Losgehen könnte dies alles noch eine Einheit sein,

sicherlich mit unterschiedlichen Akzentverlagerungen. Möglicherweise mag sogar

das eine der Vorwand für das andere sein. Ist das ärztliche Wirken der Pretext

zum religiösen Überzeugen, oder wird, umgekehrt, die Religion ein Pretext


Mission im Film und in der Literatur –

historische und systematische Zugänge


Andreas Nehring

Grenzziehungen und

Grenzüberschreitungen –

Mission und Interkulturelle

Theologie auf der Grenze

Mit der Erklärung des ÖRK auf der 10. Vollversammlung in Busan zu Mission und

Evangelisation »Gemeinsam für das Leben« 1 ist der Begriff der Grenze erneut für

Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie in den Fokus der Aufmerksamkeit

gerückt worden.

Die Erklärung argumentiert, dass Mission bisher als Bewegung verstanden

worden ist, »die vom Zentrum zur Peripherie und von den Privilegierten zu den

Marginalisierten in der Gesellschaft verläuft«. 2 Dagegen würden heute Menschen

an den Rändern der Gesellschaft beanspruchen, selbst Subjekte der Mission zu

sein. Durch eine Verlagerung im Verständnis von der »Mission hin zu den Rändern«

zur »Mission von den Rändern her« stellt sich die Frage, worin der Beitrag

der Menschen an den Rändern der Gesellschaft besteht und warum ihre Erfahrungen

und Perspektiven für das Verständnis von Mission relevant sind.

Das Insistieren marginalisierter Gruppen auf eine Subjekt-Position oder auf

so etwas wie Selbst-Identität als Gegenposition zu einem Zentrum, ist, wie Gayatri

Spivak hervorgehoben hat, 3 keine einfache Forderung, da die gegenwärtigen

Annahmen über kulturelle Differenz Manifestationen eines Verweltlichungsprozesses

sind, in dem Zentrum und Rand bzw. Dominantes und Marginales diskursiv

repräsentiert werden. Die Konsequenz dieser diskursiven Produktion von

Zentrum und Rand ist, dass alle kulturellen Gegenerzählungen immer wieder

auf die dominanten Narrative, also auf das Zentrum bezogen werden. »Jedweder

Diskurs«, das haben Ernesto Laclau und Chantal Mouffe herausgestellt, »konstitu-

1

ÖRK (2013). Gemeinsam für das Leben. Eine Erklärung des ÖRK zu Mission und

Evangelisation (https://www.oikoumene.org/de/resources/documents/together-towardslife-mission-and-evangelism-in-changing-landscapes).

2

ÖRK 2013, 2.

3

Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?: Postkolonialität und

subalterne Artikulation. Wien: Turia & Kant, 2007.


32 Andreas Nehring

iert sich als Versuch, das Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Fließen der

Differenzen aufzuhalten, ein Zentrum zu konstituieren«. 4

Grenzen und Grenzüberschreitungen?

Ränder oder Grenzen und insbesondere Grenzbereiche sind in den Kulturwissenschaften

schon seit geraumer Zeit zu zentralen Metaphern für die Be schreibung

von Identitäten avanciert. 5 Postkoloniale Theorien und Theologien haben Fragen

kultureller und politischer Exklusion, aber auch Inklusion, aufgenommen, und

es hat sich in den letzten Jahrzehnten eine lebendige Debatte darüber entwickelt,

wer an den Grenzen steht, wer den Diskurs über Grenzen dominiert und wie

Grenzen aufgebrochen oder zumindest verschoben werden können.

Ist die Grenze das Ende der eigenen Welt, die durch ein Zentrum definiert

wird? Oder ist es ein Fenster, durch das man erblicken kann, was jenseits der

Grenze liegt: eine Utopie, ein Nicht-Ort oder Noch-Nicht-Ort? Oder ist das Innere

des Außen die Bedingung von Marginalität? Mit anderen Worten, sind Grenzen

ein Ende oder ein Anfang? Beinhalten Grenzen einen Anfang und ein Ende? Sind

sie beides oder sind sie weder noch? Und: Wie verschieben sich Grenzen? Wo

entstehen auch innerhalb eines Sozialsystems Grenzen, die Räume ausschließen?

Das sind Fragen, die sich heute stellen, wenn Grenzen verhandelt werden, die

aber die Kulturgeschichte schon immer beschäftigt haben.

Insofern erscheint es plausibel, wenn Heidegger die Grenze nicht als dasjenige

bestimmt »wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die

Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt«. 6 Grenzen und Ränder ermöglichen

daher nicht nur den Blick nach außen, sondern sie eröffnen Einsichten

in die Ordnung der Dinge innerhalb eines Systems. Der Historiker Lucien Febvre

stellt daher zu recht fest:

Nicht von der Grenze, der frontière selbst also muss man ausgehen, um sie zu erforschen,

sondern vom Staat. Ein bestimmter Staat hat eine bestimmte Grenze (limité) – und gegebenenfalls

eine bestimmte Grenze (frontière) im militärischen und politischen Sinn des

Wortes. 7

Grenzen sind jedoch fließend. Grenzen ereignen sich in einem unstabilen Dazwischen-Sein

des Raum-Zeitkontinuums in der Wirtschaft, in Politik, in der Ge-

4

Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur

Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen, 1991, 164.

5

Zum Beispiel Mae G. Henderson (Hg.), Borders, Boundaries, and Frames. Essays in

Cultural Criticism and Cultural Studies. London-New York: Routledge, 1995.

6

Martin Heidegger, Bauen – Wohnen – Denken, in: Martin Heidegger, Vorträge und

Aufsätze, Teil 2, Pfullingen: Neske, 1967, 29.

7

Lucien Febvre, ›Frontière‹ – Wort und Bedeutung. In: Ders.: Das Gewissen des Histo rikers.

Hg. u. übers. v. Ulrich Raulff. Berlin: Fischer, 1988, 27–37, hier 31.


Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen 33

sellschaft, zwischen Nationen, Religionen und auch in Hinsicht auf psychische

Gegebenheiten/Zustände. Und eben darum werden sie oft verborgen; sie werden

weder benannt, noch benennen sie selbst. Man kann noch nicht mal die Kategorie

des ›Seins‹ auf die Grenzen anwenden, in der Hinsicht, dass sie nicht definiert

werden können durch eine Essenz, durch ein Sein. Sie gehen Lim H → 0. Und

dennoch sind sie real, sie bestehen.

Sprache nun versucht, diese Grenze zu erfassen, sie konzeptionell und figurativ

zu reduzieren. Das hängt wohl damit zusammen, dass das flüchtige und

schwer zu fassende Auftauchen von Grenzen immer wieder stabilisiert werden

muss. Und das ist es genau, was auch Repräsentationen zu leisten haben. Repräsentationen

können entweder als figurative Vorstellung oder als Darstellung

bezeichnet werden, es sind Vorgänge durch ein Ding aus seiner kontextuellen

Verflochtenheit heraus gesichert, wird aus einer fließenden und sich verändernden

Instabilität seiner Erscheinungen. 8

Eine Form der Repräsentation könnte man beschreiben als Entdeckung oder

Aufdeckung, die andere als Erfindung oder Einschreibung. Diese Unterscheidung

wird oftmals verwischt. Dass Repräsentationen aber interaktiv sind, ist in den

letzten Jahrzehnten von zahlreichen Forschern hervorgehoben worden, angefangen

von Michel Foucault über Edward Saids Kritik des ›Orientalismus‹ zu Eric

Hobsbawms ›Invention of Tradition‹ oder Benedict Andersons ›Erfindung der Nation‹.

Repräsentationen sind sowohl ein Vergegenwärtigen einer Abwesenheit als

auch das Anlegen einer Perspektive, die die Konturen des Gegenstandes färbt und

formt. 9 Was eine Repräsentation also zeigt, ist gleichzeitig das, was sie verbirgt.

