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Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften Mitteilungsorgan des Ulmer Vereins –<br />

Verband für Kunst- und Kulturwissenschaften e.V.<br />

<strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Heft 3 2009Jahrgang 37<br />

Planetarische<br />

Perspektiven.<br />

Bilder der Raumfahrt<br />

Annette Tietenberg<br />

Tristan Weddigen<br />

Editorial 3<br />

Dunja Evers Apollo 16 7<br />

Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen<br />

Perspektive. Der Blick von oben in der Sukzession<br />

neuzeitlicher Raumvorstellungen 9<br />

Ulrike Bergermann Darstellungsraum Welt: gekrümmte Horizonte 24<br />

Joachim Block Eine Vision wird illustriert. Wernher von<br />

Braun, Chesley Bonestell und die Geburt der<br />

Space Art 34<br />

Robert Bramkamp Für ein realkomplexes Raketenmuseum 45<br />

Jasmine Wohlwend Bauen im Space Age. Je realer die Raumfahrt,<br />

desto astrofantastischer die Architektur 54<br />

Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer<br />

Suprematismus 63<br />

Christina Wessely Welteiszeit. Kälte und Kosmos 1900–1930 78<br />

Inke Arns Arctic Perspective. Planetarische<br />

Perspektiven in Zeiten des Klimawandels 90<br />

Michael Mönninger Das umgedrehte Fernrohr. Die Fernerkundung<br />

der Nahwelt – vom Himmelsblick zur Erdbeobachtung<br />

96<br />

Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht<br />

mehr zu beobachten!» – Astronomy in Action 105<br />

Alexandra Gerbaulet<br />

Karen Winzer<br />

Vom Top of Europe in den Himmel 121<br />

1


2 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Editorial<br />

Annette Tietenberg und Tristan Weddigen<br />

Editorial<br />

«Wie riecht der Mond?», fragt Hans Blumenberg in seiner astronoetischen Essaysammlung<br />

Die Vollständigkeit der Sterne – und eröffnet damit eine Dimension des<br />

Denkens, die Philosophen, Künstler und Schriftsteller für faszinierender halten<br />

mögen als professionelle Weltraumforscher. 1 Denn auf dem Mond, das ist wissenschaftlich<br />

erwiesen, ist der Mensch mangels Atmosphäre gar nicht imstande, etwas<br />

zu riechen. Die Weltraumforschung hat sich von Beginn an auf das konzentriert,<br />

was man messen, beschreiben und begreifen kann: die Darstellbarkeit und<br />

die chemisch-physikalische Zusammensetzung der Himmelskörper. So sind es –<br />

neben Gesteinsproben und Zahlen – vor allem Bilder, die in der Weltraumforschung<br />

als Wissensspeicher Akzeptanz finden. Von ihrer Analyse verspricht man<br />

sich Aufschluss über nichts Geringeres als die Entstehung der Erde, unseres Sonnensystems,<br />

ja des gesamten Universums. Was Astronauten ertasten, riechen, hören,<br />

was sie ahnen, phantasieren und träumen, hat seinen Platz in Sciencefictionromanen,<br />

nicht jedoch in den Auswertungen der Daten von Missionen der National<br />

Aeronautics and Space Administration (NASA), der European Space Agency<br />

(ESA), des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), der sowjetischen<br />

Kosmischen Streitkräfte (WKS) oder ihrer Nachfolgeorganisation Roskosmos. 2<br />

Die technischen Bilder, die Astronauten, Teleskope und Sonden zur Erde übermitteln,<br />

sind eine in der Weltraumforschung als objektiv geltende Grundlage<br />

verblüffender Thesen, ob diese nun das Vorkommen von Wasser auf dem Mars,<br />

den Carinanebel oder die kosmische Hintergrundstrahlung betreffen. Zugleich<br />

appellieren sie an die Einbildungskraft von Millionen von Menschen, die über<br />

Massenmedien Zugang zu Weltraumfotografien haben und deren kollektives<br />

Selbstverständnis vom Blickauf die Erde geprägt ist, wie ihn die Apollo-11-Mission<br />

einst eröffnet hat. Welche Erkenntnisse vermag eine Kunstwissenschaft, die<br />

sich darauf spezialisiert hat, den Status der Bilder kritisch zu reflektieren, aus der<br />

Betrachtung solch technischer Bildern abzuleiten? Welche ‹planetarischen Perspektiven›<br />

eröffnet eine Kulturwissenschaft, die anatomische Instrumente als<br />

Wahrnehmungsstrategie untersucht, Planetenmodelle in historischen Kontexten<br />

betrachtet und ikonografische Traditionen von Himmelserkundungen aufgedeckt<br />

hat? Einen ersten Einblick gibt das vorliegende Heft, das zugleich aufzeigt,<br />

wie viele Fragen der Wunsch nach Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomen<br />

noch immer aufwirft. 3<br />

Seeing is believing. Um die Plausibilität dieses Satzes wissend, stellt ihn der<br />

Physiker Stephen Hawking seiner telegenen Version der Schöpfungsgeschichte<br />

als Motto voran. 4 Sichtbarkeit verheißt Evidenz. Sehen kann man auf dem Mond<br />

weit besser als auf der Erde. Fotografieren ebenfalls. «Keine atmosphärische Trübung<br />

mindert die Optik», notiert Blumenberg. 5 So war die erste Mondlandung<br />

3


4 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> vom 20. Juli 1969 nicht zuletzt eine – wenn auch von den Ingenieuren der NASA<br />

zunächst völlig unterschätzte – fotografische Expedition.<br />

3.2009<br />

6 Und zwar eine ausgesprochen<br />

erfolgreiche, auch wenn die Astronauten zwecks Reduzierung des<br />

Startgewichts die speziell für den Mondeinsatz umgerüsteten, mit verzerrungsfreien<br />

Linsen ausgestatteten Kameras auf dem Erdtrabanten zurücklassen mussten.<br />

Das Equipment wurde gegen etwas weitaus Kostbareres eingetauscht: Bilder,<br />

«die nie ein Mensch zuvor gesehen hat». 7 Die vintage prints, darunter auch<br />

die vielfach veröffentlichte Aufnahme des Astronauten Buzz Aldrin, der im Mondstaub<br />

posiert, wobei sich in der goldbedampften Sichtscheibe seines Raumanzugs<br />

der Gefährte und Fotograf Neil Armstrong sowie der Sockel der Landefähre<br />

Eagle spiegeln, sind heute, vierzig Jahre nach der ersten Mondlandung, gefragte<br />

Sammlerstücke. 8 Sie werden gleichermaßen als wissenschaftliche wie als ästhetische<br />

Sensation geschätzt.<br />

Nicht zuletzt aber sind sie Beweisstückeines beispiellosen Triumphzugs der<br />

amerikanischen Raumfahrtbehörde im Kalten Krieg, weswegen man sie in hoher<br />

Qualität und kostenlos von der Website der NASA herunterladen und unkontrolliert<br />

weiterverwenden darf. Anknüpfend an die Geschichte der analogen Fotografie,<br />

der Mitte des 19. Jahrhunderts die Eigenschaft zugeschrieben wurde, objektiv<br />

zu sein, da sie auf einem Verfahren der ‹Selbstabbildung› basiere, verleiht die NA-<br />

SA ihren Unternehmungen Glaubwürdigkeit und Relevanz durch die Verbreitung<br />

von Bildern. 9 Zu diesem Zweckentwickeln Softwareingenieure nicht nur Programme,<br />

die so genannte ‹Bildstörungen› entfernen, sondern auch solche, die die<br />

zunehmende Glätte und hohe Auflösung der digitalen Fotografien in ihr Gegenteil<br />

verkehren: Den Bildern wird gezielt der Anschein analoger Produktion verliehen,<br />

indem man ihnen eine Art von malerischem ‹Grundrauschen› und Reflexe<br />

implantiert. 10 Hinzu kommt, dass die Bilderfassung in den letzten Jahrzehnten<br />

an so genannte imagers, automatisierte Bildaufzeichnungsinstrumente von Satelliten,<br />

delegiert wurde. Der subjektive Faktor ‹Mensch›, dessen sensorische Fähigkeiten<br />

im wissenschaftlichen Kontext im Verdacht stehen, unzuverlässig zu sein,<br />

konnte mithin bei der Bildproduktion zur Gänze ausgeschaltet werden.<br />

Es ist, als verdankten sich die Bilder vom Universum einer höheren Sicht und<br />

einem übergeordneten Interesse. Als die älteste europäische Raumsonde Ulysses<br />

im Sommer 2008 nach siebzehn Jahren im All in den Ruhestand ging, sagte Ed<br />

Smith, Projektwissenschaftler am Jet Propulsion Laboratory, der die Mission gemeinsam<br />

mit der ESA betreut hatte: «Während ihrer langen Laufzeit hat Ulysses<br />

unser Bild der Heliosphäre neu definiert.» 11 Dem Wechselspiel von Vertrautheit<br />

und Fremdheit, das Einfluss auf unser Bewusstsein sowie unsere Wahrnehmung<br />

von Welt und Kosmos nimmt, widmet sich auch die Wissenschaftshistorikerin<br />

Charlotte Bigg. Im Zuge einer Untersuchung der Daten, die die ESA im Januar<br />

2005 anlässlich der Landung der Weltraumsonde Huygens auf dem Saturnmond<br />

Titan ins Internet stellte, kam sie zu dem Schluss, dass es die Bilder waren, «welche<br />

in dieser Mission und ihrer Vermarktung gegenüber einer breiten Öffentlichkeit<br />

die Hauptrolle spielten». 12 Sie spricht in diesem Zusammenhang sogar von<br />

einem furor videndi, einem Seheifer, von dem die Weltraumforschung durchdrungen<br />

sei. 13 Dieser Furor bringt mitunter Bilder hervor, die mit der Imaginationskraft<br />

von Künstlern und Filmemachern nicht nur konkurrieren, sondern diese gar<br />

überflügeln können. So gab Filmregisseur Adrian Maben zu, dass die Aufnahmen<br />

des Hubble-Weltraumteleskops exakt das seien, was er vor über dreißig Jahren


Editorial<br />

gesucht habe, als er eine vollkommene Verschmelzung von Musik und Bild anstrebte.<br />

14 Angesichts der Bilder, die Hubble aus dem Weltraum übermittelte, entschloss<br />

er sich dazu, den 35-mm-Film Pink Floyd – Live at Pompeii aus dem Jahr<br />

1972 mit einem neuen Vor- und Nachspann zu versehen. Der auf DVD übertragene<br />

director’s cut von 2003 schlägt nun einen weiten Bogen vom Weltraum zu den<br />

Ausgrabungsstätten von Pompeji.<br />

Von welcher Art sind die Bilder, die uns aus dem Weltraum erreichen? Wie<br />

werden sie erzeugt, bearbeitet, archiviert? Welche Stufen des vermittelten Sehens<br />

– Fernrohr, Kamera, Monitor – durchlaufen sie? 15 In welchem Maße ist ihre<br />

Existenz gebunden an Technikgeschichte? 16 Nach welchen Gesichtspunkten<br />

wählen Mitarbeiter der ESA und NASA Satellitenbilder aus, um sie, etwa auf ihren<br />

Websites, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Welche Auffassung von<br />

Raum tritt in diesen Bildern zutage? Welche Auswirkungen haben sie auf unser<br />

Sehen und Denken? Und nicht zuletzt: In welchen Traditionen stehen sie? Rekurrieren<br />

sie auf Vorbilder aus der Kunst, etwa auf die romantische Landschaftsmalerei?<br />

Sind sie somit Teil der Kunstgeschichte? Und wirken sie sich auf die gegenwärtige<br />

Kunst- und Filmproduktion aus?<br />

Fragen wie diese wurden im Rahmen der von Annette Tietenberg konzipierten<br />

Tagung Planetarische Perspektiven diskutiert, die im November 2008 in der Aula<br />

der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig stattfand. In ihren Beiträgen<br />

zum vorliegenden Heft, das mit organisatorischer Unterstützung von Burkhard<br />

Krüger erscheint, präzisieren ausgewählte Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

der Tagung nun ihre Antworten. Um aufzeigen zu können, vor welchem kulturhistorischen<br />

Horizont sich ‹planetarische Perspektiven› entfalten, wurde der<br />

Kreis der Autorinnen und Autoren erweitert. Es kommen – neben Kunst-, Medienund<br />

KulturwissenschaftlerInnen – KünstlerInnen, FilmemacherInnen, ein Physiker<br />

und eine Philosophin zu Wort. Dennoch sind, soviel ist gewiss, ‹planetarische<br />

Perspektiven› nicht erschöpfend zu behandeln. Sie streifen das Unendliche. Sie<br />

sind gerade deshalb ein ideales Forschungsfeld für eine Bildwissenschaft, die<br />

sich im Zuge des pictorial turn Bildwelten zuwendet, die an der Grenze von Natur-,<br />

Kultur- und Ingenieurwissenschaften angesiedelt sind. 17 Denn nur eine Bildwissenschaft,<br />

die zur Transdisziplinarität bereit ist, wird in der Lage sein, die<br />

ikonografischen, historischen, medialen, ideologischen und technologischen Implikationen<br />

von Bildern zu erschließen, die uns zwar allgegenwärtig, aber dadurch<br />

nicht minder schwer verständlich sind.<br />

5


Anmerkungen<br />

1 Hans Blumenberg, Die Vollständigkeit der<br />

Sterne, Frankfurt am Main 1997, S. 478.<br />

2 Vgl. Ray Bradbury, «Der Raumfahrer», in:<br />

ders., Der illustrierte Mann, Zürich 1977, S. 112–<br />

128.<br />

3 Vgl. Martin Kemp, Bilderwissen. Die Anschaulichkeit<br />

naturwissenschaftlicher Phänomene,<br />

Köln 2003.<br />

4 Vgl. Stephen Hawking’s Universe, Bd. 1, Seeing<br />

is Believing, Dokumentarfilm-TV-Serie, PBS<br />

1997.<br />

5 Blumenberg, 1997 (wie Anm. 1), S. 478.<br />

6 Sie steht in der Tradition der Nilexpedition,<br />

mit der die französische Regierung 1849 Maxime<br />

du Camp beauftragte.<br />

7 Vgl. Vorspann der TV-Serie Raumschiff Enterprise<br />

(1972), der für das deutsche Fernsehen<br />

synchronisierten Fassung von Star Trek (1966–<br />

1969).<br />

8 Vgl. Hermann-Michael Hahn, «Hinterm Horizont<br />

geht’s weiter. Wenn die Erde überm<br />

Mond aufgeht: In Berlin werden jetzt Fotos von<br />

den frühen bemannten Raumflügen versteigert»,<br />

in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,<br />

25. Mai 2008, Nr. 21, S. 59.<br />

9 Lorrain Daston und Peter Galison, Objektivität,<br />

Frankfurt am Main 2007.<br />

10 Vgl. Michael Lynch und Samuel Edgerton,<br />

«Abstract Painting and Astronomical Image<br />

Processing», in: The Elusive Synthesis: Aesthetics<br />

and Science, Dordrecht/London 1996, S. 103–<br />

124.<br />

11 Dpa-Meldung vom 15. Juli 2008.<br />

12 Charlotte Bigg, «Bilder des Titans», in: Bildwelten<br />

des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch<br />

für Bildkritik, Bd.5,2Imagination des Himmels,<br />

Berlin 2007, S. 9–19, hier S. 10.<br />

13 Ebd.<br />

14 Paul Powell/Matt Johnshttp, An Interview<br />

With Adrian Maben, in: http//www.brain-damage.co.uk/other-related-interviews/adrian-maben-live-at-pompeii-2003-with-brain-d.html.<br />

Zuletzt aufgerufen am 30. Juni 2009.<br />

15 ‹Sehen› wird hier, mit Bezug auf Jonathan<br />

Cray, als historische Konstruktion begriffen.<br />

«Die betreffenden optischen Geräte sind, und<br />

das ist überaus wichtig, Schnittpunkte, an denen<br />

philosophische, wissenschaftliche und ästhetische<br />

Diskurse mit mechanischen Techniken,<br />

institutionellen Erfordernissen und sozioökonomischen<br />

Kräften zusammentreffen.» Jonathan<br />

Crary, Techniken des Betrachters. Sehen<br />

und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel<br />

1996, S. 19.<br />

16 Nicht nur ihre Entstehung, auch die Methoden<br />

ihrer Entschlüsselung stehen im Zusammenhang<br />

mit technologischen Innovationen.<br />

So merkt Horst Bredekamp in seiner Studie<br />

über Galileis Zeichnungen an: «Reziprokzum<br />

Fernrohr, mit dem Galilei den Himmel betrachtete,<br />

erfordert das Studium des Materials,<br />

durch das er die Phänomene festhielt, die analoge<br />

und die digitale Lupe. In der Vergrößerung<br />

tut sich ein historisches Theater aus, das zu den<br />

großen Momenten des Einsatzes visueller<br />

Denkformen gezählt werden kann. In dieser Rekonstruktion<br />

von Galileis zeichnerischer Intelligenz<br />

liegt der Kern der vorliegenden Untersuchung.»<br />

Horst Bredekamp, Galilei der Künstler –<br />

Der Mond. Die Sonne. Die Hand, Berlin 2007, S. 6.<br />

17 Vgl. W. T. Mitchell, «Pictorial Turn», in:<br />

ders., Bildtheorie, Frankfurt am Main 2008, S.<br />

101–135.<br />

6 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Dunja Evers Apollo 16<br />

Dunja Evers<br />

Apollo 16<br />

1 Dunja Evers, Apollo 16, Nr. 1/2004, C-Print handkoloriert auf Aluminium kaschiert, 39.0 × 57.5 cm.<br />

7


2 Dunja Evers, Apollo 16, Nr. 7/2004, C-Print handkoloriert auf Aluminium kaschiert, 42.0 × 57.0 cm.<br />

3 Dunja Evers, Apollo 16, Nr. 3/2004, C-Print handkoloriert auf Aluminium kaschiert, 42.0 × 57.0 cm.<br />

8 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />

Christoph Asendorf<br />

Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive.<br />

Der Blick von oben in der Sukzession neuzeitlicher Raumvorstellungen<br />

I.<br />

Auch wenn schon seit dem Zeitalter der Entdeckungen und fortan mit jeder<br />

raumbezogenen technischen Innovation über dichter werdende irdische Zusammenhänge<br />

nachgedacht wurde, so sind es doch wohl besonders die Jahre zwischen<br />

den Weltkriegen, in denen sich, vielleicht zum ersten Mal, gleichzeitig auf<br />

allen nur denkbaren Ebenen ein entsprechendes Bewusstsein zeigt. Neben aktuellen<br />

Verkehrs- und Kommunikationstechnologien, konkret der Luftfahrt und<br />

dem Radio, mag hier auch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges eine Rolle gespielt<br />

haben. Als etwa Karl Jaspers 1931 sein Buch Die geistige Situation der Zeit<br />

veröffentlichte, konnte er einen inzwischen weit verbreiteten Eindruck zusammenfassen:<br />

Als technische und wirtschaftliche Probleme scheinen alle Probleme planetarisch zu werden.<br />

Der Erdball ist nicht nur zu einer Verflechtung seiner Wirtschaftsbeziehungen und<br />

zu einer möglichen Einheit technischer Daseinsbemeisterung geworden; immer mehr<br />

Menschen blicken auf ihn als den einen Raum, in welchem als einem geschlossenen sie<br />

sich zusammenfinden zur Entfaltung ihrer Geschichte. 1<br />

An die Stelle der Vorstellung separierbarer Einheiten ist die eines übergreifenden<br />

Kontinuums getreten. Jaspers versteht diesen zivilisatorischen Entwicklungsstand<br />

als krisenhaft; seine Begleiterscheinungen seien zunehmende Nivellierung, allgemeiner<br />

Substanzverlust und Autoritätsverfall, ergo die Auflösung aller Bindungen<br />

durch das Verschwinden des Heterogenen. Die vorsichtige Antizipation eines neuen<br />

humanen Selbstverständnisses dagegen, gespeist aus einem aufgeklärten Katholizismus,<br />

findet sich zur selben Zeit bei Romano Guardini in seinen Briefen vom<br />

Comer See. Gerade dass die Erde übersehbar, «zu einem geschlossenen Feld politischen<br />

Geschehens und Handelns» wird, könnte ein neues «Kosmos-Bewusstsein»<br />

heraufbringen, ein Bewusstsein, das vom Menschen her gesehen ist und die Entwicklung<br />

der Technik auf den ihm zugewiesenen Lebensraum bezieht. 2<br />

Besonders intensiv wird die Entwicklung hin zu einem planetarischen Kontinuum<br />

in Hinsicht auf Kommunikationstechnologien diskutiert. Die geordnete<br />

Sukzession der Informationen, garantiert durch die räumliche Distanz und die<br />

Langsamkeit ihrer Übermittlung, geht über in einen Zustand der Simultaneität.<br />

Die Reaktionen auf diese Entwicklung waren zwiespältig. Der Kulturtheoretiker<br />

Aby Warburg behauptete 1923 apodiktisch: «Telegramm und Telefon zerstören<br />

den Kosmos.» 3 Diese Äußerung – er bezieht als ‹Ferngefühl-Zerstörer› auch die<br />

Gebrüder Wright mit ein – wird nur im Rahmen seiner Kulturtheorie verständlich.<br />

Warburg sieht durch die Geschwindigkeit der elektrischen Informationsübertragung,<br />

die plötzliche Nähe, das Übertragene in einen Zustand der Indifferenz<br />

zurückfallen, der chaotischen Ununterscheidbarkeit, in der Distanz, Über-<br />

9


lick und damit die Möglichkeit auseinandersetzender Reflektion vernichtet sind<br />

– das aber sind für ihn zivilisatorische Grundbedingungen. Paul Valéry hingegen<br />

preist 1928 denselben technischen Vorgang als ‹Eroberung der Allgegenwärtigkeit›.<br />

Mit dem Heraufkommen audiovisueller Medien seien weder die Materie<br />

noch Raum und Zeit das geblieben, was sie zuvor waren. Warburgs Alptraum erscheint<br />

bei Valéry als hoffnungsvolle Antizipation einer globalisierten Kultur:<br />

Man wird das Gefüge der Empfindungen – genauer: das Gefüge der Reize – überall hin zu<br />

befördern oder an jedem Orte neu zu erzeugen verstehen, das irgendein Gegenstand oder<br />

irgendein Geschehnis ausstrahlt. Die Werke werden eine Art von Allgegenwärtigkeit gewinnen.<br />

4<br />

Als ein Sinnbild der erweiterten Raumvorstellung der Epoche kann vielleicht das<br />

Naturbild dienen, das Paul Klee zur Veranschaulichung der Voraussetzungen seiner<br />

künstlerischen Arbeit wählt. Er unterscheidet das Erlebnis eines Schiffers im<br />

Altertum, der ganz selbstverständlich sein Boot benutzt, vom dem eines modernen<br />

Menschen auf einem Dampfer. Der hat Folgendes zu gewärtigen:<br />

1. die eigene Bewegung, 2. die Fahrt des Schiffes, welche entgegengesetzt sein kann, 3.<br />

die Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit des Stromes, 4. die Rotation der Erde, 5. ihre<br />

Bahn, 6. die Bahnen von Monden und Gestirnen drum herum. Ergebnis: ein Gefüge von<br />

Bewegungen im Weltall, als Zentrum das Ich auf dem Dampfer. 5<br />

Für Klee geht es nun darum, ein variables System zu erfinden, ein bildnerisches<br />

Zeichensystem, welches, changierend zwischen Anschauung und Abstraktion,<br />

zwischen Mikro- und Makrokosmos, einem energiegeladenen Raum gerecht<br />

wird, dessen einzelne Zonen interagieren und sich beständig verändern. Der<br />

Grund ist allgemeiner Natur: Unter den Bedingungen der Moderne verweist<br />

schon eine Dampferfahrt auf die hochgradige Komplexität raumzeitlicher Zusammenhänge.<br />

II.<br />

Geht man von hier aus zurückan den Ausgangspunkt neuzeitlicher Raumvorstellungen,<br />

in das 15. und 16. Jahrhundert, dann zeigt es sich immer wieder, dass eine<br />

besondere Form des Sehens als aussagekräftiger Indikator von Veränderungen<br />

herangezogen werden kann: Es ist der Blick von oben. Er kommt erstmals im Zuge<br />

der vielfältigen Erweiterung der Raumvorstellung ins Spiel, die das Zeitalter<br />

der Entdeckungen charakterisiert und die schließlich in eine planetarische Perspektive<br />

einmündet. Künstlerische Werke mit dieser ungewöhnlichen Blickrichtung<br />

treten jetzt neben die weiterhin dominierenden Horizontalsichten. Eines<br />

der frühen Beispiele einer technisch ausgereiften Vogelperspektive findet sich in<br />

der Ansicht Venedigs, die Jacopo de’ Barbari im Jahr 1500 gab (Abb. 1): Diese<br />

großformatige, aus sechs Holzschnitten zusammengesetzte Darstellung zeigt einen<br />

außerordentlichen Grad an Exaktheit und beeinflusste spätere Stadt- und<br />

Landschaftsdarstellungen auch deswegen, weil sie reproduziert und damit verbreitet<br />

werden konnte.<br />

Produktion und Distribution lagen in der Hand des Nürnberger Kaufmanns<br />

Anton Kolb, der in Italien auch die Schedel’sche Weltchronik vertrieb. 6 Wenn man<br />

wollte, könnte man Nürnberg, damals eine Stadt von europäischer Bedeutung<br />

und in dichtem ökonomischen und kulturellen Austausch mit Venedig stehend,<br />

als eines der Zentren der Erarbeitung eines neuen Weltbildes verstehen. Hartmann<br />

Schedels Chronikerschien 1493 und zählt zu den «aufwendigsten und kost-<br />

10 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />

1 Jacopo de’ Barbari, Venedig aus der Vogelperspektive, 1500. Holzschnitt, 134.5 × 282 cm, Venedig, Museo<br />

Correr.<br />

spieligsten verlegerischen Unternehmen» der Zeit. 7 Wesentlicher Bestandteil<br />

sind die Stadtansichten, meist aus der Distanz und leicht erhöhtem Blickpunkt<br />

gegeben. Im Falle der Ansicht von Nürnberg selbst korrespondiert der Überblick<br />

des Betrachters mit dem kontrollierenden des Burgherrn, über den Schedel sagt:<br />

«darvon ist ein gesichte in die statt». 8 Zeitgleich mit Schedel arbeitete Martin Behaim<br />

am Entwurf seines ‹Erdapfels›, seinem Erdglobus, der die älteste erhaltene<br />

Darstellung der Erde in Kugelgestalt ist. Da er unmittelbar vor der Reise des Kolumbus<br />

bemalt wurde, fehlt Amerika; dennoch aber ist ein Zusammenhang gegeben,<br />

das zeitgenössische Interesse an der räumlichen Gestalt der Gänze der Welt.<br />

Behaim übrigens, ein Nürnberger Patriziersohn, lebte zeitweilig in Portugal, am<br />

Hof des Königs Johann II., und reiste mindestens einmal auch nach Afrika. 9<br />

Und nicht weit von Nürnberg liegt Regensburg, die Wirkungsstätte Albrecht<br />

Altdorfers, von dem das wohl grandioseste ‹Weltbild›, der Epoche stammt, nämlich<br />

die Alexanderschlacht von 1529 (Abb. 2). Dieses Gemälde zeigt die Erde nicht<br />

nur von oben, sondern geradezu aus der supervisionären Perspektive eines Satelliten.<br />

Wo die Maler der Renaissance in der Regel allseitig fest begrenzte, überschaubare<br />

und klar geordnete Räume darstellen, da weitet Altdorfer die Perspektive<br />

bis fast ins Unendliche, zieht den Blickvom nahsichtig gesehenen Kampfgetümmel<br />

unmerklich in große Höhe. Genauer gesagt: Der Betrachter, der von einem<br />

unwesentlich erhöhten Standpunkt aus auf das Kampfgeschehen hinabblickt,<br />

gewinnt dann, wenn er den Blick in die Bildtiefe richtet, visuell an Höhe.<br />

Wo eben noch das Kampfgeschehen war, sieht er nun im Mittelgrund das gesamte<br />

östliche Mittelmeer, die Insel Zypern, das Nildelta und dahinter noch das Rote<br />

Meer, überschaubar wie in der Realität nur aus dem Weltraum – und jenseits dessen,<br />

durch eine erstaunliche, weil gebogene Horizontlinie abgetrennt, auf die<br />

sich in umgekehrter Kurve ein Wolkenband hinabsenkt, Sonne und Mond in dramatischem<br />

Licht. Wo im Vordergrund noch Details des Zaumzeuges der Pferde zu<br />

erkennen sind, da geht (fast so etwas wie ein Zoom vom Mikro- in den Makrokosmos)<br />

das Bild Raumschicht für Raumschicht in eine Darstellung kosmischer Dimensionen<br />

über.<br />

11


2 Albrecht Altdorfer, Alexanderschlacht, 1529. 158 ×<br />

120 cm, Öl auf Holz, München, Alte Pinakothek.<br />

3 Pieter Brueghel zugeschrieben, Landschaft<br />

mit Ikarussturz, Detail, 1555. Holz auf Leinwand<br />

übertragen, 73.5 × 112 cm, Brüssel, Musées Royaux<br />

des Beaux-Arts de Belgique.<br />

12 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Hier handelt es sich also offensichtlich um etwas anderes als in den gleichsam<br />

abschreitbaren Darstellungen der Renaissance; dem Blickwerden sehr weite Räume<br />

geöffnet, die da, wo es um die Darstellung geografischer Großräume geht,<br />

aus großer Höhe visiert werden. Für diesen Typ von Landschaftsbildern, bei dem<br />

es um das Zeigen eines potenziell infiniten Ganzen geht, hat sich der Terminus<br />

‹Weltlandschaft› eingebürgert. Friedrich Schlegel, der die Alexanderschlacht 1803<br />

in Paris sah, wohin Napoleon sie verbracht hatte, entdeckte eine «Welt auf wenigen<br />

Quadratfüßen» und verstand die Darstellung des Mittelmeers durchaus als<br />

eine des Weltmeers.<br />

3.2009<br />

10 Bei Altdorfer geht noch um mehr; er gibt nicht nur eine<br />

«grandiose Landkarte», sondern «eine Schau des Erdballs und des Himmelsraums»<br />

zugleich. 11 Dass hier der Blickvon oben, die erstaunliche, geradezu extraterrestrische<br />

Vogelperspektive in eine kosmische Landschaft übergeht, alles bewegt<br />

von einem übergreifenden Dynamismus, ist immer wieder emphatisch beschrieben<br />

worden. Altdorfers Werkgehört ins Zeitalter der Entdeckungen mit<br />

seinen geografischen und kartografischen Interessen. Die Alexanderschlacht steht<br />

historisch genau zwischen der ersten technisch ausgereiften Vogelperspektive<br />

Jacopo de’ Barbaris und den Weltlandschaften Pieter Brueghels.<br />

Brueghels Werkist es auch, an dem Ludwig von Baldass 1918 den Begriff der<br />

‹Weltlandschaft› entwickelt hat (Abb. 3). Der ist umfassender als ‹Vogelperspektive›,<br />

bei der es nur um den hochgelegenen Blickpunkt geht; ein Synonym wäre<br />

eher noch ‹Überschaulandschaft›. In der ‹Weltlandschaft›, die von Baldass zunächst<br />

am Beispiel der Arbeiten Joachim Patinirs aus den Jahren um 1520 beschreibt,<br />

sind Stadt und Land, Gebirge und Ebene sowie alles nur mögliche Wei-


Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />

tere vereint; der Bildraum «entwickelt sich konsequent vom vorderen Bildrand<br />

bis zum Horizont«. 12 Erst bei Bruegel aber, und besonders in dessen Spätwerk<br />

nach 1559, sei eine Entwicklung hin zu «vollster räumlicher Freiheit» zu beobachten.<br />

13 Dabei erscheinen seine Werke «unendlich organisch» dadurch, «dass nicht<br />

zuletzt durch die Kunst der atmosphärischen Zusammenfassung das kosmische<br />

Vielerlei, aus dem sie zusammengesetzt sind, sich zu einem einheitlichen Bilde<br />

vereint». 14 Der Baldass’sche Text übrigens ist eine der Stützen für die Argumentation<br />

von Max Dvorak, der nur wenig später auch am Werk Brueghels einen modernen<br />

Begriff des Manierismus entwickelt. 15<br />

Wollte man ein Bild Brueghels herausgreifen, das den Typ ‹Weltlandschaft› beispielhaft<br />

verkörpert, so wäre dies vielleicht Der Sturz des Ikarus. Bruegel lebte in den<br />

1550er Jahren, an deren Ende das Ikarus-Bild entstand, in der aufstrebenden Welthandelsmetropole<br />

Antwerpen und war unter anderem mit Abraham Ortelius befreundet,<br />

von dem der erste Weltatlas stammt. Das Bild verbindet stufenlos Nahraum<br />

und Fernsicht, einen Acker im Vordergrund, eine Hafenstadt in mittlerer Entfernung,<br />

und, schon verschwimmend, Gebirgszüge am weit entfernten Horizont,<br />

hinter dem die Sonne schon halb verschwunden ist. Der stürzende Ikarus, klein wie<br />

eine beliebige Staffagefigur, ließe sich leicht übersehen, er ist bereits kopfüber ins<br />

Wasser gestürzt, nur seine Beine sind gerade noch sichtbar. Hier aber wird es interessant:<br />

So wie räumlich vom Nahen ins Ferne ‹gezoomt›, wird, so bringt Bruegel auf<br />

erstaunliche Weise auch vergehende Zeit ins Bild. 16 Im Moment des Beginns seines<br />

Sturzes war Ikarus sehr hoch gestiegen und der Sonne über ihm zu nah gekommen,<br />

was seine von Wachs zusammengehaltenen Flügel schmelzen ließ. Auf einem vorangegangenen<br />

Stich hatte auch Bruegel noch, wie es der Darstellungstradition entsprach,<br />

die Sonne hoch oben am Himmel dargestellt, und unter ihr den stürzenden<br />

Ikarus. Nicht so bei dem großen Gemälde: Die Sonne steht am Horizont, hat also ihre<br />

Bahn schon bis fast zum Untergang durchlaufen. In Zeit ausgedrückt, müssen also<br />

einige Stunden seit dem Beginn des Sturzes vergangen sein. Das aber bedeutet<br />

räumlich, dass dieser Sturz, dessen Ende wir auf dem Bild gerade noch sehen, aus<br />

den Tiefen des Weltraums heraus erfolgt sein muss. Mit dieser erstaunlichen Konstruktion<br />

verweist Bruegel also auf einen Raum, der gegenüber der im Bild repräsentierten<br />

Weltlandschaft noch nahezu unendlich viel weiter ist.<br />

III.<br />

Der Blickvon oben, wie er sich mit dem Typ der Weltlandschaft zwischen Altdorfer<br />

und Brueghel reich entfaltet, zeigt einen anderen Blickauf die Welt, als ihn etwa<br />

Stadtansichten oder Landschaften der Renaissance geboten hatten. Und dabei<br />

geht es nicht einfach um eine Veränderung des Sehwinkels – denn wer schräg<br />

von oben und aus weiter Distanz blickt, dem bieten sich die Dinge zugleich auch<br />

weniger als einzelne dar, sondern sie erscheinen in einem größeren Zusammenhang.<br />

Zeitlich fallen die prominentesten Beispiele von Weltlandschaften in die<br />

Übergangsepoche des Manierismus. Die Pole der Veränderung zwischen Renaissance<br />

und Barocksuchte Heinrich Wölfflin in fünf Gegensatzpaaren zu erfassen.<br />

So sieht er mit der Entwicklung vom ‹Linearen› zum ‹Malerischen› den tastbaren<br />

Charakter der Dinge zum Barock hin sich auflösen: «Das plastische und konturierende<br />

Sehen isoliert die Dinge, für das malerisch sehende Auge schließen sie sich<br />

zusammen»; es gehe um die «Sichtbarkeit in ihrer Gesamtheit». 17 Und als zweites<br />

indirekt auch den Blick von oben und die Weltlandschafen mit berührendes<br />

13


14 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Merkmal ist die Entwicklung vom «Vielheitlichen zum Einheitlichen» zu nennen;<br />

die Selbständigkeit der einzelnen Teile wird graduell durch den Wunsch nach<br />

Einheitlichkeit oder nach «Unterordnung der übrigen Elemente unter ein unbedingt<br />

führendes» abgelöst.<br />

3.2009<br />

18 Man vergleiche nur den Platz vor dem Findelhaus in<br />

Florenz mit dem Petersplatz in Rom, und diese grundsätzliche Differenz zeigt<br />

sich genauso wie zwischen einer der gemalten idealen Stadtansichten der Renaissance<br />

und der Alexanderschlacht, von der ja Oskar Kokoschka nicht zufällig<br />

meinte, dass hier zum ersten Mal der Barocksichtbar werde. 19 Der die Dinge<br />

nicht separierende, sondern synthetisierend verschmelzende Blickvon oben gehört<br />

also auch in die Geschichte der grundsätzlichen Veränderung der Sehweise,<br />

wie sie zwischen Renaissance und Barockzu beobachten ist.<br />

Wollte man nun ein Leitmotiv der mit dem Barockheraufziehenden Epoche<br />

von Absolutismus und Gegenreformation benennen, so könnte man von Herrschaftsausübung<br />

durch Blickachsenorganisation sprechen. Dies gilt für jede nur<br />

denkbare Richtung im Raum; stets geht es um die Möglichkeit der Supervision,<br />

den Punkt, von dem aus und auf den hin das Zueinander von Dingen und Menschen<br />

organisiert wird. Räume werden in einem bisher unbekannten Maß gleichsam<br />

choreografisch durchgearbeitet, die Teile auf ein Ganzes bezogen. Zentralperspektivische<br />

Ordnungsverfahren, obwohl ursprünglich nicht für diesen<br />

Zweckentwickelt, sind unter solchen Umständen besonders den Interessen eines<br />

absoluten Souveräns dienstbar. «Nur in einer Gesellschaft,» so Rudolf zur Lippe,<br />

«in der eine Person das richtige Sehen aller für sie und vor ihnen repräsentativ<br />

wahrnimmt, nur an einem absolutistischen Hof gibt es einen ‹idealen Betrachter›,<br />

der, im Distanzpunkt sitzend, der perspektivischen Darstellungswirklichkeit<br />

politisch die Geltung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verleihen kann.» 20<br />

Hier ließe sich eine Linie ziehen, deren Ausgangspunkt Andrea Palladios um<br />

1580 entstandenes Teatro Olympico ist, mit seinem schräg ansteigenden Bühnenboden<br />

und fest eingebauten Kulissen, angedeuteten Straßenzügen, die sich<br />

nach fünf Richtungen hin von einem zentralen Punkt im Zuschauerraum aus verzweigen<br />

oder auf diesen zulaufen, den idealen Beobachtungspunkt eben auch.<br />

Den Endpunkt bildeten die zentralen Räume in Versailles, um die herum sich die<br />

Architektur des Schlosses genauso wie die Anlage von Garten und Stadt organisieren.<br />

In diesem Fall kann man auch von einem Achsenkreuz sprechen, wobei<br />

die eine Achse aus der Stadt durch das Schloss in den Garten hinein verläuft,<br />

während die andere in Versailles durch den Spiegelsaal, und im Normaltyp des<br />

barocken Schlosses durch die Enfilade gebildet wird, eine verbindende Querachse,<br />

die von einem Ende zum anderen durchsehen werden kann. In einem allgemeinen<br />

