29.12.2012 Aufrufe

Leipzig lebt »bachisch« Interview mit Dr. Dettloff Schwerdtfeger

Leipzig lebt »bachisch« Interview mit Dr. Dettloff Schwerdtfeger

Leipzig lebt »bachisch« Interview mit Dr. Dettloff Schwerdtfeger

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Klavierauszug der Kantate BWV 140<br />

»Wachet auf ruft uns die Stimme«<br />

Mit stattlichen Punktierungen nähert sich der König, der<br />

Bräutigam. Die Wächter rufen einander zu: Streicher – Bläser<br />

– Streicher. Der gleichbleibende Rhythmus gibt Vertrauen,<br />

man ahnt, dass die Ewigkeit im Anmarsch ist. Die sich ständig<br />

erweiternden Melodien sorgen für Spannung – man weiß<br />

nie so richtig, wohin es geht – die Möglichkeiten sind unendlich.<br />

Aber nach jedem Ausfl ug, groß oder klein, kommt man<br />

wieder zurück zu einem Hort, der Grundtonart, oder einer<br />

Variante davon.<br />

Und nun zum ersten Mal erscheinen die Sänger <strong>mit</strong> dem<br />

bekannten Choral, in langen Noten, über die lebendig sich<br />

zurufenden unteren Stimmen. Der »Cantus Firmus«, der<br />

feste Gesang, gleich Wind und Ruder auf der Reise nach dem<br />

fernen Ziel.<br />

Es ist diese Kombination von grenzenloser Freiheit und<br />

strenger Disziplin, die uns so fest packt. Fantasie und Realität.<br />

Wurzel und Krone. Himmel und Erde. Der von Gott<br />

geschaffene Mensch steht vor uns in seiner ganzen Größe<br />

und deutet auf seinen Ursprung und sein Ziel.<br />

Philipp Nicolais herrlicher Text aus der pestgeschlagenen<br />

Stadt Unna spricht uns als die »klugen Jungfrauen«<br />

an – die »törichten« sind nicht erwähnt, aber wir wissen,<br />

dass sie auch irgendwo sind. Er könnte eine strenge Moralpredigt<br />

halten – Nicolai war ein orthodoxer Kämpfer. Aber<br />

er zieht es jetzt vor »Hosianna« zu singen. Der Bräutigam<br />

kommt ja! Es wird ein Fest.<br />

Und Bach und sein Textdichter gehen <strong>mit</strong>. Die zwei Arien<br />

sind Bilder reiner Glückseligkeit. Aus dem Hohelied Salo mons<br />

entstehen zwei Liebeslieder, die zum Schönsten der ganzen<br />

Literatur gehören. Anschaulicher geht es fast nicht. So wie<br />

Die Kantate BWV 140 »Wachet auf,<br />

ruft uns die Stimme« wurde für den<br />

27. Sonntag nach Trinitatis komponiert<br />

und am 25.11.1731 in <strong>Leipzig</strong><br />

uraufgeführt. Wahrscheinlich<br />

erfolgte eine Wiederaufführung<br />

1742, da der 27. Sonntag nach<br />

Trinitatis im Kirchenjahr nur gefeiert<br />

wird, wenn Ostern auf einen Tag<br />

vor dem 27.3. fällt, ein Umstand,<br />

den Bach nur 1690, 1693, 1704 und<br />

eben 1731 und 1742 er<strong>lebt</strong>e. Als<br />

Evangelientext liegt ihr das Gleichnis<br />

von den zehn Jungfrauen<br />

zugrunde. Als Rahmen dient das<br />

dreistrophige Lied von Philipp<br />

Nicolai von 1599 »Wachet auf,<br />

ruft uns die Stimme«. Bach und<br />

sein unbekannter Textdichter<br />

füllen noch <strong>mit</strong> freier Dichtung<br />

INFORMATIONEN ZUR KANTATEH<br />

die Wächter auf der Zinne rufen sich die Liebenden jetzt zu:<br />

»Wann kommst du?« »Ich komme«. »Ich öffne den Saal, zum<br />

himmlischen Mahl«. Die Namen werden nicht genannt, aber<br />

gemeint sind die menschliche Seele und der himmlische<br />

Bräutigam. Diese mystische Vereinigung wäre uns zu<br />

abstrakt, wenn nicht Bach dazu eine handgreifl iche musikalische<br />