Die Schließung von Grenzen und die damit verbundene Exklusion ist ja eine

Strategie um innerhalb eines Systems Ordnung zu schaffen und hier entscheidet

sich, wie Sven Opitz argumentiert, 10 welche Sinnofferten in einem System als

anschlussfähig gelten und welche nicht, und das können auch, wie Opitz weiter

argumentiert, das System verwirrende Sinnofferten sein.

In den Identitätsdiskursen der Latinas und Latinos in Nordamerika und in

den sogenannten Diaspora-Studies spielt die Frage der Zugehörigkeit, aber auch

der Bereich der Überschneidung und das Überschreiten der Grenze bereits seit

einiger Zeit eine bedeutende Rolle, aber auch in der theologischen Reflexion um

die Bedeutung von Migrationskirchen von Menschen anderer Sprachen und

8

Vgl. dazu auch: Ralf Beuthan, Anschauung, Vorstellung und Denken. Hegels Metaphy

sische Kritik der Repräsentation. Archivio di Filosofia, Vol. 78, No. 2/3 (2010), 29–37;

Angelika Nuzzo, ›Begriff‹ und ›Vorstellung‹ zwischen Logik und Realphilosophie bei Hegel,

in: Hegel-Studien, Vol.25 (1990), 41–63.

9

Dazu auch: Andreas Nehring, Ambivalenz des Heiligen. Religionswissenschaftliche

Perspektiven zu Sakralität und Devianz. In: Klaus Herbers/Larissa Düchting (Hg.),

Sakralität und Devianz. Konstruktionen – Normen – Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, 2015,

9–18.

10

Sven Opitz, Exklusion. Grenzgänge des Sozialen, in: Stefan Moebius/Andreas Reckwitz

(Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008,

175–193, hier 180.


34 Andreas Nehring

Herkunft in Deutschland werden Ränder, Grenzziehungen und Grenzbereiche

sowie deren Überschreitung zunehmend relevant. Im Fokus steht dabei immer

wieder die Frage nach politischer, sozialer und kultureller Identität. Migration

und Exil, also Grenzüberschreitungen, bringen, das hat Edward Said bereits in

den 1990er Jahren betont, 11 eine Daseinsform mit sich, der die Dauerhaftigkeit

fehlt. Aber Marginalität deutet auch auf die Ambivalenzen eines Zentrums hin,

das man versucht zu fixieren, das aber – und das zeigen unhintergehbare Globalisierungsprozesse

deutlich – letztlich nicht festgelegt werden kann, indem man

Grenzen schließt. Erving Goffman hat die Grenze als eine Art situativen Rahmen

verstanden, 12 durch den nicht nur die jeweilige Situation von innen bestimmt

oder reguliert wird, sondern auch das Verhältnis zum abgegrenzten Außen. Goffman

geht von einer transgressiven Wechselbeziehung von Innen und Außen des

Rahmens aus und argumentiert, dass jede Überschreitung der Grenze diese weiter

stabilisiert, indem sie sie zugleich reproduziert. Goffman versteht Grenzziehungen

als performative Akte ebenso wie deren Überschreitung. Auch Michel

Foucault hat die gegenseitige Abhängigkeit von Grenze und Überschreitung hervorgehoben:

»Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte

ihres Seins: eine Grenze, die nicht überschritten werden könnte, wäre nicht existent;

eine Überschreitung, die keine wirkliche Grenze überträte, wäre nur Einbildung.« 13

Die Überschreitung der Grenze bedeutet also nicht, dass sie dadurch aufgehoben

wäre, vielmehr gehört die Überschreitung als ein zentraler Modus zur Erfahrung

der Grenze dazu, da sie erst das transformative Potenzial der Grenze deutlich

werden lässt. Erst in der Überschreitung wird die Grenze konkret und fassbar.

»Vielleicht ist der Punkt ihres Übertritts ihr gesamter Raum.« 14 Diese Bemerkung

von Foucault ist bezeichnend, indem er nämlich an einen Raum der Transgression

denkt und den Übergang als »Welle« charakterisiert, wird die Grenze selbst

ver-räumlicht, und als ein Zwischenraum erfahrbar. Auf der Grenze erst ist die

Grenze als solche erfahrbar.

Die Überschreitung treibt die Grenze bis an ihre äußerste Grenze; sie lässt sie über ihrem

drohenden Verschwinden erwachen, sie lässt sie in dem zu sich kommen, was sie ausschließt,

und sich darin zum erstenmal erkennen, sie lässt sie ihre positive Wahrheit in

ihrem Verlust spüren. 15

11

Edward Said, Reflections on Exile, in: Russell Ferguson/Martha Grever/Trinh

T. Minh-ha/Cornel West (Hg.), Out there. Marginalization and Contemporary Cultures,

Cambridge: MIT Press, 1990, 357–363.

12

Erving Goffman, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience.

Boston: Northeastern University Press, 1974, 19.

13

Michel Foucault, Vorrede zur Überschreitung, in: Michel Foucault, Von der Sub version

des Wissens, hg. v. Walter Seitter. München; Ullstein, 1974a, 32–53, hier 37; andere

Version: Michel Foucault, Dits et Ecrits, Bd. 1 (1954–1969). Frankfurt a. M.: Suhrkamp,

2001, 320–342, hier 325.

14

Foucault 1974a (wie Anm. 13), 36.

15

Foucault 1974a (wie Anm. 13), 37.


Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen 35

Grenzen sind, so kann man vielleicht sagen, auch die Bereiche, die ein System

destabilisieren und ins Schwanken bringen können. Gesellschaften haben daher

die Tendenz, ihre Grenzen zu schließen und gleichzeitig ihre Ränder zu verbergen

und damit einhergehende Marginalisierungen zu verleugnen. 16

Durch dieses Wechselspiel stellt Marginalität als ›Sein an der Grenze‹ immer

auch den ontologischen Status eines angenommenen Zentrums in Frage. Hinzuweisen

ist in diesem Zusammenhang auf eine Beobachtung, die die Anthropologin

Mary Douglas bereits in den 1960er Jahren in ihren Studien zu Vorstellungen von

Verunreinigung und Tabu formuliert hat: dass eine Gesellschaft an ihren Rändern

labil ist, deutet weniger darauf hin, dass die Ränder einer Gesellschaft labil

sind, sondern dass sich in den Rändern die Labilität der Gesellschaft zeigt. 17

Grenzen legen also die Brüchigkeit der gesamten sozialen Konstitution offen

und bringen damit das Zentrum in Gefahr. Deshalb haben Grenzen ein zerstörendes,

zugleich fixierendes Potenzial, das Potenzial des Verbergens und die Macht

des Offenlegens.

Eben diese Prozeduren sind zentral für das, was Michel Foucault als Ordnung

von Diskursen beschreibt. 18 Um das Funktionieren von Diskursen zu analysieren,

greift Foucault immer wieder auf den Begriff der Grenze zurück. 19 Grenzziehung

und Verwerfung hat er dabei als elementare Bestandteile der Prozeduren der Ausschließung

bestimmt. Die Ordnung des Diskurses muss durch Grenzziehungen

gesichert werden, allerdings:

es ist immer möglich, dass man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im

Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ›Polizei‹ gehorcht, die man

in jedem seiner Diskurse reaktivieren muss. 20

Eine zentrale Aufgabe postkolonialer Studien, die sich vor allem in ihrer frühen

Phase in weiten Teilen auf Foucault berufen, wird darin gesehen, die Mechanismen,

durch die Grenzen zwischen dem ›Westen‹ und dem ›Rest‹, wie Stuart Hall

es einmal treffend formuliert hat, repräsentiert werden, offenzulegen. Es geht

16

Vitor Westhelle, After Heresy. Colonial Practices and Post-Colonial Theologies.

Eugene: Cascade, 2010, 122; vergleiche auch: Ders., Offene Begrenzungen. Repräsentation,

Hybridität und Transfiguration, in: Andreas Nehring/Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale

Theologien, Stuttgart: Kohlhammer, 2013, 165–186.

17

Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Ver un reini

gung und Tabu, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, 151 ff.