Sinn setzte damit der Absolutismus ein zentralistisches Herrschaftsprinzip<br />

durch, das auch moderne Staatsformen weiterentwickeln sollten, allerdings<br />

in weniger visuell offensichtlicher und grandioser Form. 21<br />

Idealtypisch müsste dieser Weise einer horizontalen Raumerfassung eine vertikale<br />

entsprechen. Und tatsächlich gehört mit dem Blick von oben eine solche<br />

genauso zum Epochenprofil. Allerdings handelt es sich hier zumeist nicht um reine<br />

Vertikal- oder Plansichten, sondern um ein weites Spektrum schräger Blickwinkel,<br />

um Vogelperspektiven also. Eine typische Bildform sind die Topografien.<br />

Die wohl berühmtesten Stadtansichten dieses Typs stammen von Matthäus Merian,<br />

einem Kupferstecher und Verleger, in dessen in der Zeit des Hochbarockerschienener<br />

Topographia Germaniae schließlich über zweitausend Orte dargestellt


Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />

4 Matthäus Merian, Topographia und eigentliche<br />

Beschreibung der vornembsten Stäte, Schlösser auch<br />

anderer Plätze und Örter in denen Herzogthümer<br />

Braunschweig und Lüneburg, und denen dazu gehördenden<br />

Grafschafften, Herschafften und Landen,<br />

Frankfurt am Main 1654.<br />

waren, und der besseren Übersicht halber in aller Regel von einem erhöht gelegenen<br />

Standpunkt aus. Von Merian stammt auch ein großer Vogelschauplan von<br />

Frankfurt am Main (Abb. 4), der, auf vier Platten gedruckt, 1628 zum ersten Mal<br />

erschien und in überarbeiteten Auflagen bis 1770 immer wieder neu gedruckt<br />

wurde. Insgesamt lässt sich über seine Ansichten sagen, dass «die Städte miniaturisiert,<br />

in die Ferne gerückt» werden, was ebenso wie der erhöhte Blickpunkt<br />

die Überschaubarkeit befördert. 22<br />

Für die Darstellung von Schlössern und Parkanlagen, zur Repräsentation also<br />

auch eines aristokratischen Herrschaftsanspruchs, wurden ähnliche Bildmuster<br />

verwendet. 23 Besonders bedeutsam scheint darüber hinaus die spezifische Anwendung<br />

der Vogelperspektive für Zwecke der Architekturdarstellung. Hier ist an die<br />

Arbeit des bedeutenden spätbarocken Architekten Filippo Juvarra zu erinnern. Bei<br />

Carlo Fontana in Rom ausgebildet, war er zuerst Bühnenbildner, eine Erfahrung,<br />

die seiner späteren Arbeit zugute kam. 1714 wurde Juvarra Hofarchitekt des Königs<br />

von Savoyen. Er blieb zwanzig Jahre in Turin und schuf hier und im Umland<br />

Meisterwerke wie die Superga oder das Schloss Stupinigi. Bedeutend ist auch sein<br />

zeichnerisches Werk, und dies nicht zuletzt wegen des innovativen Einsatzes von<br />

Visualisierungstechniken. Die allgemein gebräuchlichen Planzeichnungen sind<br />

zwar präzise, aber für den Laien oft wenig anschaulich. Bauten in allen drei Dimensionen<br />

exakt zu definieren, war nicht üblich; erst beim Neubau von Sankt Peter in<br />

Rom, also in der Mitte des 16. Jahrhunderts, ging man dazu über, mit Grundriss,<br />

Aufriss und Schnitt einen Bau schon in der Planungsphase tatsächlich zu fixieren.<br />

Juvarra ging um 1700 noch einen Schritt weiter: «Vogelschauperspektiven, die<br />

Kontrolle von Sichtachsen mit Hilfe von Skizzen oder die Überprüfung der Wahr-<br />

15


16 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> nehmung einer Schlossanlage aus der fahrenden Kutsche heraus stehen in ihrer<br />

Gesamtheit [...] für ein multiperspektivisches Planungsverfahren».<br />

3.2009<br />

24 Dabei erlaubt<br />

gerade die Vogelperspektive, die das Objekt aus beliebiger Höhe zeigen kann, in einer<br />

Art Intensivierung oder Überdehnung des räumlichen Eindrucks auch besondere<br />

Eigenschaften noch besonders herauszustellen.<br />

Die Kunst des Barockkennt auch so etwas wie die Umdrehung der Vogelperspektive,<br />

eine kunstvolle Inszenierung also nicht nur des Blicks von oben, sondern<br />

auch nach oben. Mit der malerischen Öffnung des Blickfeldes in Richtung<br />

Himmel ist im barocken Illusionismus der Anschauungsraum so gekippt wie anders<br />

herum in den Weltlandschaften. Die Deckenmalerei entwickelt sich im 16.<br />

Jahrhundert weit über die Vorstufen in der Frührenaissance hinaus und gipfelt in<br />

den Arbeiten Pietro da Cortonas und Andrea Pozzos, und später noch einmal bei<br />

Giovanni Battista Tiepolo. Decken oder Kuppeln werden ihrer raumabschließenden<br />

Funktion enthoben, Blicke in perspektivischer Untersicht über gemalte Architekturen<br />

und Figuren aus dem Realraum hinaus in einen unbegrenzten Himmelsraum<br />

geführt. Bei solchen Malereien ist das gewohnte Koordinatensystem<br />

außer Kraft, die irdische Tektonik gerät weit mehr als bei den Vogelperspektiven<br />

in die Schwebe. Der Bezug auf unsere Körperachse und die vertrauten Begriffe<br />

von Richtung und Schwere, zu denen wir horizontal organisierte Bildwelten unwillkürlich<br />

in Bezug setzen, ist nicht mehr gegeben. Wo das Hintereinander von<br />

Figuren zu einem Übereinander an der Decke geworden ist, verändern sich alle<br />

Relationen. Die Betrachtung solcher Werke ist also, wie Wolfgang Schöne einmal<br />

formulierte, «vom Steuer der Schwerkraft gelöst». 25<br />

Wenn sich hier also nach der horizontalen auch verschieden gerichtete vertikale<br />

Modi der Raumerfassung zeigen, so wären die spatialen Strategien des Barockdoch<br />

nicht zureichend beschrieben, käme nicht auch noch die Frage der Dimensionierung<br />

ins Spiel. Hier ist so etwas wie ein Sprung ins maximal Mögliche<br />

zu beobachten, vor allem, wenn man barocke Größenskalierung mit der in vorangegangenen<br />

Epochen vergleicht. Leonardo Benevolo weist diesbezüglich in seinem<br />

schönen kleinen Buch Fixierte Unendlichkeit auf Alexandre Koyrés Werk Von<br />

der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum hin und sieht, wo letzterer für<br />

die Wissenschaftsgeschichte des 17. Jahrhundert einen Aufbruch ins Unendliche<br />

feststellte, etwas entsprechendes auch in der Architektur, nämlich den Versuch,<br />

«in den noch unerforschten Bereich der großen Dimension vorzudringen». 26 Was<br />

dies bedeutet, zeigt ein Vergleich mit dem Mittelalter (und auch der Renaissance):<br />

Bis dahin waren Architekturen, zumindest die der griechisch-römischen Tradition,<br />

in der Regel von überschaubarer, den menschlichen Sinnen angemessener<br />

Größe, was auch in Bezug auf die Reichweite der Stimme gilt. Vor allem aber entfalten<br />

diese Bauten «innerhalb einer Entfernung von dreihundert Metern [...] ihre<br />

maximale räumliche Wirkung»; jenseits dessen wirken sie deutlich flacher. Ausnahmen<br />

waren exponierte und auf weite Distanz sichtbare Anlagen wie etwa die<br />

Akropolis in Athen oder die Tempelformation von Agrigent: Hier wurde der Gefahr<br />

der Verflachung durch sorgfältige Platzierung und Konturierung entgegengewirkt,<br />

während die mächtigen gotischen Kathedralen immer entschieden auf<br />

Nahsicht hin detailliert sind. 27<br />

Die bis dahin also meist respektierten Grenzen wurden schon in der Renaissance<br />

langsam verschoben, Donato Bramante bietet Abweichungen gleich in<br />

zwei Richtungen: Sein Tempietto zeigt eine leise befremdende Miniaturisie-


Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />

rung, während seine Pläne für den Vatikan, genauer für den Belvederehof und<br />

Sankt Peter, den Maßstab langsam vergrößern. Wenige Jahrzehnte später, in<br />

der Zeit der Weltbildrevolution durch Nicolaus Copernikus, Giordano Bruno<br />

und Galileo Galilei sowie des sich entfaltenden Barock, erfolgt dann der große<br />

Sprung in Architektur und Raumplanung, nach dem die gewohnten und vielfach<br />

anthropomorphen Bezüge nicht mehr gegeben sind. 28 Als Architekturen<br />

allein zeigen Sankt Peter und Versailles das Resultat. Und hinsichtlich eines Zusammenspiels<br />

von Architektur und Raumplanung kann wieder das Turiner Gebiet<br />

als Beispiel dienen: Juvarra nämlich positionierte die Superga auf einer Linie,<br />

welche die Verlängerung einer Uferstraße des Po ist. So entsteht eine perspektivische<br />

Achse über die erstaunliche Distanz von annähernd zwanzig Kilometern.<br />

Von der Kirche aus ergibt dies auch eine Vogelperspektive, zuerst vierhundert<br />

Meter hinab und dann hundert wieder hinauf. Jenseits das Ausgangspunktes<br />

der Uferstraße liegt noch das Schloss von Rivoli, das natürlich auch<br />

von der Superga aus zu sehen ist. Mit ihm erst entsteht das ganze Bild: «Die beiden<br />

Komplexe modellieren und betonen die Lage Turins zwischen zwei Gebirgszügen,<br />

den Alpen und dem Apennin, indem sie die Formationen durch ein Netz<br />

feiner visueller Linien zueinander in Beziehung setzen.» Und wertend fährt Benevolo<br />

fort: «Hierbei handelt es sich um die mit Abstand spektakulärste perspektivische<br />

Wirkung, die mit Hilfe der Architektur je erzielt worden ist.» 29<br />

Darum geht es also: Perspektiven bis an die Grenze ihrer Wahrnehmbarkeit<br />

auszudehnen, in fast unbegrenzte Weiten vorzudringen.<br />

Hier spielt beides zusammen, großräumige perspektivische Raumorganisation<br />

und der Blickvon (und nach) oben, der, bei solcher Dimensionierung und anders<br />

als es bei horizontaler Disposition der Fall wäre, das Gesamtbild erst erkennbar<br />

macht. Beides, die Perspektive und der Blick von oben, sind neuzeitliche<br />

Welterfassungs- und Welterfahrungsmittel. Und ähnlich wie erstere setzt der<br />

Blickvon oben einen grundsätzlichen Einstellungswandel voraus. Um 1700, in<br />

der Zeit Juvarras, gibt es bereits eine zweihundertjährige Praxis, in der die Vogelperspektive,<br />

begründet mit Jacopo de’ Barbaris Venedigansicht, sich immer weiter<br />

ausdifferenziert hat. Es ist nun eine etablierte Form, die Welt darzustellen,<br />

und in ihr zeigt sich auch in allgemein weltanschaulicher Betrachtung eine neue<br />

Sicht. Was deren spezifische Eigenschaften sind, offenbart schnell ein Rückblick<br />

auf Antike und Mittelalter. In beide Epochen gibt es, so Hans Blumenberg, «eine<br />

eigentümliche Hemmung, die Welt von oben zu betrachten oder als vom Menschen<br />

betrachtet zu denken». 30 Als naturgegeben scheint der Mensch sein Dasein<br />

auf der Erde zu empfinden, in einer horizontal strukturierten Erfahrungswelt,<br />

aus der er höchstens einmal nach oben blickt. Prägnant beschrieb dies Jacob<br />

Burckhardt am Beispiel griechischen Empfindens:<br />

Es ist wahr, dass liebevoll ausgeführte Schilderungen sich fast immer auf die Nähe, ja auf<br />

das eng Eingeschlossene, auf Waldtäler, Grotten usw. beziehen [...] dagegen fehlt, so viele<br />

Akropolen auch hoch über ihre Städte emporragten, jede Schilderung des Blickes aus<br />

der Höhe in die Tiefe und Weite. 31<br />

Nur die Götter schauen von oben. Diese Einstellung ändert sich sehr langsam.<br />

Kurz vor Beginn der Renaissance ist Francesco Petrarcas Beschreibung seiner Besteigung<br />

des Mont Ventoux auch deswegen ein so aufschlussreicher Text, weil<br />

die alte und eine sich herausbildende neue Sicht sich eigenartig durchdringen. Einerseits<br />

treibt ihn an einem Apriltag des Jahres 1336 die Begierde, den hochgele-<br />

17


genen Ort kennenzulernen, und damit wohl auch der Wunsch nach einem Blick<br />

von oben hinab auf die Welt, andererseits aber richtet er vom Gipfel seinen Blick<br />

nach oben, auf das himmlische Leben. Doch schon mit dieser Ambivalenz rechnet<br />

ihn Burckhardt zu den «frühesten unter den Modernen», weil er nämlich die<br />

Landschaft als etwas aus sich heraus Schönes wahrgenommen habe. 32 Und tatsächlich<br />

zeigt gerade die seit dieser Zeit sich entwickelnde Landschaftsmalerei<br />

eine stufenweise Abfolge sich aufschlussreich verändernder Interessen, was mit<br />

staunenswerter Übersicht wohl zuerst von Johann Wolfgang von Goethe beschrieben<br />

wurde. Er spricht von Dürer, Brueghel, auch Merian und einer «nach<br />

und nach steigenden Anmut», um dann mit Claude Lorrain gleichsam den Vollender<br />

einer weiträumigen, meist aus leichter Höhenlage Übersicht schaffenden<br />

Landschaftsdarstellung zu feiern; bei ihm sei ein Prozess der Emanzipation abgeschlossen;<br />

«das 17. Jahrhundert», so Goethe, «befreit sich immer mehr von der<br />

zudringlichen äußeren Welt». 33 Dies sind zugleich die Zeit und auch die Sicht des<br />

Absolutismus. Das Privileg nur der Götter bei den Alten, nämlich von oben zu<br />

schauen, ist nun neuzeitlich-profan einerseits sublim ästhetisiert und zugleich<br />

herrscherlicher Praxis zugänglich gemacht. 34<br />

18 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> IV.<br />

Die großen Expeditionen, die Captain James Cookund andere in der zweiten<br />

Hälfte des 18. Jahrhunderts unternahmen, sollten weitreichende Auswirkungen<br />

auf das Weltbild der Jahre um 1800 haben, auf eine Epoche also, die heute auch<br />

als zweites Entdeckungszeitalter firmiert. So veränderte sich der Bildungsbegriff,<br />

man begann, statt einer humanistischen eine globale Bildung zu fordern, die<br />

eben auch den neuen Welterfahrungen Rechnung tragen sollte.<br />

3.2009<br />

35 Signifikanter<br />

Ausdruckdieser Orientierung ist die Begründung der neuen Wissenschaft der<br />

Erdkunde durch Carl Ritter. Carl von Clausewitz, Karl Marx, Wilhelm Raabe und<br />

Alexander von Humboldt waren unter seinen Hörern, als er von 1820 an der Berliner<br />

Universität seine Vorstellung einer globalen Bildung entwickelte, die allein<br />

einer nunmehr als allseitig zusammenhängend verstandenen Welt angemessen<br />

sei. Hier entwickelt sich die Frühform einer planetarischen Perspektive, die wir<br />

heute Globalisierung nennen:<br />

Die früher getrennt scheinende Gestadewelt des Planeten wurde in ihrem Gesammtkreis,<br />

in allen Zonen, zu einer Einheit erhoben für das System der Wissenschaft, wie für die Kulturwelt<br />

und für den Markt des gemeinen Lebens, des Tageverkehrs, der selbst nicht ohne<br />

merklichen Einfluss auf Geschichte, Politik und allgemeine Kultur bleibt. 36<br />

In diesen Jahren wurde der Planet nicht nur als Einheit, sondern darüber hinaus<br />

auch in noch einmal erweiterten Zusammenhängen betrachtet. Issac Newtons<br />

neue Kosmologie und ebenso die Erfindung der Montgolfieren erlaubten einen<br />

auf besondere Weise distanzierten Blickvon außen und von oben auf die<br />

menschliche Lebenswelt. Dies hatte auch ästhetische Konsequenzen. Im Jahr<br />

1784 entwarf Étienne-Louis Boullée seinen Kenotaph für Newton, mit dem das<br />

Weltbild der neuen Kosmologie signifikant verbildlicht ist (Abb. 5).<br />

Mit Newton wurde «die Vorstellung von der Unendlichkeit des Universums, in<br />

der die Erde nur ein winziges Gestirn unter anderen ist und in der der Mensch<br />

keine ausgezeichnete Stellung mehr behaupten kann», auf epochale Weise manifest.<br />

37 Jede Rahmung oder Einordnung, jede Korrespondenz zu gewohnter Erfahrung,<br />

ja sogar jeder geozentrische Bezug ist fortan obsolet. Boullée entwirft nun


Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />

5 Étienne-Louis Boullée, Kenotaph für Isaac<br />

Newton, 1784. Modell im Maßstab 1:400 auf der<br />

Grundlage von Zeichnungen, 2002, Gips und<br />

Alabaster, Höhe 42 cm, Durchmesser 84 cm.<br />

eine gewaltige und kaum auf Realisierbarkeit hin angelegte Kugel, in deren Innern<br />

der Besucher, wie der Schnitt zeigt, leicht erhöht gestanden haben würde,<br />

mit der Möglichkeit also des freien Blicks nach allen Seiten. Über ihm wäre bei<br />

Tageslicht ein Bild des nächtlichen Sternenhimmels erschienen: Durch Röhren<br />

nämlich, die die obere Hälfte der innen dunklen Kugel durchstoßen, und die in ihrem<br />

Verlauf alle auf den Blickpunkt des Besuchers gerichtet sind, wären einzelne<br />

Lichtpunkte des Tageshimmels sichtbar geworden, um nun aber eine nächtliche<br />

Sternenkonstellation zu repräsentieren. Jedem, der unter solch gewaltigem<br />

künstlichem Himmelsgewölbe stünde, würde also die Erfahrung suggeriert, in<br />

der unendlichen Weite eines kosmischen Raumes ausgesetzt zu sein.<br />

Boullée hat einige Jahre nach diesem Entwurf in seiner Abhandlung über die<br />

Kunst einige der grundsätzlichen Überlegungen mitgeteilt, die ihn dabei leiteten.<br />

Hier gibt es einen Abschnitt über das ‹Erhabene›, in dem von einer besonderen<br />

Schönheit die Rede ist, die sich unter anderem in der Erscheinung sehr großer<br />

Räume oder Objekte zeige, denen gegenüber es keine Vergleichsmöglichkeiten<br />

mehr gibt. Und in das Erfahrungsfeld des Erhabenen gehört für Boullée neben<br />

seinem Kenotaphen noch eine andere Kugel, die nämlich des Ballons, in dem<br />

man, wie er schreibt, «in den Lüften schwebend, die Erde aus den Augen verloren<br />

hat und von der ganzen Natur nur noch den Himmel erblickt». 38 Der Blickvon<br />

oben ist also mit einer gänzlich neuen Erfahrung verbunden, wenn er aus einer<br />

Höhe wie der des Boullée’schen Ballons erfolgt: Statt mit Übersicht und Welterkenntnis<br />

geht er nun mit Alienation einher. Genau diese Erfahrung sollte den Ballonfahrer<br />

in Adalbert Stifters 1840 erschienener Erzählung Der Condor veranlassen,<br />

den Wert gerade des begrenzten irdischen Lebens zu preisen. Wo Boullée<br />

den Blickganz entfesseln will, sein Interesse auf die erhabenen Leerräume des<br />

Kosmos richtet, nach außen, ins Unbekannte, da wendet sich Stifter zurück, wie<br />

es übrigens auch viele Astronauten taten, die die (Wieder-) Entdeckung der<br />

Schönheit der Erde zu den wesentlichen Erträgnissen ihrer Flüge zählten.<br />

V.<br />

Schon vor den beiden Schwellen erst zum Zeitalter des Ballons und dann zur eigentlichen<br />

Luftfahrt im 20. Jahrhundert hatten sich ja bereits staunenswert ausdifferenzierte<br />

Modi des Umgangs mit dem Blickvon oben herausgebildet, und<br />

zwar als Teil neuzeitlicher Inbesitznahme des Raumes. Die Luftfahrt selber wurde<br />

erst nach der Phase der Flugpioniere vom Schlage eines Louis Blériot und nach<br />

19


dem wesentlich auf Luftaufklärung beschränkten Einsatz im Ersten Weltkrieg zu<br />

einem, wie man sagen könnte, Weltbildgenerator, und das, wie eingangs erwähnt,<br />

besonders in den 1920er Jahren. Aviatorische Seherfahrungen fließen in<br />

die Ästhetik der zwanziger Jahre ein – sie werden zum Anknüpfungspunkt für die<br />

Fotografen des ‹Neuen Sehens›. Von ihnen wird, wie etwa das prominente Beispiel<br />

Alexander Michailowitsch Rodtschenkos zeigt, das Kippen des Anschauungsraums<br />

zum Programm erhoben. Verwandt sind in dieser Hinsicht auch Programmatikund<br />

Werkdes Filmemachers Dziga Vertov. In einem Manifest von<br />

1923 erkärt er, dass es ihm – bei beständiger Eigenbewegung – um die kameratechnische<br />

Exploration aller nur denkbaren Aspekte des Raums zu tun ist.<br />

Dieses epochenspezifische gestalterische Wollen wurde in der zweiten Hälfte<br />

der zwanziger Jahre von László Moholy-Nagy in zwei am Bauhaus publizierten<br />

Büchern gleichsam synthetisiert. Im zweiten dieser Bände, der 1929 unter dem<br />

Titel Von Material zu Architektur erschien, vergleicht er beispielsweise Luft- mit<br />

Mikroaufnahmen und sieht in beiden Fällen die Möglichkeit, sonst verborgene<br />

Zusammenhänge zu erkennen. Moholy nutzt die Luftaufnahmen als eines der<br />

Medien, die seinen dynamischen Begriff des Raumes veranschaulichen, eines<br />

Raumes, dessen Grenzen flüssig werden, in dem innen und außen und oben und<br />

unten «zu einer Einheit verschmelzen», in dem eine one world, ein stetes Fluktuieren<br />

an die Stelle statischer Beziehungen getreten ist. 39<br />

Dem beweglich gewordenen und geweiteten Raumbild der Künstler entspricht<br />

auf der allgemeinen Ebene eines übergreifenden Weltbildes die Vorstellung<br />

der one world, das heißt, einer Welt vielfältiger Interaktion und des Ausgreifens<br />

in jede nur mögliche Richtung des Raumes, was ja auch Jaspers schon gespürt<br />

hatte. One world war das wohl wirkungsmächtigste politische Schlagwort<br />

der mittleren vierziger Jahre. Es leitet sich ab vom Titel eines millionenfach verkauften<br />

Buches von Wendell Willkie. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entwikkelte<br />

er ein Konzept, wie die USA in Kooperation mit anderen Staaten unter Nutzung<br />

der im Krieg aufgebauten Infrastrukturen den Übergang in eine friedliche<br />

und demokratische Nachkriegswelt bewerkstelligen könnten.<br />

Von Wendell Willkie stammt auch das Motto für eine Ausstellung im New<br />

Yorker Museum of Modern Art, in der diese neue Weltordnung visualisiert werden<br />

sollte. Ihr Titel war Airways to Peace, und gestaltet wurde sie 1943 vom ehemaligen<br />

Bauhaus-Künstler Herbert Bayer (Abb. 6). Mit der Technikeines dreidimensional<br />

organisierten field of vision, setzte er auf eine intensivierte, Zusammenhänge<br />

mit einem Blickübergreifende Partizipation der Besucher. Dies geschah<br />

auch durch Rampen, von denen die Besucher fast wie aus dem Flugzeug<br />

auf unter ihnen ausgebreitete Großfotos herabsahen, Luftaufnahmen zumeist.<br />

Die Inszenierung dieser Ausstellung, ihre raumintegrierende Gestalt, und ebenso,<br />

noch im Krieg, die optimistische Vorführung einer zukünftigen Geografie globaler<br />

Bezüge – das weist beides auf ein Raumbewusstsein, das Separation nicht<br />

mehr kennt. Bayers gestalterisches Kredo eines allseitig freien Energie- und Kommunikationsflusses,<br />

das er seit seinen Bauhaus-Zeiten laufend fortgeschrieben<br />

hatte, ist hier wie selbstverständlich auf die Visualisierung eines politisch-zivilisatorischen<br />

Großprojektes übertragen. Die Luftfahrt und der Blick von oben induzieren<br />

ein Weltbild, das vom Gedanken universeller Interaktion geprägt ist.<br />

Dabei ist nun, in der Mitte des 20. Jahrhunderts, der Blickvon oben häufig ein<br />

Blickaus sehr großer Höhe oder Entfernung. Die Perspektive in den frühen Jah-<br />

20 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />

6 Herbert Bayer, Grafische Darstellung des erweiterten<br />

Gesichtsfeldes, 1935.<br />

ren der Luftfahrt ließe sich demgegenüber vielleicht als ‹pastoral› bezeichnen.<br />

Geringe Flughöhen verweisen trotz allem noch auf das vertraute Bild der Welt.<br />

Bei Flughöhen um zehntausend Meter ändert sich dies. Der wachsende Abstand<br />

zum Konkreten zeigt sich symptomatisch an einer Arbeit von Gyorgy Kepes, einem<br />

langjährigen Partner von Moholy-Nagy. Kepes erhielt 1959, also am Beginn<br />

des jet age, von der Fluggesellschaft KLM den Auftrag, an der Fassade ihrer New<br />

Yorker Niederlassung das Nachtbild einer Stadt aus der Luft darzustellen. Er löste<br />

die Aufgabe mit einer «mobilen Lichtwand», durch die er auch seinem allgemeinen<br />

Arbeitsziel, nämlich eine «dynamische Ikonografie» für die Gegenwart zu<br />

entwickeln, näherzukommen glaubte. 40 Ein vielfach durchbrochener Aluminiumschirm<br />

wurde von hinten durch farbige Lampen und Röhren so beleuchtet, dass<br />

mit dem Wechsel von Stromimpulsen fließende Lichtmuster entstanden. Auf<br />

schwarzem Grund wurden – immer unter der Voraussetzung des vom Straßenpassanten<br />

vorzustellenden Blicks von oben – mehrere Raumschichten sichtbar,<br />

eine untere fein punktierte Rasterstruktur, über der, fast in der Manier des Abstrakten<br />

Expressionismus, der im Atelier ja auch von oben abgeworfenen drips<br />

von Jackson Pollock, leuchtende Farbspuren lagen, hier vielleicht Wolken repräsentierend.<br />

Für Kepes ist das reale Nachtbild einer Stadt aus dem Flugzeug eines<br />

der «großen Schauspiele unserer Epoche»; zugleich erinnert es, schreibt er weiter,<br />

«an die großen bunten Fenster der Kathedralen des 13. Jahrhunderts». 41 Und<br />

dies ist nun eine sehr moderne Inversion: Das numinose Leuchten der Glasmalereien<br />

kehrt wieder als Effekt der Beleuchtung nächtlicher Städte. Der Blick geht,<br />

statt wie bei den Gläubigen hoch zum Fenster in die Darstellungen biblischen Geschehens,<br />

nun von hoch oben hinunter zur Welt. Mit dem im Flugzeug gegebenen<br />

Abstand aber hat sich das Bild der Körper- und Anschauungswelt in ein vibrierendes<br />

Lichtmuster verwandelt.<br />

Einen Sprung in noch ganz andere Dimensionen brachte die Weltraumfahrt.<br />

Eine neue Ära auch der Fotografie begann, als 1946 die ersten Aufnahmen von<br />

jenseits der Erdatmosphäre gemacht wurden. Kameraträger waren nach Amerika<br />

verbrachte deutsche V2-Raketen. Doch alles, was es bis dahin an Bildern gegeben<br />

hatte, wurde durch eine Aufnahme in den Schatten gestellt, die im Grunde ein<br />

Abfallprodukt der Erkundung der Mondoberfläche gewesen ist und doch zugleich<br />

auch in einem ganz konkreten Sinn das Weltbild veränderte: Das ist die Aufnah-<br />

21


me, die Lunar Orbiter I im Jahre 1966 aus einer Mondumlaufbahn heraus von der<br />

Erde machte. Dies war der erste Blickauf den Planeten in seiner Ganzheit, und er<br />

zeigte, wie Beaumont Newhall formulierte, «a globe suspended in space». 42 Der<br />

Blickging nicht mehr auf die Erde hinunter, sondern zur Erde hin – und insofern<br />

ist dies, anders als es erscheinen mag, zumindest im üblichen Sinne auch kein<br />

Blickvon oben mehr, denn das bis dahin quasi unverrückbare Bezugssystem Erde<br />

ist hier relativiert. Als nach der Mondlandung von 1969 das Interesse am Erdtrabanten<br />

und an weiteren Explorationen des kalten und leeren Weltraums relativ<br />

schnell verblasste, wurde offenkundig, dass auf die Dauer das Bild unseres blauen<br />

Planeten die eigentlich faszinierende Entdeckung war, so dass die Feststellung<br />

erlaubt ist, dass das, «was als interplanetarische Expedition zu fernen Abenteuern<br />

begonnen hatte, in einem gewissen Sinn mit einer Rückwendung zum<br />

Ausgangspunkt endete». 43<br />

22 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />

Anmerkungen<br />

1 Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit,<br />

Berlin 1971, S. 72.<br />

2 Romano Guardini, Die Technik und der<br />

Mensch. Briefe vom Comer See, Mainz 1981, S. 37<br />

und 42.<br />

3 ErnstH.Gombrich,Aby Warburg, Frankfurt<br />

am Main 1981, S. 303.<br />

4 Paul Valéry, «Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit»,<br />

in: ders., Werke. Frankfurter Ausgabe,<br />

Frankfurt 1995, S. 479–483, hier S. 479.<br />

5 Paul Klee, Das bildnerische Denken, hg.v.<br />

Jürg Spiller, Basel 1956, S. 79.<br />

6 Andrew John Martin, «Das Bild vom Fliegen.<br />

Dokumentierte Flugversuche und das Aufkommen<br />

von Ansichten aus der Vogelschau zu<br />

Beginn der frühen Neuzeit», in: Fliegen und<br />

Schweben, hg. v. Dieter R. Bauer u. Wolfgang<br />

Behringer München 1997, S. 223–239.<br />

7 Martin Warnke, Spätmittelalter und frühe<br />

Neuzeit 1400–1750. Geschichte der deutschen<br />

Kunst, Bd. 2, München 1999, S. 51.<br />

8 Ebd, S. 54.<br />

9 Führer durch die Sammlungen, hg.v.Germanischen<br />

Nationalmuseum, Nürnberg 2001, S.<br />

92.<br />

10 Europa. Eine Zeitschrift, hg. v. Friedrich<br />

Schlegel, 1803, hier zit. n. Altdorfer und der<br />

phantastische Realismus in der deutschen Kunst,<br />

Ausst.-Kat. Centre Culturel du Marais, Paris<br />

1984, S. 250. Vgl. zu den geistesgeschichtlichen<br />

Hintergründen: Ernst Behler, Friedrich Schlegel,<br />

Reinbek1966, S. 93.<br />

11 Otto Benesch, Der Maler Albrecht Altdorfer,<br />

Wien 1940, S. 31.<br />

12 Ludwig von Baldass, «Die niederländische<br />

Landschaftsmalerei von Patinir bis Bruegel», in:<br />

Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des<br />

Allerhöchsten Kaiserhauses, Bd. 34, Wien 1918, S.<br />

111–157.<br />

13 Ebd., S. 154.<br />

14 Ebd., S. 155.<br />

15 Max Dvorak, «Pieter Bruegel der Ältere», in:<br />

Kunstgeschichte als Geistesgeschichte, Berlin<br />

1995, S. 219.<br />

16 Vgl. Rose-Marie Hagen u. Rainer Hagen,<br />

Meisterwerke im Detail, Bd. 1, Köln 2005, S. 264<br />

sowie Christine Buci-Glucksmann, Der kartographische<br />

Blick der Kunst, Berlin 1997, S. 9 und<br />

Beat Wyss, Peter Brueghels Landschaft mit Ikarussturz,<br />

Frankfurt am Main 1990.<br />

17 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche<br />

Grundbegriffe, Dresden 1983, S. 22.<br />

18 Ebd., S. 23.<br />

19 Oskar Kokoschka, Aufsätze, Vorträge, Essays<br />

zur Kunst, Hamburg 1975, S. 87.<br />

20 Rudolf zur Lippe, «Hof und Schloss – Bühne<br />

des Absolutismus», in: Absolutismus, hg. v.<br />

Ernst Hinrichs, Frankfurt 1986, S. 138–161, vgl.<br />

S. 147.<br />

21 Ebd., S. 160.<br />

22 Warnke 1999, S. 292.<br />

23 Gotthardt Frühsorge, «Anco Wigboldus»,<br />

in: Ein brüderliches Alliance-Oeuvre, hg. v. Harald<br />

Blanke, Hundisburg 2004, S. 93–116.<br />

24 Elisabeth Kieven u. Hermann Schlimme, Vogelschauperspektiven,<br />

skizzierte Blickachsen und<br />

Vedutenfolgen – Kurzbeschreibung der Fallstudie.<br />

http://wissensgeschichte.biblhertz.it:8080/<br />

WdA/WdA/WdA_coll/specials/Architekturzeichnungen<br />

(zuletzt aufgerufen 8. 5. 2009).<br />

25 Wolfgang Schöne, «Zur Bedeutung der<br />

Schrägsicht für die Deckenmalerei des Barock»,<br />

in: Festschrift Kurt Badt, hg. v. Martin Gosebruch,<br />

Berlin 1961, S. 144–172.<br />

26 Leonardo Benevolo, Fixierte Unendlichkeit,<br />

Frankfurt am Main 1993, S. 7.<br />

27 Ebd., S. 14.<br />

28 Ebd., S. 26.<br />

29 Ebd., S. 62, vgl. 7, 66 sowie die Schaubilder<br />

X und XI.<br />

30 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit,<br />

Frankfurt am Main 1966, S. 336.<br />

31 Jacob Burckhardt, «Griechische Kulturgeschichte»,<br />

in: Das Geschichtswerk, Bd. 2, Frankfurt<br />

am Main 2007, S. 259; vgl. Blumenberg<br />

1966 (wie Anm. 30), S. 337.<br />

32 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance,<br />

Stuttgart 1976, S. 274; vgl. Joachim Ritter,<br />

«Landschaft», in: ders., Subjektivität, Frankfurt<br />

am Main 1974, S. 141.<br />

33 Johann Wolfgang von Goethe, «Landschaftliche<br />

Malerei», in: Johann Wolfgang von Goethe,<br />

Werke, Bd. 12 (Hamburger Ausg.), München<br />

1989, S. 216–223, hier S. 222.<br />

34 Vgl. Frühsorge 2004 (wie Anm. 23), S. 105.<br />

35 Karl S. Guthke, Die Erfindung der Welt, Tübingen<br />

2005, S. 10, 54. (Für den Hinweis auf dieses<br />

Buch danke ich Reinhard Blänkner.)<br />

36 Carl Ritter, Einleitung zur allgemeinen vergleichenden<br />

Geographie, Berlin 1852, S. 162, zit.<br />

n. Guthke 2005 (wie Anm. 35), S. 39.<br />

37 Hans Holländer «Der schwebende Blickund<br />

der Abgrund des Universums», in: Architektur<br />

und Kunst im Abendland, Festschrift Günter Urban,<br />

hg. v. Michael Jansen u. Klaus Winands,<br />

Rom 1992, S. 265–286.<br />

38 Etienne-Louis Boullée, Architektur, Zürich/<br />

München 1987, S. 75.<br />

39 Laszlo Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur<br />

(1929), Mainz 1968, S. 37, 222.<br />

40 Gyorgy Kepes, «Mobile Lichtwand», in: Wesen<br />

und Kunst der Bewegung, hg. v. Gyorgy Kepes,<br />

Brüssel 1969, S. 18; vgl. 16. Vgl. auch ders.,<br />

Sprache des Sehens, Mainz 1970.<br />

41 Kepes 1969 (wie Anm. 40), S. 18.<br />

42 Beaumont Newhall, Airborne Camera – The<br />

World from the Air and Outer Space, New York<br />

1969, S. 112, hier 118.<br />

43 Wolfgang Sachs, «Satellitenblick», in: WZB-<br />

Papers FS II 92-501, Berlin 1992, S. 6.<br />

23


Ulrike Bergermann<br />

Darstellungsraum Welt:<br />

gekrümmte Horizonte<br />

24 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Es wird kein rundes Bild. ‹Die Welt als ganze› darzustellen, das Bild des Ganzen,<br />

ließe sich vielleicht unternehmen im Versuch einer fragmentarischen Anhäufung<br />

– nach dem Modell der Ausstellung The Family of Man für ‹die Menschheit› – oder<br />

aber im Verfolgen der kontinuierlichen Eroberung immer weiterer Räume, des<br />

fortwährenden Auffüllens weißer Flecken auf einer Weltkarte, oder mit Blick auf<br />

den Planeten Erde: des fortgesetzten Aufsteigens des Menschen von der Erdoberfläche,<br />

bis sich der Horizont mehr und mehr krümmt und sich schließlich zu einer<br />

Kugel zusammenschließt.<br />

3.2009<br />

1 Solche kontinuierlichen Additionen bilden Schließungsfiguren,<br />

die die Frage nach dem ‹ganzen Darstellungsraum Welt› verstellen.<br />

Vielmehr muss es eine Bilderpolitikdes Planetarischen geben, die das Ganze<br />

ebenso anstrebt wie seine Unmöglichkeit voraussetzt. 2 «Jede anspruchsvolle Globalisierungstheorie<br />

[sollte] gleichzeitig die Totalität des Globalen und die Unmöglichkeit,<br />

diese in toto beobachten zu können, zusammen denken», schreibt<br />

Ulfried Reichardt in seiner kulturwissenschaftlichen Vermessung des Globalen. 3<br />

Totalität, unendliche Addition und bipolares Denken haben angesichts komplexer<br />

Verhältnisse von Partikularem und Allgemeinem oder Globalem ausgedient.<br />

Auch das Schema, das im beliebten Dreierschritt das Denken der Globalisierung<br />

erstens als eines der rein gedanklichen-mathematischen Weltentwürfe<br />

der Antike, zweitens der praktisch-expansionistischen Eroberung des terrestrischen<br />

Raums und drittens nun der elektronischen Umzirkelung des Globus fasst,<br />

soll hier nicht verfolgt werden. 4 Vielmehr wäre diese Konstruktion vom Gedanklichen<br />

zum Konkreten und zum Simulierten selbst zu hinterfragen, in ihrem Hin<br />

und Her zwischen Immaterialität und Materialität, um nicht zu sagen: in ihrer<br />

fast geschlossenen Kreisförmigkeit, in einer eigenen räumlichen Topografie des<br />

Denkens, der es gefällt, eine Rückkehr zu inszenieren, eine quasisymmetrische<br />