Symbolik beigibt. Mit dem Zwiegespräch der Liebenden<br />

mischt sich ein anderer Dialog: Über den in festen<br />

Schritten sich bewegenden Basso continuo schlingt sich die<br />

Girlande der Solovioline wie zärtlich streichelnde Arme.<br />

Die Musik der zweiten Strophe des Chorals hat Bach<br />

selbst so gefallen, dass er sie 17 Jahre später fast wörtlich<br />

wiederholt hat – als Orgelchoral. Hier in der Kantate singen<br />

die Tenöre unisono »Zion hört die Wächter singen – das Herz<br />

tut ihr vor Freude springen«. Und alle Streicher vereinen sich<br />

und spielen dazu eine Weise, die von Sprüngen und Läufen<br />

und liebkosenden Zärtlichkeiten nur so sprudelt. Aber Ordnung<br />

muss sein: Der stetig schreitende Generalbass hält alles<br />

zusammen. Wieder Freiheit und Geborgenheit, beides gleichzeitig.<br />

Das folgende Rezitativ enthält sehr konkrete Bildsprache:<br />

»Auf meiner Linken sollst du ruhn, und meine<br />

Rechte soll dich küssen«. In dieser Zeit waren die Texte oft<br />

pietistisch geprägt. Bach war ebenso wenig wie seine Zu hörer<br />

Pietist, und vor allem war er fern von der pietistischen Prüderie.<br />

Aber er hat es hervorragend verstanden, durch seine<br />

kunstvolle Musik jeden Text zu veredeln. Das ist es eben:<br />

Wenn die Fantasie droht Amok zu laufen, sorgt der wahre<br />

Künstler wieder für Sinn und Form.<br />

Das Sensuelle ist ein ganz legitimer, ja sogar notwendiger<br />

Bestandteil der Musik. Es mag sein, dass dieses<br />

Element ab und zu verpönt war und als unpassend vermieden<br />

wurde. Aber es ganz auszurotten ist nie gelungen. Bach<br />

war auch ein Mensch von Fleisch und Blut – da geht es nicht<br />

ohne »Tremulant«, so wie eines von seinen Orgel registern<br />

auch heißt. Andererseits ist die heutige Musik oft von Sensualität<br />

so durchdrungen und überladen, dass der moderne<br />

Mensch stumpf geworden ist und die feineren Nuancen der<br />

Barockmusik nicht mehr erkennt.<br />

die Zwischenräume, sodass sich<br />

folgende Gliederung ergibt:<br />

Chor »Wachet auf, ruft uns die<br />

Stimme« für vierstimmigen Chor<br />

<strong>mit</strong> der Choralmelodie im Sopran,<br />

Oboen, Taille, Streicher, Violino<br />

piccolo und Basso continuo<br />

Rezitativ »Er kommt, er kommt,<br />

der Bräutgam kommt!« für Tenor<br />

und Basso continuo<br />

Duett »Wenn kömmst du, mein<br />

Heil?« für Sopran, Bass, Violino<br />

piccolo und Basso continuo<br />

Choral »Zion hört die Wächter<br />

singen« für Tenor, Streicher unisono<br />

und Basso continuo<br />

Rezitativ »So geh herein zu mir«<br />

für Bass, Streicher, Violino piccolo<br />

und Basso continuo<br />

Duett »Mein Freund ist mein« für<br />

Sopran, Bass, Oboe solo und Basso<br />

continuo<br />

Choral »Gloria sei dir gesungen«<br />

für vierstimmigen Chor, Instrumente<br />

und Basso continuo<br />

Die Choraltexte stammen von Philipp<br />

Nicolais. Die Rezitative und das<br />

Duett sind freie Dichtungen.<br />

Im Rahmen der Kantatenaufführung<br />

am 22.11.2008 in der<br />

Thomaskirche erklang die<br />

Kantate BWV 140, musiziert vom<br />

Thomaner chor <strong>Leipzig</strong> und dem<br />

Gewandhausorchester unter<br />

der Leitung von Thomaskantor<br />

Georg Christoph Biller.<br />

13

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!