18

Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de

France – 2. Dezember 1970. Frankfurt a. M./Wien: Ullstein, 1974b.

19

Siehe auch: Michel Foucault, Security, Territory, Population. Lectures at the Collége de

France 1977 – 1978. London/New York: Palgrave-McMillan, 2009; Michel Foucault, Die

Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005;

Michel Foucault, Andere Räume, in: Idee, Prozess, Ergebnis. Katalog der Internationalen

Bauausstellung Berlin, 1987, 337–340.

20

Foucault, Ordnung (wie Anm. 18), 25.



Torsten Voß

Missionare (und Missionierte) als

liminale Figuren im Spannungsfeld

von Exotismus, Katholizismus und

Kolonialismus

Stationen literarisch-filmischer

Missionsnarrative

Vorab: Mission als Narrativ? Ein liminales

Spannungsfeld in Literatur und Film?

Missionare*innen bringen ihre Vorstellungen und Überzeugungen von Mission in

die Mission. Das mag banal und vielleicht sogar tautologisch klingen, drückt aber

die gesamte Problematik eines Projekts aus, das stark an moralisch-ideologische,

theologisch-metaphysische und auch koloniale (und bisweilen auch poetologischästhetische)

Hegemonien gebunden ist. Es markiert ein jeder Missionierungs-

Intention – und deren narrativer bzw. in Literatur und Film vollzogener Aufbereitung

– vorgelagertes Apriori. Ergo: Auch die in Missions-Narrativen evozierte Idealvorstellung

vom sogenannten »edlen Wilden« und damit unbefleckt-unverdorbenen

Ursprungs-Christen ist ein koloniales Postulat westlicher Zivilisation und

Kulturimperative und damit alles andere als prä-diskursiv. Vielmehr ist es die

Schablone oder auch die Matrix, die von Seiten missionarischer Bestrebungen, ob

nun faktual oder fiktional, auf die zu Missionierenden appliziert wird. Das impliziert

eine Inskription des Narrativs in die Zielpersonen des Konversionsprojekts.

Davon zeugen einige literarische und filmische Darstellungen unter anderem der

indigenen Mission, wobei diese ideologiekritischen Vorbemerkungen keinesfalls

den ästhetischen oder poetologisch-theoretischen Impetus innerhalb der jeweiligen

künstlerischen Konzepte und ihrer Produzenten*innen relativieren sollen.

Deshalb soll zugleich betont werden: Mit dem Begriff Exotismus werden meist

die von Neugier auf das Unbekannte getriebenen Expansionsbestrebungen der

Westeuropäer in der frühen Neuzeit evoziert. Vor allem der dem Postulat einer

ontologisch relevanten Form der Funktionalität gehorchenden Betrachtungsweise

dieser Reisen an ferne Ufer wurde, insbesondere mit Blick auf ihre Verarbeitung


50 Torsten Voß

in der Literatur, starke Aufmerksamkeit geschenkt. 1 Sowohl imperialistischer Eroberungswille

als auch die berühmte Flucht aus der bürgerlichen Enge sind häufig

abgenutzte Erklärungsmodelle für die Kreation fremder Landschaften und ihrer

Bewohner in der Literatur der Romantik. 2 Vor allem wird durch die Überbetonung

von diskursgeleiteten Intentionen übersehen, dass gerade der romantische Exotismus

nicht nur mit den Reglements der bürgerlichen Gesellschaft bricht, sondern

eine Visualisierungsmöglichkeit für die Ausblendung der Diskurse darzustellen

versucht. Der fremde Raum ist nicht nur ein zur Bedürfnisbefriedigung entworfener

Rettungsanker 3 , sondern thematisiert die Andersartigkeit der romantischen

Literatur-und Kunstauffassung an sich, ist daher eine metaphorisierte Strategie,

um die Disparität zwischen Kunst und Diskurs zu akzentuieren, so fragil und

illusionär diese auch sein mag.

Ausgehend von Francois-René de Chateaubriands romantischer Erzählung

Atala (1801) 4 und der Inszenierung der vom hybriden Konfliktmodell zwischen

christlicher und indianischer Kultur determinierten Titelfigur einer zum Christentum

konvertierten Indianerin, werden im geplanten Beitrag verschiedene filmische

Repräsentationen des Missionsnarrativs genauer beleuchtet. 5 Erfolgen

soll ein Vergleich von Darstellungen der Mission, als da wären Roland Joffés

Mission (USA 1986) und Luis Alberto Lamatas im deutschen Sprachraum relativ

unbekannter Film Jericó (Venezuela 1991). Dabei wird zu klären sein, warum das

1

Dafür sprechen vor allem die Arbeiten von Anselm Maler, welcher in ge sell schaftskri

tischer, traditionell an die Theorien der Frankfurter Schule erinnernder Manier, die

literarische Darstellung exotischer Räume als die Visualisierungsmöglichkeit von Utopien

verstanden hat. Deren Aufgabe ist es, den in der postindustriellen Gesellschaft gemachten

Erfahrungsverlust zu relativieren. Mit anderen Worten, der Exotismus ist nur eine der

vielen Ausdrucksformen von Literatur als Sinnstiftung und Kompensation gegenüber

dem Ungenügen an der Realität, an welcher bekanntlich auch die Realisierung einer

christlichen Lebensführung scheitert. Vgl. Anselm Maler, Exotische Hütten. Im Paradies

des Populärromans zwischen Restauration und Revolution, in: Gert Ueding (Hg.), Literatur

ist Utopie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, 189–219.

2

Vgl. Edward Said, Orientalismus, Frankfurt am Main: S. Fischer 1991.

3

Die maritime Metaphorik des Rettungsankers veranlasst mich, auf den ironischen Essay

von Hans-Friedrich Foltin zu verweisen, der die touristentypische Sehnsuchtserfüllung

exotischer Stoffe verdeutlicht. Vgl. Hans-Friedrich Foltin, Das Traumschiff. Exotismus

in Unterhaltungssendungen des Fernsehens, in: Thomas Koebner/Gerhart Pickerodt

(Hgg.), Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987,

363–381.

4

Vgl. Francois René de Chateaubriand, Atala. René. Le Dernier Abencerage. Édition

présentée, établie et annotéepar Pierre Moreau, Paris: Éditions Gallimard 1971 bzw. als

genutzte deutsche Übersetzung: Francois René de Chateaubriand, Chateaubriands

Erzählungen, aus dem Französischen von Maria von Andechs, Leipzig: Bibliographisches

Institut 1925.

5

Zur filmischen Repräsentation vgl. unter anderem den Sammelband von Thomas

Koebner (Hg.), Indianer vor der Kamera, München: edition text & kritik 2011.


Missionare (und Missionierte) als liminale Figuren im Spannungsfeld 51

seit Rousseau, Bernardin de Saint-Pierre, Herder und Chateaubriand bestehende

und zum literarischen Mythos bzw. zur anthropologischen Utopie gewordene

Motiv des »bon sauvage« eine besondere Affinität ausübt gegenüber dem missionarischen

Impetus, also inwieweit figurative, plottechnische und ästhetische

Synergieeffekte zwischen Katholizismus, Atavismus und Exotismus bestehen. Ob

derlei in Literatur und Film von einem (post)kolonialen und damit ideologiekritischen

Blickwinkel aus perspektiviert wird, könnte ein weiterer Parameter für

die Rekonstruktion von Missionsnarrativen sein, zumal sich aus den Komponenten

Katholizismus und Exotismus auch Konstruktionsprinzipien für hybride bis

zerrissene, im »Schwellenzustand« (Victor Turner) 6 agierende, Figurationen innerhalb

des Zusammenpralls diverser Kulturen ergeben. Diese bieten wiederum

Garantien für einen besonderen dramaturgischen Effekt innerhalb der Plot ebene.