Ordnung der Geschichte und des Denkens. Anstatt nachzuverfolgen, wie das Bild<br />

der Erde Schritt für Schritt ganz wird, oder Figurationen des Typs zu verfolgen,<br />

demzufolge etwas ‹zu sich selbst kommt›, wie im Moment der ersten weltweiten<br />

Live-Satellitensendung oder solcher am 11. September 2001, möchte ich einzelne<br />

Bilder aus der Geschichte des Bilds der ganzen Welt herausgreifen und an ihnen<br />

jeweils die Einschreibung ihres visuellen und epistemologischen Selbstverständnisses<br />

betrachten. 5<br />

Der Darstellungsraum Welt und die Problematikder Abbildbarkeit des Ganzen<br />

ist in Sprüngen zu verfolgen, das heißt in Einzelbildern oder einzelnen Bildfolgen,<br />

von denen offen bleibt, ob sie Momentaufnahmen aus einer kontinuierlichen<br />

visuellen Aneignung eines Ganzen wären, insofern sie im Einzelnen exemplarisch<br />

die jeweiligen medienhistorischen Verhältnisse einschließen, innerhalb<br />

derer sie Welt darstellen. In einer zunächst essayistischen Zusammenstellung ist


Ulrike Bergermann Darstellungsraum Welt<br />

1 Illustration aus: Ernst Mach, Beiträge zur Analyse<br />

der Empfindungen, Jena 1886.<br />

so das Verhältnis von Ich und Welt als eines der Perspektivität, ein Verhältnis<br />

von Innen und Außen, zu formulieren. 6 Es geht um Zentralperspektivität als Darstellungsbedingung<br />

unserer visuellen Kultur, um die Krümmung, die eine Linse<br />

macht, und zwar sowohl die Linse des Auges als auch die Linse einer Kamera, vor<br />

dem Hintergrund der wechselseitigen Plausibilisierung und Evidenzstiftung, die<br />

sich visuelle Wahrnehmung und Apparaturen gegenseitig verleihen – seit der<br />

Entdeckung der optischen Gesetze, die das Auge ebenso wie optische Geräte bestimmen.<br />

Es geht um den Standpunkt der Aufnahme der Welt wie im Foto der<br />

whole earth aus dem Weltraum oder dem Blickvom Mond aus. Es geht um keine<br />

kontinuierliche Bildergeschichte, sondern vielmehr um die Exzentrizität des Wissens<br />

von der Welt, um den Standpunkt menschlicher ‹Vermessung›.<br />

Ausblick vom Innenraum<br />

Der Horizont ist die Tennlinie zwischen der Erde und dem Himmel, eine Linie, die<br />

keine ist und die immer weiter zurückweicht, wenn man sich ihr nähert. Eine<br />

Verschränkung der Frage nach Ich, Welt und Horizont findet sich in der bekannten<br />

Zeichnung des Naturwissenschaftlers und Philosophen Ernst Mach aus dem<br />

Jahr 1886 (Abb. 1). 7<br />

Einäugig, da nur aus dem linken Auge blickend (wie für die Zentralperspektive<br />

ideal konstruiert), und in entspannter Lage – wie im Kino zum Schauen den<br />

Körper ruhig stellend –, in einem Raum mit Fluchtlinien zum gegenüberliegenden<br />

Fenster hin, sehen wir durch die ovale Rahmung von Machs linker Augenhöhle<br />

auf seinen Körper, in sein Zimmer. Die Verlängerung der ausgestreckten<br />

25


26 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Beine verweist auf ein Fenster ohne Vorhang, hinter dem eine Landschaft mit<br />

Berg, Meer und Himmel zu sehen sind – wie zum Beweis dafür, dass auch die alten<br />

Bildkonventionen in diesem Setting funktionieren. Zwei Fensterteile entsprechen<br />

zwei Augen (auch hochgerechnet auf zwei Augen würde die Darstellung<br />

funktionieren); das linke Gesichtsfeld verschwimmt in der Darstellung eines<br />

Regals, rechts ist das Sichtfeld durch die Nase begrenzt. Von unten her ragt<br />

in die Bildmitte und darüber hinaus der Körper des Zeichners (auf einem ‹Ruhebett›,<br />

so Mach). Von rechts ragt eine Hand in die Bildmitte hinein, die rechte<br />

Hand des Zeichners, in der ein Zeichenstift zu sehen ist. Machs Bild durchziehen<br />

drei bis vier orientierende Horizontalen: die Fensterrahmen; hinter diesen der<br />

Horizont/das Meer; darunter: eine parallele Horizontale im Holzfußboden,<br />

schließlich (etwas schräg) der halbe Schnurrbart des Zeichners als untere Sichtbegrenzung.<br />

Man könnte wissenschaftshistorisch verfolgen, wie Ernst Mach im Bild von<br />

1886 seine Welt, die Darstellung seiner Welt, aufbaut.<br />

3.2009<br />

8 Man könnte aber auch<br />

analysieren, wie Rahmungen durch anatomische Setzungen und durch die sich<br />

selbst zeichnende Hand Versicherungen des Darstellungsraums wie auch Verunsicherungen<br />

gleichzeitig einsetzen, wie der Fluchtpunkt dieses Bildes in eine logische<br />

Unmöglichkeit mündet, sich selbst in dem Augenblick zu malen, in dem<br />

man sich sieht. Damit käme man zur Beschreibung von Verhältnissen eines im<br />

gleichen Moment sich instituierenden wie als mögliche Leerstelle fassenden Subjekts.<br />

Die in der Luft schwebende Hand, die nichts mit dem Stift berührt, hat kein<br />

Papier unter sich. Ihre Darstellung berührt nicht wirklich die Darstellung eines<br />

Mach’schen Körperteils mit ihrer Spitze, sie schwebt einfach, im Gegensatz zur<br />

Linken abgelöst von der Schulter, in unklarem Verhältnis zur Blickzentrale. Eigentlich<br />

ist sie sinnlos, da das Bild im Kopf, hinter dem Auge, gebildet wird und<br />

nicht vor diesem. Henning Schmidgen hat das Bild eine ‹antimetaphysische<br />

Zeichnung› genannt und auf den Positivismus Machs hingewiesen. Aber auch er<br />

konstatiert, dass der Körper flach wie ein Papier erscheine, das (alles andere als<br />

positivistisch) «auf sich selbst zurückgebogen [sei], wie ein Möbiusband». 9 Auch<br />

wenn die in Machs Buch proklamierte ‹Selbsttätigkeit› des Menschen beim Erstellen<br />

dessen, was er wahrnimmt, hier fast ironisch einfließt, so bleibt dieser ‹Darstellungsraum<br />

Welt› doch tatsächlich in sich bezogen, auf sich ‹gekrümmt›. Er<br />

trägt einen Witz in sich ein oder zeigt seine Verfaltungen in mehrfacher Weise,<br />

aber er macht die anderenorts konstatierte Verlegung des Horizonts nach innen<br />

nicht mit (wie auch später Mach nicht die Relativitätstheorie).<br />

Stefanie Wenner hat in ihrem Buch Vertikaler Horizont die These aufgestellt,<br />

dass die Durchsetzung der zentralperspektivischen Darstellung in der Renaissance<br />

in einem «Ideal des Bildes als Spiegel-Bild [...] sich genau dann durchzusetzen<br />

beginnt, als die Unendlichkeit in die Welt hineinbricht». 10 Unendlichkeit insofern,<br />

als es diesen Punkt des perspektivischen Bildes gibt, in dem die Konstruktionslinien<br />

konvergieren, und dieser liegt außerhalb der Darstellungsfläche, entworfen<br />

für einen idealisierten einäugigen stillstehenden Betrachter, häufig als<br />

‹transzendenter Punkt› apostrophiert. Verunsicherung und Versicherung, Zentralperspektive<br />

und Subjektposition, so Wenner, gingen seitdem eine unauflösliche<br />

Verbindung ein, die auch eine von Grenzenlosigkeit und Zentrierung der Bilder<br />

im Subjekt sei. Bezugspunkte wanderten in die Immanenz, der Horizont werde<br />

zum Spiegel der Wahrnehmungskoordinaten. 11


Ulrike Bergermann Darstellungsraum Welt<br />

Als Präludium für den Horizont im Darstellungsraum Welt steht Mach für die<br />

Frage nach der Doppelbödigkeit im Eintragen des eigenen Standpunkts und Sichtpunkts<br />

im Betrachten sowie für die Doppeltheit von Realismus und unmöglicher<br />

Faltung. Gekrümmt ist in dieser Darstellung nicht das Bildergebnis, das Reale, die<br />

Außenwelt, sondern die Blickbedingung, die so im Rahmen mitgezeichnet ist, dass<br />

sie im Bildmotiv nicht mehr eingetragen werden muss. Das könnte sich ändern.<br />

Auch wenn in der Zusammenstellung dieser beiden Bilder die Herstellungstechniken,<br />

die entsprechenden Kodierungen des Realismusgehalts der Abbildung<br />

und die Blickrichtungen unterschiedlich sind, so lassen sie sich doch als Miniaturen<br />

einer Darstellungsproblematikverhandeln, die einen zentralen Punkt in der<br />

Frage nach dem Darstellungsraum Welt thematisiert: die Frage nach dem Standpunkt,<br />

dem Ort der Bilderproduktion, die Frage danach, ob sich dieser Ort ins Bild<br />

mit einschreiben lässt, als Markierung der Problematik von Ganzem und einzelnem<br />

Punkt, der das Ganze in den Blick nehmen will. Der Horizont als Bildelement,<br />

als Grenze des zu Erkennenden, als Versprechen der Fortsetzung, gleichermaßen<br />

einen Standpunkt wie die ewige Verschiebbarkeit dieses Standpunkts markierend,<br />

hat sich mit den Technologien und der Wissensgeschichte stets neu bestimmt.<br />

Messen und Vermessen<br />

Erst im 20. Jahrhundert hat der Mensch die Erde fertig kartografiert, schrieb Hannah<br />

Arendt, und die «weit offenen Horizonte, die unerreichbar und lockend alle<br />

vergangenen Generationen der Erde durch ihr Leben begleiteten, sich in den Erdball<br />

zusammengeschlossen, dessen majestätischer Umkreis uns in allen seinen<br />

Einzelheiten so bekannt ist wie die Linien im Innern der eigenen Hand». 12 Kurz<br />

nach dem Sputnik-Schock 1957 und kurz vor der Mondlandung 1968, nachdem ein<br />

Satellit die Welt von außen ‹sieht› und bevor menschliche Augen mit der Kamera<br />

diesen Blickzurückauf die Erde bringen, beschreibt Arendt die Bedingungen von<br />

Wissen als auf diesem Feld bestimmte. Mit der kopernikanischen Wende, schreibt<br />

sie, wurde nicht nur klar, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern<br />

vor allem, dass die Erfindung des Teleskops und die entsprechenden Messungen<br />

den theoretischen Berechnungen entsprechen, und das heißt: dass Formeln<br />

ein Aneignungsvermögen des Kosmos bereitstellen. Was Arendt als ‹Vermessungsvermögen›<br />

bezeichnet, demzufolge der menschliche Verstand durch Zahlen, Symbole<br />

und Modelle alles auf beliebige Größenmaße reduzieren kann, das löst den<br />

Messenden von seinem Angelpunkt. Nichts bleibt unermesslich, «wenn es vermessen<br />

ist, dass alles Vermessen darin besteht, Entferntes zusammenzubringen, dass<br />

also die Messung Nähe konstituiert, wo bis dahin Ferne gewaltet hat». 13<br />

Der archimedische Wunsch, einen Punkt außerhalb der Erde zu finden, um sie<br />

aus den Angeln zu heben, hat sich erfüllt; was in Laboren geschieht, behandelt<br />

die Erde wie von einem außerirdischen Standpunkt aus, einem «männlichmenschlichen<br />

Verstand, der von der Sonne aus die Planeten überblickt». 14 Um<br />

den Preis einer Entfremdung also werde Erkenntnis in der Moderne gewonnen.<br />

Im Gemessenen begegne der Mensch letztlich nur sich selbst, da die gemessene<br />

Natur ja nur seinem Wahrnehmungsvermögen entsprechend zugerichtet worden<br />

sei. 15 Wo der Blickdes Menschen ins All geht, in die maximale Ferne, kehrt er sich<br />

zurück: weil die Erkenntnisse<br />

weder mit dem Makrokosmos noch mit dem Mikrokosmos das Geringste zu tun haben,<br />

[weil] sie vielmehr den Regeln und Strukturen entsprechen, die für uns selbst und unser<br />

27


Erkenntnisvermögen charakteristisch sind, für das Vermögen nämlich, das die Apparaturen<br />

und Instrumente erfand – in welchem Fall es wirklich ist, als vereitele ein böser Geist<br />

alle Anstrengungen des Menschen, exakt zu wissen und zu erfahren, was immer er selbst<br />

nicht ist, und zwar so, dass er ihm, unter der Vorgabe, ihm die ungeheuren Reiche des<br />

Seienden zu zeigen, immer nur das eigene Spiegelbild vorhält. 16<br />

Techniken der Raumvermessung, der Fernwahrnehmung, der Telekommunikation<br />

haben Formeln einer ‹Rückwendung› der Erde auf sich selbst provoziert, die<br />

Krümmung des Horizonts und die Überwindung ihrer Grenze, der Blickauf die<br />

ganze Erde von einem externen Standpunkt und eine ‹Selbstbegegnung› der Erde<br />

herbeigeführt.<br />

Blick zurück. Bilder des Planeten<br />

Günter Anders, der bereits 1956 in Die Antiquiertheit des Menschen den Begriff der<br />

‹prometheischen Scham› des Menschen vor den Fähigkeiten der technischen Dinge<br />

beschrieben hatte, führte 1962 während des sowjetischen Weltraumflugs Tagebuch<br />

und veröffentlichte 1970 seine Reflexionen auf die Apollo-Flüge mit Blikken<br />

auf «das teleskopische Gefälle», «das Universum im Zimmer» (durch die Fernsehübertragung),<br />

den «Kollektiv-Phallus-Kult» und die «Selbstbegründung der Erde».<br />

17 Die Selbstbespiegelung des Menschen, das nationalistische Heroentum in<br />

«kosmischer Provinzialität», ein un<strong>kritische</strong>r Fortschrittsglaube und das massenmediale<br />

Spektakel produzierten ein Amalgam aus kosmischem Minderwertigkeitsgefühl<br />

und emotionalem Geozentrismus: 18<br />

Gewusst haben wir alle, dass unser Globus wie eine nirgendwo verankerte und im Ozean<br />

des Raums schiffbrüchig herumschwimmende Boje aussehen würde. Aber das Gewusste effektiv<br />

zu sehen und als Wahrheit wahrzunehmen, das war doch etwas anders, etwas vollständig<br />

Neues, das war doch eine kaum mehr erträgliche Kränkung und Erniedrigung. 19<br />

Ohne Nennung von Nietzsche, der in der Fröhlichen Wissenschaft den tollen, ortlos-planetarischen<br />

Menschen auf der losgeketteten Erde, die durchs All stürzt, irrend<br />

durch den leeren Raum ausrief, resümiert Anders, wir sähen nun die «vereinsamt<br />

durch die Schwärze des Raumes rollende irrelevante Kugel unserer Erde»,<br />

und schließt, möglicherweise seien diese Entwicklungen eben nicht mehr in<br />

ein Bild zu bringen, da die erforderliche «Nippifizierung» des jetzt Sichtbaren auf<br />

Fernsehformate, Postkartengrößen und Wohnzimmereinrichtungsmaßstäbe<br />

nicht dazu beitrüge, die Darstellungsproblematikzu reflektieren. 20 Die Erde als<br />

ein Abstraktum wahrzunehmen, sei bislang eine Frage intellektueller Anstrengung<br />

gewesen und werde nun für alle im Bild möglich, da sich die Kamera, wie in<br />

der wörtlichen Übersetzung des lateinischen ab-strahere, von der Erde selbst losgerissen<br />

habe. 21 Da bei der Mondlandung geschätzte fünfhundert Millionen Menschen<br />

zugesehen hätten, könne man von «den Augen der Erde» sprechen, die sich<br />

selbst sähen: die «Selbstbegegnung der Erde». 22<br />

Die öffentliche Wahrnehmung war dem entgegengesetzt und von Begeisterung<br />

getragen. Der Flug von Apollo 8 um den Mond herum wurde 1968 live im Fernsehen<br />

übertragen, und noch nachhaltiger wirkte das Foto der whole earth, die sichtbare<br />

Einheit, der blaue Stein auf dunklem Grund, ein Schmuckstück, das ‹Raumschiff<br />

Erde›, das auf dem Titelblatt des berühmten Whole Earth Catalogue 1969 und<br />

mit dem Bericht des Club of Rome zur drohenden Umweltkatastrophe ein neues<br />

Bewusstsein der Einmaligkeit der Erde und der Notwendigkeit des gemeinsamen<br />

Engagements ansprach. 23 Wie ein Lebewesen, Gaia, konnte der Erdball erscheinen<br />

28 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Ulrike Bergermann Darstellungsraum Welt<br />

2 Neil Armstrong, Buzz Aldrin Walks on the Moon,<br />

July 20, 1969, Fotografie.<br />

3 William Anders, Whole Earth, Fotografie, Apollo<br />

8, 25. Dezember 1968.<br />

und wie das spaceship earth (Barbara Ward und Buckminster Fuller). 24 Das ist die<br />

erste planetarische Szene, in der ein menschliches Auge die Erde nicht nur aus der<br />

Höhe, ihren gekrümmten Horizont etwa von einem Berg oder Ballon aus sehen<br />

kann, sondern mit dem Moment, in dem es ein Bild der ganzen Erde, vom Weltall<br />

aus gesehen (Abb. 2–3). Die erste amerikanische Raummission, die schon aus ideologischen<br />

Gründen bemannt sein musste, brachte Augen ins All, die ‹da draußen›<br />

natürlich nichts, aber im Blickzurückdie Erde als eine ganze Kugel sahen. 25<br />

Mach von außen<br />

Hier wird zunächst nur in einem sehr buchstäblichen Sinne ‹der Menschheit der<br />

Spiegel vorgehalten›, von dem Arendt sprach. Man sieht im Visier des Helms die<br />

Spiegelung der Mondoberfläche, einen Teil der Mondfähre Eagle und den Fotografen<br />

Neil Armstrong. 26 Der Horizont in der Spiegelung setzt den Horizont hinter<br />

dem Spiegel in gleicher Höhe fort. Die Kontinuität von ‹realem› wie ‹fotografiertem<br />

oder gezeichnetem Bild› wird wie bei Mach nahe gelegt. Kann man der sichtbaren<br />

Spiegelung des Horizonts auch eine epistemologische Dimension abgewinnen?<br />

Das Foto, das von Edwin Aldrin um die Welt ging, genauer: das Foto, das der<br />

erste Mann auf dem Mond vom zweiten machte, zeigt in der gekrümmten spiegelnden<br />

Helmoberfläche des Astronauten ebenso wenig dessen Gesicht, wie wir<br />

Ernst Machs Gesicht gesehen haben, sondern wir sehen, was er sieht, in entgegen<br />

gesetzter Richtung, einen Ausschnitt aus einem gekrümmten Raum (wie dem<br />

der Augenhöhle), jedenfalls einen Teil eines Horizonts, in einer Abbildung, die<br />

selbst gekrümmt ist – hier nicht durch die Nachahmung der Linse des Auges,<br />

auch nicht durch die Inszenierung einer Krümmung durch eine Kameralinse, sondern<br />

durch den runden Helm und sein Visier.<br />

Die Bildunterschrift im Magazin LIFE vom Dezember 1969 lautete: «an astronaut’s<br />

visor mirrored the bleakhorizon of a new frontier we actually reached». 27<br />

Eine verquere Formulierung: Wird hier der karge Horizont einer neuen Grenze gespiegelt?<br />

Der Horizont einer Grenze? Einer Grenze, die keine mehr ist, weil wir sie<br />

erreicht haben, während sich der Horizont dadurch auszeichnet, dass er eben nie<br />

29


4 Blue Marble, Foto aus der Apollo 17, 7. Dezember<br />

1972. Neil Armstrong, Buzz Aldrin Walks<br />

on the Moon, July 20, 1969, Fotografie.<br />

30 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> erreicht werden kann? Wenn dieser Horizont sich krümmen könnte (zur Kugel),<br />

könnte er dann einer bleiben und gleichzeitig erreichbar sein? Der Begriff ‹Krümmung›<br />

funktioniert also nicht mehr im horizontalen Sinne, nach dem sich der<br />

sichtbare Rand einer Kugel dem Auge immer nur in einer Linie darbietet, die nicht<br />

gerade ist, sondern im Sinne einer Grenze, die gleichzeitig eine bleiben muss und<br />

keine mehr sein kann, um dem Menschen einen Ort im Weltall zu geben.<br />

Ist es hierfür erforderlich, dass es nicht das alte Auge ist, das diesen Horizont<br />

sieht, sondern dass es sich um eine Spiegelung handelt, die diesen Horizont<br />

zeigt? Sicher ist es nicht ‹technisch erforderlich› in dem Sinne, als könnte man<br />

nicht direkt auf die Szenerie blicken. Wenn Aldrin in diese Richtung schauen<br />

kann, könnte man zumindest einen Schirm, ein goldbeschichtetes Visier für eine<br />

Kamera bauen, die ebenfalls nur solche Strahlen auf die Linsen lässt, die diese<br />

nicht zerstören und die ein Bild aufzeichnen können.<br />

3.2009<br />

28 Mindestens symbolisch<br />

ist es aber vielleicht erforderlich, dass es erst der vermutete, der unsichtbare, der<br />

unterstellte Blickeines Menschen ist, dessen Sichtfeld die einzigen warmen Felder<br />

im Bild sind (Gelbtöne statt des Grau-Blaus), der für uns ins Licht sieht. Unter<br />

anderem auch den Schatten des Fotografen, der seinen Blickvom Licht abwendet,<br />

um den Blick des anderen aufzunehmen (inklusive seines Standpunkts), so<br />

dass eine dem Planetarischen korrelierende Multiperspektivität entsteht, die den<br />

Sehenden und das Angesehene, die Medialität und den räumlich-politischen Kontext<br />

ins Bild setzt.<br />

Ältere Bilder, die den Horizont und die Welterkenntnis thematisierten, zirkulierten<br />

nicht auf der Welt. Mitte des 20. Jahrhunderts ist es gleichzeitig die Massenpresse,<br />

die Fotografien in Umlauf bringt, und das Satellitenfernsehen, das die<br />

ersten Live-Schaltungen ‹rund um den Globus› ermöglicht und das so dem Darstellungsraum<br />

Welt eine andere Verteilung und Sichtbarkeit gibt, die diesem<br />

nicht sekundär bleibt. 29<br />

Lorenz Engell hat in seinem Text Die kopernikanische Wende des Fernsehens die<br />

Umkehrung des galileischen Blickschemas auf die Erde in ihrer Fortsetzung und<br />

Neuschreibung durch das Fernsehen analysiert. Das Fernsehen ist nicht nur der


Ulrike Bergermann Darstellungsraum Welt<br />

5 Buzz Aldrins Visier, Ausschnitt aus Abb. 2.<br />

Zeuge des Blicks zurück auf die Erde, technologisches wie großmachtpolitisches<br />

Movens der Raumfahrt und nicht nur nachträglich an der Verteilung der neuen<br />

Bilder beteiligt, sondern von Anfang an nicht ohne das Fernsehen zu denken. Einerseits<br />

steht es in den optischen und epistemischen Traditionen, die die Stellung<br />

des Blickenden im Raum auf ein Objekt, einen Planeten, in einem evidenzproduzierenden<br />

Setting situiert haben – ein Bild beweist die Berechnungen von<br />

Kopernikus und die Beobachtungen von Galilei. Andererseits ist diese Bildproduktion<br />

neu organisiert. Sie gehorcht nicht mehr der Logik des Teleskops, des einen<br />

ausgewählten Auges, sondern die Sichtbarmachung geschieht vor vieler, vor<br />

– im Prinzip – aller Augen, unterschiedslos, live. «Obwohl die neuzeitliche Weltordnung<br />

die zentrale Position der Erde unwiederbringlich aufgibt, so bestätigt<br />

und bestärkt sie doch zugleich die zentrale Position des Blicksubjekts – und damit<br />

des Erkenntnissubjekts – in Relation zum Blickobjekt.» 30 Das nennt Engell die<br />

«Reflexivität der televisiven Raumordnung» und fragt, ob sich damit nicht die<br />

Souveränität des Betrachterblicks paradoxerweise erneuere: Wenn die technische<br />

Definition des Fernsehens dieses als Übertragungsmedium (nicht Speichermedium)<br />

charakterisiert, trennt es weiterhin Blicksubjekt und Blickobjekt sowie<br />

deren Orte A und B und folgt dem skopischen Regime der Neuzeit. Da der Blick<br />

aber nun von einem Trabanten (der Rakete, dem Mond, dem Satelliten) aus auf<br />

den Erdball geworfen wird, von einem dritten Ort, entsteht ein Bild, in «dem ohnehin<br />

schon alle Orte als andere Orte und alle Blicke als andere Bilder umeinander<br />

kreisen». Eine Entpersonalisierung und Multiplizierung des Blicks zeigt nun<br />

im Fernsehbild der Erde «den gesamten Möglichkeitsraum der Blickpunkte und<br />

Bildrelationen». 31<br />

Zum Horizont als Visier<br />

Die Abbildungstechniken nach den anfangs skizzierten Modellen reichen nicht<br />

mehr aus für diesen ‹Möglichkeitsraum›, die Krümmungen zerstreuen die Sehstrahlen<br />

ohne transzendentalen Treffpunkt. Ist jedes Bild, das seine Herstellung<br />

mitschreiben will, ein Möbiusband? Wenn man das für Machs Bild sagen konnte,<br />

31


in das die zeichnende Hand eingefügt ist, würde man solche Einfaltungen in den<br />

Bildern der whole earth nur im Wissen um ihre Herstellungs- und Sendebedingungen<br />

aufspüren können. 32 Eine dem Planetarischen angemessene Multiperspektivität<br />

in unsere perspektivischen Konventionen von Ich und Welt einzutragen, die<br />

Horizonte nicht mehr nur als gekrümmte Linien, sondern selbst als Flächen, die<br />

die konstruierten Blicklinien zerstreuen, zu betrachten, erfordert ebenso eine Exzentrizität<br />

des Wissens von der Welt wie eine Reflexion der eigenen Situiertheit.<br />

Das hat Aldrin in seinem goldenen Visier mitgebracht.<br />

Anmerkungen<br />

1 Dass die Fotografie als ‹Sprache der<br />

Menschheit› die Vielfalt der Family of Man abbilden<br />

konnte, war Anliegen der Ausstellung,<br />

die ab 1951 von Edward Steichen für das Museum<br />

of Modern Art in New Yorkkonzipiert<br />

wurde, aus zwei Millionen Fotos 503 auswählte<br />

und ab 1955 in weltweiten Ausstellungen Millionen<br />

von BesucherInnen anzog. Auf die Naturalisierung<br />

und den Eurozentrismus der Ausstellung<br />

haben unter anderem Roland Barthes<br />

oder Viktoria Schmidt-Linsenhoff hingewiesen.<br />

Das Medium Fotografie war damit aber einmal<br />

mehr geeignet, die Welt für alle wiederzugeben<br />

und so eine der Voraussetzungen für den<br />

durchschlagenden Erfolg der Blue Marble, dem<br />

Bild der Erde, das zum ersten Mal von außerhalb<br />

der Erde aufgenommen wurde und das<br />

Bild von der Erde fundamental veränderte.<br />

2 Eine ausführlichere Darstellung der Theorien<br />

des Planetarischen sowie des Verhältnisses<br />

von ‹Globus› und ‹Planet› findet sich in meinem<br />

Beitrag zum Band Das Planetarische. Kultur –<br />

Technik – Medien im postglobalen Zeitalter, hg.v.<br />

Ulrike Bergermann, Isabell Otto u. Gabriele<br />

Schabacher, München 2009 (im Druck).<br />

3 Ulfried Reichardt, «Globalisierung, Mondialisierungen<br />

und die Poetikdes Globalen», in: Die<br />

Vermessung der Globalisierung. Kulturwissenschaftliche<br />

Perspektiven, hg. v. Ulfried Reichardt,<br />

Heidelberg 2008, S. 21–47; ders., «Einleitung»,<br />

ebd., S. 7. Ein weiterer interdiszipinär-kulturwissenschaftlicher<br />

Band ist Welt-Räume. Geschichte,<br />

Geographie und Globalisierung seit 1900,<br />

hg. v. Iris Schröder u. Sabine Höhler, Frankfurt<br />

am Main/New York2005.<br />

4 Vgl. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des<br />

Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung,<br />

Frankfurt am Main 2006, z. B. S. 21.<br />

5 Eine Kultur- und Literaturgeschichte des<br />

Horizonts hat Albrecht Koschorke vorgelegt:<br />

Die Geschichte des Horizonts, Frankfurt am Main<br />

1990. Stefanie Wenner bietet Anschlussstellen<br />

z. B. zwischen Zentralperspektive und Subjektbildung<br />

in: Vertikaler Horizont. Zur Transparenz<br />

des Offensichtlichen, Zürich/Berlin 2004, v. a. S.<br />

108.<br />

6 Vielen Dankfür die zahlreichen Anregungen<br />

in der Diskussion meines gleichnamigen<br />

Vortrags zur Reihe Darstellungsräume an das<br />

Graduiertenkolleg Schriftbildlichkeit der Freien<br />

Universität Berlin im Juni 2009.<br />

7 Ernst Mach, «Antimetaphysische Vorbemerkungen»,<br />

in: ders., Die Analyse der Empfindungen<br />

und das Verhältnis der Physischen zum<br />

Psychischen, 2. verm. Aufl., Jena 1900. Die erste<br />

Auflage erschien 1886 unter dem Titel Beiträge<br />

zur Analyse der Empfindung. Hier aus dem Neudruckder<br />

9. Aufl. 1922, Darmstadt 1985, online<br />

unter: http://www.payer.de/fremd/mach.htm,<br />

zuletzt abgerufen am 28. Juni 2009.<br />

8 Eine ausführliche Lesart des Bildes würde<br />

32 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Ulrike Bergermann Darstellungsraum Welt<br />

rekapitulieren, wie Mach hier seine wahrnehmungsphilosophischen<br />

und positivistischen<br />

Ansätze verhandelt, welchen Stellenwert das<br />

Werk Antimetaphysische Vorbemerkungen (als<br />

Teil der Analyse der Empfindungen und das Verhältnis<br />

des Physischen zum Psychischen) einnimmt.<br />

Insgesamt will Mach in diesem Buch<br />

zeigen, dass auch Raum und Zeit nur Eigenschaften<br />

der Gegenstände sind, die wir ihnen<br />

so bestimmten wie ihre Farbe oder andere Eigenschaften.<br />

Auch Raum und Zeit sind nur Sinnesempfindungen.<br />

9 Henning Schmidgen, «Begriffszeichnungen.<br />

Über die philosophische Konzeptkunst von<br />

Gilles Deleuze», in: Deleuze und die Künste, hg. v.<br />

Peter Gente u. Peter Weibel, Frankfurt am Main<br />

2007, S. 26–53, hier S. 31.<br />

10 Wenner 2004 (wie Anm. 4), S. 108.<br />

11 Ebd., S. 109.<br />

12 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen<br />

Leben, München, Zürich (Piper) 1994 (zuerst<br />

1963), S. 245 (Arendt 1994).<br />

13 Ebd., S. 246.<br />

14 Ebd., S. 258.<br />

15 Ebd., S. 256, 260f.<br />

16 Ebd., S. 279.<br />

17 Günter Anders, Die Antiquiertheit des Menschen,<br />

Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten<br />

industriellen Revolution [1956], München,<br />

7.Aufl./Nachdruck1992, S. 8, 16, 21, 123. Ders.,<br />

Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge<br />

[1970], München 1994.<br />

18 Anders 1994 (wie Anm. 17), S. 60, 72, 99, 112.<br />

19 Ebd. 1994, S. 59.<br />

20 «Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen<br />

Horizont wegzuwischen? Was taten wir,<br />

als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?<br />

Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen<br />

wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir<br />

nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts,<br />

vorwärts, nach allen Seiten? gibt es noch ein<br />

Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch<br />

ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der<br />

leere Raum an?» Friedrich Nietzsche, «Die fröhliche<br />

Wissenschaft», in: ders., Sämtliche Werke,<br />

hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 3,<br />

München 1999, Aphorismus 125.<br />

21 Anders 1994 (wie Anm. 17), S. 66.<br />

22 Ebd., S. 89.<br />

23 Dennis Meadows u. a., Die Grenzen des<br />

Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der<br />

Menschheit, [The Limits to Growth, New York<br />

1972], übers. v. Hans-Dieter Heck, Stuttgart<br />

1972.<br />

24 James E. Lovelock, «The Gaia Hypothesis»,<br />

in: Environmental Evolution. Effects of the Origin<br />

and Evolution of Live on Planet Earth, hg. v. Lynn<br />

Margulis, Clifford Matthews u. Aaron Haselton,<br />

2. Aufl. Cambridge, Mass./London 2000, S.<br />

1–28. Barbara Ward, Spaceship Earth, New York<br />

1966. Richard Buckminster Fuller, Bedienungs-<br />

anleitung für das Raumschiff Erde und andere<br />

Schriften [Texte 1961–1970], hg. v. Joachim<br />

Krausse, übers. v. Joachim Krausse u. Ursula<br />

Bahn, Hamburg 2008.<br />

25 Das Foto trägt die offizielle Bezeichnung<br />

AS17-148-22727 und wurde am 7. Dezember<br />

1972 um 10:39 UTC von Harrison Schmitt oder<br />

Ron Evans mit einer 70-Millimeter-Hasselblad-<br />

Kamera und einem 80-Millimeter-Objektiv aufgenommen.<br />

Es ist eine der wenigen Aufnahmen,<br />

die einen voll erleuchteten Erdball zeigen,<br />

da die Astronauten die Sonne hinter sich hatten.<br />

Die Originalaufnahme zeigt den Südpol<br />

oben. Wegen der besseren Wiedererkennbarkeit<br />

wurde die Fotografie um 180 Grad gedreht.<br />

Viel ist geschrieben worden über die Symbolwirkung<br />

der blauen Murmel (auch: den blauen<br />

Marmor, Blue Marble), die Schönheit, Zerbrechlichkeit,<br />

das Juwel auf dunklem Grund, die Farben<br />

Blau und Grün als Zeichen des Lebens, einer<br />

Natur, die die Heimat der Menschheit in<br />

tiefschwarzer Nacht ist.<br />

26 Hier aus der Sonderausgabe der LIFE vom<br />

Dezember 1969, darin auf einer Doppelseite ein<br />

Ausschnitt aus dem Foto, das Armstrong von<br />

Aldrin auf dem Mond geschossen hat. LIFE, Special<br />

Double Issue: The '60s. Decade of Tumult and<br />

Change, 22. Dezember 1969. Dankan Ute Holl.<br />

27 Ebd., S. 143.<br />

28 Außerdem ist der Blickin Richtung Sonne<br />

der typische auf diesen Bildern – was an Kopernikus<br />

erinnert, der die Sonne als Zentralstern<br />

pries, als er ihn an die Stelle der Erde setzte.<br />

29 Lorenz Engell, «Die kopernikanische Wende<br />

des Fernsehens», in: Bergermann/Otto/<br />

Schabacher 2009 (wie Anm. 2).<br />

30 Ebd.<br />

31 Ebd.<br />

32 Eine Weiterentwicklung der Fragestellung<br />

mit Blickauf Google Earth findet sich in meinem<br />

Aufsatz in: Bergermann/Otto/Schabacher<br />

2009 (wie Anm. 2). In diesem Sinne müsste man<br />

anfangen, die Navigationstools, alle verschiedenen<br />

Notations- und Kommandosymbole von<br />

Google Earth als solche Markierungen machscher<br />

Einfaltungen zu lesen. Sie deuten die Herstellung<br />

des Bilds nicht nur an, sondern setzen<br />

als operationalisierte Schrift Aktionen am Bild<br />

in Gang. Vgl. Sybille Krämer, «‹Schriftbildlichkeit›<br />

oder: Über eine (fast) vergessene Dimension<br />

der Schrift», in: Bild, Schrift, Zahl, hg.v.<br />

ders. u. Horst Bredekamp, München 2003, S.<br />

157–176. Dies., «Operationsraum Schrift. Ein<br />

Perspektivenwechsel im Schriftverständnis»,<br />

in: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand<br />

und Maschine, hg. v. ders., Gernot Grube u. Werner<br />

Kogge, München 2005, S. 13–32. Im Anschluss<br />

an Arendts Buch Vita Activa (unterschieden<br />

von der vita contemplativa) müsste man sagen:<br />

statt pictura contemplativa sind wir eingetreten<br />

ins Weltbild der pictura activa.<br />

33


Joachim Block<br />

Eine Vision wird illustriert<br />

Wernher von Braun, Chesley Bonestell und die Geburt der Space Art<br />

Der Gedanke, in den Weltraum vordringen und andere Himmelskörper erreichen<br />

zu können, hat die Fantasie der Menschen zu allen Zeiten beflügelt, wie die zahlreichen<br />

utopischen Erzählungen über Reisen zum Mond, zur Sonne oder zu den<br />

Planeten belegen, die wir schon seit der Antike kennen. Freilich erwartete bis zur<br />

Mitte des 20. Jahrhunderts kaum jemand im Ernst, diese Utopien könnten einmal<br />

Wirklichkeit werden. Raumfahrt blieb ein reiner Traum, eine literarische Fiktion.<br />

Wie spätere Umfragen in den USA zeigten, glaubten noch im Jahre 1950 die meisten<br />

Amerikaner nicht, dass der Mensch tatsächlich in den Weltraum vorstoßen<br />

könnte, geschweige denn, dass sie selbst dies noch erleben würden.<br />

Vorspiel in Deutschland<br />

Die Mischung aus Skepsis und Gleichgültigkeit, mit der die Mehrheit der Amerikaner<br />

dem Raumfahrtgedanken noch um 1950 gegenüber stand, wäre zweifellos auch<br />

im nachkriegszerrütteten Deutschland zu registrieren gewesen. Angesichts der<br />

Zeitumstände ist dies nur allzu verständlich, obwohl man es gerade in Deutschland<br />

eigentlich hätte besser wissen können. Denn hier hatte Hermann Oberth schon<br />

1923 in seinem bahnbrechenden Werk Die Rakete zu den Planetenräumen (Abb. 1)<br />

34 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009<br />

1 Hermann Oberth, Die Rakete zu den Planetenräumen,<br />

München 1923.