Letzteres gilt sowohl für die filmischen Figuren der Missionare (Pater Gabriel, Pater

Santiago etc.), die sich mit den ihnen fremden Kulturen und Riten verbinden,

als auch für die der Missionierten (bzw. zu Missionierenden), welche durch die

neuen Glaubens-und Moralkonzepte (wie schon Chateaubriands Atala) existentzielle

Krisen durchleben müssen und damit zu Repräsentanten*innen kultureller

Symbiosen (und deren Scheitern) werden. Die von der Romantik der Gebrüder

Schlegel teilweise noch mit Begriffen wie »Arabeske« und »Sym-Philosophie«

euphemistisch reflektierten Synergieeffekte verschiedener Denk-und Wissenssysteme

werden auf einer persönlich-subjektiven Ebene – und diese wird durch

literarisch-filmische Konkretisationen eher eingefangen als durch die komplexe

Historiographie – auch vermehrt zu Konfliktherden. Neben den dezidiert sich der

katholischen Mission widmenden Filmwerken, wären womöglich noch Ausblicke

auf die calvinistisch-protestantische Variante Hawaii (USA 1966, R: George Roy

Hill, mit Max von Sydow als Reverend Abner Hale) und auf die parodistisch–

komödiantische Umsetzung des Themas unter dem Titel Zwei Missionare bzw.

Porgi l’altra guancia (I/F 1974, R: Franco Rossi) möglich gewesen, um das Panorama

abrunden sowie konfessions-und genreübergreifend erweitern zu können. 7

Bezüglich des literarischen Intertextes von Chateaubriand erfolgt jedoch eine Reduktion

auf die Aufbereitung katholischer Mission im vorliegenden Beitrag.

6

Schwellenzustand und Liminalität als Kernbegriffe der symbolischen Anthropologie

werden vor allem entwickelt in Victor Turner, Das Ritual. Struktur- und Anti-Struktur.

Übersetzt von Sylvia M. Schomburg-Scherf, Frankfurt am Main: Campus-Verlag 2005.

7

Wobei letzterer und »Keule Eminenz« durch den Beitrag von Diana Lunkwitz in diesem

Band ja noch seine eigene Berücksichtigung erfährt und daher von mir ausgespart wird. An

eine mögliche interkonfessionelle Betrachtung ist in einer späteren Auseinandersetzung

mit dem Thema gedacht.


52 Torsten Voß

Chateaubriand und der missionarische Eifer der

Romantik

Chateaubriands Texte über Amerika sind von der Forschung auf die verschiedenste

Weise gedeutet worden. Sowohl die aus den Wirren des postrevolutionären

Frankreich geborenen Frustrationen 8 und die Gier des Ennui nach existenziell

relevanten Alternativen, als auch die auf Rousseau basierende Sehnsucht

des »Zivilisationskranken« nach Ursprünglichkeit 9 und schiere Abenteuerlust 10

sind als Interpretationsvorschläge angeboten worden. Auch wenn in all diesen

Monographien der romantische Weltschmerz als Charakteristikum der Epoche

immer wieder mitschwingt, wird nichtsdestotrotz seine Relevanz auf der Stilebene,

ja das gesamte Exotismus- oder Missionarskonzept als ein für die romantische

Phantasie sprechendes Indiz, kaum berücksichtigt. Sowohl in seinen Erinnerungen

Mémoires d›outre-tombe (1849/1850) als auch in den berühmten frühen Erzählwerken

René (1802) und Atala (1801) sind die Weltflucht in eine (alternative)

nordamerikanische Wildnis, romantischer Weltschmerz und nicht zuletzt die

missionarische Kultivierung der katholischen Religion inmitten der unbekannten

Landschaften die Hauptthemen vor jeglicher Ethnologie, Kolonialpolitik oder gar

Botanik, welche als sich neu etablierende Wissenschaftssysteme als inkompatibel

zumindest gegenüber der ästhetischen Motivation des Autors erweisen. 11 So

8

Vgl. dazu die Ausführungen über Chateaubriands Verklärung des Alten und Ur sprüngli

chen in: Pierre Michel, Un mythe romantique. Les Barbares 1789 – 1848, Lyon: Presses

Universitaires de Lyon 1981.

9

Vgl. das Nachwort von Brigitte Sändig zu Francois-René de Chateaubriand, Er in nerun

gen von jenseits des Grabes. Meine Jugend. Mein Leben als Soldat und als Reisender

(1768 – 1800), neu bearbeitet, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von

Brigitte Sändig, München: ars una 1994, 361–376, hier 363.

10

Dazu besonders eindringlich eine Passage aus der sich vor allem aus Anekdoten zu sammen

setzenden Biographie von Friedrich Sieburg, die da lautet: »An einem Frühlingstage

des Jahres 1791 geht der Dreiundzwanzigjährige in seiner Vaterstadt Saint-Malo an Bord

einer Brigantine von nur hundertsechzig Tonnen. Der Segler ist nach Baltimore bestimmt,

wohin er eine Gruppe Geistlicher bringen soll. Die Reise dauert drei Monate und gibt dem

jungen Reisenden seine alte Freude am Meer zurück. Er steht mit der Besatzung sogleich

auf vertrautem Fuß und klettert mit den Matrosen um die Wette auf die höchsten Rahen.

Bei einem Sturm, der alle Passagiere unter Deck scheucht, läßt er sich, wie einst Odysseus,

an den Mast binden und schreit, von Brechern überspült, begeistert in das Unwetter:

›O Sturm, noch bist du nicht so schön, wie Homer dich gemacht.‹« Friedrich Sieburg,

Chateaubriand. Tyrannei und Tugend, München: Heyne 1976, 52.

11

Die Unhintergehbarkeit der romantischen Geistes-, Kunst-und Kulturauffassung

in Chateaubriands Indianer- und Missionserzählungen, ja die vor allem poetologisch

in spirierte Kombination von Romantizismus und Katholizismus, wird auch stark betont

in den entsprechenden Vorlesungen des Romanisten Erich Köhler, François-

René de Chateaubriand. Atala und René, die Struktur des romantischen Genies, in:


Missionare (und Missionierte) als liminale Figuren im Spannungsfeld 53

bemerkt dann auch Erich Köhler: »Es ist kein sehr tiefer Katholizismus, der in

diesem Werk lebt, es ist vielmehr ein wesentlich traditionalistischer und ästhetischer

Katholizismus. […] In die Lücken seines philosophischen und theologischen

sowie historischen Wissens trat das Gefühl. Mit dem Gefühl entdeckte und pries

er die Schönheiten, durch die er die Religion wieder schmackhaft machen wollte.

Und der Weg über Sentimentalität und Ästhetik war zweifellos kürzer und

führte tiefer in die seelischen Bedürfnisse der Zeitgenossen hinein, als es eine

wissenschaftlich wohlfundierte Apologie des Christentums jemals hätte tun können.

[…] Und er preist seiner von der nachrevolutionären, unbefriedigten Gärung

erfüllten Generation diese mystische Schönheit des Christentums als eine mögliche

Erfüllung aller Sehnsüchte an. Anders gesagt: Was an unbestimmbarer Sehnsucht

des Gefühls, an Weltschmerz und Wehmut sich seit den Jahrzehnten der

Vor-und Frühromantik angesammelt hat, das wird jetzt von Chateaubriand auf

das Christentum, die Religion und ihre vergessene Schönheit hin ausgerichtet.« 12

Der romantische Autor zeichnet sich also nicht über theologisch-terminologische

Durchdringung, philosophische Reflexion und epistemologisch orientierte Verfasstheit

seiner religiösen Vorhaben aus. Er bleibt durchweg Schriftsteller und

sein Religionsverständnis vor allem Kunstwerk. Man erkennt also mit Köhler das

bereits genannte metaphysische und hier nun ästhetisch umgedeutete Apriori,

welches sich in die Missions- und Exotismusnovellen Chateaubriands einschreibt

und eine Verbindung mit dem Sentimentalismus Rousseaus sowie dessen retrospektiv-utopischem

Konstrukt vom »bon sauvage« eingeht. Das bedeutet, »Chateaubriand

hat selber gut genug gewußt, daß er nur durch die mystisch-sinnlichsentimentale

Komponente wirken konnte, daß seine Apologie des Christentums

eine ästhetisch-gefühlhafte sein mußte.« 13 Eben das überträgt sich auch auf das

novellistische Werk mit seinen Weltflüchtigen wie René, den Missionaren und

konvertieren Indianern*innen wie die junge Atala. Innerhalb seiner Prosa, Reiseberichte

und Memoiren wird diese Vorbedingung stets mitgenommen und in

den (Kultur-)Transfer integriert, aber noch kaum auf auktorialer Seite problematisiert.

14 Innerhalb der frühromantischen, vor allem von Friedrich Schlegel geprägten

Kategorien des Interessanten und des Außergewöhnlichen, scheinen die

exotischen Gefilde unter katholischem Vorzeichen einen besonderen Raum einzunehmen.

Sie symbolisieren einen Gegenentwurf zum Alltäglichen der lebenswelt-

Ders., Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur. Das 19. Jahrhundert I.

Herausgegeben von Dietmar Rieger, Freiburg im Breisgau: Universitätsbibliothek Freiburg

i. Br. 2006, 26–35. Mit Chateaubriands literarischem Katholizismus beschäftige ich mich

in: Torsten Voß, Ästhetisch konstruierte Traditionen? Poetiken des Katholizismus als/

und romantische Programmatiken bei Novalis und Chateaubriand, in: Internationales

Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 44, 2 (2019), 442–470.

12

Köhler, Chateaubriand (wie Anm. 11), 28.

13

Ebd.

14

Letzteres ist eher ein Anliegen der sozial-und ideologiekritischen und damit pro blembe

wussten Missions-Filme aus den achtziger und frühen neunziger Jahren, also von Joffé

und Lamata.



Julia Helmke

Mission als blinder Fleck in der

evangelischen Filmarbeit?

Eine exemplarische Spurensuche durch

75 Jahre Verhältnisbestimmung von Kirche

und Kino / Theologie und Film

1. Gründungsmoment 1948: Die Mission von Kirche

gegenüber dem Film

»Es darf und kann hinfort keine Gleichgültigkeit der christlichen Gemeinde gegenüber

der Welt des Films geben. Als ›Wächter und Gestalter‹ muss sie auf ihren

Platz treten und damit einen neuen Abschnitt in der Entwicklung des Films einleiten

und vielleicht dadurch auch in der kulturellen Entwicklung des Abendlandes.«

So kommentiert und akzentuiert Pfarrer Werner Hess im Jahr 1948 die »Mission«

evangelischer Filmarbeit. Filme emotionalisieren. Sie entfalten Macht, sind in der

Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft als Propagandamittel eingesetzt worden.

Unmittelbar nach Kriegsende strömen die Menschen wieder in die Kinos. 1

Noch in der Aufbauzeit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) findet im

April 1948 eine wirkungsmächtige Konferenz zu »Kirche und Film« im niedersächsischen

Bad Salzdetfurth statt. 2 Auf dieser Tagung werden verschiedene Facetten

evangelischer Filmarbeit begründet, die zum großen Teil bis heute Bestand

haben. Zum einen ist dies die evangelische Filmpublizistik mit den beiden Zeitschriften

»Kirche und Film« und »Der Evangelische Filmbeobachter«. Während

letzterer den Anspruch hat, jeden neu anlaufenden Film kurz zu beschreiben

und vor allem zu bewerten (Wir raten ab! Wir raten zu!), fokussiert sich »Kirche

und Film« auf filmpolitische Informationen und positioniert die evangelische Kirche

als konstruktive Begleiterin von Filmkultur. Anfang 1949 ernennt die EKD

Werner Hess zum ersten Filmbeauftragten. Hess hat dieses Amt bis 1960 inne,

1

Vgl. dazu die Belege bei Anne Kathrin Quaas, Evangelische Filmpublizistik

1948 – 1968. Beispiel für das kulturpolitische Engagement der evangelischen Kirche in

der Nachkriegszeit, Studien zur Christlichen Publizistik 14, Erlangen 2007, 31. Im Jahr

1949 werden 470 Millionen Kinobesuche gezählt, vgl. ebd., Anm. 9. Zum Vergleich: 2022

zählte 78 Millionen, abgerufen: https://de.statista.com/themen/48/kino/(abgerufen am

31. 10. 2023).

2

Vgl. Quaas, Filmpublizistik, 51 f.


68 Julia Helmke

wird später Programmdirektor und Intendant des Hessischen Rundfunks. 3 Er ist

maßgeblich verantwortlich für die Gründung der evangelischen Filmgilde, die

monatlich sehenswerte Filme aus dem aktuellen Kinoschaffen auszeichnet und

zwischen ästhetischer, ethischer und transzendenter Perspektive seit Jahrzehnten

zur Filmbildung beiträgt. 4 Der Wunsch, selbst Filme zu produzieren, führt

zur Gründung der evangelischen Matthias-Filmgesellschaft, das Bedürfnis nach

Bewertung und Kontrolle zur Mitwirkung an der Freiwilligen Selbstkontrolle der

Filmwirtschaft (FSK). 5 Die beiden grundlegenden Fragen, die die Hauptvorträge

in Bad Salzdetfurth und den Diskurs in den darauffolgenden Jahren prägen, lauten:

»Was ist ein religiöser Film?« und: »Können und dürfen Filme die christliche

Botschaft transportieren?« Gerade die zweite Frage gilt in den ersten Jahrzehnten

evangelischer Filmarbeit als einziger hermeneutischer Zugang, um sich mit dem

Medium des Films theologisch auseinanderzusetzen. Für den vortragenden Regisseur

Harald Braun stellt sich der Anspruch der »Lebensdienlichkeit« an das

Medium Film folgendermaßen dar: »[Es soll] dem Menschen von heute dazu verhelfen,

sein Leben etwas durchsichtiger zu sehen als er es sieht, und sich ihm

dadurch gewachsen fühlen.« 6 Seine Absicht ist es, einen Film zu drehen, der im

Kontext der Nachkriegszeit das persönliche Ringen um und das mögliche Scheitern

des christlichen Glaubens zeigt: »Er zeugt von der Wirklichkeit, wie sie ist,

er zeugt von der Existenz einer göttlichen Kraft, die sich erweist. Und er sagt uns,

dass der Mensch nichts dazu tun kann, das Ineinanderwirken dieser Wirklichkeiten

zu beschleunigen oder gar zu vollziehen. Er kann nur daran glauben und darauf

warten.« 7 Sein Film »Nachtwache« (1949), in dem zwei Pfarrer konfessionelle

3

Vgl. Julia Helmke, Kirche, Film und Festivals. Geschichte sowie Bewertungskriterien

evangelischer und ökumenischer Juryarbeit in den Jahren 1948–1988, Studien zur

Christlichen Publizistik 11, Erlangen 2005, 91, sowie Rudolf Worschech, Im Geiste des …

75 Jahre Evangelische Filmpublizistik, in: epdfilm, 10/2023, 13–15.

4

Die »Jury der Evangelischen Filmarbeit« zeichnet bis heute unter dem Titel »Film des

Monats« herausragende Filme in evangelischer Perspektive aus, vgl. zu Kriterien und

Filmauswahl www.film-des-monats.de (abgerufen am 31. 10. 2023).

5

In diesem Artikel wird der Fokus ganz auf die Evangelische Kirche gelegt. Die Filmarbeit

der römisch-katholischen Kirche hat sich ähnlich, wenn auch weitgehend unabhängig

entwickelt. Es gab einen Filmbeauftragten, die Monatszeitschrift »Filmdienst der

Jugend«, die als »film-dienst« bis heute im Online-Bereich als renommierte Filmzeitschrift

Bestand hat, die Gründung einer bis heute existierenden katholischen Filmkommission

und ebenfalls die Mitwirkung an der FSK. Informativ hierzu ist: Christian Kuchler,

Katholische Filmarbeit in Bayern 1945–1965, Paderborn 2006; Thomas Schatten, 50 Jahre

film-dienst. Ein Beispiel über das Verhältnis von Kirche und Kultur in der Bundesrepublik

Deutschland, Düsseldorf 1997 oder die Beiträge im Sammelband des Rottenburger Jahrbuch

für Kirchengeschichte 40/2021, Stuttgart 2022 mit Schwerpunkt Film und katholische

Kirche.