Joachim Block Eine Vision wird illustriert<br />

physikalisch exakt dargelegt, dass Raumflug auf der Basis des Rückstoßprinzips<br />

durchaus verwirklicht werden könnte, sobald es erst hinreichend große mehrstufige<br />

Flüssigkeitsraketen gäbe. 1 Und hier, im Deutschland der zwanziger und frühen<br />

dreißiger Jahre, hatte er damit sogleich einen kleinen Kreis von Idealisten wie Johannes<br />

Winkler, Rudolf Nebel und Willy Ley inspiriert, die 1927 den Verein für<br />

Raumschifffahrt (VfR) gründeten, auf einem stillgelegten Heeresgelände in Berlin-<br />

Reinickendorf den Raketenflugplatz Berlin betrieben und den UFA-Klassiker Die<br />

Frau im Mond von Fritz Lang mit erstaunlich vorausschauenden Ideen bereicherten.<br />

Als jüngstes und talentiertestes Mitglied war 1930 der erst achtzehnjährige Wernher<br />

von Braun zu dieser Gruppe gestoßen, nachdem er – ganz untypisch für den<br />

Sohn eines adligen preußischen Gutsbesitzers und höheren Beamten – ein Ingenieurstudium<br />

an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg aufgenommen<br />

hatte. An Enthusiasmus übertraf er von Anfang an alle Anderen.<br />

Nach 1930 waren die Aktivitäten auf dem Raketenflugplatz zunehmend ins Blickfeld<br />

der Reichswehr geraten, die wegen der Beschränkungen des Versailler Vertrages<br />

an der Rakete als einer möglichen Alternative zur verbotenen schweren Artillerie<br />

interessiert war und einigen der Raketenpioniere daher materielle Unterstützung<br />

um den Preis der Geheimhaltung versprach. Schon bald nach der Machtergreifung<br />

der Nationalsozialisten nahm diese Bindung einen faustischen Charakter an,<br />

vor allem für den ‹Nachwuchsstar› Wernher von Braun, der massiv gefördert und<br />

1937 mit gerade erst 25 Jahren zum Technischen Direktor der Heeresversuchsanstalt<br />

Peenemünde ernannt wurde. Während die Raketenpioniere in den westlichen Demokratien,<br />

wie Robert H. Goddard in den USA oder Robert Esnault-Pelterie in Frankreich,<br />

stets idealistische Amateure blieben, zog die deutsche Raketenforschung unter<br />

von Brauns charismatischer Führung professionell davon – freilich unter Inkaufnahme<br />

einer nach Kriegsbeginn immer tiefer werdenden, wenn auch ungewollten<br />

Verstrickung in die verbrecherischen Ziele und Methoden des NS-Regimes.<br />

Die Öffentlichkeit bekam so gut wie nichts davon mit. Sie erfuhr nichts von<br />

den endlosen Versuchen, Fehlschlägen, mühsamen errungenen Erfolgen und Kinderkrankheiten<br />

der neuen Technologie in Peenemünde, und erst recht nichts von<br />

2 Wernher von Braun<br />

in Peenemünde, 1941.<br />

35


dem ersten vollständig gelungenen Start einer A4 am 3. Oktober 1942, als zum<br />

ersten Mal in der Geschichte ein von Menschenhand gebautes Objekt den Rand<br />

des Weltraums erreichte. Erst in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges, in<br />

der das Dritte Reich im Angesicht der bevorstehenden Niederlage Tausende von<br />

A4-Raketen als ‹Vergeltungswaffe 2› auf London und auf Ziele hinter der näher<br />

rückenden Invasionsfront abfeuerte, erfuhr die Weltöffentlichkeit von der Raketenentwicklung<br />

in Deutschland. Noch viel länger dauerte es, bis auch die mörderischen<br />

Bedingungen der A4- und V2-Serienfertigung im Konzentrationslager<br />

Mittelbau-Dora bei Nordhausen am Harz ins allgemeine Bewusstsein drangen. In<br />

jedem Fall wurden Raketen in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem als<br />

neuartige Fernwaffen wahrgenommen. Dass man mit ihnen auch zu den Planeten<br />

fliegen könnte, blieb zunächst noch eine Fiktion.<br />

Visionäre in der Wüste<br />

Zu den Wenigen, die den Traum konsequent weiterverfolgten, gehörte Wernher<br />

von Braun. Er hatte sich im Frühjahr 1945 – gerade rechtzeitig, aber auch nicht<br />

selbstmörderisch früh – aus Peenemünde in die bayerischen Alpen abgesetzt,<br />

sich gezielt von den Amerikanern gefangen nehmen lassen und sie sofort davon<br />

überzeugt, dass er die Schlüsselperson der deutschen Raketenentwicklung und<br />

im übrigen kooperationsbereit sei. Die amerikanische Armee schaltete blitzschnell.<br />

Buchstäblich in den letzten Tagen und Stunden, bevor sie sich hinter die<br />

vereinbarte Grenze ihrer Besatzungszone zurückziehen und Nordhausen an die<br />

Sowjets übergeben musste, evakuierte sie in einem spektakulären Coup die Stollen<br />

des Mittelwerks. Hunderte fertiger und halbfertiger A4-Raketen fanden von<br />

dort ihren Weg nach Fort Bliss in der Wüste von New Mexico, wo sie in den folgenden<br />

Jahren auf dem nahe gelegenen Testgelände White Sands untersucht und<br />

getestet werden sollten.<br />

Das Personal, das den Amerikanern dort die dringend nötigen Nachhilfestunden<br />

in Raketentechnologie erteilte, bestand aus einer Gruppe von 127 Peenemündern,<br />

die Wernher von Braun persönlich ausgesucht hatte und die daraufhin in<br />

der Operation Paperclip in die USA gebracht worden waren. Auch von Brauns früherer<br />

Wehrmachtsvorgesetzter, General Walter Dornberger, stieß in der Folge<br />

dazu. Sahen sich die Deutschen anfangs fast auf den Status von Zivilinternierten<br />

gedrückt, verbesserte sich ihre Situation in den nächsten Jahren zusehends, als<br />

sie ihre Familien nachholen und wieder in normaler privater Umgebung leben<br />

durften. Im April 1950 zog die gesamte Gruppe geschlossen von Fort Bliss nach<br />

Huntsville (Alabama) um, wo auf dem Gelände des alten Redstone-Arsenals die<br />

Keimzelle des späteren George Marshall Space Flight Centers (MSFC) entstehen<br />

sollte. Über Jahrzehnte hinweg, bis in die Ära des Apollo-Projekts hinein, sollten<br />

diese Paperclip Germans fest zusammenhalten, zahlreiche Schlüsselpositionen in<br />

der noch jungen NASA besetzen und dafür sorgen, dass Huntsville für lange Zeit<br />

den Spitznamen ‹Peenemünde-Süd› bekam.<br />

Ende der vierziger Jahre waren diese Entwicklungen jedoch keineswegs abzusehen.<br />

Wernher von Brauns Sorgen, die Amerikaner könnten das technologische<br />

Wissen seiner Mannschaft einfach bis zum Ende ausschöpfen und sie danach alle<br />

entlassen, vielleicht sogar nach Deutschland zurückschicken, waren nur allzu begründet.<br />

Er musste eine Perspektive finden, die weit jenseits der bloßen militärischen<br />

Anwendungen der Rakete lag und die die Verheißungen der frühen dreißi-<br />

36 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Joachim Block Eine Vision wird illustriert<br />

3 Start einer A4 mit<br />

WAC Corporal als Oberstufe<br />

in White Sands,<br />

1947.<br />

ger Jahre wieder aufgriff; eine Perspektive, die von der amerikanischen öffentlichen<br />

Meinung getragen werden und die auch ihn selbst tragen würde:<br />

Faced with a prolonged drought in the rocket business because of a lack of popular support,<br />

von Braun would turn to the idea of selling the American public on spaceflight. Since<br />

it obviously was not going to come about simply as a by-product of military development,<br />

he had to convince ordinary people that space travel was not a silly or utopian proposition.<br />

But the question was how? 2<br />

Das Marsprojekt<br />

Bereits in Fort Bliss hatte von Braun angefangen, die Versatzstücke seiner Technologie<br />

zu einem grandiosen Szenario zusammenzutragen. Wenn man die Peenemünder<br />

Ansätze nur groß und konsequent genug weiterverfolgen würde, könnte<br />

man riesige geflügelte Raketen von über sechstausend Tonnen Startgewicht bauen,<br />

die ansehnliche Nutzlasten in eine 1730 Kilometer hohe Erdumlaufbahn<br />

transportieren könnten. Hunderte solcher ‹Transportschiffe›, jedes fast doppelt<br />

so schwer wie die spätere Mondrakete Saturn 5, würden den Bau einer großen<br />

radförmigen Raumstation erlauben, die alles zugleich sein sollte: Erdbeobachtungsplattform,<br />

Sternwarte, Wissenschaftslabor, Raumschiffbaustelle und nicht<br />

zuletzt Militärbasis. Sämtliche Aufgaben würden natürlich von Astronauten<br />

wahrgenommen werden, denn moderne Computer waren noch nicht vorstellbar<br />

– der spätere Automatisierungsgrad in der Raumfahrt erschien vor 1950 fast utopischer<br />

als die Raumfahrt selbst. Von dieser Raumstation aus würden dann ganze<br />

Flotten von Raumschiffen zu Expeditionen zum Mond und zum Mars aufbrechen<br />

und den amerikanischen Traum perpetuieren: So wie die Pioniere des 19. Jahrhunderts<br />

in Planwagen und Eisenbahnen die Prärien des Westens bezwungen<br />

hatten, so würden ihre Urenkel in Raumschiffen das Sonnensystem durchqueren<br />

und das Banner grenzenloser Freiheit mit sich tragen.<br />

Diese Botschaft erschien wie geschaffen für die amerikanische Volksseele, aber<br />

sie musste erst einmal die Chance bekommen, dem Volk überhaupt vermittelt werden<br />

zu können. Denn all die physikalischen Ansätze und Formeln, die akribischen<br />

37


Berechnungen, technischen Zeichnungen und detaillierten Tabellen, mit denen von<br />

Braun nachwies, dass die Technologie der Mitte des 20. Jahrhunderts im Prinzip bereits<br />

ausreichen würde, den Traum vom Raumflug zu verwirklichen, waren nur für<br />

Fachleute verständlich – und selbst von den Fachleuten waren vorerst nur sehr wenige<br />

bereit, sich mit derart utopisch erscheinenden Ideen ernsthaft zu befassen.<br />

Immerhin konnten sich die wenigen Raumfahrtenthusiasten, die es gab, in<br />

den Nachkriegsjahren wieder ungehindert organisieren; und auch Wernher von<br />

Braun selbst durfte sich nach den Restriktionen der Anfangszeit in Fort Bliss allmählich<br />

wieder freier äußern. Er begann, Kontakte in alle Welt zu knüpfen, trat<br />

der American Rocket Society bei, einem Vorläufer der späteren American Institute<br />

of Aeronautics and Astronautics (AIAA), und aus Großbritannien erreichte ihn<br />

im August 1949 die Ernennung zum honorary fellow der British Interplanetary Society<br />

(BIS). Diese Ehrung, nur viereinhalb Jahre, nachdem die letzte V2 auf London<br />

gestürzt war, bereitete ihm eine außerordentliche Genugtuung und zeugte<br />

vom Pragmatismus der BIS und ihres führenden Kopfes, des nachmals berühmten<br />

Sciencefiction-Autors Arthur C. Clarke. Von noch größerem praktischen Nutzen<br />

war das Ansehen, das von Braun bei den in der alten Heimat verbliebenen Raumfahrtlobbyisten<br />

genoss: Die Gesellschaft für Weltraumforschung (GfW) ernannte<br />

ihn zum Ehrenmitglied, und dankdes Engagements von Heinz Hermann Koelle<br />

und Otto Wolfgang Bechtle wurde das ‹Marsprojekt› erstmals in eine Form gebracht,<br />

in der es schließlich 1952 als schmales Büchlein von 81 Seiten in deutscher<br />

Sprache publiziert werden konnte. 3<br />

Trotz dieser bescheidenen Anfangserfolge wäre Wernher von Braun der<br />

Durchbruch zur dringend benötigten Akzeptanz seiner Ideen in der amerikanischen<br />

Öffentlichkeit beinahe misslungen. Ein Versuch, das Marsprojekt in Prosaform<br />

zu gießen und einen Roman daraus zu machen, scheiterte jämmerlich – zu<br />

blutleer und langweilig war die Handlung, zu hölzern die Charaktere, zu krampfhaft<br />

gewollt das ganze Buch. Kein einziger Verleger wollte das 482 Seiten lange<br />

Manuskript annehmen. Ob das alte Sprichwort, dass ein gutes Bild mehr sagt als<br />

tausend Worte, von Braun damals in den Sinn gekommen ist, wissen wir nicht.<br />

Fest steht: Er brauchte nichts dringender als einen guten Illustrator. Nur Bilder,<br />

Bilder und nochmals Bilder konnten sein grandioses Konzept retten.<br />

Chesley Bonestell kommt ins Spiel<br />

Im Hayden-Planetarium des Amerikanischen Museums für Naturgeschichte in New<br />

Yorkfand am 12. Oktober 1951 eine Veranstaltung statt, die sich emphatisch First<br />

Annual Symposium on Space Travel nannte, aber im Grunde kaum mehr war als eine<br />

von einer Handvoll Insider getragene Werbeveranstaltung für die Idee der Raumfahrt.<br />

Wernher von Braun selbst war an diesem Tag gar nicht anwesend; stattdessen<br />

hatte ein anderer Veteran aus Raketenflugplatz-Tagen, der VfR-Mitbegründer<br />

Willy Ley, das Heft in der Hand. Ley war bereits 1935 aus Deutschland in die USA<br />

emigriert, hatte hier durchaus unabhängig für die Idee der Raumfahrt geworben<br />

und bereits 1949 ein Buch geschrieben, das den visionären Titel The Conquest of<br />

Space trug, aber erst 1952 in größerer Auflage publiziert werden sollte. 4 Anders als<br />

das Marsprojekt Wernher von Brauns enthielt es zwar keine wirklich verwertbaren<br />

technischen Konzepte, aber dafür war es phantastisch illustriert.<br />

Die Bilder für dieses Buch, die von Ley natürlich auch bei der Veranstaltung im<br />

Hayden-Planetarium gezeigt wurden, stammten von einem damals schon älteren<br />

38 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Joachim Block Eine Vision wird illustriert<br />

Architekturmaler, Fassadendesigner und Kulissengestalter, dem 1888 in San Francisco<br />

geborenen Chesley Bonestell, der bis dahin außerhalb seines beruflichen<br />

Umfelds nur wenig bekannt gewesen war. Bonestell hatte sich von früher Jugend<br />

an gleichermaßen für Astronomie und Architektur interessiert und einige prägende<br />

Eindrücke, die er als Schüler bei Besuchen des Lick-Observatoriums empfangen<br />

hatte, auf seiner Staffelei in Ölbildern festgehalten. Leider sind diese frühen Ansichten,<br />

unter anderem des Saturn, allesamt verloren – sie wurden 1906 bei dem<br />

großen Erdbeben in San Francisco zerstört – , ihre Faszinationskraft aber verließ<br />

Bonestell nie mehr und er besuchte später wiederholt das Observatorium auf dem<br />

Mount Wilson, um sich die Planeten im Teleskop anzusehen.<br />

Nach einem abgebrochenen Architekturstudium an der Columbia-Universität<br />

hatte er sich zunächst bei verschiedenen renommierten Architekturbüros verdingt<br />

und, obgleich er keinen akademischen Abschluss erreicht hatte, bald einen<br />

Ruf als guter Fassadengestalter erworben: das Chrysler Building, das New York<br />

Central Building und das Gebäude des Obersten US-Bundesgerichts verdanken<br />

ihm ihr Aussehen ebenso wie das Plymouth RockMemorial (an der Landungsstelle<br />

der Mayflower von 1620) und verschiedene bundesstaatliche Kapitolgebäude.<br />

Mit dem Aufblühen der Filmindustrie etablierte sich Bonestell in Hollywood als<br />

meisterhafter Gestalter anspruchsvoller Kulissen (etwa für den Klassiker Der<br />

Glöckner von Notre Dame) und als Experte für Spezialeffekte, dreidimensionale Ansichten<br />

und das Spiel mit Licht und Schatten.<br />

Nebenbei begann er aus Liebhaberei Landschaftsbilder fremder Planeten zu<br />

malen, in die er sein Talent für optische und geometrische Effekte und einen<br />

starkan die RomantikCaspar David Friedrichs erinnernden Stil einfließen ließ.<br />

Meisterstücke wie Saturn as Seen From Titan (Abb. 4) wirken auch heute noch unmittelbar<br />

emotional und hätten bestimmt schon in den frühen 1940er Jahren, als<br />

Bonestell einige davon in der Zeitschrift Life veröffentlichte, eine viel breitere Resonanz<br />

gefunden und seinen Namen bekannt gemacht, wenn nicht der Zweite<br />

Weltkrieg die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit fast völlig absorbiert hätte.<br />

4 Chesley Bonestell,<br />

Saturn as Seen From Titan.<br />

39


So aber bedurfte es noch etlicher Jahre und der vorbereitenden Zusammenarbeit<br />

mit Willy Ley, bis Bonestells Stunde kam. Bei der Veranstaltung am 12. Oktober<br />

1951 saßen einige Reporter des bekannten Collier’s Magazine im Publikum,<br />

ließen sich von der Aufbruchstimmung der Teilnehmer und der Faszination des<br />

Themas anstecken und <strong>berichte</strong>ten ihrem Chef und Herausgeber Walter Davenport<br />

mit entsprechender Begeisterung. Der Stein kam ins Rollen.<br />

Collier’s Paukenschlag<br />

Das Magazin Collier’s, dem Walter Davenport viele Jahre als Herausgeber vorstand,<br />

war eine mächtige Einflussgröße in der amerikanischen Gesellschaft jener Zeit.<br />

Ähnlich wie Reader’s Digest enthielt es eine bunte Mischung von gut recherchierten,<br />

spannenden und lehrreichen, aber auch unterhaltsamen Artikeln, war ausgezeichnet<br />

illustriert und entsprach der politischen Weltsicht der großen Mehrheit der<br />

Durchschnittsamerikaner geradezu perfekt. Wer in jener Zeit, bevor das Fernsehen<br />

allgegenwärtig wurde und den Einfluss der Zeitschriften allmählich zurückzudrängen<br />

begann, die öffentliche Meinung für sich einnehmen wollte, konnte gar keinen<br />

besseren Weg einschlagen als den über diese monatlich erscheinenden Magazine.<br />

Walter Davenport ließ sich jedenfalls von dem, was ihm seine Reporter von<br />

der Veranstaltung am 12. Oktober im Hayden-Planetarium <strong>berichte</strong>ten, spontan<br />

mitreißen. Schon knapp vier Wochen später, am 6. November 1951, würde in San<br />

Antonio unter dem Dach der US Air Force eine weitere Konferenz stattfinden, in<br />

der es zwar explizit um Physikund Medizin in der Hochatmosphäre gehen würde,<br />

wo die Möglichkeit von Flügen in den Weltraum aber sicherlich ernsthaft diskutiert<br />

werden würde. Davenport beschloss, zu dieser Konferenz nicht nur irgendwelche<br />

Mitarbeiter zu entsenden, sondern seinen persönlichen Stellvertreter<br />

und Mitherausgeber Cornelius Ryan.<br />

Cornelius Ryan, ein gebürtiger Ire und langjähriger Kriegs<strong>berichte</strong>rstatter,<br />

der die Invasion in der Normandie hautnah miterlebt hatte und später durch seine<br />

beiden Bestseller Der längste Tag und Die Brücke von Arnheim bekannt werden<br />

sollte, folgte dem Ruf Walter Davenports und fuhr zu der Konferenz, aber ziemlich<br />

lustlos. Wie er Wernher von Braun gegenüber dort sofort freimütig zugab,<br />

verstand er überhaupt nichts von den Raumfahrtideen und hielt auch nichts davon.<br />

Was sollte er eigentlich hier in San Antonio?<br />

Von Braun aber erkannte sofort, welchen Fisch er da an der Angel hatte. Ryan<br />

war der Schlüssel zu einem der bedeutendsten amerikanischen Medien; er verkörperte<br />

die einmalige Chance, nach der die führenden Peenemünder und ihr Chef so<br />

lange vergeblich gesucht hatten. Er musste einfach gewonnen werden, hier und<br />

heute! Zusammen mit dem Hochatmosphären-Physiker Joseph Kaplan und dem<br />

Astronomen Fred Whipple bearbeitete von Braun den unsicher werdenden Mitherausgeber<br />

von Collier’s mit seiner Überzeugungskraft und seinem ganzen, oft<br />

beschriebenen Charisma, zuerst am Rande der Konferenz, dann beim abendlichen<br />

Dinner und schließlich bis in die Nacht hinein an der Bar des Hotels. Am Ende war<br />

es vollbracht. Sie hatten Ryan umgedreht, in Fred Whipples Worten:<br />

That evening he [Ryan] appeared to be highly skeptical about any possibility of artificial<br />

satellites or space travel... The three of us worked hard of proselytizing Ryan and finally<br />

by midnight he was sold on the space program. 5<br />

Einmal überzeugt, machte Ryan Nägel mit Köpfen. Er organisierte sofort einen<br />

Workshop in der Redaktion von Collier’s in New York, auf dem sich noch vor Weih-<br />

40 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Joachim Block Eine Vision wird illustriert<br />

5 Collier’s Magazine, März 1952: Man Will Conquer<br />

Space Soon.<br />

nachten die führenden Raumfahrtpioniere mit einigen ausgesuchten Illustratoren<br />

treffen sollten, um für die kommende Märzausgabe einen Paukenschlag vorzubereiten.<br />

Auf Seiten der Künstler nahmen außer Chesley Bonestell, dem hier von Anfang<br />

an die unbestrittene Führung zufiel, noch Fred Freeman und Rolf Klep an<br />

dem Treffen teil. Die Riege der Wissenschaftler wurde von Wernher von Braun angeführt.<br />

Seine Mitstreiter waren Willy Ley, Heinz Haber und Fred Whipple – letzterer<br />

bezeichnenderweise der einzige gebürtige Amerikaner in dieser Gruppe. Die<br />

Zeitvorgabe (März 1952) war extrem knapp, und insbesondere auf Bonestell kam<br />

harte Arbeit zu. Er malte ja niemals aufs Geratewohl, sondern setzte alle technischen<br />

Entwürfe zunächst in maßstabsgetreue dreidimensionale Modelle aus Holz,<br />

Gips und Draht um, erprobte an diesen die verschiedensten Perspektiven, Beleuchtungs-<br />

und Umgebungseffekte und setzte sich erst ganz zum Schluss an seine<br />

Staffelei. Dieser akribischen Mühe war es schließlich zu verdanken, dass seine<br />

Bilder so ‹wahrheitsgetreu› aussahen. Jetzt, im Winter 1951/52, musste er Wernher<br />

von Brauns dreistufige Satellitenrakete und die radförmige Raumstation, für<br />

die folgenden Ausgaben von Collier’s auch die Raumschiffe zum Mond und zum<br />

Mars als Modelle bauen. Aber die Mühe lohnte sich.<br />

Am Vorabend des Erscheinens der Märzausgabe trat Wernher von Braun in<br />

zwei Fernseh- und zwei Rundfunksendungen auf, und Geschäfte in New York waren<br />

plakatiert, um eine ganz besondere Botschaft anzukündigen: Der Mensch wird<br />

den Weltraum erobern (Abb. 5), und zwar schon sehr bald! Das Echo war überwältigend.<br />

Die Leute rissen sich um das Heft, Vorträge von Brauns waren überfüllt,<br />

und Mediengiganten wie Walt Disney begannen, sich für ihn und sein Programm<br />

zu interessieren. In den folgenden Monaten wurde die Vision weitergesponnen:<br />

Weitere Nummern von Collier’s beschrieben den Flug zum Mond sowie die Errichtung<br />

einer Mondbasis und schließlich das ganze gigantische Marsprojekt mit seiner<br />

Raumflotte von zehn Schiffen und dem 449-tägigen Aufenthalt einer Forschungsmannschaft<br />

auf dem roten Planeten (Abb. 6). Und bei allen diesen Be-<br />

41


6 Cesley Bonestell, Marsexpedition bereitet sich zum Rückflug vor.<br />

schreibungen wurde die Imaginationskraft des Lesepublikums durch Bonestells<br />

phantastische Illustrationen beflügelt. Danach war der entscheidende Durchbruch<br />

geschafft. Die öffentliche Meinung begann sich zu bewegen, und ein immer<br />

größerer Teil der amerikanischen Bevölkerung hielt Raumfahrt nicht nur für<br />

grundsätzlich machbar, sondern zunehmend auch für ein erstrebenswertes Ziel.<br />

Wernher von Brauns zweite Karriere<br />

Für Wernher von Braun war die enorme Publizität, die er durch die Artikel in Collier’s<br />

und nachfolgende Veröffentlichungen erreicht hatte, der Schlüssel zur zweiten<br />

Karriere, diesmal im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Zunächst katapultierte<br />

sie ihn in eine unanfechtbare Position an der Spitze des Marshall Space Flight<br />

Centers (MSFC) in Huntsville und ermöglichte es ihm, mit der dort entwickelten<br />

Redstone-Rakete eine einsatzfähige Lösung parat zu haben, als im Herbst 1957 der<br />

Sputnik-Schock Amerika erschütterte. Unter der Eisenhower-Administration hatten<br />

Heer, Luftwaffe und Marine voneinander getrennte und schlecht koordinierte<br />

Programme verfolgt, anlässlich des Internationalen Geophysikalischen Jahres (IGY)<br />

einen Erdsatelliten zu starten, aber es hatte zunächst nur Misserfolge gegeben. Als<br />

dann die Sowjets, die das gleiche Ziel angekündigt hatten, denen aber im Westen<br />

niemand so recht geglaubt hatte, tatsächlich den ersten Satelliten ins All brachten,<br />

sah sich die US-Regierung unter massivem Erfolgsdruck, und Wernher von Braun<br />

war zur Stelle. Das Dreierfoto, das ihn zusammen mit William Pickering und James<br />

van Allen unter einem Modell des ersten amerikanischen Satelliten Explorer 1<br />

zeigt, steht für einen seiner größten Triumphe.<br />

Danach konnte Eisenhower ihn nicht mehr fallen lassen, und Kennedy erst<br />

recht nicht. Das unter dem Eindruckdes Kalten Krieges von Kennedy am 25. Mai<br />

1961 verkündete Ziel, bis zum Ende des Jahrzehnts mindestens einen Amerikaner<br />

auf den Mond und sicher zurückzur Erde zu bringen, legte den Grund für das<br />

Apollo-Projekt einschließlich der Entwicklung der gewaltigen Trägerrakete Saturn<br />

5 und beförderte Wernher von Braun auf den Zenit seines Lebens. In diesen<br />

Jahren glaubten zahllose Menschen in den und außerhalb der USA, er sei der Chef<br />

des gesamten amerikanischen Raumfahrtprogramms, obwohl er tatsächlich im-<br />

42 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Joachim Block Eine Vision wird illustriert<br />

7 William Pickering, James<br />

van Allen und Wernher von<br />

Braun nach dem Start von Explorer<br />

1, 1958.<br />

mer nur Leiter des MSFC in Huntsville war und oft mit den anderen NASA-Zentren,<br />

vor allem Houston, im Wettstreit um Ressourcen und Kompetenzen lag.<br />

Die erfolgreiche Mondlandung 1969 war triumphaler Höhepunkt und Peripetie<br />

seiner Karriere zugleich. Nachdem unter dem Zeitdruckder 1960er Jahre Milliarden<br />

von Dollar in die Saturn- und Apollo-Entwicklung investiert worden waren,<br />

um den Wettlauf mit den Russen zu gewinnen, hätte man nun, nachdem Infrastruktur<br />

und Fluggerät einsatzbereit vorhanden waren, mit relativ geringem<br />

finanziellen Aufwand und in viel größerer Ruhe noch eine ganze Reihe von Wissenschaftsmissionen<br />

realisieren können. Stattdessen brach das Mondprogramm<br />

der USA sang- und klanglos zusammen. Bereits bezahlte Raketen wurden nicht<br />

mehr gestartet, Budgets wurden dramatisch gekürzt und Positionen demontiert.<br />

Wernher von Braun sah sich binnen kurzem abgeschoben auf einflusslose Ehrenposten,<br />

erkrankte an Krebs, und auch der lange Schatten von Mittelwerk-Dora<br />

war plötzlich, nach so vielen Jahren, wieder da. Als er am 16. Juni 1977 starb, waren<br />

die Fragezeichen aus der NS-Zeit in den Medien zahlreicher als die rühmenden<br />

Nachrufe.<br />

Chesley Bonestell, der Vater der Space Art<br />

Chesley Bonestell blieb diese Tragikerspart. Obwohl er fast ein Vierteljahrhundert<br />

älter war als Wernher von Braun, überlebte er ihn noch um neun Jahre und<br />

starb erst im Sommer 1986, bald hundertjährig, mit einem unvollendeten Bild<br />

auf seiner Staffelei.<br />

43


8 Chesley Bonestell.<br />

Nach dem Durchbruch 1952 hatte er noch eine Reihe von Jahren mit Wernher<br />

von Braun zusammengearbeitet, bis dieser immer weniger auf die Publikation illustrierter<br />

Bücher angewiesen war, um seine Ziele zu erreichen. Bonestells<br />

Raumfahrt- und Planetenansichten aber verbreiteten sich über die ganze Welt<br />

und begeisterten Millionen von Menschen. Waren sie ursprünglich Sciencefiction<br />

im besten Sinne gewesen, wurden sie nun zu Klassikern eines neuen Kunstgenres:<br />

der Space Art. Zwar dominiert auf diesem Gebiet heute der Computer als<br />

Kompositionswerkzeug, und Sciencefiction-Bilder werden kaum noch mit Pinsel<br />

und Ölfarben gemalt. Aber das ist unwesentlich. Wesentlich ist die Inspiration,<br />

die Chesley Bonestell der Space Art gegeben hat. Man kann ihn als den ‹Vater›<br />

dieser Kunstrichtung bezeichnen.<br />

44 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Anmerkungen<br />

3 Wernher von Braun, Das Marsprojekt,<br />

3.2009<br />

1 Hermann Oberth, Die Rakete zu den Plane- Frankfurt am Main 1952.<br />

tenräumen, München 1923.<br />

4 Willy Ley u. Chesley Bonestell, The Conquest<br />

2 Michael J. Neufeld, Von Braun. Dreamer of of Space, New York1952.<br />

Space, Engineer of War, New York2007, S. 224. 5 Neufeld 2007 (wie Anm. 2), S. 257.


Robert Bramkamp Für ein realkomplexes Raketenmuseum<br />

Robert Bramkamp<br />

Für ein realkomplexes Raketenmuseum<br />

Mein Film Prüfstand 7 ist eine dokufiktionale ‹Charakterstudie der Rakete› mit der<br />

Hauptdarstellerin Inga Busch als zur Erde zurückgekehrtem ‹Geist der Rakete›. 1<br />

Dieses Wesen, das sich ‹Bianca› nennt, erforscht auf der Suche nach ihrem Ursprung<br />

1999 ein ‹Raketendreieck› zwischen Bremen, Peenemünde und Nordhausen,<br />

zwischen dem Ursprung und der Zukunft der Rakete oszillierend und Motive<br />

aus Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow durchquerend.<br />

Für mich als Filmemacher, der versucht, im Passagenraum zwischen Kunst<br />

und Wissenschaft zu arbeiten und hier das Projekt eines ‹realkomplexen Raketenmuseums›<br />

in Worte zu fassen, war es zehn Jahre nach den Dreharbeiten ein besonderer<br />

Moment, die Ankunft des Films im mehrpoligen Zusammenhang eines<br />

interdisziplinären Symposiums wie Planetarische Perspektiven zu erleben. Der<br />

Film kam nun real in eben der vielstimmigen Situation an, die er zuvor nur ästhetisch<br />

modellieren konnte. Durch Montage von Fakten und Erfindungen wird filmisch<br />

ein Zusammenhang spürbar, der dann ermöglicht, vom Raketengeschehen<br />

zu handeln. Mit einer wirklichkeitsnahen, eher unwissenschaftlichen Unschärfe<br />

möchte ich im Folgenden als ‹Raketengeschehen› die Abfolge ziviler oder militärischer,<br />

wichtiger oder übersehener Ereignisse und Zustände bezeichnen, mit der<br />

die Rakete in eine große Zahl von Realitäten hineinregiert. 2 Das Raketengeschehen<br />

zeigt sich insofern erst, wenn man die Rakete als eigensinnige Akteurin betrachtet.<br />

Man sieht dann ihre besondere Leistung, die sich mit einer Filmfigur<br />

umgangssprachlich präzisieren lässt: «Die Rakete bringt alles auf den Punkt – Ursprung,<br />

Raketenspitze, Einschlagspunkt –, was wir nicht einmal mehr zusammenbringen.»<br />

Der Zusammenhang muss demnach weit gespannt werden, will<br />

man der faszinierenden, eigenwilligen Performanz der Rakete gerecht werden –<br />

er muss realkomplex sein, statt unterkomplex.<br />

In Braunschweig materialisierte sich eine diskursive mehrpolige Realität<br />

samt zugehörigen ExpertInnen und Institutionen sowie berufsbedingten Perspektiven<br />

und Interessen am selben Ort: Vertreter der European Space Agency<br />

und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, Physiker, KunsthistorikerInnen,<br />

Satelliteningenieure der Technischen Universität Braunschweig, KünstlerInnen,<br />

Filmemacher und PhilosophInnen. Sieht man von Vertretern der Politik,<br />

der Waffenindustrie sowie der Organisation der Überlebenden des Konzentrationslagers<br />

Mittelbau-Dora und der zugehörigen unterirdischen RaketenfabrikMittelwerke<br />

ab, die zumindest medial anwesend waren, so waren zu diesem<br />

Anlass die wichtigsten Parteien des Raketengeschehens zusammengekommen.<br />

3 Dies schien mir ein Novum zu sein, auf das ich hier und jetzt reagiere, indem<br />

ich in Form einer künstlerisch-wissenschaftlichen Anschlusshandlung eine<br />

Idee skizziere.<br />

45


46 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Als Abwechslung zu dem ‹Retro-Biedermeier› des deutschen Films, der nach<br />

zwanzig Jahren Reduzierung von Komplexität geradezu ‹totalitär› mit allen verfügbaren<br />

Budgets die filmische Fantasie limitiert, wünsche ich mir: ein realkomplexes<br />

Raketenmuseum. Wie ein Kunstmuseum sammelt es nicht nur Artefakte,<br />

die es thematisch präsentiert, sondern betreibt ebenso Forschung und Politik. Da<br />

nach Friedrich Kittler gelten darf: «Raketentechnologie braucht Filmtechnologie<br />

und umgekehrt», wäre ein derart forschendes Museum auch ein exemplarisches<br />

Praxisfeld für realkomplexes Filmemachen.<br />

3.2009<br />

4 Ziel des Raketenmuseums wäre es,<br />

publikums- und forschungsorientiert alle im Raketengeschehen zusammenfließenden<br />

Wirklichkeiten experimentell zu verbinden, künstlerisch und wissenschaftlich<br />

zu erforschen und zu vermitteln, um auf diese Weise wirksame Aufklärung<br />

oder Abklärung zu leisten.<br />

Vielleicht genügt dies nicht, aber beispielsweise wäre es zu wünschen, wenn<br />

ein solches Raketenmuseum in Zukunft dazu beitragen könnte, die gefährliche<br />

Eskalierung zu vermeiden, die etwa US-Außenministerin Condoleeza Rice auslöste,<br />

als sie den russischen Entscheidungsträgern mitteilte, sie würde es nicht<br />

verstehen, worüber sie sich aufregten, handle es sich doch nur um einige wenige<br />

Raketen vor ihrer Landesgrenze. Diese mehrfache Demütigung könnte fiktional<br />

als Szenario entfaltet werden und gehört deshalb in eine Abteilung des vielstimmigen<br />

Raketenmuseums. Thema dieses Raumes wäre der Raketeneinsatz als letzter<br />

Ausweg einer uneingestanden verzweifelten Partei. Immer dann, wenn die<br />

Rakete ins Zentrum der politischen, kollektivsymbolischen und militärischen<br />

Wahrnehmung gerückt wird, weiß mindestens eine der Parteien weder ein noch<br />

aus. Wer Raketen startet oder stationiert, versucht, die nicht mehr zu bewältigende<br />

Komplexität (etwa des Irakkriegs) auf die Gestalt eines simpel-schönen Objekts<br />

zu reduzieren und mittels einer Tat zu bannen, die Erlösung verspricht:<br />

Countdown, Treffer, Klarheit, Eindeutigkeit. Eine Rakete zu starten, bedeutet<br />

dann, aus der Verzweiflung heraus einen Hilferuf abzusetzen und zugleich eindeutig<br />

Stärke zu behaupten, was allerdings keine Gestaltung, sondern das Auslösen<br />

einer unkontrollierbaren Eigendynamik zur Folge hat, zwischen Zerstörung<br />

und Weltraumträumerei. Das klingt ‹schizo› und ist es auch. Und entspricht gerade<br />

dadurch dem Charakter der Rakete, die eine Show garantiert, aber nicht sagt,<br />

welche. Man sollte diesen Charakter aus dem Zentrum politischer Entscheidungsprozesse<br />

und medialer Kommunikation herausrücken und ‹erden›.<br />

Das Raketenmuseum könnte die Raketengeschichte mit verschiedenen Medien<br />

‹realkomplex› entfalten und wahrnehmbar machen, Faszination und Denken<br />

miteinander in Beziehung setzen und auf dieser Basis als medialer Akteur das tagesaktuelle<br />

Raketengeschehen beeinflussen. Die analog zur Rakete in diesem Museum<br />

zusammenfließenden Wirklichkeiten müssen das Akademisch-Interdisziplinäre<br />

überschreiten, da auch Erfahrungsräume wie space park rides, Filme aller<br />

Couleur sowie andere Formen der populären Interaktion berücksichtigt werden<br />

sollten. Als Modell für die nötige enzyklopädische Grundhaltung darf weiterhin<br />

«der genaueste aller Romane» gelten, der wegen seiner großen Spannbreite von<br />

Perspektiven und Tonlagen nichts von seiner Faszination eingebüßt hat. 5 Will<br />

man der Rakete und den ‹planetarischen Perspektiven›, die sie uns eröffnet, auf<br />

die Schliche kommen, empfiehlt es sich, die faustische Show zu transzendieren<br />

und mit Pynchon zu konstatieren, dass die Rakete «jenseits der simplen Erektion<br />

aus Stahl ein ganzes System ist, abgewonnen einem weiblichen Dunkel». 6 Dieses


Robert Bramkamp Für ein realkomplexes Raketenmuseum<br />

vielschichtige System regiert in viel mehr Realitäten, seien es emotionale, politische,<br />

technische und diskursive, hinein, als wir im Laufe unseres Lebens erfahren,<br />

geschweige denn kombinierten können.<br />

Nur der liebe Gott überblickt, was geschieht. Aber ist nicht auch die Rakete eine<br />

Göttin? Selbst 67 Jahre nach ihrem ersten Flug ins All taucht sie in der Tagesschau<br />

auf, wann immer es ihr beliebt und sobald eine ihrer größeren Inkarnationen<br />

startet, unabhängig davon, ob sie aus Russland, Europa, den USA, Nordkorea,<br />

China oder dem Iran stammt. 7 Ihr Start ist ein Ereignis, nicht nur, weil er nicht<br />

Routine werden will und jederzeit zum Fehlstart werden kann, sondern auch,<br />

weil jeder Start, der glückt, Teil eines medialen Regierungsprogramms ist. Wenn<br />

die Rakete sich einmischt, verbindet sie nicht nur jene Realitätssegmente, die wir<br />

oder unsere Systeme nicht mehr zusammenbekommen, plötzlich und auf zwingende<br />

Weise, sondern sie tut dies auch auf unvorhersehbare Weise. Kein Start ist<br />

redundant, denn die Rakete steckt voller Widersprüche. Ob sie gerade gut oder<br />

böse handelt, können wir nicht wissen. Ob sie Tod bringt oder Leben sucht, weiß<br />

die Rakete manchmal selbst nicht.<br />

Entscheidend ist, dass es wenigstens eine gibt, die selbst in der unübersichtlichsten<br />