6

Harald Braun, Probleme des religiösen Films, in: Kirche und Film. Ein Zeitproblem,

1948, 12.

7

Ebd., 18.


Mission als blinder Fleck in der evangelischen Filmarbeit? 69

Grenzen überschreiten, um Menschen nach Schicksalsschlägen auf ihrer Suche

nach Sinn und Geborgenheit zu helfen, und »Der fallende Stern« (1950), bei dem

ein Magier und ein Engel um die Seele eines Kindes streiten und damit beide

die Frage nach Glaubensvergewisserung stellen, sind große Publikumserfolge. 8

In der Eigenbeschreibung und auch in der Literatur wird der Begriff der »Mission«

durch Film oder als Inhalt des Films jeweils vermieden. Dies rührt meines

Erachtens daher, dass zu dieser Zeit die Qualität von Verkündigung dem Medium

Film in der evangelischen Filmarbeit weitgehend abgesprochen wird. 9 Landesbischof

Hanns Lilje fasst es auf der zweiten großen EKD-Tagung zu »Kirche und

Film« im hessischen Bad Schwalbach 1950 in folgende Worte: »Die Kirche nimmt

Stellung zum Film […], weil es im Film, der zweifellos zu einem der bedeutendsten

Mittel der Massenbeeinflussung geworden ist, nicht nur anständige Dinge

zu sehen gibt.« 10 Auf dieser Tagung entsteht die sogenannte ›Magna Charta der

Evangelischen Filmarbeit‹ mit sieben Thesen. Die ersten beiden Thesen, die die

ambivalente Verhältnisbestimmung am deutlichsten widerspiegeln, lauten:

1. Wir stimmen darin überein, dass die Gesundung des deutschen Filmes und die

Herstellung von Qualitätsfilmen nicht allein oder vornehmlich von wirtschaftlichen

Voraussetzungen abhängen: Vielmehr kommt es darauf an, in der Filmgestaltung das

echt Menschliche zu bewahren und durch sie die heiligenden Kräfte der Lebensgestaltung

zu stärken. […]

2. Wir wenden uns dagegen, dass Inhalt und Form der christlichen Verkündigung in

sogenannten ›religiösen‹ Filmen lediglich als Humanität oder Sentimentalität oder

gar sadistische Sensationen verfälscht werden. Wir müssen auch bitten, die filmische

Darstellung der göttlichen Offenbarung (Christusleben, Vorgang des Wunders, Vollzug

der Sakramente) zu vermeiden. […] 11

8

»Nachtwache« wird der geschäftlich erfolgreichste Film des Jahres 1950 und in Venedig

auf der Biennale 1951 als bester deutscher Film ausgezeichnet, vgl. dazu: https://www.

stadtarchiv.goettingen.de/texte/filmplakate_nachtwache.htm (abgerufen am 31. 10. 2023)

und: Harald Braun, Nachtwache, München 1950. Die Filmproduktion wird sowohl von

der evangelischen als auch von der katholischen Kirche finanziell unterstützt.

9

Vgl. Charles Ford, Der Film und der Glaube. Ein Handbuch und Wegweiser für die

Fachwelt und Filmfreunde, Nürnberg 1955, 12: »Die Kirche ermisst heute die Möglichkeiten

dieser neuen Filmkunst als Ideenverbreiter. Sie bedient sich des Films selbst ebenso sehr

als sie trachtet, jenen die Handlungsfreiheit zu beschränken, die den Film gebrauchen

zum Nachteil der christlichen Moral und des Glaubens.« Anders fasst es der evangelische

Theologe Hermann Rück in seiner Publikation »Der Film im Raum der Evangelischen

Gemeinde«, München 1957, 8: »Film: ›Moral oder Unmoral?‹ ist nicht die Kardinalfrage an

die Gemeinde, sondern: ›Film, eine Macht zu Gott oder wider Gott?‹«

10

Vgl. u. a. Evangelischer Film-Beobachter, Zehnjahresverzeichnis 1948–1958, München

1958, 161.

11

Vgl. Helmke, Kirche (wie Anm. 3), 94–96.


70 Julia Helmke

2. 1950er–1960er Jahre: Von Filmbewertung zu

Kriterienentwicklung und Paradigmenwechsel

Die 1950er Jahre sind in der Evangelischen Filmarbeit von weiterem Ausbau und

später auch wachsender Ernüchterung geprägt. 1955 wird in Arnoldshain das

»Evangelische Filmwerk« gegründet, doch es wird zugleich vor allem für die Institution

Kirche unklarer, wozu dieses Engagement dient, welcher Art von Filmen

sich die evangelische Kirche positiv annehmen und mit welchem Anspruch und

Kriterienkatalog sie zur Verbesserung des Filmniveaus beitragen will. 12 Das Kriterium

»moralisch« ist in diesen Jahren eines der prägendsten bei Filmbewertungen.

Es geht darum, den Christenmenschen und darüber hinaus die gesamte

Gesellschaft vor dem unmoralischen Film zu bewahren. Exemplarisch wird dies

deutlich bei der Überschrift »Barmherzigkeit für Lieschen Müller!« 13 Ab dem Jahr

1960 verändert sich der Schwerpunkt der Filmarbeit in Richtung Filmkritik und

einer wachsenden Präsenz von evangelischen Jurys auf den wichtigen internationalen

Filmfestivals. Die Spannung zwischen einer sich professionalisierenden

evangelischen Filmarbeit und der Institution Kirche, die ihre Unterstützung stärker

zurücknimmt, da das Medium Film keinen klaren kirchlichen Nutzen zu haben

scheint, findet einen sichtbaren Ausdruck in dem Ratschlag, den Bischof Otto

Dibelius beim fünften kirchlichen Berlinale-Empfang 1964 den Filmschaffenden

zuruft: »Machen Sie anspruchslose Filme, die zu nichts dienen, als die Menschen

für eine halbe Stunde zu entspannen. Es kann ruhig auch ein bisschen Kitsch

dabei sein.« 14 Die nationale und internationale evangelische Filmarbeit reagiert

entsetzt, da sowohl der hohe künstlerische Anspruch an Filmkultur negiert wird

als auch der sich entwickelnde Paradigmenwechsel von Film als Teil gesellschaftlicher

Wirklichkeit, der sich von dem alleinigen Fokus auf Kirche und ihr Verhältnis

zum Film emanzipiert. Die Frage nach einer Wertschätzung von Unterhaltung

im und durch Film, die spezifisch protestantische Skepsis gegenüber dem populären

Kino, wird erst ab den 1990er Jahren konstruktiv aufgenommen in den Arbeiten

der Praktischen Theolog:innen Inge Kirsner, 15 Jörg Hermann oder Bettina

Brinkmann-Schaeffer.

12

So lautet die 2. Tagung der Arnoldshainer Filmgespräche 1957, die bis in die

2010er Jahre begleitet von einer hochkarätigen Publikationsreihe laufen: »Der

Publikumsgeschmack«, vgl. Helmke, Kirche (wie Anm. 3), 116.

13

Vgl. Evangelischer FIlmbeobachter 1954, 473 bei Quaas, Filmpublizistik (wie Anm. 1),

330.

14

Vgl. Kirche und Film 7/1964, 13, ausführlicher in: Helmke, Kirche (wie Anm. 3),

147.

15

Die Dissertation von Inge Kirsner »Erlösung im Film« (1996) hat erstmalig auch

Block buster und Thriller als theologisch valide und relevant erklärt. Jörg Hermrmann

weist in seiner Dissertation darauf hin, dass »lange Zeit das europäische Kunstkino

[allein] im Mittelpunkt des Interesses kirchlicher Filmarbeit stand«, so in Jörg Hermann,

Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film, PThuK4, Gütersloh


Mission als blinder Fleck in der evangelischen Filmarbeit? 71

Während Werner Hess in den 1950er Jahren für das Wächteramt von Kirche

wirbt, um in Liebe zu warnen und zu helfen, und schreibt: »Wir wollen deshalb

auch frei sein, die wunderbaren Instrumente und Entdeckungen richtig zu nutzen,

die Gott dieser Generation gegeben hat und zu denen das Kino zählt«, 16 sieht

er im Jahr 1967 den volksmissionarischen Akzent protestantischer Filmarbeit

als gescheitert an. Aus seiner Sicht geht es nicht mehr darum, Gemeindeglieder

und Kirche an sich bei der Filmauswahl zu beraten, zu warnen, zu mahnen, zu

empfehlen und zu fördern, sondern »in einem Bereich, der für die evangelische

Kirche bisher ein absolut weißes Niemandsland gewesen ist, nämlich dem Bezirk

kultureller Wertung künstlerische Maßstäbe, durch Beispiele eine Linie zu

erarbeiten«. 17

Mission in der evangelischen Filmarbeit meint in den 1950er bis 1960er Jahren

zweierlei: Zum einen ist es eine »innere Mission«. Der »religiöse Film« dient

der Glaubensstärkung. Dies geschieht vor allem durch Filmbewertung, so im

»Evangelischen Film-Beobachter«, anders auch in der Evangelischen Film-Gilde

oder der Mitwirkung in der FSK. Zu Beginn liegt der Fokus auf dem explizit religiösen

Film, der der Glaubensstärkung dient. Später wird stärker im kommerziellen

Filmschaffen zwischen dem hilfreichen und schädlichen Film unterschieden.

In den ersten Nachkriegsjahren gibt es den Filmreisedienst der Inneren Mission,

mit sogenannten Filmmissionare, die vor allem in ländlicheren Gebieten in Gemeinderäumen

(oder auch in den Hinterstuben von Gasthäusern) Filme vorführen.

Diese Arbeit wird bis Ende der 1960er Jahre zumeist mit Multiplikator:innen

und durch Produktionen von Matthias-Film gewährleistet. Deren Filmpakete bestehen

aus Filmen, die über den Glauben informieren, Dokumentarfilmen und

ausgewählten Spielfilmen. 18

Der zweite Aspekt von Mission besteht in der Mission der Kirche gegenüber

dem Medium Film und vollzieht sich zumeist in Grenzziehung und dem Ringen

um eine Definition, was ein guter Film sei. Prägend ist hier vor allem die Über-

2001. Bettina Brinkmann-Schaeffer geht mit ihrem Dissertationstitel noch einen Schritt

weiter: Kino statt Kirche? Zur Erforschung der sinngewährenden und religionsbildenden

Kraft populärer zeitgenössischer Filme, Rheinbach 2000.

16

Vgl. InterfilmInformationen 3/1958, 27 in Helmke, Kirche (wie Anm. 3), 128.

17

So in »Kirche und Film« 3/1967, 4.

18

Vgl. hierzu auch https://www.matthias-film.de/uber-uns#home-geschichte (ab geru

fen am 31. 10. 2023). Der von den Besuchszahlen außerordentlich überzeugende USamerikanische

Film »Martin Luther« von Irving Pichel wird von der extra gegründeten

Luther-Film GmbH mit Matthias-Film als einzigem Gesellschafter co-produziert. »Martin

Luther« erhält eine Oscar-Nominierung und wird bis zum Film »Luther« (2003) der letzte

maßgeblich von kirchlichen Geldern unterstützte erfolgreiche Spielfilm. Zu der Geschichte

der Luther-Filme und ihres missionarischen Impetus vgl. Julia Helmke/Johanna Haberer,

Bewegtes Lutherbild. Arbeitshilfe für den evangelischen RU an Gymnasien, Folge II/2003,

13–25 sowie Julia Helmke, Reformation und Bild. Oder: Was gibt es im zeitgenössischen

Kino an Reformationsmotiven zu entdecken, in: S. Schaede (Hg.), Reformation ins Bild

bringen, Loccumer Protokolle 81/12, Loccum 2013, 57–76.


72 Julia Helmke

zeugung, dass gegenüber dem Film ein kirchliches »Wächteramt« wahrzunehmen

sei, und die Sorge um das sittliche und religiöse Empfinden. 19

Ab den 1960er Jahren entwickelt sich die Präsenz auf internationalen Filmfestivals

zu einem anerkannten Teilaspekt evangelischer Filmarbeit und wird

vor allem durch die 1955 in Paris gegründete internationale Filmorganisation

INTERFILM gewährleistet. 20 Deren Mission wird es, je länger, desto stärker, mit

überzeugenden Juryentscheidungen einen Beitrag zur Filmkultur zu leisten und

dadurch Kirche als Teil kultureller Öffentlichkeit zu etablieren. Sie fragt, in welchen

Filmen sich »Spuren des Evangeliums« entdecken lassen. Der niederländische

reformierte Theologe Anton Dronkers schreibt hierzu 1967: »Jeder Film, der

uns mit der Realität menschlichen Lebens konfrontiert, ist es wert, von Seiten der

Kirche beachtet zu werden. Denn das Wort Gottes wurde Fleisch und Gott liebt

diese Welt des Fleisches.« 21

Dies bedeutet, dass in der evangelischen Filmarbeit in der Folge eine bewusste

Zurückhaltung einsetzt bei der Auswahl und Prämierung von Filmen mit

explizitem Bezug zu Religion, Glaube und Kirche. So formuliert der langjährige

Präsident von Interfilm, der Schweizer Publizist Friedrich Hochstrasser im Jahre

1966: »Wir glauben allerdings, dass es fruchtbarer wäre, auch im Film die Auseinandersetzungen

mit den nicht religiösen Grund-Anschauungen und den vielen,

sich daraus ergebenden Konsequenzen ausdrücklich an die Hand zu nehmen,

statt auf die positiven Taten des Christentums […] hinzuweisen. Mit solchen Filmen

würden wir nur wieder unter uns bleiben. Wir müssen aber endlich hinaus

in die Welt.« 22

3. Beispiele für ausgezeichnete Filme in der

evangelischen Filmarbeit

Die Ausnahme von der Regel, stärker gesellschaftsbezogene denn Filme mit explizitem

«Glaubens-Content« auszuzeichnen, geschieht im ersten Jahr der Teilnahme

einer evangelischen Jury auf der Berlinale. Die INTERFILM-Jury zeichnet

»Lilien auf dem Felde« (Lilies of the Field/USA 1963) von Regisseur Ralph Nelson,

basierend auf dem gleichnamigen Roman von William E. Barrett, aus.

19

Vgl. hierzu Quaas, Filmpublizistik (wie Anm. 1), 205–271.

20

Vgl. dazu u. a. Helmke, Kirche (wie Anm. 3), 120–139. Ab 1973 (Filmfestival Locarno)

verbinden sich nach und nach aus evangelischen und katholischen Jurys zu ökumenischen

Juryarbeit, ebd., 211–15 u. a. m.

21

Vgl. IFI (InterfilmInformationen) 2/1957, Zürich/Lausanne 1957, 27 sowie

Helmke, Kirche (wie Anm. 3), 126 f. A. Dronkers bezieht in seinen Ausführungen auch

genreübergreifende Filmbeispiele wie den Cowboyfilm mit ein. Die deutsche Diskussion

bewegt sich in der Zeit stärker im sogenannten Arthouse-Bereich.

22

Film und Radio, 15/1966, Zürich 1966, 3.