Situation qua Start oder Startversuch handlungsfähig bleibt. Darauf können<br />

wir uns verlassen. So lädt die Rakete als dramatisch veranlagtes Einzelwesen<br />

zur Identifikation ein und bleibt uns zugleich überlegen. 8 Sie ist ein derart vergrößertes<br />

Einzelwesen, dass sie uns Normalsterblichen mit jedem Start Demut<br />

einflößt, während sie selbst in ein bestimmtes, diskretes technisches Walhalla<br />

fliegt, das die Normalsterblichkeit zu beenden verspricht. 9 Jeder Regierungsakt<br />

der Rakete erscheint als mediale Performanz. Sie ist die Königin der Ambivalenz.<br />

In bestimmten Momenten regiert sie alles, weil sie jede unserer Fragen mit einem<br />

‹Jein› beantworten kann, das keinen Widerspruch zulässt. Ihr Start ist das<br />

letzte Wort und das Ende der Sprache zugleich.<br />

Zum Beleg dieser These möchte ich im Folgenden eine etwa zehn Jahre währende<br />

Langzeitbeobachtung anführen, die das Agieren der Rakete in der Rolle eines<br />

Kollektivsymbols, im Sinne von Jürgen Link, nachzeichnet. 10 Linkunterscheidet<br />

Kollektivsymbole nach pictura und subscriptio. Einem spezifischen Bild wachsen<br />

veränderbare subscriptiones zu, wodurch eine Illusion eines Gesamtbildes<br />

entsteht: im 18. Jahrhundert etwa der Ballon, im 19. Jahrhundert der ‹Zug des<br />

Fortschritts›, später der ‹Supertanker SPD› und bis heute die Rakete. Ich möchte<br />

behaupten, dass in der massenmedialen Präsenz der Rakete eine systematische<br />

Abfolge von guten und bösen Handlungen mitgeteilt wird, die durch ihre Ambivalenz<br />

die Rakete dauerhaft am Leben erhält.<br />

Das realkomplexe Raketenmuseum soll diese Pole erforschen und als Elemente<br />

ihrer subscriptio anschaulich machen, die von der Performanz der Rakete<br />

angesprochen werden und die sie für die Konstituierung von radikaler Ambivalenz<br />

braucht. 1999, zur Entstehungszeit meines Films, konnten in Deutschland<br />

die Pole von (a) aktueller Raumfahrtindustrie samt Zukunftsprogramm und Zukunftspropaganda,<br />

(b) historischer Aufarbeitung der Naziverbrechen und (c)<br />

Technikgeschichte kaum miteinander verbunden werden. Es herrschte Funkstille<br />

zwischen den beteiligten Parteien. Die Erwähnung des Wortes ‹Peenemünde›<br />

führte bei den Planern des Bremer space parks und verwandten Industrien<br />

zum Gesprächsabbruch. Die jüngste Rakete, die auf den Werbebannern<br />

für den Bremer space park dargestellt wurde, war eine V2/A4, geschmückt mit<br />

47


einer amerikanischen Flagge. ‹Vergangenheitsbewältigung›? Von wegen. Alle<br />

Fragen, die sich mit dem Urobjekt der deutschten V2/A4- Rakete verbinden,<br />

sollten durch diese Anti-Traditionsstrategie gelöscht werden. 11 Das Thema<br />

wurde reduziert auf ‹Raumfahrt› und war «nahezu ausschließlich eine Sache<br />

der Großen, der sogenannten Supermächte. Später erhielten oder erschlossen<br />

sich auch Nationen wie Deutschland die Chance zur Beteiligung» an der Raketengeschichte.<br />

12<br />

Aus anderen Gründen wurde das Ur-Objekt, die deutsche A4/V2-Rakete, aus<br />

der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora ausgeschlossen und damit jeglicher Hinweis<br />

auf die Herkunft der Rakete vermieden. Die wenigen noch lebenden Häftlinge,<br />

die zu historischer Aufklärungsarbeit motiviert die Gedenkstätte besuchten,<br />

wollten keine V2-Rakete oder anderen nationalsozialistischen Technikschrott<br />

dulden. Zuletzt vermochte das Historisch-Technische Informationszentrum<br />

(HTI) in Peenemünde angesichts dieser Kommunikationslage wenig mehr,<br />

als zwischen dem <strong>kritische</strong>n Hinweis auf die todbringenden Seiten der Rakete<br />

und der Verehrung der Ingenieure, der ‹alten Peenemünder›, zu schwanken. Diese<br />

unverbundene Koexistenz zusammenhängender Sphären verhinderte bei allen<br />

Beteiligten die Ausbildung einer zeitgemäßen, der Komplexität angemessenen<br />

Haltung zur Rakete. Immerhin wurde in der «Leeren Ethikabteilung» (Bianca)<br />

im obersten Stockwerk des entstehenden HTI dieser Mangel anschaulich,<br />

während das reduktionistische, von kalifornischen Beraterfirmen nach der<br />

‹Zwei-Küstenlogik› gestaltete Konzept eines geschichtsfreien Retrofuturismus<br />

mit dem Scheitern des Bremer space parks eine fünfhundert Millionen Euro teure<br />

Bauruine produzierte. 13 Angesichts der vom federführenden ‹Mr. Space› geschilderten<br />

Attraktionen entstand zudem der Verdacht: «Die Planer dieses Parks bauen,<br />

unbewusst, die Struktur Peenemünde-Mittelbau Dora nach.» 14 Diese geschichts-<br />

und kontextferne Propaganda erscheint wie ein in die Praxis umgesetztes<br />

re-enactment des Kurzfilms Wir verbauen 3 × 27 Milliarden Dollar in einen Angriffsschlachter<br />

von Alexander Kluge.<br />

Einen ersten Vorschlag zu möglichen Räumen oder thematischen Abteilungen<br />

des realkomplexen Raketenmuseums trägt Bianca, der Geist der Rakete, beim finalen<br />

Gang durch die ausgeräumten, renovierungsbedürftigen Räume der ‹leeren<br />

Ethikabteilung› des HTI Peenemünde vor. 15<br />

Auszug Prüfstand 7, Regiebuch (Filmminute 104)<br />

Leerer Raum<br />

Bianca: Ich könnte beinahe den sentimentalen Voelkers verstehen,<br />

der sich in jedem leeren Raum der Ethikabteilung ausmalte,<br />

welche Themen dort nie auftauchen würden.<br />

Melodramatische Musik<br />

Kameragang durch die leere Ethikabteilung<br />

Handkamera durch mehrere Räume<br />

2. Raum<br />

Voelkers: Der Sex des Raketenkörpers. Superschwanz. Maschinenbraut,<br />

Junges Ding, alte Hexe... immer beides.<br />

Und immer zwei Körper die wegflogen. Die Rakete... und<br />

von gleicher Länge und Form: ihre Flamme.<br />

48 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Robert Bramkamp Für ein realkomplexes Raketenmuseum<br />

3. Raum<br />

Bianca: Romeo und Julia! Mussten auch weg aus der Wiege der Singles!?<br />

4. Raum<br />

Voelkers: Ein Beerdigungsritual, statt aller anderen...<br />

Bianca: Für Unsterbliche? Für Untote?<br />

5. Raum und Schwenkzurück.<br />

Bianca: Hallo Hand, weißt du jetzt, ob du leben willst oder sterben?<br />

Voelkers: Als das Peenemündefieber nach Kalifornien auswanderte, das<br />

war die zweite Stufe. In Bremen wird die Rakete ohne Vergangenheit<br />

dastehen und ihre Wahrheit wieder untertage liegen.<br />

Ist das Stufe drei?<br />

Bianca: Wo steckst du?<br />

Leere fünf Räume<br />

Space Park Bremen, Wilke, Voelckers und Bianca<br />

Wilke und Voelkers stehen in der Knüste auf der Baustelle rum. Im<br />

HG nähert sich der silberne BMW von Bianca, sie steigt nicht aus.<br />

Voelkers: Designed von kalifornischen Firmen, mit Baukosten von 500<br />

Mio. DM, entsteht ein neuer Raketen-Tunnel in Deutschland. Er<br />

führt zu einer Kristallpyramide. Nur die Spitze ragt aus einer<br />

nachgebildeten Marsoberfläche hervor. Was ist der Plan?<br />

Speaker: A state begins to form. And the rocket is it’s soul.<br />

Die Bipolarität der Rakete wirkt sich auch auf ihre Beziehung zur Sprache aus, was<br />

sich insbesondere an der Verabschiedung mit einem wortlosen Schwur auf die Raketenspitze<br />

ablesen lässt, den der Gegenwartsforscher Helmut Höge entdeckt<br />

hat. 16 Das Pendeln der Königin der Ambivalenz zwischen Gut und Böse, Lebensförderung<br />

und Todesarbeit, lässt sich in Form einer Grafikveranschaulichen (Abb. 1).<br />

Zwei Faktoren werden dabei deutlich. Erstens: die Amplitude. Ist die Rakete ein wenig<br />

böse oder sehr brutal? Oder ist sie zivil, optimistisch, begeisternd? Zweitens:<br />

Die Frequenz. Eine schnelle Abfolge von widersprüchlichen massenmedialen Signalen,<br />

verdichtet in nur wenigen Tagen und mit hoher Amplitude durchgeführt, produziert<br />

eine intensive Form der Propaganda oder Manipulation, die man ‹Raketenstunde›<br />

nennen könnte. Gemeint ist der Zeitraum, in dem sich die Rakete als Souverän<br />

im Ausnahmezustand präsentiert. Wer kein Anhänger von Verschwörungstheorien<br />

ist, kann sich verschiedene Ursachen für das launische Verhalten der Rakete<br />

ausmalen. Ob wir es dabei mit gezielter Propaganda zu tun haben, mit Automatismen<br />

von Medienmachern, mit Mustern des kollektiven Unbewussten oder mit einem<br />

unerkannt fortwirkenden, quasireligiösen Ischtar-Kult – das müsste sowohl<br />

künstlerisch als auch wissenschaftlich erforscht werden.<br />

Sind es die Kommunikationen selbst, die Raketenpropaganda mit systemischem<br />

Eigensinn erschaffen, oder stecken planvolle Kommunikatoren dahinter, wenn<br />

nicht sogar eine raffinierte Instanz? 17 In jedem Fall gilt: Propaganda erfordert heute<br />

das Schwanken der Rakete zwischen Gut und Böse, zwischen Rettung und Bedrohung,<br />

Leben und Tod, space-Traum und irdischer Realität, um die Rakete im weltweiten<br />

Nachrichtenverbund dauerhaft präsent zu halten. Nur auf dieser Basis kann<br />

49


50 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> ihr Regierungsprogramm im gewünschten Moment zur radikalen Ambivalenz gesteigert<br />

werden. Erkennbar gelingt es kriegführenden Parteien, mit der Rakete alle<br />

anderen Themen zu überlagern. So kann im ‹Ernstfall› nicht nur der Nachrichtenfluss<br />

in diese Richtung gesteuert werden, sondern als einzig noch handlungsfähig<br />

erscheint stets, wer Raketen schießen kann, was einer Propagandaabteilung, die<br />

über viele Raketen oder Cruise-Raketen verfügt, entgegenkommt. Für die <strong>kritische</strong><br />

Öffentlichkeit bedeutet diese Propaganda, dass sie regelmäßig stillgestellt werden<br />

kann, sobald die Rakete Ernst macht. Das realkomplexe Raketenmuseum sollte deshalb<br />

vorausschauende, vorgefertigte Parodien für verschiedene Ernstfallmuster<br />

entwickeln und ständig in homöopathischen Dosen ausgeben.<br />

Basierend auf einem seit 1998 zusammengetragenen Überblickfolgt hier eine<br />

Skizze zum Raketengeschehen (Abb. 1). In Zusammenarbeit mit den Teilnehmern<br />

der Tagung Planetarische Perspektiven, der Hochschule für bildende Künste Hamburg<br />

(HfbK) und dem jüngst gegründeten Institut Forschender Film (IFF Hamburg)<br />

ließe sich diese grafische Beobachtungsperspektive für ein Raketenmuseum<br />

ausarbeiten und konkretisieren. Die verwendeten Quellen repräsentieren<br />

drei unterschiedliche Wahrnehmungsschwellen und -formen: 1. Die Tageszeitung<br />

(taz); 2. Tageschau, Heute; 3. Bild, Berliner Zeitung (BZ).<br />

Der erste Vorfall ereignete sich nach zehn Jahren andauernder Propaganda<br />

für eine deutsche Remilitarisierung im zerfallenden Jugoslawien. Er wurde mitten<br />

in den einfallslosen Retrofuturismus der nahenden Jahrtausendwende gesetzt,<br />

den der Reiseveranstalter TUI unfreiwillig zynisch mit seiner Plakatwerbung<br />

auf den Punkt brachte: Ein bekanntes Apollo 17-Foto aus dem Jahr 1973 war<br />

untertitelt mit dem Spruch «Machen Sie doch mal neue Bilder». Eine Rakete aus<br />

dem unter deutscher Beteiligung geführten Kriegs der NATO gegen Serbien hatte<br />

einen Zug mit Flüchtlingen getroffen und 75 Menschen getötet.<br />

3.2009<br />

18 Diese Rakete<br />

war, laut BZ vom 15. April 1999, «die Rakete, die auch uns trifft». Durch diese erste<br />

mehr oder weniger deutsche Rakete seit dem Zweiten Weltkrieg wurde<br />

Deutschland wieder zum militärischen Akteur. Dennoch scheiterte seit den<br />

1980er Jahren das selbsttherapeutische Verlangen der Remilitarisierer wiederholt,<br />

die zur ‹Normalität› (Volker Rühe) zurückzukehren möchten. ‹Normalität›<br />

sollte bedeuten, dass deutsche Soldaten im Ausland wieder andere oder sich<br />

selbst töten. Über viele Jahre ereigneten dabei nur banale, unheroische tödliche<br />

Unfälle: So kamen drei deutsche Soldaten um, als sie in Zentralasien mit einem<br />

Hammer auf den Kopf sowjetischer Flugabwehrraketen aus den 1950er Jahren<br />

schlugen, die daraufhin explodierten. Auffallend ist, wie im Raketengeschehen<br />

von 1999 bis 2009 Elemente der deutschen Remilitarisierung oft eng mit der Ambivalenz<br />

der Rakete, die zwischen Gut und Böse changiert, verkoppelt sind. Plötzlich<br />

– im Mai 2009 – hat sich diese starre Koppelung in eine lose verwandelt. Zwischen<br />

dem 12. und dem 15. Mai 2009 gruppierten sich drei Ereignisse, scheinbar<br />

ohne jeden Zusammenhang, nebeneinander: 1. NASA und ESA inszenieren mit<br />

den Starts von Atlantis und Ariane, den Satelliten Hubble, Herschel und Planck das<br />

Vollbild ziviler Weltraumbegeisterung, wobei die Erforschung der Entstehungsgeschichte<br />

der Planeten «letztlich auch Hinweise auf unser Schicksal» zu geben<br />

versprechen. 19 2. Der deutsche Papst Benedikt II. betrauert in Yad Vashem, Israel,<br />

den Holocaust. 3. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gesteht die Bundeswehr,<br />

dass deutsche Soldaten im Ausland Gegner getötet haben, allerdings<br />

nicht absichtlich, sondern «aufgrund der unübersichtlichen Lage». 20


Robert Bramkamp Für ein realkomplexes Raketenmuseum<br />

Anmerkungen<br />

1 Prüfstand 7, Deutschland 2001, 114 Min.,<br />

Farbe und Schwarzweiß, digital/35mm,<br />

Nextfilm, ZDF-3sat, Bramkamp. Buch und Regie:<br />

Robert Bramkamp, mit Motiven aus Thomas<br />

Pynchons Die Enden der Parabel; mit Inga Busch,<br />

Peter Lohmeyer, Helmut Höge, Friedrich Kittler;<br />

http://www.pruefstand7.de.<br />

2 Von amerikanisch ‹rocketry›, oder als Romanidee,<br />

die Dinge aus der Perspektive der herrschenden<br />

Rakete zu betrachten, die das Geschehen<br />

planvoll lenkt.<br />

3 Vgl. Yves Béon, Planet Dora. Als Gefangener<br />

im Schatten der V2-Rakete, Gerlingen 1999.<br />

4 Friedrich Kittler, «Medien und Drogen in<br />

Pynchons Zweitem Weltkrieg», in: Prüfstand 7.<br />

Das Buch zum Film. Material zum Film und andere<br />

Forschungen zum Geist der Rakete, hg. v. Robert<br />

Bramkamp u. Olga Fedianina, Berlin 2002,<br />

S. 61.<br />

5 Kittler 2002 (wie Anm. 4), S. 63.<br />

6 Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel,<br />

Reinbekbei Hamburg 1994<br />

7 Am 3. Oktober 1942 hat das Versuchsmuster<br />

IV der A4-Rakete vom Peenemünder Prüfstand<br />

VII die juristische und metaphorische<br />

Grenze zum Weltall durchbrochen.<br />

8 Große Raketen sind solistische Individuen.<br />

Man hat noch nie eine Apollo oder Ariane im<br />

Pulkoder auch nur als Duo starten sehen. Als<br />

Kollektivsymbol funktioniert die Rakete aber<br />

unabhängig von ihrer Größe. Auch eine ein Meter<br />

lange palästinensische Papprakete ist eine<br />

Rakete. Ob sich dieser ‹Individualismus›, der alle<br />

Inkarnationen der Rakete medial gleichstellt,<br />

durch die etwas größeren Raketen iranischer<br />

Bauart, die im Zweiten Libanonkrieg gruppenweise<br />

auftraten, verändert hat – «more then<br />

4000 rockets» laut The Guardian – müsste untersucht<br />

werden. Vgl. http://www.guardian.co.uk/world/2006/aug/14/syria.israel2.<br />

9 Das ‹technische Jenseits› (technological beyond),<br />

das Avital Ronell in ihrer Studie zum Telefon<br />

entdeckt hat, ist für Untersuchungen zur<br />

Faszination der Technologie zentral. Vgl. Avital<br />

Ronell, The Telephone Book. Technology, Schizophrenia,<br />

Electric Speech, London 1989.<br />

10 Petra Kuhnau, Masse und Macht der Geschichte:<br />

Zur Konzeption anthropologischer Konstanten<br />

in Elias Canettis Werk Masse und Macht,<br />

Würzburg 1996, S. 121: «Mit der Abbildung der<br />

pictura auf das Analogiengitter der subscriptiones<br />

entsteht das Kollektivsymbol als ein semantisches<br />

Raster, an dem kollektiv, spontan und<br />

anonym weitergedichtet werden kann, indem<br />

z. B. weitere Elemente von pictura und subscriptio<br />

oder auch neue subscriptiones eingebaut<br />

werden.»<br />

11 Vorausgegangen war eine als V2-‹Jubelfeier›<br />

kritisierte Traditionsstrategie der deutschen<br />

Raumfahrtindustrie, die europaweite Medienempörung<br />

ausgelöst hatte. Vgl. Prüfstand 7<br />

(wie Anm. 1), Min. 31.<br />

12 Vgl. Prüfstand 7 (wie Anm. 1), Min. 100.<br />

13 Unter dem Stichwort ‹bicoastal logic›<br />

(Zweiküsten-Logik) untersucht Rickels das gemeinsame<br />

Unbewusste von Deutschland und<br />

Kalifornien. Vgl. Laurence A. Rickels, The Case<br />

of California, Baltimore/London 1991. Christoph<br />

Schlautmann, «Bremer Space Parkwird<br />

zur Mega-Bauruine», in: Handelsblatt, 20. Mai<br />

2003: «Womöglich wird nicht ein einziger Laden<br />

in der 57 000 Quadratmeter großen Shoppingmall,<br />

die zusammen mit dem angeschlossenen<br />

Vergnügungspark‹Space Center› mehr<br />

als 500 Mill. Euro Investitionskosten verschlungen<br />

hat, jemals in Betrieb gehen. ‹So etwas<br />

hat es bei einem fertig gestellten Center<br />

in ganz Deutschland noch nie gegeben›, wundert<br />

sich Einkaufsimmobilien-Experte Peter<br />

Fuhrmann.»<br />

14 Michael Girke, «Die Zeit der Rakete. Gespräch<br />

mit Robert Bramkamp zu seinem Film<br />

‹Prüfstand 7› (& beyond)», in: Jungle World,<br />

2002, Nr. 22.<br />

15 Prüfstand 7 (wie Anm. 1), Regiebuch, Min.<br />

104.<br />

16 Vgl. ebd., Min. 59.<br />

17 Es gibt allerdings auch die <strong>kritische</strong> These<br />

politischer Gruppen im Internet, wonach das<br />

Pentagon die Ambivalenz der Rakete durch globale<br />

Medienarbeit steuert, weil zivile Weltraumbegeisterung<br />

für die Durchsetzung von<br />

‹star wars› und ‹leadership in space›, die eine offizielle<br />

US-Militärdoktrin sind, als unverzichtbar<br />

gilt. Gibt es eine friedlichere, demokratische<br />

Strategie? Vielleicht sollte jede zivile Mission<br />

immer auch reflektieren, welche Rolle sie im<br />

Ambivalenztheater der Rakete einnimmt oder<br />

einnehmen könnte. Wenn daraus ein ästhetisches<br />

Handeln folgen würde, das sich mit der<br />

technischen Eloquenz heutiger Weltraumtechnikauf<br />

ebenso komplexem Niveau verbinden<br />

könnte, wäre glücklicherweise nicht nur das<br />

Filmbiedermeier zu Ende, sondern auch der ‹Retrofuturismus›.<br />

18 Vgl. Prüfstand 7 (wie Anm. 1), Min. 82.<br />

19 Tagesschau, ARD, 14. Mai 2009.<br />

20 Hamburger Morgenpost, 12. Mai 2009, S. 5:<br />

«Zum ersten Mal hat die Bundeswehr nun zugegeben,<br />

selbst Angreifer getötet zu haben.»<br />

WELT Kompakt, 12. Mai 2009, S. 6: «Die Bundeswehr<br />

hat bei den Gefechten der vorigen Woche<br />

in Afghanistan mehrere Aufständische erschossen.<br />

Wie das Verteidigungsministerium in Berlin<br />

erst gestern mitteilte, wurden bei dem stundenlangen<br />

Feuergefecht am vergangenen Donnerstag<br />

mindestens zwei Einheimische durch<br />

deutsche Soldaten getötet. Dies habe sich ‹aufgrund<br />

der unübersichtlichen Lage› erst später<br />

herausgestellt.»<br />

51


52 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009<br />

1 Die Ambivalenz der Rakete.


Jasmine Wohlwend<br />

Bauen im Space Age<br />

Je realer die Raumfahrt, desto astrofantastischer die Architektur<br />

Die zwei Jahrzehnte, die auf das Ende des Zweiten Weltkriegs folgten, waren geprägt<br />

vom Wettlauf um die Eroberung des Weltraums, der sich zwischen dem amerikanisch<br />

ausgerichteten Westen und dem sowjetischen Osten abspielte. Der erfolgreiche<br />

Start von Sputnikim Oktober 1957, das Versprechen der Mondlandung durch<br />

John F. Kennedy im Mai 1961 und schliesslich die ersten Schritte Neil Armstrongs<br />

auf dem Erdtrabanten im Juli 1969 bezeichneten die Höhepunkte des so genannten<br />

‹Space Age›. Forschungen und technische Entwicklungen, die das menschliche Vordringen<br />

ins All ermöglichen sollten, wurden vorangetrieben, und vermeintliche<br />

UFO-Sichtungen weckten ein öffentliches Interesse am Anderen, Fremden und Ausserirdischen.<br />

Insbesondere in den USA, aber auch in Westeuropa und Japan hatte<br />

bereits in den 1920er Jahren eine Verbildlichung und Medialisierung dieser Themenbereiche<br />

eingesetzt. Diese nahm nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu und manifestierte<br />

sich in verschiedener medialer Ausprägung. So entstand eine wirkungsmächtige<br />

kulturelle Produktion, die die Fantasie der Rezipienten beflügelte und Bilder<br />

des Weltraums kursieren liess, so etwa in viel verbreiteten Zeitschriften und populärwissenschaftlichen<br />

Buchpublikationen, in Fernsehserien und im Kino, auf Ausstellungen<br />

und Vergnügungsparks und nicht zuletzt in der Produktkultur.<br />

Auch ArchitektInnen und StadtplanerInnen beschäftigten sich mit fantastischen<br />

und futuristischen Vorstellungen. Die Produktion utopischer Entwürfe in<br />

dieser von Optimismus und Fortschrittsgläubigkeit geprägten Zeit war umfangreich.<br />

Nur wenigen VisionärInnen gelang es jedoch, ihre Projekte auch zu verwirklichen.<br />

So wie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Schiff- und<br />

später die Luftfahrt den ArchitektInnen als Inspirationsquelle dienten, so knüpften<br />

nun einige von ihnen – insbesondere in Nordamerika und Europa – an Visualisierungskonzepte<br />

aus Raumfahrt und Sciencefiction an. Die Bauten, die ich im<br />

Folgenden vorstellen möchte, können also in der einen oder anderen Weise – sei<br />

es im Hinblickauf die Intention der ArchitektInnen oder die Rezeption seitens eines<br />

Publikums – im Zusammenhang mit den Raumfahrtvorstellungen der Nachkriegsjahrzehnte<br />

gesehen werden. Ich schlage für sie, in Ermangelung eines etablierten<br />

Fachterminus, den Begriff ‹astrofantastische› Architektur vor. Er verweist<br />

einerseits auf eine Art fantastische Architektur und als Spezifizierung mit<br />

dem Präfix astro(n), also Stern, auf den Weltraum. 1<br />

Es gibt in der jüngsten kulturhistorischen Forschung einen Konsens dahingehend,<br />

dass das ‹Space Age› zeitlich grob vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis<br />

zum Jahr 1969, dem Zeitpunkt der ersten Mondlandung, andauerte, also solange,<br />

wie auch das Rennen zwischen den USA und der Sowjetunion im Gange war. Die<br />

Ära kann jedoch innerhalb dieses Rahmens noch einmal unterteilt werden, denn<br />

1961, wenige Jahre nach dem so genannten ‹Sputnik-Schock›, als John F. Kennedy<br />

54 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Jasmine Wohlwend Bauen im Space Age<br />

bekannt gab, es sei seine Absicht, die Mondlandung noch im laufenden Jahrzehnt<br />

in die Tat umzusetzen, änderte sich die öffentliche Wahrnehmung der Raumfahrt<br />

grundlegend. Allgemein gelten die 1950er Jahre als das Goldene Zeitalter des<br />

Space Age. Sie waren vor allem in den USA einerseits von einer wissenschaftlichtechnischen<br />

Debatte um Exponenten wie etwa Wernher von Braun (1912–1977)<br />

geprägt. Andererseits standen die fünfziger Jahre aber auch unter dem Eindruck<br />

der seit den späten zwanziger Jahren aufkommenden Sciencefiction-Kultur. So<br />

waren etwa Figuren wie Buck Rogers und Flash Gordon, die seit den 1930ern in<br />

Hörspielen, Comics, Fernsehserien und Filmen präsent waren, massgeblich mitverantwortlich<br />

für eine Einschätzung der Raumfahrt als Fantasie-Unternehmen.<br />

Ron Miller beschreibt den Sachverhalt für die 1950er Jahre zutreffend, wenn er<br />

davon spricht, dass die Öffentlichkeit die Raumfahrt damals als «that crazy Buck<br />

Rogers idea» wahrgenommen habe. 2 Das sich aus dem Fiktionalen speisende Bild<br />

des Weltraums wandelte sich zu Beginn der sechziger Jahre. Nun war die Öffentlichkeit<br />

davon überzeugt, dass die Reise in den Weltraum sehr bald Wirklichkeit<br />

werden könnte. Seit dem Start des Sputniks bestimmten Astronauten, Satelliten,<br />

Raumkapseln und Abschussrampen – mithin technisch-wissenschaftliche Errungenschaften<br />

– das Bild. 3 Während das populäre Bild der Raumfahrt sich also von<br />

einem der fantastischen Literatur und dem Sciencefiction entlehnten zu einem<br />

eher realitätsnahen wandelte, dürfte in der Architektur das genaue Gegenteil der<br />

Fall gewesen zu sein. Je wahrscheinlicher es wurde, dass Menschen imstande waren,<br />

ins All aufzubrechen, desto eher griffen ArchitektInnen auf Motive zurück,<br />

die mit der praktizierten Raumfahrt kaum etwas gemein hatten: Sie reaktivierten<br />

die fantastischen Bildwelten des Weltraums und der Ausserirdischen, die von der<br />

Populär- oder Sciencefiction-Kultur geprägt waren. Diese These soll nun anhand<br />

einiger konkreter Beispiele auf ihre Gültigkeit überprüft werden.<br />

House of the Future, 1956<br />

Dass sich die astrofantastische Architektur zunächst an Entwicklungen der Raumfahrttechnikorientierte,<br />

die dem technischen Niveau und Wissensstand der Zeit<br />

entsprachen, zeigt sich angesichts des House of the Future von Alison (1928–<br />

1993) und Peter Smithson (1923–2003) aus dem Jahr 1956. Zwar kann dieses Haus<br />

nur aufgrund von wenigen Referenzen als Beispiel einer astrofantastischen Architektur<br />

gelten, doch entscheidend scheint mir, welcher Art diese Rückgriffe sind.<br />

Das Architektenpaar hatte von der britischen Tageszeitung Daily Mail den Auftrag<br />

erhalten, für deren Daily Mail Ideal Home Exhibition ein Haus zu entwerfen, das aus<br />

ihrer Sicht in 25 Jahren Standard sein könnte. Sie konzipierten eine vollständig<br />

aus Kunstharzen gefertigte Architektur. Wie Beatriz Colomina herausgearbeitet<br />

hat, lassen sich beim House of the Future neben Anleihen bei Automobildesign<br />

und U-Boot-Ästhetikdurchaus auch Bezüge zu einem Raumschiff finden. 4 Die Daily<br />

Mail Ideal Home Exhibition zeigte – wie viele Ausstellungen der Zeit – auch Modelle<br />

von Raketen und Raumanzügen. Es erstaunt daher wenig, dass die Smithsons<br />

ihr Haus ebenfalls mit Details ausstatteten, die mit dem Weltraum assoziiert<br />

werden konnten. So griffen sie etwa auf Bilder aus Sciencefiction-Filmen der fünziger<br />

Jahre zurück, um diese in der Wohnung zu platzieren. Der Modedesigner<br />

Ted Tinling (1910–1990) entwarf für die während der Ausstellung angeheuerten<br />

‹Bewohner› des Hauses (Abb. 1) Anzüge, die er als ‹Astronautenanzüge› beschrieb<br />

und die dem ‹Superman-Trend› des Space Age entsprechen sollten. 5<br />

55


1 Alison und Peter Smithson, House of the Future, London, 1956,<br />

Bewohner mit von Ted Tinling entworfenen Anzügen im Schlafzimmer.<br />

2 John Graham, Space Needle, Seattle, 1962.<br />

56 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Interessant ist für die hier verfolgte Argumentation auch die Eingangssituation<br />

des House of the Future: Durch eine elektrische Türe betritt der Besucher eine Art<br />

klimatisierte Luftschleuse, die Temperaturschwankungen im Inneren verhindert<br />

und eintretende Personen von Strassenstaub reinigt. Eine solch peinlich genaue<br />

Trennung und Abschirmung von Innen und Aussen erinnert an Übergangsräume in<br />

Raumschiffen, mittels derer Astronauten vom Vakuum des Alls in die Sauerstoffatmosphäre<br />

der Raumkabine zurückgeführt werden. Der Film Destination Moon, der<br />

versuchte, die Raumfahrt möglichst realitätsnah darzustellen, zeigte bereits 1950<br />

eine solche Schleuse. Ein weiteres Detail, das darauf hinweist, dass sich Alison und<br />

Peter Smithson auf ein durchaus technologisch geprägtes Bild der Weltraumforschung<br />

bezogen, ist die Duschkabine. Hier kann sich der Bewohner nicht nur waschen,<br />

sondern gleich auch trocknen lassen.<br />

3.2009<br />

6 In einer Ausgabe von Collier’s aus<br />

dem Jahr 1952 war die Zeichnung des Inneren einer Mondlandefähre von Fred<br />

Freeman (1906–1988) abgebildet. 7 In den Arbeits- und Wohnräumen der Astronauten<br />

befindet sich auch eine transparente Duschanlage, die das Wasser in der<br />

Schwerelosigkeit zu bändigen versucht. Solche Duschen konnten zwar erst nach<br />

den Apollo-Missionen realisiert werden, doch wurde die Idee derselben in den<br />

fünfziger Jahren wohl durchaus für umsetzbar gehalten. Gewiss, das House of the<br />

Future war nicht etwa als space house konzipiert, sondern eben als Haus der Zu-


Jasmine Wohlwend Bauen im Space Age<br />

kunft. Nicht ohne Grund aber haben die Smithsons Bilder der Raumfahrt aktiviert,<br />

um ihrer Vorstellung von einem Wohnen in der Zukunft Gestalt zu verleihen. Bezeichnend<br />

ist, dass sie dabei vor allem an technologische Innovationen gedacht haben,<br />

die sich positiv auf das Wohnen der Zukunft auswirken sollten.<br />

Space Needle, 1962<br />

Ganz anders die so genannte Space Needle (Abb. 2) in Seattle aus dem Jahr 1962. Sie<br />

wurde anlässlich der Seattle World’s Fair vom Architekten John Graham (1908–1991)<br />

entworfen. Der Fernsehturm besteht aus drei grossen zusammenlaufenden<br />

Stützpfeilern. Knapp über der Hälfte der Gesamthöhe von rund 183 Metern vereinen<br />

sich diese zu einem Bündel, worauf sie weiter oben wieder auseinander streben.<br />

Den Abschluss bildet ein dreigeschossiger Turmkorb. Dieser Baukörper ähnelt<br />

aufgrund der abgestuften Geschossgliederung und seines runden Grundrisses dem<br />

Prototyp einer fliegenden Untertasse. Die gebündelten und dadurch sehr dynamisch<br />

wirkenden Stützpfeiler der Space Needle verheissen den Abflug der Untertasse.<br />

So werden Dunststreifen angedeutet, wie sie aus dem Comic bekannt sind oder<br />

sich beim Start einer Rakete zeigen, während diese senkrecht abhebt. Die Space<br />

Needle markiert somit einen Wendepunkt der astrofantastischen Architektur: Sie<br />

bedient sich nun unübersehbar der Elemente des Fiktionalen, wird zur Schnittstelle<br />

von euphorisch begrüsster technologischer Entwicklung und Sciencefiction.<br />

Die Seattle World’s Fair stand ganz im Zeichen der beginnenden Raumfahrt.<br />

Unter das Motto Century 21 gestellt, war sie auf das nächste Jahrhundert ausgerichtet.<br />

Auf dem Messegelände wurden zahlreiche Attraktionen zum Leben der<br />

Zukunft und zum Thema Raumfahrt dargeboten: Eine imaginäre Reise durch ferne<br />

Galaxien und für die Kinder Vergnügungsbahnen mit Namen wie Meteor, Space<br />

Whirl und Trip to Mars. Die Messe wurde zudem von John Glenn (*1921) besucht.<br />

Glenn hatte im Februar 1962 als erster amerikanischer Astronaut die Erde umkreist<br />

und war ein gefeierter Nationalheld. In Seattle war auch Glenns Raumkapsel<br />

Friendship 7 ausgestellt, denn die Messe hatte unter anderem das Ziel, die Bevölkerung<br />

davon zu überzeugen, dass die USA im Rennen ums Weltall durchaus<br />

mit der UdSSR mithalten konnten. 8 Obwohl die Sowjetunion keinen Pavillon bespielte,<br />

war der Kosmonaut Gherman Titov (1935–2000), dem bereits ein halbes<br />

Jahr früher als John Glenn – von Baikonur aus – ein orbitaler Raumflug geglückt<br />

war, als Besucher anwesend. Die Space Needle entstand also im Zusammenhang<br />

mit einer Messe, für die das Thema Raumfahrt zentral war, und Graham reagierte<br />

darauf mit einer flying saucer-Optik. Die ‹fliegende Untertasse› verkörperte zum<br />

einen das Gefährt von Ausserirdischen, zum anderen aber auch das erhoffte Vordringen<br />

des Menschen ins All mittels neuer Technologien. Ihr Bild war spätestens<br />

Ende der 1940er Jahre Teil der Populärkultur und hat seither die Vorstellungen<br />

von Ausserirdischen und fortgeschrittener Flugtechnikgleichermassen geprägt.<br />

UFO-Sichtungen sind, in Wellen auftretend, seit dem 19. Jahrhundert bekannt.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt das Thema ‹Ausserirdische›, massgeblich aufgrund<br />

des Berichts des Piloten Kenneth Arnold (1915–1984) vom Juni des Jahres<br />

1947, neuen Aufwind. Dieser sollte dem berühmten, auch heute noch vorherrschenden<br />

Typus des ausserirdischen Raumfahrzeugs, der fliegenden Untertasse, zum<br />

Durchbruch verhelfen und sie als Standardform einführen. Der als glaubwürdig eingestufte<br />

Arnold beschrieb unbekannte Flugobjekte, die er während eines Fluges gesichtet<br />

hatte, folgendermassen: «[They were] flat like a pie pan and so shiny they re-<br />

57


3 Fred M. Wilcox, Forbidden Planet, USA, 1956, Filmstill des Raumschiffs.<br />

flected the sun like a mirror». 9 «[The objects] flew like a saucer would if you skipped<br />

it across the water.» 10 Diese Passage wurde in der Folge in zahlreichen Zeitungen<br />

abgedruckt. Arnolds Sichtung wird in der Literatur als Beginn des Mythos der fliegenden<br />

Untertasse eingestuft. Der Pilot prägte den Begriff der fliegenden Untertasse,<br />

weil er mittels eines Vergleichs aus der Alltagswelt das unbekannte Objekt zu<br />

fassen suchte. Auch wenn das Phänomen UFO schon wesentlich älter war, so ist die<br />

Beschreibung von Arnold insofern bedeutend, als sie die Imaginationskraft anregte<br />

und die Öffentlichkeit für das Phänomen sensibilisierte. In der Folge wurden bei<br />

UFO-Sichtungen insbesondere diskusförmige Objekte beschrieben. 11 Sciencefiction-<br />

Filme der fünfziger Jahre wie The Day the Earth Stood Still (1951), Earth vs. the Flying<br />

Saucers (1956) und Forbidden Planet (1956) (Abb. 3) zeigten ‹klassische Untertassen›<br />

und verliehen damit diesem Motiv zusätzlichen Bekanntheitsgrad. Es kann mithin<br />

davon ausgegangen werden, dass die Messebesucher die Space Needle sogleich als<br />

fliegende Untertasse wahrgenommen haben. Sie war die Hauptattraktion einer<br />

Messe, die aus Innovationen aus dem Bereich Raumfahrt Kapital zu schlagen suchte.<br />

Die Space Needle leistete dazu einen wichtigen Beitrag, allerdings – und das ist<br />

das Erstaunliche – mit einer Bildsprache, die keineswegs dem Stand der damals aktuellen<br />

Technikentsprach, sondern von ihrer Form her eindeutig der Populärkultur<br />

und der Sciencefiction entlehnt war.<br />

Chemosphere/Malin House, 1961<br />

Ein weiterer Bau, der eine Synthese aus aktueller Technologie der Weltraumforschung<br />

und einem Motiv aus der fantastischen Literatur anstrebt, ist die so genannte<br />