Mission als blinder Fleck in der evangelischen Filmarbeit? 73

Der Film handelt von Homer Smith, gespielt von dem Afroamerikaner Sydney

Poitier, der als Gelegenheitsarbeiter durch Arizona reist. Eines Tages hält er mit

der Bitte um Kühlwasser an einer kleinen Farm an und trifft auf fünf deutsche Nonnen,

die einige Monate zuvor aus der DDR geflüchtet sind, um sich nun eine neue

(Glaubens-)Existenz in Arizona zu schaffen. Die Oberin, Schwester Maria, sieht in

ihm einen Mann, um den sie zu Gott gebetet hat, und beauftragt ihn sogleich, das

Dach zu reparieren. Daraus entspinnt sich eine Geschichte der Ablehnung dieser

Bitte Homers und dann doch dem Zugeständnis mit einigen humorvollen Nebenschauplätzen,

die die unterschiedliche Religiösität der Schwestern, des Baptisten

Homer und der mehrheitlich spanischsprechenden katholischen Nachbarschaft

einbeziehen. Homer hilft den Schwestern beim Englischlernen, singt mit ihnen

Gospel, inkulturiert sie sozusagen. »Lilien auf dem Felde« ist eine Komödie, die

mit Gegensätzen und dem Fremden und Fremd-Sein spielt, den unterschiedlichen

kulturellen und konfessionellen Kontexten. Der lebenslustige Homer hilft

den asketischen Schwestern beim Übergang aus der kommunistischen und engen

DDR in die Weite einer scheinbar liberalen weitherzigen USA und in allem dabei

Gott zu vertrauen, folgend dem Zitat aus der Bergpredigt in Matt. 6, 28. Nach Fertigstellung

des Baus der kleinen Kapelle verabschiedet er sich und ziehet seines

Weges fröhlich. Als Besonderheit wird der Film nicht mit »The End«, sondern mit

»Amen« beschlossen. In der Begründung der Jury heißt es zur Auszeichnung:

»weil der Film auf liebenswürdige und heitere Weise eine Begegnung verschiedenartiger

Glaubens- und Lebensformen schildert und damit auf seine Weise zur

Förderung des ökumenischen Gedankens beiträgt.« 23 Die Filmzeitschrift Cinema

schreibt prägnant als Fazit: »Selten wurde derart freundlich missioniert.« 24 Interessanterweise

spielen Fragen von Rassismus keine Rolle, Grenzziehungen sind

vorhanden, sie werden jedoch als individuell und überwindbar dargestellt. Der

Film bleibt von seinem Sujet her in der Landschaft des internationalen Wettbewerbs

bei Filmfestivals, vor allem abr auch für evangelische bzw. ökumenische

Filmjuryarbeit eine absolute Ausnahme. Es wird bis zum Jahr 2010 dauern, dass

auf einem der wichtigen internationalen Filmfestivals ein Film mit Ordensleuten

wieder ausgezeichnet wird. Es ist der französische Film »Von Menschen und Göttern«

von Xavier Beauvois.

Im Folgenden sollen hier in aller Kürze einige Filme vorgestellt werden, die

in historischer Perspektive exemplarisch das Ringen um eine Verhältnisbestimmung

von Kirche und Kino/Film und Theologie aufzeigen: Dies ist zum einen der

Film »Frage 7« von Stuart Rosenberg aus dem Jahr 1962. Er wird teilweise von

Matthias-Film mitfinanziert und erzählt von einer Pfarrersfamilie in der DDR, die

Repressalien aufgrund ihres Glaubens ausgesetzt ist. Insbesondere trifft dies den

23

Kirche und Film 7/1963, 11 und vgl. Helmke, Kirche (wie Anm. 3), 386 f. Hauptdarsteller

Sidney Poitier gewann einen Golden Globe, den silbernen Bären und einen Oscar als bester

Hauptdarsteller. Er war damit der erste Afroamerikaner, der in dieser Kategorie den Oscar

gewann.

24

Vgl. https://www.cinema.de/film/lilien-auf-dem-felde,89762.htmlhttps://www.

cinema.de/film/lilien-auf-dem-felde,89762.html (abgerufen am 31. 10. 2023)


74 Julia Helmke

Sohn Peter, der einen (fiktiven) Fragebogen an seiner Schule ausfüllen muss, um

so über sein Verhältnis zum sozialistischen Staat Auskunft zu geben. Die Frage 7

lautet: »Welches waren die vorherrschenden Einflüsse auf meine gesellschaftliche

Entwicklung?« Dies stürzt ihn in Gewissenkonflikte, am Ende wählt er die Flucht

nach West-Berlin, seine Eltern entscheiden sich dagegen, um bei ihrer Gemeinde

zu bleiben. »Frage 7« wird massiv beworben, selbst von der Kanzel herab. Die

Jury der Evangelischen Filmarbeit entscheidet sich, ihn nicht als besten Film des

Monats zu nominieren, er ist ihnen als kirchliche Auftragsarbeit künstlerisch

nicht herausragend genug und wohl auch zu explizit belehrend und politisch einseitig,

was von Seiten der Institution Kirche als Affront gesehen wird. 25

Evangelische Filmarbeit positioniert sich auch bei Ingmar Bergmans Film

»Das Schweigen« aus dem Jahr 1963, dem wohl meistdiskutierten Film der 1960er

Jahre, der 1964 im deutschen Bundestag zu einer öffentlichen Debatte führte, inwieweit

der Film ohne Schnitte zu zeigen sei. Die Theologin Anne Kathrin Quaas

hat in ihrer Grundlagenarbeit zur Evangelischen Filmpublizistik diese ausufernde

Kontroverse auf vierzig Seiten kondensiert. 26 Die beiden evangelischen Filmpublikationen

haben durch ihre Berichterstattung zu einer Tradierung der theologischen

Interpretation, konkret der These vom Schweigen Gottes beigetragen.

Evangelische Filmarbeit und Filmkritik nahm »Das Schweigen« nicht in erster

Linie als sittlichen Tabubruch, sondern als Filmkunst wahr, anders als zahlreiche

Demonstrationen vor Lichtspielhäusern von konservativen und stärker evangelikal

geprägten Gläubigen. 27

Fast zwanzig Jahre später erregt ein deutscher Film, eine Satire um einen

wiedergekehrten Jesus, wiederum die Gemüter. Es ist »Das Gespenst« von Herbert

Achternbusch. Die lebensgroße Christusfigur, der 42. Herrgott einer bayrischen

Klosterkirche, vom Regisseur selbst gespielt, steigt vom Kreuz und zieht

mit der Oberin des Klosters an seiner Seite durch Bayern, trifft auf die Polizei,

einen Bischof und Münchner Passanten. Er verwandelt sich wiederholt in eine

immer schwächer werdende Schlange, um am Ende, im Schnabel der in einen

Greifvogel verwandelten Oberin, in die Lüfte zu steigen. Die Jury der Evangelischen

Filmarbeit zeichnet ihn als Film des Monats aus, der Deutsche Evangelische

Kirchentag zeigt ihn 1983 beim Kirchentag in Hannover. Der Leiter der

Zentralstelle Medien der katholischen deutschen Bischofskonferenz, Prälat Wilhelm

Schätzler, erklärt, dass er für die Nominierung kein Verständnis habe und

sie als »ernste Belastung« der ökumenischen Beziehungen sehe. Der Rat der EKD

und der Vorstand des Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Publizistik distanzieren

sich in einem einmaligen Vorgang von der Entscheidung der Jury. Das

Bundesinnenministerium verweigert nach dem Vorwurf der Blasphemie zuge-

25

Vgl. dazu ausführlich Quaas, Filmpublizistik (wie Anm. 1), 450–476.

26

Ebd., 447–515. »Das Schweigen« war der dritte Teil einer lose von I. Bergmann als

Trilogie verstandenen Reihe gemeinsam mit »Wie in einem Spiegel« und »Licht im Winter«,

was später als Trilogie der »Abwesenheit Gottes« interpretiert worden ist.

27

Dies wiederholt sich abgeschwächt bei der Aufführung von »Die letzte Versuchung

Christi« von Martin Scorsese (USA 1987).



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und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Satz: Dr. Wieland Berg, Halle (Saale)

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe, Bad Langensalza

ISBN 978-3-374-07542-3 // eISBN (PDF) 978-3-374-07543-0

www.eva-leipzig.de

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