Chemosphere in der Nähe von Los Angeles. Das private Wohnhaus wurde 1958<br />

von John Lautner (1911–1994) entworfen und 1961, also ein Jahr vor der Space<br />

Needle, fertiggestellt. In seiner Monografie zu Lautner beschreibt Alan Hess die Gesamterscheinung<br />

der Chemosphere treffend als über ihrem Landeplatz schwebende,<br />

fliegende Untertasse. 12 Die Verstrebungen von den Ecken der Grundfläche zum<br />

Mittelpfeiler verstärken diese, durch die flache und symmetrische Form des Hauses<br />

ausgelöste Assoziation und verleihen dem sich vermeintlich im Flug befindlichen<br />

Objekt zusätzliche Dynamik. Obwohl Lautner nicht intendiert haben mag, etwas zu<br />

bauen, das einem ausserirdischen Transportmittel ähnelt – so ebenfalls Hess – sei<br />

ihm klar gewesen, dass der Bau von der Öffentlichkeit auf diese Weise rezipiert<br />

58 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Jasmine Wohlwend Bauen im Space Age<br />

werden könnte. Deshalb betont der Autor auch die Fähigkeit Lautners, die Zeichen<br />

der Zeit zu erkennen, und verweist auf den noch nicht lange zurückliegenden Erfolg<br />

von Sputnik. Der Auftraggeber Leonard Malin selbst hörte den Vergleich mit einem<br />

Raumschiff nicht ungern. Für einen in der Flugzeugbranche tätigen Ingenieur war<br />

Chemosphere das passende Haus. Zudem entsprach es der Kultur, der technologischen<br />

Entwicklung und den Hoffnungen des Space Age. 13 Bezeichnend ist, dass Chemosphere<br />

ebenfalls zu Beginn der sechziger Jahre entstanden ist. Wie die Space<br />

Needle steht Chemosphere damit innerhalb einer Chronologie von Bauten, die sich<br />

in ihrer äusseren Erscheinung einem Bild von Raumfahrt angleichen, das nicht in<br />

erster Linie von deren technischem Fortschritt, sondern von fiktionalen Elementen,<br />

hier im Speziellen einem Fortbewegungsmittel, das in die Zukunft und auf die Existenz<br />

von Ausserirdischen verweist, bestimmt ist. So verliert die astrofantastische<br />

Architektur mehr und mehr den Bezug zur praktizierten Raumfahrt und verortet<br />

sich diskursiv im populärkulturellen Feld des Fantastischen.<br />

Futuro, 1968<br />

Diese Tendenz ist auch an Futuro (Abb. 4) abzulesen. Das 1968 entstandene<br />

Kunststoffhaus des finnischen Architekten Matti Suuronen (*1933) kann wohl als<br />

eines der erfolgreichsten Exemplare astrofantastischer Architektur gelten. Sein<br />

sphäroider Baukörper schwebt auf einer schlanken Stützstruktur über dem Boden.<br />

An der Stelle des grössten Durchmessers der Schale befinden sich rundherum<br />

elliptische und der Form des Gebäudes entsprechend gekrümmte Fensteröffnungen.<br />

Eine Zugangstreppe kann, ähnlich wie bei einem Flugzeug, per Knopfdruckaus<br />

dem unteren Teil von Futuro heruntergeklappt und eingefahren werden.<br />

Ein privater Auftraggeber hatte Suuronen 1965 mit der Planung einer Skihütte<br />

beauftragt, die schnell zu heizen und auf unwegsamem Gelände leicht aufund<br />

wieder abzubauen sein solle. Nachdem das Haus 1968 in Finnland vorgestellt<br />

und im Anschluss auf mehreren Messen im In- und Ausland gezeigt wurde, mel-<br />

4 Matti Suuronen, Futuro, Finnland, 1968,<br />

Cover einer Zeitschrift.<br />

59


deten sich weltweit zahlreiche Interessenten. Die Firma Polyklem, die das Haus<br />

produzierte, ging daher mit Futuro in Serie, und die Lizenz wurde in nicht weniger<br />

als 25 Länder verkauft. Realisiert wurden schätzungsweise sechzig Exemplare,<br />

die teilweise noch heute existieren und bis nach Neuseeland gelangt sind. 14<br />

Seit seiner Entstehung wurde Futuro immer wieder mit einem UFO assoziiert.<br />

In Titeln aus Zeitungen und Zeitschriften, die über das Haus <strong>berichte</strong>ten, finden<br />

sich folgende Formulierungen: «Flying Saucer from Outer Space», «Saucer-Shaped<br />

House», «Lunar Capsule» und «Home from Another Planet». Ein Artikel trägt die<br />

Überschrift: «Where Are the Little Green Men?» 15 Offensichtlich fanden Form und<br />

Design des Hauses Akzeptanz als ‹Ideal› einer fliegenden Untertasse. Es erstaunt<br />

daher zu hören, dass der Architekt bestreitet, es sei keineswegs seine Intention<br />

gewesen, ein UFO-Haus zu entwerfen. Er betont, dass die Form einzig aus mathematischen<br />

Berechnungen resultiere. Zwar ist diese Aussage anhand einer Zeichnung<br />

Suuronens durchaus nachvollziehbar: Sie zeigt, dass er zunächst einfache<br />

Kuppelformen und auch ein Iglu entworfen hatte und erst dann zur endgültigen<br />

Form kam. 16 Dennoch musste ihm klar gewesen sein, dass 1968 eine sphärische<br />

Kunststoffarchitektur mit elliptischen Fenstern und flugzeugartig ausklappbarer<br />

Treppe mit einem ausserirdischen Raumschiff assoziiert werden würde. Die Tatsache,<br />

dass der Baukörper von Futuro über dem Erdboden zu schweben scheint,<br />

verstärkt zudem die Anmutung einer fliegenden Untertasse.<br />

Futuro wurde im Jahr vor der ersten bemannten Mondlandung vom Juli 1969<br />

fertig gestellt. Die Annäherung an jene aus Zeitschriften und Filmen bekannten<br />

mysteriösen Raumfahrzeuge Ausserirdischer ist nur allzu offensichtlich. Futuro<br />

war jedoch nicht der einzige Bau, der als UFO rezipiert wurde. Als 1971/72 in Lüdenscheid<br />

die Internationale Kunststoff-Ausstellung IKA (Abb. 5) stattfand, wurden<br />

zwei weitere Bauten präsentiert, die in dieselbe Kategorie eingeordnet werden<br />

können: Rondo, von den Schweizer Architekten Casoni & Casoni erstmals 1969 in<br />

Basel ausgestellt, sowie eine Kunststoffarchitektur des französischen Architekten<br />

Jean Benjamin Maneval (1923–1986). 17 Letztere trug zunächst den Namen ‹La<br />

Bulle six coques›, und einige Exemplare davon wurden 1967 als Feriensiedlung in<br />

den Pyrenäen aufgestellt. 18 Dieser Bau ist ein Beispiel dafür, wie die Rezeption<br />

auch aktiv in Richtung Weltraumforschung gelenkt werden konnte: Als Maneval<br />

das Haus 1971 auf der IKA in Lüdenscheid ausstellte, hiess es ‹Orion›. Dabei dürfte<br />

sich Maneval auf die gleichnamige deutsche Fernsehserie bezogen haben:<br />

60 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 5 Internationale Kunst-<br />

3.2009<br />

stoff-Ausstellung IKA, Lüdenscheid,<br />

1971–1972, Futuro,<br />

Orion und Rondo (von links<br />

nach rechts).


Jasmine Wohlwend Bauen im Space Age<br />

Raumpatrouille – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion wurde ab<br />

September 1966 von der ARD alle 14 Tage am Samstagabend zur besten Sendezeit<br />

ausgestrahlt und war die erste deutsche Sciencefiction-TV-Serie. Sie war Maneval<br />

mit grosser Wahrscheinlichkeit bekannt, da sie auch in Frankreich gezeigt wurde.<br />

Demnach sucht Orion, wiewohl bereits als konkret umbauter Raum vorhanden,<br />

nachträglich Zuflucht im fiktionalen Raum.<br />

Ausblick<br />

Die astrofantastische Architektur ist noch nicht hinreichend erforscht. Daher wäre<br />

es vermessen, endgültige Aussagen machen zu wollen. Es kann jedoch eine<br />

Tendenz beschrieben werden: In den 1950er Jahren sind zunächst punktuelle Referenzen<br />

an Raumfahrttechnikund Sciencefiction zu erkennen, die jedoch die Architektur<br />

in ihrer äusseren Erscheinung, ihrem Baukörper und ihrem Grundriss<br />

kaum betreffen. Sie beschränken sich hauptsächlich auf Teile der Inneneinrichtung<br />

sowie der Haustechnik. Die Anleihen lassen sich auf relativ eindeutige Vorbilder<br />

zurückführen. In der zweiten Phase des Space Age tritt die Reflexion der<br />

technologischen Innovationen der Weltraumforschung in den Hintergrund. Verstärkt<br />

wenden sich ArchitektInnen jenen Imaginationen zu, die in Sciencefiction<br />

ihren Niederschlag finden und berücksichtigen die dort vorgefunden formalen<br />

Strukturen bei der Konzeption ihrer Bauten. Je mehr sich die Raumfahrt der Realisierung<br />

ihrer anfangs für utopisch gehaltenen Ziele nähert, umso weiter rückt<br />

die astrofantastische Architektur von der Metaphorik ‹Fortschritt durch Technik›<br />

ab und entdeckt den fiktionalen Raum als eigentlichen Motor einer Transformation<br />

von Bauen, Wohnen und Leben.<br />

Anmerkungen<br />

1 Mitunter würde sich auch der vom amerikanischen<br />

Literaturwissenschaftler Douglas De<br />

Witt Kilgore geprägte Begriff des ‹Astrofuturismus›<br />

eignen. Doch in der Kunstgeschichte wird<br />

der ‹Futurismus› in der Regel mit der entsprechenden<br />

Bewegung im Italien des frühen 20.<br />

Jahrhunderts assoziiert, weshalb er eher missverständlich<br />

wäre. Siehe dazu De Witt Douglas<br />

Kilgore, Astrofuturism. Science, Race, and Visions<br />

of Utopia in Space, Philadelphia 2003, sowie<br />

Alexander Geppert, «Flights of Fancy: Outer<br />

Space and the European Imagination. 1923–<br />

1969», in: Societal Impact of Spaceflight, hg. v.<br />

Steven J. Dicku. Roger D. Launius, Washington<br />

DC 2007, S. 585–599, hier S. 599.<br />

2 Ron Miller, «Spaceflight and Popular Culture»,<br />

in: Dick/Launius 2007 (wie Anm. 1), S. 501–<br />

512, hier S. 506–509.<br />

3 Zur Dauer des Space Age vgl. ebd., S. 508–<br />

511; Asif A. Siddiqi, «Making Spaceflight Modern:<br />

A Cultural History of the World’s First<br />

Space Advocacy Group», in: Dick/Launius 2007<br />

(wie Anm. 1), S. 513–537, hier S. 513; Geppert<br />

2007 (wie Anm. 1), S. 589.<br />

4 Beatriz Colomina, «Unbreathed Air 1956»,<br />

in: Alison and Peter Smithson – From the House of<br />

the Future to a House of Today, hg.v.Dirkvan<br />

den Heuvel u. Max Risselada, Rotterdam 2004,<br />

S. 30–49.<br />

5 Ebd., S. 39.<br />

6 Ebd., S. 44–45.<br />

7 Collier’s, 18. Oktober 1952. Siehe dazu FrederikI.<br />

Ordway, «Spaceships of the Imagination<br />

in Collier’s and 2001», in: 2001: Building for Space<br />

Travel, hg. v. John Zukowsky, Chicago 2001,<br />

S. 156–161, hier S. 158.<br />

8 Siehe Historylink, Netzseite, 2009,<br />

http://www.historylink.org/essays/output.cfm?file_id=2290,<br />

Zugriff am 6. Mai 2009.<br />

9 Zit. n. The Encyclopedia of UFOs, hg. v. Ronald<br />

D. Story, New York1980, S. 25.<br />

10 Zit. n. Curtis Peebles, Watch the Skies! A<br />

Chronicle of the Flying Saucer Myth, Washington<br />

1994, S. 9.<br />

11 Siehe dazu Paul Meehan, Saucer Movies. A<br />

UFOlogical History of the Cinema, Lanham 1998,<br />

S. 33; Peebles 1994 (wie Anm. 10), S. 3–7; UFOs<br />

1947–1987. The 40-year Search for an Explanation,<br />

hg. v. Hilary Evans, London 1987, S. 328; Story<br />

1980 (wie Anm. 9).<br />

12 Alan Hess, John Lautner, London 1999, S. 90.<br />

13 Ebd., S. 90–92.<br />

14 Siehe zu Futuro die ausführliche Monogra-<br />

61


fie Futuro. Tomorrow’s House from Yesterday, hg.<br />

v. Marko Home, Helsinki 2003.<br />

15 Zit. n. Home 2003 (wie Anm. 14), S. 98–99.<br />

16 Marko Home u. Mikka Taanila, «From<br />

Snowy Slopes to the Foot of Minarets. The Futuro’s<br />

Journey from Finnish Ski Cabin to International<br />

Art Icon», in: Home 2003 (wie Anm. 14),<br />

S. 12–47, hier S. 13.<br />

17 Das Basler Architekturbüro Casoni & Casoni<br />

setzt sich zusammen aus Angelo S. Casoni<br />

(*1937) und seinem Bruder Dante M. Casoni<br />

(*1942).<br />

18 Siehe Philippe Bancilhon, Jean Benjamin<br />

Maneval, La Bulle six coques, Paris 2004.<br />

62 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />

Marie-Luise Heuser<br />

Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />

Amerikaner und Russen hatten in der Zeit des Kalten Krieges eine unterschiedliche<br />

Haltung zur Raumfahrt. Während die amerikanische Öffentlichkeit erst mit<br />

dem ‹Sputnik-Schock› vom 5. Oktober 1957 (Ortszeit UdSSR) aufgerüttelt wurde<br />

und auf verstärkte Anstrengungen drängte, in der Raumfahrttechnologie aufzuholen,<br />

wurde das Raumfahrtprogramm in der Sowjetunion sehr viel früher aufgelegt.<br />

Dabei hatten die Amerikaner nach 1945 zunächst einen Vorteil gegenüber<br />

den Sowjets, da sie mit der geheimen Operation Paperclip die meisten der deutschen<br />

Raketenpioniere, einschließlich Wernher von Brauns, und den Großteil der<br />

Raketen und Entwicklungsmaterialien in die USA transportieren konnten, während<br />

sich die Sowjets mit der zweiten Garde deutscher Raketenspezialisten sowie<br />

mit Überresten aus Peenemünde und Nordhausen zufrieden geben mussten.<br />

In den USA waren die deutschen Raketenspezialisten lange Zeit nur mit der<br />

Entwicklung von militärischen Raketen beschäftigt. Ihre zivilen Raumfahrtpläne,<br />

insbesondere das Marsprogramm von Brauns, wurden in das Reich der Utopie<br />

verwiesen. 1 Anders war es in der damaligen Sowjetunion. Der Spiritus Rector des<br />

sowjetischen Raketenprogramms, Sergei Pawlowitsch Koroljow (1906–1966,<br />

Abb. 1), der 1945 nach Berlin beordert wurde, um das deutsche Raketenprogramm<br />

zu studieren, und der nach einem Aufenthalt in Nordhausen 1946 in die<br />

UdSSR zurückkehrte, um mit Unterstützung von Helmut Gröttrup, dem ehemaligen<br />

Assistenten von Brauns, und dem Aerodynamiker Werner Albring, die ersten<br />

Raketen zu konstruieren, konnte die sowjetischen Machthaber sehr viel eher von<br />

dem Ziel überzeugen, neben militärischen Raketen auch ein ziviles Raumfahrt-<br />

1 Sergei P. Koroljow auf einer<br />

sowjetiscchen Briefmarke<br />

(1969).<br />

63


programm zu entwickeln. Seine Passion für die zivile Raumfahrt konnte er mit<br />

dem Sputnik1, der ersten orbitalen Raumsonde, und mit Yuri Gagarin, dem ersten<br />

Menschen im Weltraum am 12. April 1961, bravourös umsetzen.<br />

In der Sowjetunion gab es im Gegensatz zu den USA von Beginn an ein sehr viel<br />

stärkeres, genuines Interesse an der Raumfahrt selbst, an dem Vorstoß in den extraterrestrischen<br />

Raum, der Erkundung des Sonnensystems mit Raumsonden und<br />

der möglichen Besiedlung anderer Himmelskörper. Diese unterschiedliche Haltung<br />

zur Raumfahrt, die bis heute nachwirkt, hat ihre Ursache in den unterschiedlichen<br />

kulturellen Traditionen beider Länder. Während die Raumfahrt in Amerika erst<br />

nach der berühmten Kennedy-Rede vom 25. Mai 1961 vor dem US-Kongress eine<br />

ernsthafte Rolle spielte und zwar im Hinblickauf eine Erneuerung amerikanischer<br />

Gründermentalität, der new frontier, war die Raumfahrt in Russland bereits seit<br />

dem 19. Jahrhundert kulturell verankert und zwar in der Bewegung des russischen<br />

Kosmismus, zu der auch der erste russische Raketenpionier Konstantin Eduardowitsch<br />

Ziolkowski (1857–1935) gehörte. In der russischen Avantgarde, die zwischen<br />

1905 und den 1920er Jahren, also bis zur Machtergreifung Stalins, wirkte,<br />

wurden die Raumfahrtkonzepte Ziolkowskis aufgegriffen und künstlerisch umgesetzt.<br />

Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch (1878–1935) verband mit den extraterrestrischen<br />

Utopien der Raumfahrt eine eigene Kunstrichtung, den von ihm begründeten<br />

Suprematismus. Die amerikanische Orientierung des new frontier, die<br />

im Rahmen des Kalten Krieges, verkürzt gesprochen, auf ‹höher-größer-weiter›<br />

setzte, ist von der russischen Orientierung, die im 19. Jahrhundert mit dem russischen<br />

Kosmismus entstand und in der russischen Avantgarde aufgegriffen wurde<br />

und die einen eigentümlich spirituellen Grundzug aufweist, deutlich unterschieden.<br />

Als nach dem Kalten Krieg amerikanische und sowjetische Raumfahrer miteinander<br />

in Kontakt kamen, bemerkte der amerikanische Astronaut Jeffrey A. Hoffmann<br />

über seine Kollegen aus der UdSSR: «Meines Erachtens ist die Erkundung des<br />

Weltalls für sie [die Sowjets] nicht nur aus militärischen Gründen sehr wichtig,<br />

sondern allgemein als weltanschauliche Grundlage für ihre ganze Kultur.» 2 Dieser<br />

weltanschaulichen Grundlage der russischen Kultur soll im Folgenden mit Konzentration<br />

auf Ziolkowski und Malewitsch nachgegangen werden.<br />

Das freie Raumschiff im leeren Raum – Ziolkowski und der russische Kosmismus<br />

Im Jahre 1883 veröffentlichte der russische Raketenpionier Ziolkowski eine erste<br />

Arbeit, die in deutscher Übersetzung Der freie Raum lautet. 3 Ziolkowski, der im<br />

feudalen Zarenreich aufwuchs, in dem seine Schriften verboten waren, hat mit<br />

dem kosmischen Raum vor allem eines verbunden: die Möglichkeit, sich frei zu<br />

bewegen. Schon in frühester Kindheit träumte er vom Fliegen und vor allem von<br />

der Schwerelosigkeit. Er selbst beschreibt seinen Freiheitstraum so:<br />

Wenigstens erinnere ich mich sehr gut daran, dass mein liebster Traum in der frühesten<br />

Kindheit, noch bevor ich Bücher las, die verworrene Vorstellung war, in einer Umwelt ohne<br />

Schwerkraft zu sein, wo die Bewegungen in allen Richtungen völlig frei waren und wo<br />

es einem besser gefiel, als einem Vogel in der Luft. Woher diese Wünsche kamen, kann<br />

ich mir bis heute nicht vorstellen, auch derartige Märchen gibt es nicht, aber ich habe geglaubt<br />

und gefühlt, und ich habe mir genau solch eine Umwelt gewünscht, ohne die Fesseln<br />

der Schwerkraft. 4<br />

Die Schwerkraft und damit einhergehend die Bodenverbundenheit und Erdzentrierung<br />

wird als Fessel erlebt, von der es sich zu befreien gilt. Die Gravitation<br />

64 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />

bindet uns an die Erde und damit auch an die auf der Erde herrschenden politischen,<br />

sozialen und ökonomischen Zwangsverhältnisse. Ein Ausbruch aus diesem<br />

planetaren Gefängnis kommt daher einem Ausbruch aus den sozialen Gewaltverhältnissen<br />

gleich. Das freie Schweben entbindet zudem mental von den<br />

Fixierungen und Verdinglichungen unseres Alltagslebens und eröffnet einen<br />

Raum der Einbildungskraft, den Ziolkowski als ‹Raum der Phantasie› charakterisiert.<br />

Er selbst war nicht nur theoretischer Begründer der Raumfahrt, sondern<br />

schrieb auch Sciencefiction-Geschichten, in denen er seine imaginären Reisen mit<br />

einem ‹freien Raumschiff› ausmalte, so beispielsweise in der 1893 erstmals veröffentlichten<br />

phantastischen Erzählung Auf dem Monde, in der er Traum und Wirklichkeit<br />

miteinander verzahnt. 5 Die Geschichte beginnt in einem Zustand zwischen<br />

Schlafen und Wachen. Der Held der Geschichte weiß nicht, ob er träumt<br />

oder real erlebt, wie leicht er sich auf einmal fühlt, fast schwebend und dass er<br />

sich ohne Widerstand bewegen kann.<br />

Das freie Schweben in der Schwerelosigkeit wird von Ziolkowski als ein ‹topologisches<br />

Raumgefühl› beschrieben (Abb. 2–3), in dem es kein fixes Bezugssystem<br />

mehr gibt, kein ausgezeichnetes Oben, kein Unten, kein Rechts und kein Links.<br />

Wie schon vor ihm Giordano Bruno, auf den sich Ziolkowski wiederholt bezieht,<br />

löste Ziolkowski mit dem Geozentrismus jegliche Zentrierung des Universums<br />

auf. 6 Das Universum hat keinen ausgezeichneten Mittelpunkt mehr, sondern unendlich<br />

viele, um die sich unendlich viele Welten drehen. Die topologische Raumerfahrung,<br />

die vor allem auch ein Produkt der Romantik ist, wird als abgründige<br />

Erfahrung erlebt, die zunächst beängstigend ist. 7 Ziolkowski beschreibt sie so:<br />

Ein Oben und ein Unten gibt es nicht. [...] Wie fühlt man sich wohl die erste Zeit ohne<br />

Stütze, den Abgrund unter den Füßen? Bald verschwinden die Illusionen des Oben und<br />

auch die Angst. Jedoch braucht man zunächst zur Beruhigung die Wohnung, die Wände,<br />

den Fußboden und sogar die Berührung mit ihnen. 8<br />

Die Beruhigung liefert das Raumschiff, welches im ersten evolutiven Schritt zur<br />

vertrauten, erdähnlichen Umgebung wird, für die Ziolkowski auch bereits eine<br />

2 Konstantin E. Ziolkowski, Orientierungsprobleme<br />

in der Schwerelosigkeit.<br />

65


3 Konstantin E. Ziolkowski,<br />

Der unbegrenzte<br />

Raum.<br />

künstliche Schwerkraft, verursacht durch die Rotation des Raumschiffes, vorsah.<br />

Es sind eben nur erste Schritte, die die erdverbundene Menschheit in den Weltraum<br />

wagt. Hat er aber erst einmal diese ersten Schritte getan, so wird er seine<br />

eigentliche Bestimmung erkennen, die darin besteht, dass er nicht primär ein irdisches,<br />

sondern ein kosmisches und universales Wesen ist. Ziolkowski war neben<br />

Bruno einer der wenigen, die eine eigentliche Philosophie und Anthropologie<br />

der Raumfahrt entwickelten, derzufolge es nicht primär darum geht, von einem<br />

Punkt A zu einem Punkt B zu gelangen, beispielsweise von der Erde zum Mond<br />

oder zum Mars, sondern darum, den universalen Raum selbst zur Wohnstätte der<br />

Menschheit zu machen.<br />

Mit der Erfahrung des nichtgegenständlichen Raumes wird der Mensch in der<br />

Schwerelosigkeit frei von allen fixen Bezugssystemen. Er kann nun selbst Bezugssysteme<br />

erfinden und praktisch erzeugen, indem er beispielsweise ein ‹freies<br />

Raumschiff› baut. Die Bedeutung des freien Schwebens der Einbildungskraft und<br />

der Phantasie für innovative Prozesse der Menschheit wurde von Ziolkowski auch<br />

erkenntnistheoretisch reflektiert, indem er an den Anfang jedes Innovationsprozesses<br />

die Fantasie und das Märchen stellt, denen dann die wissenschaftliche Berechnung<br />

folgt, die erst zum Schluss durch die technische Ausführung gekrönt<br />

werden kann. Ziolkowski war in allen Feldern unterwegs. In seiner Epoche war<br />

zwar noch keine reale technische Raumfahrt möglich. Die Zeit der Fantasie und der<br />

Gedankenexperimente, die in der Renaissance vorherrschend waren, wurde jedoch<br />

schon durch die theoretische Fundierung der Möglichkeit von Raketenantrieben<br />

abgelöst. 9 Ziolkowski war der erste, der bereits 1903, noch vor dem deutschen<br />

Raumfahrtpionier Hermann Oberth, der 1923 zum gleichen Ergebnis kam, die Raketengrundgleichung<br />

aufstellte. Zudem konzipierte er auch schon erste funktionstüchtige<br />

Raumschiffe, wie sein Projekt aus dem Jahr 1903 zeigt (Abb. 4).<br />

Auch berechnete er gewaltige, zylindrische Raumstationen mit einer Länge<br />

von drei Kilometern und einem Durchmesser von drei Metern, die in dreihundert<br />

Abschnitte aufgeteilt werden sollten, so dass jedem Raumfahrer einen Abschnitt<br />

von je zehn Metern Länge, drei Metern Breite und somit siebzig Kubikmeter Volumen<br />

als Wohngehäuse zur Verfügung gestanden hätte. Gewächshäuser,<br />

Schleusen zum Aus- und Einstieg in das Raumschiff, Sonnenenergie-Antriebe und<br />

noch viele weitere technische Lösungen entwarf er.<br />

66 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />

4 Konstantin E. Ziolkowski, Raketenprojekt von 1903.<br />

Was waren aus Ziolkowskis Sicht die Ziele der Raumfahrt? Er schreibt: «Bei<br />

der Arbeit an Rückstoßgeräten hatte ich friedliche und hohe Ziele: das Weltall<br />

zum Wohle der Menschheit erschließen, Raum und von der Sonne ausgestrahlte<br />

Energie gewinnen.» 10 Für Ziolkowski war der kosmische Raum ein utopisches Refugium<br />

für die in Armut und Not lebende Menschheit. Das utopische Potential für<br />

eine Verbesserung der sozialen Situation war ihm zentrales Anliegen. 11 Die soziale<br />

und ökonomische Situation, die in Russland im 19. Jahrhundert für das einfache<br />

Volk eine verheerende war, werde sich aber, so Ziolkowski, durch die Fortschritte<br />

in Wissenschaft und Technikallmählich auf der Erde verbessern.<br />

Dadurch könne es jedoch zur ‹Überbevölkerung› kommen. Bekanntlich war<br />

das Argument der Überbevölkerung ein Argument von Thomas Robert Malthus,<br />

der in Diensten der East India Company stand, vor allem gegen den französischen<br />

Revolutionsdenker Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet, der eine Verbesserung<br />

der sozialen Situation für alle Menschen anstrebte. 12 Wohlstand für alle<br />

würde bedeuten, so Malthus, dass sich die Bevölkerung in geometrischer Progression<br />

vermehrt, dagegen die Nahrungsmittelproduktion nur in arithmetischer<br />

Progression. Die Konsequenz wäre eine ‹Überbevölkerung› in Relation zu<br />

den verfügbaren Nahrungsmitteln. Gegen Malthus wurde im 19. Jahrhundert<br />

dann das Argument vorgebracht, dass diese Grenzen des Wachstums durch die<br />

Entwicklung neuer Techniken jeweils überwunden werden können. Das Problem<br />

der Überbevölkerung blieb aber.<br />

Für Ziolkowski ist der Ausweg aus diesem Dilemma für die Menschheit klar vorgezeichnet.<br />

Alle Menschen sollen ein gleiches Recht auf Leben, Wohlstand und Bildung<br />

haben. Um diese humanistische Forderung realisieren zu können, ist aber der<br />

Weg in den Weltraum unumgänglich, da die Ressourcen auf der Erde begrenzt sind:<br />

«Auch die Überbevölkerung der Menschheit auf der Erde zwingt uns zum Kampf mit<br />

der Schwere und zur Benutzung des Himmelsraumes und seiner Reichtümer.» 13 Die<br />

Raumfahrt wird als notwendige Konsequenz einer humanistischen Ökonomie angesehen,<br />

die allen Menschen ein gutes Leben ermöglichen soll, nicht nur einer kleinen<br />

privilegierten Schicht von Menschen. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, neue Ressourcen<br />

zu erschließen, um einen weiteren, sozialen Fortschritt zu ermöglichen.<br />

Ziolkowski war der Auffassung, dass der Mensch «um jeden Preis die Erdenschwere<br />

überwinden und zur Verfügung wenigstens den Raum des Sonnensystems» haben<br />

67


68 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> müsse.<br />

3.2009<br />

14 Im Revolutionsjahr 1917, das ihm eine kleine finanzielle Grundsicherung<br />

durch eine von Lenin persönlich verfügte Leibrente bescherte, formulierte er folgenden<br />

‹ethischen Imperativ›, womit er sich deutlich von der Lehre des ‹Kampfes aller<br />

gegen alle› in einer angeblich begrenzten Welt abhob:<br />

Aus diesem Grund besteht der wahre Weg zur Vollkommenheit darin, niemandem etwas<br />

ohne sein Einverständnis wegzunehmen, keinerlei Gewalt auszuüben, die Freiheit und<br />

die Wünsche der Nahestehenden nicht zu beeinträchtigen, sofern sie uns nicht auf die<br />

gleiche Weise bedrohen. Beruhigt alle Menschen! Sagt ihnen und versprecht, dass niemandem<br />

etwas weggenommen wird. Es besteht keine Notwendigkeit zum Wegnehmen,<br />

wenn in der Natur die Reichtümer in unendlicher Menge vertreten sind. Dann wird unser<br />

Weg zum Ideal friedlich, glücklich und erfolgreich sein. 15<br />

Darüber hinausgehend gab es für ihn auch eine kosmologische Notwendigkeit,<br />

den extraterrestrischen Raum aufzusuchen. Als Teil des Sonnensystems und als<br />

Teil des Universums ist die Erde gefährdet. Der Aufprall eines Meteoriten «kann<br />

der Erde einen solchen Schlag versetzen, dass die sich dabei bildende feste oder<br />

gasförmige Welle alles vom Erdboden tilgt – sowohl den Menschen als auch seine<br />

Bauwerke». 16 Die Erde ist auf Dauer keine sichere Basis für das Leben auf ihr. Irgendwann,<br />

so Ziolkowski, wird die Sonne abkühlen und erlöschen. Dann ist man<br />

darauf angewiesen, auch aus dem Sonnensystem zu fliehen. «Aber» , so Ziolkowski,<br />

«vom Weltraum aus zu fliehen, ist bedeutend leichter als aus unserem<br />

planetarischen Gefängnis, wo wir und alles, was wir besitzen, mit den Ketten der<br />

Gravitation an die Erde gefesselt sind.» 17<br />

Ziolkowski gehörte mit dem Philosophen Nikolai Fjodorowitsch Fjodorow<br />

(1828/9–1903) und dem Naturwissenschaftler Wladimir Iwanowitsch Wernadski<br />

(1863–1945) zu den Gründungsvätern des russischen Kosmismus. 18 Der russische<br />

Kosmismus war einer Fortschrittsidee verpflichtet, die sich teilweise aus Motiven<br />

der westeuropäischen Romantikspeiste. Es wurde ein synergetisches, sich<br />

zu höheren Ordnungsstufen organisierendes Universum angenommen, das mit<br />

der Kreativität des Menschen eine Einheit bildet. Der Einfluss der dynamistischen<br />

Naturphilosophie, insbesondere Friedrich Wilhelm Joseph Schellings ist<br />

unübersehbar, aber bisher noch nicht systematisch untersucht worden. 19 Dies<br />

gilt im Übrigen auch für den Einfluss der romantischen Naturphilosophie auf Malewitsch,<br />

der über den Energetismus von Wilhelm Ostwald an diese Denkströmung<br />

anschloss. Sowohl Ziolkowski und der russische Geologe und Mineraloge<br />

Wernadski als auch der Chemiker Ostwald nahmen ein ‹negentropisches Universum›<br />

an, ein Universum, das, entgegen des bloß für geschlossene Systeme formulierten<br />

Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, des so genannten Entropiesatzes,<br />

nicht irreversibel den von Rudolf Clausius 1865 prognostizierten ‹Wärmetod›<br />

ansteuert, sondern durch die Emergenz von komplexeren Organisationsstufen zu<br />

einer Höherentwicklung tendiert. 20 Dieses Universum erlaubt eine naturtheoretische<br />

Fundierung der aus der Aufklärung stammenden sozialen Fortschrittslehre,<br />

die mit dem Marxismus in der Sowjetunion dann weiteren Auftrieb erfuhr. Innerhalb<br />

dieses Universums kommt der technologischen Entwicklung der Produktivkräfte<br />

eine zentrale anthropologische und auch ethische Funktion zu, da sie<br />

als das zentrale Movens der Menschheitsgeschichte angesehen wird, das uns von<br />

der Biosphäre in die von Wernadski so benannte ‹Noosphäre› überführt.<br />

Der Begriff ‹Noosphäre› knüpft an den altgriechischen Begriff für Geist und<br />

Vernunft nous an und bezeichnet eine überindividuelle, durch die Vernunft des


Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />

Menschen erzeugte künstliche Sphäre, mit der die Biosphäre auf eine höhere Evolutionsstufe<br />

gehoben wird. Die Noosphäre bringt zunehmend ein planetares Bewusstsein<br />

hervor. Ethisches Ziel ist die global versöhnte Menschheit. Die Verwirklichung<br />

der überindividuellen, am Universalen ausgerichteten Noosphäre<br />

geht einher mit dem Aufbruch in den kosmischen Raum. Durch die Überwindung<br />

von Krankheit und Tod wird als ultimatives Ziel der Menschheit auch die Überwindung<br />

der Zeit angestrebt.<br />

Extraterrestrischer Suprematismus – Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch<br />

Malewitsch brachte sein künstlerisches Programm des Suprematismus 1924 auf<br />

folgende kurze Formel: «Ziel des Lebens ist die Befreiung vom Gewicht der<br />

Schwere.» 21 Die Schwerelosigkeit ist für ihn ein physikalischer und zugleich spiritueller<br />

Zustand. Indem die Gegenstände ‹zerstäubt› werden, verlieren sie ihre<br />

Erdenschwere und Materialität, werden leichter und leichter, lösen sich in Erregungsmuster<br />

des Raumes auf und erlauben so eine Überwindung der gegenständlichen<br />

Welt. Mit der Schwerelosigkeit wird eine Befreiung aus der Gegenständlichkeit<br />

und damit aus dem Reich der Notwendigkeit erreicht. Der angestrebte<br />

schwerelose, suprematistische Zustand ist das ‹befreite Nichts›, ein Zustand<br />

im Reich der Freiheit. Mit der Erdenschwere sollen, wie bei den zuvor genannten<br />

russischen Kosmisten, auch bei Malewitsch Krankheit und Tod, Arbeit<br />

und Not, das Jammertal des irdischen Lebens überwunden werden. Die Bildelemente<br />

in Malewitschs suprematistischen Kompositionen sind so zusammengefügt,<br />

dass sie schwerelos und frei erscheinen. Die Menschheit ist dazu in der Lage,<br />

die irdische Schwere zu überwinden, da sie immer wieder aus dem Nullpunkt<br />

heraus kreativ zu sein vermag. 22 Malewitsch verwandelt mit seiner Lehre von der<br />

‹schöpferischen Null› die christliche Lehre der creatio ex nihilo in eine Lehre der<br />

creatio ex zero. 23 Für ihn ist Kreativität, verstanden als die Fähigkeit der Erzeugung<br />

von Emergenz aus einem jeweiligen Nullpunkt heraus, das Wesen des Menschen,<br />

womit er zum höchsten Sein in der Natur wird. 24 Mit dem ‹befreiten<br />

Nichts› wird nicht nur jeweils ein kreativer Neuanfang möglich, sondern es ermöglicht<br />

eine extraterrestrische, kosmische Empfindung. Dazu Malewitsch:<br />

Der Weg des Menschen muss befreit werden von allem gegenständlichen Gerümpel, das<br />

sich in den Jahrtausenden angesammelt hat. Dann erst wird der Rhythmus der kosmischen<br />

Erregung voll wahrgenommen werden können, dann wird der ganze Erdball eingebettet<br />

sein in eine Hülle ewiger Erregung, in den Rhythmus der kosmischen Unendlichkeit<br />

eines dynamischen Schweigens. 25<br />

Der Begriff ‹dynamisches Schweigen› deutet darauf hin, dass das Nichts von Malewitsch<br />

nicht als bloße, gähnende Leere, sondern als nichtgegenständliche<br />

Wirklichkeit aufgefasst wird, die zudem dynamisch verfasst ist. Mit dem Schweben<br />

im extraterrestrischen Raum würden wir diese Wirklichkeit spüren. So<br />

schreibt Malewitsch:<br />

Das ganze Weltall bewegt sich im Wirbel gegenstandsloser Erregung. Auch der Mensch<br />

mit seiner ganzen gegenständlichen Welt bewegt sich in der Unendlichkeit des Gegenstandslosen,<br />

und auch alle seine Dinge sind im Grunde gegenstandslos, da sie ja im Endergebnis<br />

das Ziel nie erreichen. Daraus ist zu folgern, dass die praktische ‹Realität› der<br />

Dinge nicht wirklich ist. In dem Maße, in dem der Mensch die Welt als gegenständliche,<br />

greifbare Sache betrachtet, kann er sich ihrer als Gegenstandslosigkeit, als absoluter Aufhebung<br />

der Schwere, auch nicht bewusst werden. 26<br />

69


Mit der Bewusstwerdung der nichtgegenständlichen, nicht dinglichen Wirklichkeit<br />

wird erst der Befreiungsakt vollzogen und die ‹wahre› Wirklichkeit erkannt,<br />

denn die Natur selbst ist in ihrem Kern ungegenständlich und substratlos. Malewitsch<br />

spricht von der «einen Wahrheit des gegenstandslosen Seins unter der<br />

Oberfläche der Erscheinungen». 27 Er verabschiedet sich demnach nicht von der<br />

Ontologie, er fasst sie nur anders als die traditionelle Dingontologie auf. Die gesamte<br />

Natur befindet sich, ihm zufolge, im gegenstandslosen Zustand. Nur unsere<br />

Vorstellung, die vom praktischen, gegenstandsbefangenen Realismus bestimmt<br />

wird, unterschiebt ihr feste Grenzen und Oberflächen. Wir selbst sind es,<br />

die die Welt als Vorstellung und damit als Gegenständlichkeit konstituieren, womit<br />

wir uns aber von der wahren Realität entfernen. Malewitsch:<br />

Der Mensch ist noch nicht sehend geworden in der Welt der Wirklichkeit, er ist noch<br />

nicht erwacht. Dabei ist er aber unentwegt bemüht, Hilfsmittel zu finden, mit denen er<br />

die harte Schale durchbrechen könnte, die ihn von der Wirklichkeit trennt. Wissenschaft,<br />

Religion, Kunst sind solche Hilfsmittel, die zu seinem Erwachen führen, ihm den Durchbruch<br />

zur kosmischen Wirklichkeit ermöglichen sollen. 28<br />

Erst wenn das Gegenständliche, das Widerständige und Grenzen Setzende fällt,<br />

wenn die diamantene Oberfläche der Erscheinungen aufgelöst wird, beziehungsweise<br />

in der Terminologie Malewitschs ‹zerstäubt›, erst dann kann eigentlich<br />

kosmisches Empfinden entstehen. Die Empfindung der Nichtgegenständlichkeit<br />

oder der gegenstandslosen Welt ist für Malewitsch letztlich identisch mit der<br />

kosmischen Empfindung. Erst mit der Befreiung von der Gegenständlichkeit wird<br />

die Feierlichkeit der unendlichen Erregung, die Feierlichkeit des Weltalls spürbar<br />

(Abb. 5). 29<br />

70 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009<br />

5 Kasimir S. Malewitsch,<br />

Kosmische Komposition, 1917–<br />

1918, Zeichnung.


Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />

Malewitsch hat mit seiner Philosophie nicht nur mystisch-religiöse Motive<br />

formuliert, die etwa mit Traditionen der negativen Theologie oder des Neuplatonismus<br />

verknüpft werden könnten, sondern meines Erachtens die zu seiner Zeit<br />

aufkommende moderne Naturwissenschaft adaptiert. Zwei Konzepte aus der<br />

zeitgenössischen Naturwissenschaft scheinen bei seiner Philosophie der Nichtgegenständlichkeit<br />

Pate gestanden zu haben: zum einen das relativistische Konzept<br />

des Raumes als einer nichtgegenständlichen physikalischen Realität, die durch<br />

ihre Dynamikerst Kräfte und Materie konstituiert (Albert Einstein) und zum anderen<br />

die Erregungslehre des Energetismus (Wilhelm Ostwald).<br />

Einsteins Relativitätstheorie wurde im Umkreis von Malewitsch, insbesondere<br />

von seinem Mitstreiter Lasar Markowitsch Lissitzky (kurz El Lissitzky genannt)<br />

intensiv rezipiert. El Lissitzky vertrat die Auffassung, dass die Kunst der Moderne<br />

nur den Prozess, den die Mathematikim 19. Jahrhundert bereits mit Carl Friedrich<br />

Gauß, Bernhard Riemann und Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski vollzogen<br />

hatte, im Medium der Kunst nachvollzog:<br />

Den ererbten perspektivischen Raum haben die Impressionisten als erste zu sprengen angefangen.<br />

Entscheidender war das kubistische Verfahren. Sie haben den raumabschließenden<br />

Horizont in den Vordergrund gezogen und ihn mit der Malfläche identifiziert. 30<br />

Der euklidische Raum, auf dessen visueller Konstruktion die Zentralperspektive<br />

beruht, wurde durch die moderne Mathematiknicht mehr als allein gültiger<br />

Raum angesehen. Der Raum und mit ihm die Geometrie wurden im 19. Jahrhundert<br />

zunehmend dynamisiert. 31 Zudem wurde dieser dynamisierte Raum zunehmend<br />

als alleiniger Träger der Realität angesehen, oder wie es Einstein 1930<br />

rückblickend formulierte:<br />

Zusammenfassend können wir symbolisch sagen: Der Raum, ans Licht gebracht durch das<br />

körperliche Objekt, zur physikalischen Realität erhoben durch Newton, hat in den letzten<br />

Jahrzehnten den Äther und die Zeit verschlungen und scheint im Begriffe zu sein, auch<br />

das Feld und die Korpuskeln zu verschlingen, so dass er als alleiniger Träger der Realität<br />

übrig bleibt. 32<br />

Darauf aufbauend entwickelte später John Archibald Wheeler die Geometrodynamik,<br />

für die die Raumzeit die einzige Arena ist, in der sich die Naturprozesse abspielen.<br />

Demnach ist das vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum alles, was es<br />

gibt, eine Art magisches Baumaterial, aus dem alles in der physikalischen Welt geformt<br />

ist. Licht beispielsweise ist nur eine Kräuselung des leeren Raumes. Das Gravitationsfeld<br />

wird durch eine schwache Krümmung in einem Gebiet des Raumes<br />

beschrieben. Ladung und Masse sind nichts anderes als verknotete Gebiete hoher<br />

Krümmung des Raumes. Felder und Teilchen sind demnach keine zusätzlichen Wesenheiten<br />

zur Raumzeit, sondern Epiphänomene der Geometrodynamikund damit<br />

der Energie der Raumzeit. 33 Wheelers Theorie scheiterte allerdings letztlich aufgrund<br />

nicht behebbarer, unendliche Werte annehmenden Feldsingularitäten.<br />

Der zweite von Malewitsch verwendete Zentralbegriff ist der Begriff der ‹Erregung›.<br />

«Das Wahre, das Wirkliche ist nur in der Erregung», lautet ein Grundsatz<br />

seiner suprematistischen Ästhetik. 34<br />

Das suprematistische Bewusstsein ist im Verhältnis zur Welt der Erscheinungen und der<br />

ganzen Natur nur Erregung. Darum können in ihm auch keine Zustände existieren, die<br />

wir ‹Materie› nennen, zumal alles, ob wir es nun organisch oder unorganisch nennen, nur<br />

Bewegungskraft der Erregung ist, die sich nur dann in ‹Materie› verwandelt, wenn das<br />

Bewusstsein des Durchschnittsmenschen diese Bewegungskraft in eine von ihm erdachte<br />

71


72 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Ordnung bringt. Doch auch in diesem Falle müsste Materie als ein gewisser Zustand von<br />

Kräften oder Ballungen aufgefasst werden, als Folge der Bewegung.<br />

3.2009<br />

35<br />

Sein Konzept der Erregung basiert wie sein Konzept der Nichtgegenständlichkeit<br />

auf zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Theorien. Offenbar war Malewitsch<br />

von der EnergetikOstwalds beeinflusst. 36 Ostwald stammte aus dem damals<br />

zu Russland gehörenden Riga, war dann ab 1887 Professor der Chemie in<br />

Leipzig und erhielt 1909 den Nobelpreis für seine Arbeiten zur Katalyse. Um 1900<br />

schuf er die Grundlagen für seinen Energetismus, demzufolge die Substanz der<br />

Natur nicht aus dinglich-atomarer Materie, sondern aus purer Energie, das heißt<br />

reiner Dynamikbesteht. Materielle Entitäten sind demnach nur Epiphänomene<br />

basaler energetischer Prozesse. Ostwald hatte seinen Energetismus in bewusster<br />

Anlehnung an die Tradition der dynamistischen Naturphilosophie der Romantik,<br />

aber unter Einbeziehung der neu von ihm begründeten Disziplin der Physikalischen<br />

Chemie entwickelt. 37<br />

Interessant in diesem Kontext ist auch, dass Ostwald eine eigenständige Farbenlehre<br />

schuf, die im Hinblickauf Malewitschs Suprematismus vielleicht neue<br />

Aufschlüsse gewähren könnte. Die Welt als eine Gruppierung von Kräftefeldern<br />

und Energiedichten kann nur über elektrische Nervenreizungen wahrgenommen<br />

werden. Die dynamischen Kräftebewegungen folgen bei Malewitsch den Prinzipien<br />

von Verdichtung und ‹Zerstäubung›. Da, wo die Energiedichte an ihre Grenzen<br />

stößt, kommt es zu ‹Katastrophen›. Dieser Begriff wurde von Ostwald eingeführt,<br />

um <strong>kritische</strong> Übergänge von energetischen Ordnungszuständen zu bezeichnen.<br />

Nach der Zerstäubung entstehen neue Energiefelder, die sich zu neuen Zentren<br />

bündeln und verdichten, bis auch sie wieder zerfallen und ‹zerstäuben›. Malewitschs<br />

Kredo war, dass Licht, Farbe, Form und Malerei nichts als Energie seien.<br />

Damit wird aber die Kunst auch nichtmimetisch, da sie das Paradigma der gegenständlichen<br />

Repräsentation aufgibt. Kunst kann die Welt nicht nachahmen, da sie<br />

mit dem Nachahmen das Wesentliche der Welt verkennt, ihre grundlegende Dynamik.<br />

Diese kunstphilosophische Konsequenz hatte schon Schelling um 1800 aus<br />

seiner dynamistischen Naturphilosophie gezogen. Auch für Schelling kann es<br />

nicht Aufgabe der Kunst sein, den äußeren, gegenständlichen Schein der Dinge<br />

mimetisch wiederzugeben, denn damit würde sie den Kern der Natur genau verfehlen,<br />

sondern sie kann nur versuchen, sich mit dem unbewussten, autogenerativen<br />

Sich-Selbst-Konstruieren der Natur zu identifizieren und so eine Art oszillierende<br />

Zwitterstellung zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten einzunehmen.<br />

Nach Schelling haben wir eine Mitwissenschaft der Schöpfung, die bis an<br />

den Anfang der Welt zurückreicht. Mit der Moderne wurde die gegenständliche<br />

Darstellung in der Kunst mehr und mehr gesprengt. Dies ist offenbar das Resultat<br />

des Dynamismus dieses Zeitalter. Es ist ein Grundzug der Moderne, dass sie sich<br />

nicht mehr in einer fertigen, gegebenen Welt des Gegenständlichen einrichtet,<br />

sondern alle Verhältnisse dynamisiert. Dies hat auch Malewitsch so gesehen. In<br />

seinem Bauhausbuch von 1927 führt Malewitsch dazu aus:<br />

Die neuen Kunstrichtungen können nur in einer Gesellschaft bestehen, die das Tempo der<br />

Großstadt, das metallische der Industrie in sich aufgenommen hat. Es kann keinen Futurismus<br />

geben dort, wo die Gesellschaft noch die idyllisch-ländliche Lebensweise aufrechterhält.<br />

[...] Der Futurismus ist nicht die Kunst der Provinz, sondern die der industriellen<br />

Arbeit. [...] Heute ist der Futurismus allerdings noch der schonungslosen Verfolgung<br />

durch die Anhänger der idyllischen Kunst der Provinz ausgesetzt. 38


Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />

6 Kasimir S. Malewitsch, Schwarzes Quadrat,<br />

1915, Öl auf Leinwand, 79 × 79 cm, Moskau, Tretjakow-Galerie.<br />

Der Suprematismus geht insofern über den Futurismus hinaus, als er die neueste<br />

technische Errungenschaft der damaligen Zeit, die Aviatik, zu ihrer Umgebung<br />

macht, so dass man, wie Malewitsch sagt, «den Suprematismus auch den ‹aeronautischen›<br />

nennen könnte». 39<br />

Offenbar hat Malewitsch in Anlehnung an die SozialenergetikOstwalds eine<br />

Art ‹kulturelle Energetik› vertreten. Demzufolge sind gesellschaftliche Prozesse<br />

Ausdruckvon energetischen Vorgängen, die mit Farbskalen in Verbindung gebracht<br />

werden können. Auf dem Lande ist die kulturelle Verdichtung der Farbenergien<br />

am geringsten, so dass hier die Buntheit überwiegt. Am intensivsten ist<br />

die Verdichtung der Farbenergien in der Großstadt, wo das hohe Maß an Dichtheit<br />

farblicher Energie im Schwarz seinen Ausdruckfindet. Gipfelpunkt der Entwicklung<br />

ist die Metropole, wo der Höhepunkt der Farblichkeit überschritten<br />

wird und die Farbe sich im weißen Licht, der Farblosigkeit ‹zerstäubt›. 40 Das berühmte<br />

Schwarze Quadrat (Abb. 6), das Malewitsch 1913 erstmals auf einen Bühnenvorhang<br />

für die futuristische Oper Sieg über die Sonne malte, womit er den Suprematismus<br />

beginnen ließ, und welches er als eigenständiges Bild 1915 erstmals<br />

ausstellte, ist insofern auch vor dem Hintergrund einer kulturellen Energetikzu<br />

Recht als ‹Ikone der Moderne› bewertet worden. Mit dem Schwarzen Quadrat<br />

wurde der raumabschließende Horizont in aller Radikalität in den Vordergrund<br />

gezogen und dynamisiert. Der dynamische Raum selbst wird Substrat der<br />

Erregungen, die allererst Formen schaffen und zwar als dynamische Formen.<br />

1920 gründete Malewitsch an der Schule in Witebskdie Gruppe UNOWIS (zu<br />

Deutsch: Bestätiger der Neuen Kunst, Abb. 7), die durch die Verbindung von Mathematik,<br />

Naturwissenschaft, Philosophie und Kunst die neue Lehre des Suprematismus<br />

theoretisch untermauerte. In diese Zeit fallen auch seine Überlegungen zu Satelliten<br />

im extraterrestrischen Raum. Er schreibt am 15. Dezember 1920 in einem<br />

Vorwort zur Veröffentlichung seiner suprematistischen Zeichnungen in Witebsk:<br />

Über der Arbeit am Suprematismus fand ich heraus, dass seine Formen mit der Technikirdischer<br />

Oberflächen nichts gemein haben. Sämtliche technischen Organismen sind auch<br />

nichts anderes als kleine Satelliten: die ganze vitale Welt ist auf dem Sprung, in den Raum<br />

abzufließen und einen besonderen Platz einzunehmen. 41<br />

73


Des Weiteren bemerkt er dort, dass seine suprematistischen Formen die Erde<br />

nicht mehr berühren, und: «man kann sie betrachten und erlernen wie jeden beliebigen<br />

Planeten». 42 Er träumt von einer «suprematistischen Zukunft», die durch<br />

eine neue «Raumzeit» architektonischer Konstruktionen geprägt sein werde, mit<br />

der die ganze «Architektur der Erdendinge» transformiert werde, da sie mit dem<br />

Raum des ganzheitlich gefassten «Planetensystems» vereinigt sein würde. 43<br />

Das Diktum des Suprematismus von Malewitsch lautete: Nicht nur die Bodenund<br />

Ortsgebundenheit und damit jegliche Territorialisierung muss zur Befreiung<br />

des Menschen aufgehoben werden, sondern damit einhergehend auch jegliche<br />

Objektfixierung, jegliche Gebundenheit an das Gegenständliche (Abb. 8). Die<br />

Empfindung soll nicht mehr eingeschränkt sein durch Gegebenes, durch eine angeblich<br />

faktische Welt der Tatsachen. Dies ist aber im extraterrestrischen Raum<br />

der Schwerelosigkeit besonders gut zu realisieren. Es ist daher nur folgerichtig,<br />

dass Malewitsch die Ideen von Ziolkowski begeistert in seine futuristischen Projekte<br />

aufnahm. Malewitsch ist überzeugt, dass es in Zukunft möglich sein wird,<br />

einen ‹suprematistischen Satelliten› zu konstruieren, der sich zwischen Erde und<br />

Mond «auf einem Orbit bewegen wird, wo er sich einen neuen Weg bahnt.» 44<br />

Malewitschs konsequenter Übergang zur abstrakten Kunst, den er um 1913<br />

vollzog, war begleitet von philosophischen Schriften, die zeigen, dass seine Hinwendung<br />

zur Nichtgegenständlichkeit mit einem neuen extraterrestrischen<br />

Empfinden verbunden war. Seine suprematistische Hoffnung bestand darin, im<br />

extraterrestrischen Raum die überbordende Fülle der Moderne, die er im Schwarz<br />

verdichtet sah, transformieren zu können in eine neue emergente Stufe, die er<br />

mit der Nichtfarbe Weiß auf weißem Grund darstellte als das ‹dynamische<br />

74 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009<br />

7 UNOWIS 1920. Maletisch, mit dem suprematistischen 8 Kasimir S. Malewitsch, Suprematistische Ar-<br />

in der Hand, in der Mitte seiner Schüler, die ihn zum chitektona, 1927.<br />

Moskauer Bahnhof begleiten.


Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />

Schweigen›. Mit dem extraterrestrischen Raum wurde demnach eine meditative<br />

und spirituelle Dimension verbunden, die bekanntermaßen in der russischen<br />

Kultur tief verankert ist. Es wundert daher nicht, dass die amerikanische und russische<br />

Einstellung zur Raumfahrt seit Beginn so unterschiedlich waren.<br />

Unsere Erde zieht wie verloren ihre Bahn in einer unendlichen Schwärze des<br />

kosmischen Raumes. Dies kann bedrohlich und niederschmetternd wirken, muss<br />

es aber nicht. Wie uns die russischen Denker und Künstler gezeigt haben, ist es<br />

möglich, sich genau mit diesem Nichts an Gegenständlichkeit zu identifizieren. Dazu<br />

muss man sich zunächst kognitiv vom Irdischen lösen, wie es ja bereits durch<br />

die kopernikanische Revolution indiziert war. Wir alle wissen, wie schwer es ist,<br />

unseren evolutionär eingepflanzten Geozentrismus zu überwinden. Wenn dies gelingt,<br />

dann eröffnen sich uns allerdings neue Dimensionen des Denkens und des<br />

ästhetischen Empfindens. Auch dies haben uns die russischen Kosmisten und die<br />

Suprematisten gelehrt. Was davon übrig geblieben ist, wäre eine zweite Frage. 45<br />

Anmerkungen<br />

1 Siehe dazu auch den Beitrag von Joachim<br />

Blockin diesem Heft.<br />

2 FrankWhite, Der Overview Effekt. Wie die Erfahrung<br />

des Weltraums das menschliche Wahrnehmen,<br />

Denken und Handeln verändert, München<br />

1993, S. 306.<br />

3 Siehe das «Verzeichnis der Arbeiten von Z.<br />

E. Ziolkowski zu Problemen der Raumfahrt», in:<br />

Konstantin E. Ziolkowski, Die Erforschung des<br />

Weltraums mit Rückstoßgeräten (1911–1912),<br />

Suhl 1983, S. 56. Eine erste Darstellung der Philosophie<br />

Ziolkowskis in deutscher Sprache findet<br />

sich in: Nina Hager, Der Traum vom Kosmos.<br />

Philosophische Überlegungen zur Raumfahrt, Berlin<br />

1988.<br />

4 Ziolkowski 1983 (wie Anm. 3), S. 8.<br />

5 Ders., Auf dem Monde. Eine phantastische Erzählung,<br />

Berlin 1956.<br />

6 Beispielsweise: «Wie bedauerlich ist der<br />

Mensch doch in seinen Irrtümern! Längst ist die<br />

Zeit vorbei, da das Aufsteigen in die Luft als<br />

schändliches Vergehen angesehen und mit Hinrichtung,<br />

die Erwägung von der Erddrehung<br />

mit Verbrennung bestraft wurden.» Ziolkowski<br />

1983 (wie Anm. 3), S. 9.<br />

7 Siehe Marie-Luise Heuser, «Die Anfänge der<br />

Topologie in Mathematikund Naturphilosophie»,<br />

in: Topologie. Zur Raumbeschreibung in<br />

den Kultur- und Medienwissenschaften, hg. v. Stephan<br />

Günzel, Bielefeld 2007, S. 183–200.<br />

8 Konstantin E. Ziolkowski, Ziele der Raumschifffahrt<br />

(1929), Suhl 1990, S. 10–11.<br />

9 Siehe Marie-Luise Heuser, «Transterrestrik<br />

in der Renaissance. Nikolaus von Kues, Giordano<br />

Bruno, Johannes Kepler», in: Menschen und<br />

Außerirdische. Kulturwissenschaftliche Blicke auf<br />

eine abenteuerliche Beziehung, hg. v. Michael<br />

Schetsche u. Martin Engelbrecht, Bielefeld<br />

2008, S. 55–80.<br />

10 Ziolkowski 1983 (wie Anm. 3), S. 6.<br />

11 In Ziolkowskis Denken gab es auch dunkle,<br />

eugenische Seiten, die teilweise erst jetzt mit<br />

der Publikation der nachgelassenen Schriften<br />

der Öffentlichkeit bekannt werden und die daher<br />

meines Wissens für die Identitätsbildung<br />

dessowjetischen Raumfahrtprogramms von Koroljov<br />

und seiner Crew keine Rolle spielten, was<br />

aber noch weiterer Klärung bedarf. Zur Rezeption<br />

Ziolkowskis durch Koroljow: Sergei P. Korolyow,<br />

The Practical Significance of Konstantin<br />

Tsiolkovsky’s Proposals in the Field of Rocketry,<br />

Moscow 1957<br />

12 Thomas Robert Malthus, Essay on the Principle<br />

of Population, as it Affects the Future Improvement<br />

of Society. With Remarks on the Speculations<br />

of Mr. Godwin, M. Condorcet, and other Writers,<br />

London 1798. Antoine Nicolas de Caritat de<br />

Condorcet, Esquisse d’un tableau historique des<br />

progrès de l’esprit humain, Paris 1793.<br />

13 Ziolkowski 1990, (wie Anm. Fehler! Textmarke<br />

nicht definiert.), S. 52.<br />

14 Ebd., S. 49.<br />

15 Konstantin E. Ziolkowski, «Die ideale Lebensordnung»<br />

(1917), in: Die neue Menschheit.<br />

Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des<br />

20. Jahrhunderts, Boris Groys u. Michael Hagemeister,<br />

Frankfurt am Main 2005, S. 250–277,<br />

hier S. 251. Siehe auch Michael Hagemeister,<br />

«‹Unser Körper muss unser Werksein›. Beherrschung<br />

der Natur und Überwindung des Todes<br />

in russischen Projekten des frühen 20. Jahrhunderts»,<br />

ebd., S. 19–67.<br />

16 Ziolkowski 1990 (wie Anm. 8), S. 50.<br />

75


17 Ebd., S. 51.<br />

18 Zum Geburtsjahr von Fjodorow gibt es unterschiedliche<br />

Angaben. Michael Hagemeister,<br />

Nikolaj Fedorov. Studien zu Leben, Werk und Wirkung,<br />

München 1989, S. 17. Wernadski war der<br />

Schüler des Geologen Wassili Wassiljewitsch<br />

Dokutschajew, nach dem ein Einschlagkrater<br />

auf dem Mars benannt wurde.<br />

19 Ich vermute, dass der Einfluss der dynamistischen<br />

Naturphilosophie unter anderem über<br />

die Rezeption der deutschen Mineralogie und<br />

Geognostikin Russland vermittelt wurde. Der<br />

Schellingianer Christian Samuel Weiß, der die<br />

dynamistische Mineralogie in Deutschland begründete,<br />

der zudem erstmals Ansätze einer extraterrestrischen<br />

Physikverfasste und in Leipzig<br />

und Berlin auch naturphilosophische Vorlesungen<br />

hielt (die ich vor einiger Zeit entdecken<br />

konnte und transkribiert habe), hatte auch sehr<br />

viele russische Schüler. Siehe dazu mein in Fertigstellung<br />

begriffenes Buch Die Entstehung der<br />

modernen Mathematik im 19. Jahrhundert vor<br />

dem Hintergrund der dynamistischen Naturphilosophie<br />

der Romantik.<br />

20 Ziolkowskis negentropische Thermodynamikfindet<br />

sich in seinem bislang nur auf Russisch<br />

zugänglichen Werk: Konstantin E. Ziolkowski,<br />

Vtoroe nacalo termodinamiki, Kaluga<br />

1914. Siehe dazu auch Hagemeister 1989 (wie<br />

Anm. 18), S. 260.<br />

21 Kasimir Malewitsch, «Die Architekur als<br />

Grad der größten Befreiung des Menschen vom<br />

Gewicht. Ziel des Lebens ist die Befreiung vom<br />

Gewicht der Schwere», in: Am Nullpunkt. Positionen<br />

der russischen Avantgarde, hg. v. Boris Groys<br />

u. Aage Hansen-Löve, Frankfurt am Main 2005,<br />

S. 523-544, hier Untertitel S. 523.<br />

22 Aus dem Nullpunkt heraus können übrigens<br />

keine Maschinen handeln. Sie müssen immer<br />

von bestehenden Informationen oder Elementen<br />

ausgehen.<br />

23 Auch für diese Transformation gibt es Vorläufer<br />

in der deutschen Romantik. Der Mineraloge<br />

Christian Samuel Weiß lässt das gesamte<br />

Universum als eine creatio ex zero aus der Polarisierung<br />

von Kräften hervorgehen.<br />

24 Malewitsch: «Creativity is the essence of<br />

man, as the highest being in nature, and<br />

everyone should take up this activity.» In: Kasimir<br />

Malewitsch, Essays on Art 1915–1928, hg. v.<br />

Troels Andersen, Bd. 1, Kopenhagen 1968, S.<br />

170.<br />

25 Kasimir Malewitsch, Suprematismus – die<br />

gegenstandslose Welt, hg. v. Hans von Riesen,<br />

Köln 1962, S. 254.<br />

26 Ebd., S. 51.<br />

27 Ebd., S. 8.<br />

28 Ebd., S. 191.<br />

29 Wir haben bei Malewitsch demnach eine<br />

vollkommen andere Deutung des Schwebens<br />

der Erde in der Schwärze des leeren Raumes als<br />

die, die etwa von Günter Anders vorgenommen<br />

wurde und der zufolge diese Erfahrung die Belanglosigkeit<br />

der Erde und Inhumanität des<br />

Universums zeige: Günter Anders, Der Blick vom<br />

Mond. Reflexionen über Weltraumflüge, München<br />

1970.<br />

30 Lasar Markowitsch Lissitzky, Erinnerungen,<br />

Briefe, Schriften, hg. v. Sophie Lissitzky-Küppers,<br />

Dresden 1967, S. 351.<br />

31 Siehe Heuser 2007 (wie Anm. 7) und dies.,<br />

«Dynamisierung des Raumes und Geometrisierung<br />

der Kräfte. Schellings, Arnims und Justus<br />

Graßmanns Konstruktion der Dimensionen im<br />

Hinblickauf Kant und die Möglichkeit einer mathematischen<br />

Naturwissenschaft», in: ‹Fessellos<br />

durch die Systeme›. Frühromantische Naturkonzepte<br />

im Umfeld von Arnim, Ritter, Schelling und<br />

Hegel, hg. v. Walther Ch. Zimmerli, Klaus Stein<br />

u. Michael Gerten, Stuttgart/Bad Canstatt 1997,<br />

S. 275–316.<br />

32 Albert Einstein, «Raum, Äther und Feld in<br />

der Physik», in: Forum Philosophicum (1930), S.<br />

173–180, hier S. 180.<br />

33 John Archibald Wheeler, Einsteins Vision.<br />

Wie steht es heute mit Einsteins Vision, alles als<br />

Geometrie aufzufassen?, Berlin 1968.<br />

34 Malewitsch 1962 (wie Anm. 25), S. 215.<br />

35 Ebd., S. 227.<br />

36 Dies wurde mehrfach von Kunsttheoretikern<br />

hervorgehoben, bislang aber noch nicht<br />

eingehender untersucht. Siehe beispielsweise<br />

Miroslav Lamac, Jiri Padrta, «Zum Begriff des<br />

Suprematismus», in: Kasimir Malewitsch zum<br />

100. Geburtstag, hg. v. Antonina Gmurzynska,<br />

Ausstellung Juni–Juli 1978, Köln 1978, S. 134-<br />

180, hier S. 138.<br />

37 Wilhelm Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie,<br />

Leipzig 1902.<br />

38 Kasimir Malewitsch, Die gegenstandslose<br />

Welt, München 1927 (Bauhausbücher, Bd. 11), S.<br />

60.<br />

39 Ebd., S. 59.<br />

40 Vgl. Lamac/Padrta 1978 (wie Anm. 36), S.<br />

138.<br />

41 Kasimir Malewitsch, Suprematismus. 34<br />

Zeichnungen, Tübingen 1974, unpag.<br />

42 Ebd.<br />

43 Ebd.<br />

44 Ebd.<br />

45 Es war der ‹Artronaut› Charles Wilp, der<br />

um die extraterrestrischen Visionen des russischen<br />

Kosmismus und des Suprematismus<br />

wusste und sie in sein eigenes Werkeinfließen<br />

ließ. Frau Ingrid Schmidt-Winkeler danke ich<br />

für die Informationen und die schöne Zusammenarbeit<br />

bei der Ausstellung Zero G. Der Artronaut<br />

Charles Wilp, die vom 29. Oktober bis zum<br />

15. Dezember 2008 in der Hochschule für Bildende<br />

Künste Braunschweig gezeigt werden<br />

konnte.<br />

76 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Christina Wessely Welteiszeit<br />

Christina Wessely<br />

Welteiszeit<br />

Kälte und Kosmos 1900–1930<br />

I<br />

Budapest im Spätsommer 1894, weit nach Mitternacht. Der vierunddreißigjährige<br />

Wiener Maschineningenieur und Amateurastronom Hanns Hörbiger steht<br />

schlaflos am Fenster, zum Zeitvertreib sein kleines Teleskop auf den nächtlichen<br />

Sternenhimmel gerichtet. Plötzlich, «wie ein Keulenschlag» übermannt ihn ein<br />

«seelisches Erlebnis», das ihm nichts weniger als das «Geheimnis des Kosmos» offenbarte:<br />

«Noch kann kein Sterblicher den eigentlichen Mond gesehen haben!<br />

Kein einziger! Wir blicken auf einen ungeheuer tiefen, also uferlosen Eisozean!» 1<br />

Auf diese erste Vision folgten weitere, bis sich schließlich, liest man in Hörbigers<br />

biografischen Erinnerungen, innerhalb weniger Stunden ein neues «Weltgebäude»<br />

errichtet hatte. Im Weltall existierten, so die aus der Mondansicht sich immer<br />

konkreter darstellende universale «Endformel», sonnenartige Körper und<br />

solche aus Eis. 2 Zu letzteren zählten neben dem Mond nicht nur die «sonnenfernen»<br />

Planeten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun, sondern auch die Milchstraße<br />

sowie der von Hörbiger postulierte eisige Weltäther – «Feineis», das den Himmelskörpern<br />

kontinuierlich Widerstand entgegensetzt und deren von Hörbiger<br />

postulierten gewaltigen Zusammenstöße verursacht. Das gesamte kosmische Geschehen,<br />

das Entstehen und Vergehen ganzer Sonnensysteme und ihrer Himmelskörper<br />

ebenso wie irdische Wetterphänomene und Begebenheiten der<br />

menschlichen Kulturgeschichte beruhten demnach auf dem Widerstreit von Glut<br />

und Eis – in diesem Gegensatz läge der «Urquell allen Geschehens». 3<br />

Die Konsequenzen dieser Erkenntnis waren derartig weitreichend, dass achtzehn<br />

Jahre vergehen mussten, bis die Einsichten über das Welteis in eine publizierbare<br />

Form gebracht werden konnten. Erst 1913 erschien auf mehr als achthundert<br />

Seiten Hörbigers Glacial-Kosmogonie. Eine neue Entwickelungsgeschichte<br />

des Weltalls und des Sonnensystems. Der Anspruch des Werkes – Hörbigers Angaben<br />

zufolge «nach den neuesten Erkenntnissen sämtlicher exakter Forschungszweige»<br />

bearbeitet – war der denkbar größte. 4 In der Tradition kosmischer Entwicklungsgeschichten<br />

wurde darin eine «allumfassende Theorie des Himmels<br />

und der Erde» vorgestellt, die nichts weniger als die komplette «Umwälzung der<br />

ganzen Wissenschaft» 5 nach sich ziehen und insgesamt ein Lehrgebäude begründen<br />

würde, «das nie überholt [...] sondern wieder nur ergänzt werden kann». 6<br />

Bereits unmittelbar nach seinen visionären Erkenntnis im Jahr 1894 hatte<br />

Hanns Hörbiger Kontakt zu renommierten Naturwissenschaftlern in Deutschland,<br />

Österreich und der Schweiz gesucht. Die Reaktionen auf dessen Lehre waren<br />

zunächst gemischt und schwankten zwischen empörter Ablehnung, belustigter<br />

Neugier und vorsichtiger Ermutigung, die These in einschlägigen Zeitschriften<br />

zu publizieren, um sie mit einem größeren akademischen Fachpublikum zu<br />

77


78 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> diskutieren. Spätestens mit Erscheinen des ‹Hauptwerks› wurde jedoch klar, dass<br />

es sich bei Hörbigers Einsichten nicht eigentlich um Thesen handelte, die zur Diskussion<br />

gestellt würden: Als «Buch von erschütternder Gewalt, durchdrungen<br />

von der Prophetie des Genius» vorgestellt, war klar, dass mit der Glazialkosmogonie<br />

eine Lehre begründet worden war, die nach «Aposteln» verlangte und nicht<br />

an den theoretisch geschulten «Formellöwen» und «Grüntischmathematiker»<br />

3.2009<br />

7<br />

gerichtet war – denn wer nicht glaubt, «wer den Geist nicht erfasst hat, [wird]<br />

auch von ein paar Dutzend Beweisgründen mehr nicht [...] gefangen». 8<br />

Hörbiger hatte sich von der Buchpublikation nichts weniger als eine wissenschaftliche<br />

Revolution versprochen. Als diese auch nach Ende des Ersten Weltkrieges<br />

nicht in Sicht war, sondern im Gegenteil sich die Angriffe auf die Welteislehre<br />

seitens semiprofessioneller Popularisierer zunehmend verschärften und<br />

man an den Akademien und Universitäten nicht bereit war, die glazialkosmogonischen<br />

Ideen des Wiener Ingenieurs zu diskutieren, schien es an der Zeit, die<br />

Strategie zu wechseln: Hörbiger fand im Leipziger Voigtländer Verlag einen Verbündeten,<br />

mit dem er die Verbreitung seiner Lehre vorantreiben wollte, denn in<br />

Hinkunft sollten nicht die Gelehrten, sondern das interessierte Laienpublikum<br />

überzeugt werden, das dann, so die Vorstellung, einen so großen Druckauf naturwissenschaftliche<br />

Institutionen und deren Personal ausüben sollte, dass die<br />

Welteislehre gleichsam in den wissenschaftlichen Diskurs «gezwungen» würde. 9<br />

Die Popularisierung sollte zentral koordiniert und den ‹Angriffen› auf Hörbigers<br />

Ideen im Rahmen kollektiven Engagements begegnet werden. Zu diesem<br />

Zweckwurde zunächst 1920 in Wien die Kosmotechnische Gesellschaft in Österreich<br />

gegründet, vier Jahre später der Verein für kosmotechnische Forschung in<br />

Berlin. Die Vereine akquirierten Gelder für die weitere Verbreitung der Glazialkosmogonie,<br />

organisierten die Publikation von Welteis-Texten in Zeitungen und<br />

Zeitschriften, machten Reklame für die von Voigtländer publizierte Bücherserie,<br />

die so genannte Welteis-Bücherei – nicht weniger als 21 Titel wie Rhythmus des<br />

kosmischen Lebens, Weltwenden oder Wunder des Welteises wurden alleine in den<br />

Jahren zwischen 1919 und 1928 veröffentlicht – und veranstalteten Vortragsund<br />

Diskussionsabende. «Streng naturwissenschaftliche» Themen wie Gespenster<br />

des Weltraumes: Meteore und Feuerkugeln, Sternschnuppen und Kometen wechselten<br />

dabei mit Referaten über Die Welteislehre im Kulturbild der Gegenwart und zogen<br />

regelmäßig hunderte Besucher an – in großen Städten sollen mit steigendem Bekanntheitsgrad<br />

der Welteislehre bis zu 1200 Hörer einzelnen Vorträgen gefolgt<br />

sein. 10<br />

Spätestens um die Mitte der 1920er Jahre hatten sich die Bestrebungen der<br />

Popularisierer bezahlt gemacht: Die Welteislehre, seitens der Universitäten und<br />

Akademien nicht zuletzt auf Grund deren «bedenkenlose[r] Geschäftsreklame»<br />

zwar heftiger kritisiert denn je, war zum Kern einer populären Bewegung geraten,<br />

deren Mitglieder sich in emphatischen Bekenntnissen zu Hörbigers eisiger<br />

Weltanschauung gegenseitig überboten und die regelmäßig in deutschen und<br />

österreichischen Zeitungen kommentiert wurde. 11 Auch einer der erbittertsten<br />

Gegner der Welteislehre, der Prager Astronomieprofessor Adalbert Prey, musste<br />

schließlich feststellen, dass man «heute, wenn man von kosmogonischen Theorien<br />

spricht, nicht an der Theorie von Hörbiger vorübergehen [kann]. Nicht deshalb,<br />

weil sie etwa besondere Vorzüge hätte, sondern weil sie trotz vieler innerer<br />

Widersprüche einen besonders großen Anhang in Laienkreisen besitzt». 12


Christina Wessely Welteiszeit<br />

II<br />

Eis hatte um 1900 Hochkonjunktur. Die Gründe dafür waren vielfältig: Das in der<br />

Geschichtsphilosophie vorherrschende Dekadenzschema, das den Zivilisationsprozess<br />

als Abkühlungsprozess imaginierte, lieferte die Grundlage für die Vorstellung<br />

einer ‹kalten› Gesellschaft, deren schleichende Vereisung nicht zuletzt<br />

durch das Vordringen des Rationalismus und der mit ihm einhergehenden «Verstandeskälte»<br />

begünstigt zu werden schien. 13 Entscheidend für die Etablierung<br />

des ‹Kälte-Komplexes› des frühen 20. Jahrhunderts waren jedoch zwei bedeutsame<br />

Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften: Die geologische Forschung entdeckte<br />

die Rolle der Eiszeit und die theoretische Physik den zweiten Hauptsatz<br />

der Wärmelehre, der besagte, dass die Entropie der Welt einem Maximum zustrebt<br />

oder, in seiner populären Übersetzung, dass ein Abkühlungsprozess nicht<br />

umkehrbar sei. In Kombination sorgte dieses Wissen dafür, dass sich die Vorstellung,<br />

wonach die Geschichte «im Eise» enden könnte, im Laufe des 19. Jahrhunderts<br />

als Gemeinplatz unter Kulturphilosophen, Geologen und Schriftstellern<br />

durchsetzen konnte (Abb. 1). 14<br />

Am Ende des Jahrhunderts gab es, folgt man Wilhelm Bölsche, kaum ein populäreres<br />

Problem als die Eiszeit: «Nicht nur gibt es eine ganze Bibliothekwissenschaftlicher<br />

Bücher darüber, sondern es arbeitet auch beständig eine Menge<br />

mehr oder minder berufener freiwilliger Helfer aus weitesten Volkskreisen daran<br />

mit.» 15 Ungezählte Manuskripte «in bedenklich umfangreichen Postpaketen mit<br />

1 Surprise par le froid, la dernière<br />

famille humaine a été du doigt de la<br />

mort, et bientôt ses ossements seront<br />

ensevelis sous le suaire des glaces éternelles,<br />

Illustration aus: Camille Flammarion,<br />

Astronomie populaire. Description<br />

générale du ciel, Paris 1897.<br />

79


80 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> und ohne Rückporto von jenen, die behaupten, zur Lösung des Eiszeitproblems<br />

beigetragen zu haben», langten bei dem prominenten Verbreiter naturkundlichen<br />

Wissens wöchentlich ein; schließlich musste «die strenge Forschung selbst<br />

bekennen [...], zu einem so auffälligen, ja einzigartigen Ereignis der Naturgeschichte<br />

immer noch keinen sicheren Grund zu wissen».<br />

3.2009<br />

16 Geologie und der Paläontologie<br />

trugen gleichzeitig nicht dazu bei, der «Eiszeit-Folklore» ihren «magischen<br />

Schrecken» zu nehmen: Die «Wissenschaft [konnte] sich aus der Klammer<br />

der Untergangsphilosophien nicht lösen und produziert[e] selbst neue Varianten<br />

der Untergangs-Prognose» in immer neuen mythischen Bildern. 17<br />

Insofern war die Tatsache, dass gerade dieser Stoff die Grundsubstanz der<br />

neuen Kosmologie bildete, keineswegs so kontingent wie der Wiener Astronom<br />

Edmund Weiß vermutet hatte, indem er polemisch vorbrachte, dass Hörbiger<br />

«nur überall dort festes, flüssiges und sublimatförmiges Olivenöl» einsetzen müsse,<br />

wo «von Eis, Wasser und Eissublimat» die Rede ist, um «zu beweisen, dass das<br />

ganze Weltall aus Olivenöl bestehe». 18 Hörbigers Idee vom universalen Eis, das<br />

die Entwicklung des gesamten Kosmos gleichermaßen bestimmte wie das<br />

menschliche Kulturleben, fügte sich nahtlos in den eisigen Weltanschauungsdiskurs,<br />

der mit der Popularisierung des Entropiesatzes an Dynamik gewonnen hatte.<br />

Es waren weniger Details thermodynamischen Wissens, die einem breiten Publikum<br />

nahe gebracht wurden als vielmehr dessen Einsetzbarkeit im allergrößten<br />

Maßstab. Kulturpessimistisch gestimmt wurden dabei dessen Konsequenzen<br />

auf das Weltall angewandt, um ein universelles Ende aufgrund der Gleichverteilung<br />

von Wärme vorauszusagen – die Welt und mit ihr die gesamte Menschheit<br />

würde, je nach Auslegung, den Wärmetod sterben oder im Eis enden. 19 Damit<br />

war die Endzeitstimmung vor der Jahrhundertwende naturgesetzlich motiviert,<br />

schien der Niedergangsgedanke doch kosmisch abgesichert.<br />

Den Entropiesatz anzuwenden (oder ihn abzulehnen), hieß immer auch, eine<br />

Weltdeutung vorzunehmen. 20 Das Universum und sein Schicksal dienten Naturwissenschaftlern<br />

und «sozialen Propheten» gleichermaßen als Folie für ihre gesellschaftlichen,<br />

kulturellen und politischen Anliegen, die sich in der je unterschiedlichen<br />

Beantwortung der Frage nach Wärmetod und Wiederkehr reflektierten. 21<br />

Als unmittelbare Reaktion auf die Vielzahl entropischer Endzeitvisionen entstand<br />

eine ganze Reihe alternativer Kosmologien, die anstelle der düsteren thermodynamisch<br />

begründeten Prognosen stetige Kreisläufe, die ewige Wiederkehr<br />

und das ritualisierte Werden und Vergehen aller Dinge als Telos des Weltgeschehens<br />

imaginierten. 22 Die Welteislehre war zweifellos eine der populärsten dieser<br />

zyklischen Kosmologien, die den Kälte- oder Wärmetod-Hypothesen entgegengesetzt<br />

wurden – nicht zuletzt deshalb, weil sie die «uralte Volksangst» vor der vernichtenden<br />

Kraft des «Weltwinters», um 1900 positiv ableitete. 23 Das gefürchtete<br />

Eis geriet in Hörbigers Lehre zur Grundsubstanz allen Weltgeschehens, über die<br />

sich im produktiven Zusammenspiel mit der kosmischen Hitze nicht nur die Sonderstellung<br />

des Menschen begründen ließ, sondern die auch eine harmonische<br />

Ordnung des Kosmos garantierte. Nach den Erkenntnissen der Glazialkosmogonie<br />

verursachte das Welteis nämlich nicht den Kältetod, sondern trug als Antagonist<br />

der Wärme zum ewigen Kreislauf eines dynamischen Weltsystems bei.<br />

Die von Hörbiger imaginierte Entstehung unseres Sonnensystems bildete dabei<br />

die Vorlage für die zukünftige Entwicklung des gesamten Kosmos, die als unendlicher<br />

Kreislauf gedacht wurde. 24 Im Sternbild der Taube, so die glazialkos-


Christina Wessely Welteiszeit<br />

2 Illustration aus: Hanns<br />

Fischer, Wunder des Welteises,<br />

Leipzig 1922.<br />

mogonische Anfangserzählung, die kurzerhand auf das gesamte Universum umgelegt<br />

wurde, existierte vor Jahrmillionen ein Riesenstern von ungeheurem Ausmaß:<br />

Ein Durchmesser von etwa 450 Millionen Kilometern, einem Volumen von<br />

dreißig Millionen Tonnen und der etwa zweihundert millionenfachen Masse unserer<br />

heutigen Sonne. In diese «Sternmutter» soll vor Urzeiten ein zwar etwas<br />

kleinerer, aber immer noch enorm großer, hauptsächlich aus Eis bestehender<br />

Planet von etwa vierzigtausendfacher Sonnenmasse gestürzt sein (Abb. 2). Noch<br />

während des Eindringens «bis tief in den Glutleib der Sternenmutter», so will es<br />

das welteisliche Vereinigungsnarrativ, wurde der Eisplanet von einer dicken<br />

Schlackenschicht umzogen, die ein sofortiges Schmelzen des Eiskernes verhinderte.<br />

Im Laufe von zehntausenden Jahren wurde diese Schlackenhülle stetig<br />

dünner; gleichzeitig hatte eine Erhitzung des nunmehr zu Wasser geschmolzenen<br />

Eiskerns des «eingefangenen» Planeten stattgefunden. Schließlich soll es, so<br />

die Folgerung des Kältetechnikers Hörbiger, zum kosmischen Siedeverzug großen<br />

Maßstabs gekommen sein, der sich als universale Befruchtungserzählung<br />

liest. Die Explosion des «Eislings» in der riesigen Sonne führte zu einer gewaltigen<br />

Explosion, in deren Folge riesige Mengen an «Sternenbaustoff» – metallisches,<br />

von der «Sternmutter» losgerissenes Gestein – als auch darin abgelagerter<br />

Sauerstoff weggeschleudert wurden (Abb. 3).<br />

Die Eigendrehung des Riesensterns hatte den von ihm abgeschleuderten Stoffen<br />

selbst wieder ein erhebliches Momentum mitgegeben, das diese dazu brachte, sich<br />

allmählich um einen gemeinsamen Schwerpunkt zu ordnen, in dem die heutigen<br />

Sonne stand. Unentwegt soll dieser – damals noch wesentlich kleinere – «Sonnenkeimling»<br />

weitere tausende in seiner Nähe sich befindliche «Glutlinge» angezogen<br />

und «eingefangen» und so stetig an Masse und Volumen zugenommen haben. Der<br />

81


3 Hanns Hörbiger, Entviertelung des Chaos, um 1920, Zeichung.<br />

gasförmige Sauerstoff hingegen, der ebenfalls bei der Urexplosion frei wurde,<br />

dehnte sich in den Weltraum aus, von wo aus jedoch gleichzeitig das von der Sternenmutter<br />

weggeschleuderte «Glutknäuel» «kreiselpumpenartig» Wasserstoff ansaugte.<br />

Dieser Prozess führt unmittelbar zur Erkenntnis der Existenz eines Äthers:<br />

«Es ist eine zwingende Erkenntnis der Welteislehre, dass der Weltraum nicht völlig<br />

leer ist. Wir haben uns vielmehr vorzustellen, dass er durchgehend mit Wasserstoffgas<br />

in denkbar feinster Verteilung erfüllt ist. Jeder Glutstern haucht ständig<br />

Wasserstoff aus. Dadurch wird ein Verbrauch von Wasserstoff aus dem Weltraum<br />

stets wieder ausgeglichen. Einmal wird Weltraumwasserstoff zur Wasser- bzw. Eisbildung<br />

benötigt und verbraucht, zum andern wird Wasserstoff beim Eintauchen<br />

von Eislingen in Glutgestirne wieder frei und macht den Verbrauch wett», so die Zusammenfassung<br />

der glazialkosmogonischen Äthertheorie in einer der populärsten<br />

Darstellungen zur Welteislehre, publiziert Jahrzehnte nach Hörbigers Visionen. 25<br />

Fasste das von der «Sternenmutter» ausgestoßene «Urknäuel» noch Abermillionen<br />

größerer und kleinerer Himmelskörper, erklärt die Welteislehre die Lichtung<br />

des Sonnensystems durch das Phänomen der «allgemeinen Bahnschrumpfung»: Der<br />

eisige Weltäther setze den Himmelskörpern kontinuierlich Reibungswiderstand<br />

entgegen, diese schrumpften dadurch und gerieten in den Anziehungsbereich des<br />

nächst größeren Körpers. Die Himmelskörper beschreiben daher laut Welteislehre<br />

nie kreisförmige oder elliptische Bahnen, sondern Spiralen, an deren Ende der Sturz<br />

in den Körper steht, auf den sie sich derart zubewegen. Selbstverständlich ist auch<br />

das Schicksal der Erde aus dieser Bewegung nicht ausgenommen, das nach Ansicht<br />

der Welteislehre ebenfalls in periodisch wiederkehrenden Katastrophenzyklen organisiert<br />

ist, an deren Anfang jeweils der «Einfang» eines Mondes steht – sechs<br />

Monde soll die Erde schon besessen haben, inklusive des «Jetztmondes».<br />

82 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Christina Wessely Welteiszeit<br />

4 Grafische und numerische Übersicht der beiläufigen<br />

Mondesflutkräfte auf Erden, Illustration<br />

aus: Hanns Hprbiger; Glazial-Kosmogonie. Eine<br />

neue Entwicklungsgeschichte des Weltalls und des<br />

Sonnensystems, Kaiserslautern 1913.<br />

Verkleinert sich durch die ätherische Abreibung ein erdnaher selbständiger<br />

Himmelskörper so erheblich, dass er in den Anziehungsbereich der Erde gelangt,<br />

«fängt» diese ihn als ihren Mond ein. Die bei diesem Prozess frei werdenden starken<br />

Flutkräfte führten, wie Hörbiger anhand der wasserdurchtränkten, gefrorenen<br />

Oberfläche des heutigen Mondes erklären zu können glaubte, zur deren gegenwärtiger<br />

Form mit Ringgebirgen und Meeresbildungen. Enorme Kräfte wirken<br />

aber nicht nur auf den neuen Trabanten der Erde, sondern auch diese selbst.<br />

Riese Flutberge sammeln sich anziehungsbedingt rings entlang des Äquators an,<br />

begleitet von Erdbeben und Vulkanausbrüchen, die ganze Völkerschaften mit einem<br />

Schlag ausgelöscht haben sollen. Beim Einfang unseres «Jetztmondes» seien<br />

schon ganze Gesellschaften vom Meer überspült worden, so die glazialkosmogonische<br />

Erklärung für das jähe Ende südamerikanischer Hochkulturen ebenso wie<br />

für das dadurch mit einemmal gelöste «Atlantisrätsel».<br />

Die fortschreitende Annäherung des Erdtrabanten setzt schließlich Kräfte von<br />

kaum vorstellbarem Ausmaß frei: Hat der Mond sich der Erde erst «auf 2.8 Erdhalbmesser<br />

genähert» und läuft in dieser Zeit «dreimal schneller um die Erde [...] als sich<br />

diese um ihre Achse dreht», werden nicht nur die Meere zu enormen «äquatorialen<br />

Gürtelhochfluten» zusammengezogen; auch die Lufthülle der Erde unterliegt gleichermaßen<br />

den Anziehungskräften des Mondes, und über dem um die Erdmitte aufgestauten<br />

Wasser türmen sich die Luftmassen, die von den Polgebieten und den gemäßigten<br />

Breiten «abgezogen» wurden. Weite Teile des Planeten sind damit ungeschützt<br />

der Weltraumkälte preisgegeben: «So löst sich zwangsläufig mit einem<br />

Schlage das bislang noch höchst dunkel gebliebene Rätsel einer Eiszeit auf Erden»,<br />

wie Hans Wolfgang Behm, einer der später populärsten Welteis-Autoren, mehr als<br />

drei Jahrzehnte nach Hörbigers dramatischen Visionen lapidar feststellen konnte. 26<br />

83


5 Hanns Hörbiger, Mondauflösung und Sintflut in voller Entwicklung, um 1910, Zeichnung, aus: Hanns Hörbiger,<br />

Die großen Fluten in Sage und Wirklichkeit, Leipzig, 1928.<br />

84 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Schließlich, nach weiteren zehntausenden Jahren, ist die Zeit des «Mondniederbruchs»<br />

gekommen – es naht, wie Hans Wolfgang Behm das Weltendrama beschreibt,<br />

«der große Schlussakt»:<br />

3.2009<br />

27 Der Mond stürzt auf die Erde. 28 Schwärme riesiger<br />

Eistrümmer treffen auf unseren Planeten, Riesenhagelwolken verursachen Wolkenbrüche<br />

von unbeschreiblicher Heftigkeit, kosmische Stürme und Schlammregen<br />

des nun aufgrund der starken Erdanziehungskräfte der Erde berstenden Mondes<br />

peitschen über die Welt, die irdische Gesteinshülle brodelt, Grabeneinbrüche und<br />

Magmaergüsse werden begleitet von einer enormen Sintflut – apokalyptische Zustände,<br />

verursacht durch die alles bestimmende Kraft des Welteises (Abb. 4 und 5).<br />

Ist der Furor erst vorbei, stehen der Erde in «mondloser Zeit» – also bevor ein<br />

neuer Planet als Trabant eingefangen werden kann – paradiesische Zustände bevor:<br />

Aus dem fruchtbaren Schlamm entsteht üppige Vegetation, alle Menschen,<br />

die den katastrophalen Mondniederbruch überstanden haben, finden ideale Bedingungen<br />

vor, um neue Gemeinwesen zu gründen; Pflanzen und Tieren ist eine<br />

Vielzahl neuer Entwicklungsmöglichkeiten gegeben, wobei deren Veränderungen<br />

und Anpassungsleistungen eben nicht zufällig, sondern durch das Einwirken<br />

der zuvor tobenden kosmischen Gewalten erklärt werden. Die Welteislehre lieferte<br />

so gleich auch noch eine antidarwinistische Evolutionstheorie mit: «Ohne<br />

die zeitweise gewaltigen Erschütterungen, die ein sich der Erde nähernder Mond<br />

[...] auslöst, bliebe der wundersame Aufstieg des Lebensganzen, die Spezialisierung<br />

zu unendlich vielseitiger Artenfülle einfach unverständlich», womit die<br />

«heute noch offene Frage der Artenentstehung», so Behm 1926 ebenso knapp wie<br />

dezidiert, «im Sinne der Welteislehre [...] ebenfalls eine gewisse glanzvolle Deutung<br />

findet». 29 Nicht nur die «Rätsel des Himmels» waren damit gelöst, sondern<br />

auch die «Geheimnisse der Erde und des Lebens» gelüftet. 30


Christina Wessely Welteiszeit<br />

Auf den ersten Blickist der glazialkosmogonische Kosmos voll fremder, bis<br />

dato ungekannter und unbenannter Dinge: «Grobeisschläuche», «Glutflusslinsen»,<br />

«Eislichtbänder» und «Riesenringflutwellen» bezeichnen das ganz und gar<br />

Unbekannte rigoros, stellen gleichzeitig jedoch die Zeichen ihrer eigenen Fabrikation<br />

als das inszenierte Fremde so deutlich zur Schau, dass sie sich gleichsam<br />

zu einem Universum des Eigenen versammeln. Das Andere wird so konsequent<br />

überzeichnet, dass es als etwas Gemachtes, Gestaltetes anmutet und sich damit<br />

dem Geltungsbereich der Fiktion und den in ihrem Modus praktizierten Methoden<br />

der Wissensgeneration, der schöpferischen Fantasie und Einbildungskraft<br />

annähert. Was «die Welteislehre anbelangt», bemerkte dementsprechend ein<br />

Welteis-Freund 1928 Hanns Hörbiger gegenüber, «finde ich die Vortragsweise<br />

meiner Fantasie vollkommen angepasst und leicht verständlich». 31 Es ist gerade<br />

diese komplette Harmonisierung von factum und fictio, die glückliche Abgleichung<br />

der objektiven Dingwelt mit den persönlichsten Vorstellungen darüber,<br />

aus der sich die Dynamikder Welteis-Begeisterung vor allem motivierte.<br />

Die kulturellen Hoffnungen, die mit der hier nur vage skizzierten Deutung<br />

des Weltraumes verbunden waren, hätten größer nicht sein können. Viele Zeitgenossen<br />

betonten den optimistischen Charakter der Welteislehre, die keineswegs<br />

als die katastrophale Untergangslehre rezipiert, als die sie sich mit Blick<br />

auf die fatalen Mondniederbrüche und noch großformatigeren Karambolagen<br />

von Himmelskörpern darstellt. Im Gegensatz zu den thermodynamischen Endzeitvisionen<br />

wurde Hörbigers Glazialkosmogonie als «erlösendes Weltbild» gefeiert,<br />

das die «Abhängigkeit des Lebens und aller Kultur vom Kosmos» begründe. 32<br />

Während die Gelehrten an den Akademien und Universitäten «plan-, ziel- und bewusstlos<br />

im Kosmos herumstochern» würden, 33 vermittelte die Welteislehre<br />

«nicht nur das Fehlende, sondern zeigt uns auch das Leben als einen Teil, einen<br />

vergänglichen, im ewigen Strome des Geschehens». Die Welteis-Anhänger seien,<br />

so Fischer weiter, nichts weniger als «dem Schicksal auf der Spur». 34<br />

1924 brachte einer von ihnen das Movens des glazialkosmogonischen Enthusiasmus<br />

auf den Punkt: Das wahrhaft Große an der Welteislehre sei, «dass sie das<br />

Sternenall [...] als ein unserem Sein nicht drohend Fremdes, sondern unserem Leben<br />

innigst Verbundenes» entstehen lasse. 35 Hörbigers Kosmologie schien damit<br />

das Unmögliche gelungen: Den Kosmos als fernes wissenschaftliches Erkenntnisobjekt<br />

zu konstituieren und ihn gleichzeitig an die privatesten Lebensumstände<br />

anzubinden; das Universum als Inbegriff des Anderen zu beschreiben und es zur<br />

selben Zeit radikal einzugemeinden.<br />

III<br />

Eine Reihe zeitgenössischer Beobachter – Wissenschaftler, Schriftsteller und Philosophen<br />

– kommentierte den Erfolg der Lehre vom Welteis, mit unterschiedlicher<br />

Sympathie: Während Egon Friedell und Hermann Bahr in den Anhängerlisten<br />

des österreichischen Vereins für Kosmotechnische Forschung geführt wurden<br />

und Max Bense sogar als Leiter der Kölner Ortsgruppe der Kosmotechnischen<br />

Gesellschaft gewonnen werden konnte, verarbeiteten Robert Musil und Gottfried<br />

Benn in ihren literarischen Texten Hörbigers Ideen eher aus einem kuriosen Interesse<br />

heraus. Mathematiker und Physiker wie Arnold Sommerfeld und Max<br />

Planckzeigten sich besorgt über die vielfältigen Formen scheinbar anachronistischen<br />

Wunderglaubens, die das Zeitalter hervorgebracht hatte. Als einer der<br />

85


86 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> schärfsten Kritiker der Karriere der «Obskurantisten» der zwanziger und dreißiger<br />

Jahre des 20. Jahrhunderts und deren «okkulte[r] Phantastik» profilierte sich<br />

Ernst Bloch, der von «travestierte[r] ‹Naturwissenschaft›», von «‹Weltenwenden›<br />

für Halbgebildete» sprach, die als «spießig ausgebosselte Phantasterei» nicht zuletzt<br />

dem Faschismus als Stimmung tauglich seien.<br />

3.2009<br />

36 Tatsächlich kann – ganz zu<br />

Blochs Befund passend – die Geschichte der Welteislehre in den 1930er und<br />

1940er Jahren als typisch für die weitere Karriere (und das Ende) dieser kosmologischen<br />

Weltanschauungen gelten, wobei auch hier das Eis und die Umdeutung<br />

seines Potentials eine gewichtige Rolle spielen.<br />

Der zunächst von Untergangsbefürchtungen bestimmte Kältediskurs im Umfeld<br />

der Popularisierung der Thermodynamikwar, wie von Helmuth Lethen beschrieben,<br />

im Laufe der 1920er Jahre von den Avantgardisten einer dialektischen<br />

Wendung unterzogen worden – Abkühlung wurde als Segen der Zivilisation begrüßt,<br />

wobei dem alten Lamento über die «Kälte der Welt eine Haltung [entgegengesetzt<br />

wurde], die sich mimetisch der ‹Kälte› anzugleichen sucht[e]». 37 Marxistische<br />

Konzepte bestimmten die Kälte nicht länger als Indiz einer Unheilsgeschichte<br />

sondern begrüßten eine ‹kalte Haltung› im Gegenteil als dem Fortschritt<br />

dienlich: Nur ein Denken, das sich der Kälte der Welt assimiliert, könne Macht gewinnen.<br />

38 Um 1930 schien der Kältekult Deutschlands künstlerischer und intellektueller<br />

Avantgarden ausgereizt. In einer bemerkenswerten Umdeutung wurde<br />

er jedoch zur gleichen Zeit von Gruppierungen auf der anderen Seite des kulturellen<br />

und politischen Spektrums neu belebt: Reaktionäre Modernisierungskritiker<br />

und die Protagonisten ‹völkisch› eingestellter Weltanschauungen kehrten die Beziehung<br />

zwischen Mensch und Eis ins Pathetische und betonten die ‹nordische›<br />

Dimension der kalten Substanz, die mit einem ‹harten› und ‹kühnen› Menschenbild<br />

in Zusammenhang gebracht wurde.<br />

Diese Wendung vollzogen – insbesondere nach Hanns Hörbigers Tod 1931 –<br />

auch die führenden Welteis-Vertreter. Sie versuchten, nun auch politisches Kapital<br />

aus der Anziehungskraft der Lehre zu schlagen und betrieben seit Mitte der<br />

1930er Jahre deren Eingliederung in die nationalsozialistische Forschungsinstitution<br />

Ahnenerbe, die 1937 schließlich erfolgte. Wenige Jahre lang, bis etwa<br />

1940, wurde die Wissenschaft vom Welteis durch das Ahnenerbe großzügig gefördert.<br />

Sie konnte aufgrund vermeintlich genauer Wettervorhersagen nicht nur<br />

als «kriegswichtige Forschung» umfangreiche Geldmittel an sich ziehen, sondern<br />

lieferte auch eine ideologisch passende «Gedankenschöpfung, die ihrem Ursprung,<br />

ihrem Geist, ihren Schicksalen nach» als «völlig deutsch» galt, 39 «begründet[e]»<br />

sie doch «die Geburt der nordischen Seele aus den ungeheuren Not- und<br />

Kampfzeiten einstiger Katastrophenzeitalter» 40 sowie «die altnordische Erkenntnis<br />

vom ewigen Kampf der polaren Gegensätze, vom Kampf zwischen Glut und<br />

Eis, von Licht und Finsternis, von Gut und Böse», wie Rudolf von Elmayer-Vestenbrugg<br />

im vierten Band der Kampfschriften der obersten SA-Führung festhielt, der<br />

den Soldaten an der Front glazialkosmogonische Erkenntnisse näher bringen<br />

sollte. 41<br />

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges unternommene Versuche von Hörbigers<br />

Nachfolgern, dessen Glazialkosmogonie zu rehabilitieren, schlugen fehl. Anfang<br />

der 1970er Jahre verkündete Radio Österreich 1 für alle, die immer noch daran<br />

zweifelten, im Rahmen des Schulfunks das endgültige Ende der Glazialkosmogonie.<br />

Hörbigers Welteislehre – Von der Raumfahrt widerlegt, lautete der Titel aus der


Christina Wessely Welteiszeit<br />

Reihe Erkenntnis oder Irrtum, der die Mondlandung zum Anlass nahm, um die<br />

Theorie endgültig zu den Akten zu legen. Neil Armstrong hatte seinen Fuß im<br />

Sommer 1969 bekanntlich nicht auf blankes Eis gesetzt, sondern auf einen staubigen,<br />

steinigen Mond. Selbst diejenigen, die sich von der zwingenden Evidenz<br />

der astronomischen Beobachtungstatsachen und theoretischen Vorhersagen bisher<br />

nicht überzeugen hatten lassen, mussten angesichts dieses Ereignisses einsehen,<br />

dass Hörbigers Lehre nicht mehr haltbar war.<br />

«Eine Zeiterscheinung ist immer aus irgendeinem Grunde notwendig und begründet»,<br />

so der Physiker Wilhelm Westphal, am Höhepunkt der Welteis-Begeisterung<br />

den unglaublichen Erfolg der Glazialkosmogonie kommentierend. 42 Tatsächlich<br />

lag deren vielleicht größtes Faszinosum darin, die Sehnsüchte, Ängste<br />

und Hoffnungen ihrer Epoche nicht nur sorgfältig zu registrieren, sondern durch<br />

die Aneignung und Neudeutung unterschiedlichster wissenschaftlicher und<br />

weltanschaulicher Diskurse darauf einzugehen und dazu Antworten zu formulieren,<br />

die von einer breiten Öffentlichkeit für plausibel und ermutigend gehalten<br />

wurden. Dass dem Weltraum als Erkenntnisobjekt immer auch ein kultureller<br />

Überschuss eingeschrieben ist, der strategisch eingesetzt werden kann und jenen<br />

mitunter als ‹Kampfplatz der Weltanschauungen› erscheinen lässt, ist mittlerweile<br />

ein Gemeinplatz der wissenschaftshistorischen und kulturwissenschaftlichen<br />

Forschung. Bemerkenswert an der mehr als fünf Jahrzehnte dauernden<br />

Karriere der Welteislehre ist jedoch, dass dort mit deren ‹pseudowissenschaftlichen›<br />

Protagonisten, den Vertretern der akademischen Naturwissenschaften und<br />

einer breiten Öffentlichkeit Parteien mit- und gegeneinander verhandelten, die<br />

sonst möglich darum bemüht waren, ihre Territorien sorgsam voneinander abzugrenzen.<br />

Der Weltraum war jedoch ein kulturell, sozial und politisch zu bedeutsames<br />

Feld, als dass man die Deutungshoheit darüber kampflos abgeben hätte<br />

können.<br />

87


Anmerkungen<br />

1 Hans Wolfgang Behm, Hörbiger – Ein Schicksal,<br />

Leipzig 1930, S. 107.<br />

2 Ebd., S. 109.<br />

3 Hans Wolfgang Behm, Welteis und Weltentwicklung,<br />

Leipzig 1931, S. 6.<br />

4 Phillip Fauth und Hanns Hörbiger, Glazial-<br />

Kosmogonie. Eine neue Entwicklungsgeschichte<br />

des Weltalls und des Sonnensystems, Kaiserslautern<br />

1913, S. III.<br />

5 Hans Wolfgang Behm, Hörbigers Welteislehre:<br />

Ein wahrhaft revolutionäres Weltbild, Manuskript,<br />

1937, in: Hörbiger-Archiv am Technischen<br />

Museum Wien (HA), S/9/50.<br />

6 Hanns Hörbiger an Ernst Bergmann, 23. Februar<br />

1928 (HA, S/28/29).<br />

7 Hanns Hörbiger an Otto Glöckel, 30. Juni<br />

1919 (HA, S/326/2).<br />

8 Phillip Fauth an Hanns Hörbiger, 23. Januar<br />

1906 (HA, S/131/34).<br />

9 Arthur Gallus an Hanns Hörbiger, 28. September<br />

1921 (HA, S/63/1).<br />

10 Vortragsprogramm der Kosmotechnischen<br />

Gesellschaft im Anatomiesaal der Akademie der<br />

Bildenden Künste/Wien, ohne Datum (HA,<br />

S/147/87).<br />

11 Robert Henseling, Weltentwicklung und<br />

Welteislehre, Potsdam 1925, S. 5.<br />

12 Adalbert Prey, «Welteislehre», in: Hochschulwissen,<br />

1921, Heft 1, S. 9–25, hier S. 24.<br />

13 Vgl. dazu etwa Helmut Lethen, «Eiszeit und<br />

Weltuntergang. Geologie und Literatur im 19.<br />

Jahrhundert», in: Unter Null. Kunsteis, Kälte und<br />

Kultur, hg. v. Centrum Industriekultur, Münchner<br />

Stadtmuseum, München 1991, S. 19–33.<br />

Helmut Lethen, «Das Schicksal eines Kältesatzes»,<br />

in: Der Satz des Philosophen, hg. v. Hugo<br />

Dittberner, Göttingen 1996, S. 165–195.<br />

14 Centrum Industriekultur 1991 (wie Anm.<br />

13), S. 19.<br />

15 Wilhelm Bölsche, Eiszeit und Klimawechsel,<br />

Stuttgart 1919, S. 12.<br />

16 Ebd.<br />

17 Helmut Lethen, «Lob der Kälte. Ein Motiv<br />

der historischen Avantgarden», in: Die unvollendete<br />

Vernunft. Moderne versus Postmoderne, hg.<br />

v. Dietmar Kamper u. Willem van Rijen, Frankfurt<br />

am Main 1987, S. 282–324, hier S. 285.<br />

18 Zit. nach Fauth/Hörbiger 1913 (wie Anm.<br />

4), S. 778.<br />

19 Elizabeth Neswald, Thermodynamik als kultureller<br />

Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte<br />

der Entropie, 1850–1915, Freiburg im Breisgau/<br />

Berlin 2006, S. 33.<br />

20 Ebd., S. 14.<br />

21 Greg Myers, «Nineteenth-Century Popularizations<br />

of Thermodynamics and the Rhetoric of<br />

Social Prophecy», in: Energy and Entropy. Science<br />

and Culture in Victorian Britain. Essays from Victorian<br />

Studies, hg. v. PatrickBrantlinger, Bloo-<br />

mington/Indianapolis 1989, S. 307–338, hier S.<br />

308. Neswald 2006 (wie Anm. 19), S. 294.<br />

22 Vgl. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung<br />

im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche<br />

Bildung und die deutsche Öffentlichkeit<br />

1848–1914, München 1998, S. 315.<br />

23 Bölsche 1919 (wie Anm. 15), S. 13.<br />

24 Zum Inhalt der Welteislehre siehe Fauth/<br />

Hörbiger 1913 (wie Anm. 4). Eine populäre Einführung<br />

in die Welteislehre bietet etwa Behm<br />

1931 (wie Anm. 3).<br />

25 Behm 1931 (wie Anm. 3), S. 12.<br />

26 Ebd., S. 36.<br />

27 Ebd., S. 43.<br />

28 Der ‹Mondniederbruch› wurde zu Beginn<br />

des 20. Jahrhunderts keineswegs nur von Hörbiger<br />

vertreten. So erwähnt etwa Wilhelm Bölsche<br />

in Eiszeit und Klimawechsel die Pendulationstheorie<br />

des Dresdner Ingenieurs Paul Reibisch<br />

und des Leipziger Zoologieprofessors<br />

Heinrich Simroth, der ebenfalls mit dem Sturz<br />

eines früheren Mondes auf die Erde rechnete.<br />

Vgl. Bölsche 1919 (wie Anm. 15), S. 45–55.<br />

29 Behm 1931 (wie Anm. 3), S. 46.<br />

30 HA, S/111/27.<br />

31 [M.] Schuster an Hanns Hörbiger, 3. September<br />

1928 (HA, S/372/8).<br />

32 Hanns Fischer, Weltwenden, Manuskript<br />

zur 2. Auflage, Vorwort (HA, S/9/13).<br />

33 Hanns Hörbiger, Unterlagen zum Tätigkeitsbericht<br />

der Kosmotechnischen Gesellschaft,<br />

12. März 1921 (HA, S/410/49).<br />

34 Hanns Fischer, «Auf den Spuren des Schicksals»,<br />

Zeitungsausschnitt (HA, S/133/43).<br />

35 [F. H.] Hermann, «Hörbigers Welteislehre»,<br />

in: Hannoverscher Anzeiger, 6. Juli 1931, S. 7.<br />

36 Ernst Bloch, «Ungleichzeitigkeit und Berauschung»,<br />

in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, 2.<br />

Teil, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main<br />

1962, S. 186–193.<br />

37 Helmut Lethen, «Wir bedienten die Gefriermaschinen»,<br />

in: Centrum Industriekultur 1991<br />

(wie Anm. 13), S. 217; Helmut Lethen, «Ernst<br />

Jünger, Bertolt Brecht und der ‹Habitus› des<br />

Einverständnisses mit der Modernisierung», in:<br />

Studi germanici 1983–1984, hg. v. Istituto Italiano<br />

di Studi Germanici, Rom 1987, S. 273–289,<br />

hier S. 285.<br />

38 Centrum Industriekultur 1991 (wie Anm.<br />

37), S. 224.<br />

39 Karl Hans Strobl, «Ein deutsches Weltbild»,<br />

Zeitungsausschnitt, ohne Datum (HA, S/150/<br />

33).<br />

40 [W.] Körbel, «Einleitung», in: Rudolf von Elmayer-Vestenbrugg,<br />

Kampfschriften der obersten<br />

SA-Führung, Band 4, Rätsel des Weltgeschehens,<br />

München 1937, S. 7–8, hier S. 8.<br />

41 Elmayer-Vestenbrugg 1937 (wie Anm. 40),<br />

S. 152.<br />

42 Wilhelm Westphal, «Hanns Hörbiger», in:<br />

Frankfurter Zeitung, 21. Oktober 1931, S. 1.<br />

88 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Inke Arns Arctic Perspective<br />

Inke Arns<br />

Arctic Perspective<br />

Planetarische Perspektiven in Zeiten des Klimawandels<br />

The Antarctic and the Arctic are the least explored and most remote<br />

but geographically and geophysically central corners of the<br />

world, where the harsh climate and the razor edge geopolitics are<br />

virtual synonyms.<br />

Janez Potocnik, European Commissioner for Science and Research, anlässlich<br />

von Marko Peljhans Ausstellung Situational Awareness,<br />

Brüssel, Oktober 2007<br />

Im Rahmen des International Polar Year 2007 (IPY) ist die Arktis erst kürzlich wieder<br />

schlagartig in das öffentliche Bewusstsein gerückt: Mit der spektakulären<br />

Platzierung einer russischen Titaniumflagge am Meeresboden des Nordpols wurde<br />

die sich mit der globalen Erwärmung rasant verändernde geopolitische Bedeutung<br />

der Arktis medienwirksam deutlich.<br />

Das von Partnerorganisationen aus fünf Ländern initiierte und von der Europäischen<br />

Kommission geförderte Projekt Arctic Perspective – Third Culture 2010: A Zone<br />

of Conflict and Cooperation richtet den Blick auf die globale kulturelle und ökologische<br />

Bedeutung der Polarregionen. 1 Diese sind in einem buchstäblichen sowie<br />

übertragenen Sinne zugleich aktuelle Zonen geopolitischer Konflikte wie auch potentielle<br />

Räume transnationaler Kooperation und Zusammenarbeit. Mit dem Klimawandel<br />

und dem dadurch hervorgerufenen Abschmelzen der Polkappen rücken<br />

die Pole zunehmend in die öffentliche Wahrnehmung. In Folge der globalen Erwärmung<br />

– und mit dem daraus folgenden Auftauen des Bodens nördlich des Polarkreises<br />

und der im Sommer 2007 zum erstmals zugängliche Nordmeerroute – rückt<br />

die wirtschaftliche Ausbeutung von noch unerschlossenen Energie- und Rohstoffreserven<br />

in den Polarregionen zunehmend in den Bereich des Möglichen.<br />

Arctic Perspective betont dagegen, dass die Polarregionen nicht nur von ökonomischer<br />

Bedeutung sind. Vielmehr sind die bewohnte Arktis und die unbewohnte<br />

Antarktis und die radikalen ökologischen und kulturellen Veränderungen, die<br />

sich an den beiden Polen vollziehen, zentral für ein <strong>kritische</strong>s Verständnis des<br />

komplexen globalen Systems, das aus dynamischen Beziehungen zwischen Kultur,<br />

Ökonomie, Geopolitik und Ökologie besteht. Scheint der Klimawandel zunächst<br />

nur Auswirkungen auf die lokalen Öko- und Gesellschaftssysteme der Polarregionen<br />

zu haben, wird jedoch auf den zweiten Blickklar, dass sich ein Wandel<br />

von viel größerem Ausmaß vollzieht: Dort werden die Folgen globaler Veränderungen<br />

besonders sichtbar und wirken von wiederum global zurück – als eine<br />

Art Verstärker oder Katalysator.<br />

Europa ist durch seine lange Geschichte wissenschaftlicher Expeditionen und<br />

Entdeckungen, aber auch territorialer Ansprüche und ökonomischer Ausbeutung<br />

89


von Bodenschätzen mit der Arktis und den hier lebenden Inuit und ihrer Kultur<br />

verbunden. Es erstreckt sich gewissermaßen bis an den Nordpol, denn große Teile<br />

der Arktis gehören zu Europa (Norwegen, Dänemark, Island) – und zu den USA,<br />

Kanada und Russland.<br />

Die arktischen und zirkumpolaren Kulturen der Inuit sehen sich großen Herausforderungen<br />

gegenüber, die im rasanten Wandel ihrer natürlichen Umgebung<br />

bestehen sowie in dem zunehmenden Druck durch ökonomische Entwicklung,<br />

Kommerzialisierung und Tourismus, einer sich verschlechternden Gesundheitssituation<br />

und dem Verschwinden oder der Ausbeutung traditionellen Wissens. Die<br />

Kulturen der Inuit sind ein Teil Europas, seiner Vergangenheit, Gegenwart und<br />

seiner Zukunft. Sie müssen reflektiert und vorausschauend in den europäischen<br />

Kulturbereich einbezogen werden – durch Vernetzung, Austausch und gegenseitiges<br />

Verständnis. Ziel des Projekts Arctic Perspective ist es, das öffentliche Bewusstsein<br />

für die kulturelle und ökologische Bedeutung der Arktis zu stärken<br />

und einem breiten Publikum die Dringlichkeit der Probleme näher zu bringen, die<br />

sich in der Arktis besonders deutlich zeigen: die sich verändernde kulturelle<br />

Landschaft der Region, das Potential für einen neuen interkulturellen Dialog,<br />

wirtschaftliche und territoriale Interessen, ökologische Probleme, Klimawandel<br />

sowie die Auswirkungen der ökologischen Veränderungen auf das Leben der<br />

Inuit. Das Projekt untersucht mit den Mitteln der Medienkunst und der interdisziplinären<br />

künstlerischen Forschung (third culture) die komplexen globalen kulturellen<br />

und ökologischen Interrelationen in der Arktis, entwickelt Konzepte für<br />

die Konstruktion nachhaltiger taktischer Kommunikationssysteme und Infrastrukturen<br />

und umweltfreundliche art-science-Forschungsstationen, die eine Intensivierung<br />

des interdisziplinären und interkulturellen Dialogs und der Kooperation<br />

befördern sollen. Die gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse werden im Kontext<br />

der internationalen Medienkunstkonferenz ISEA 2010 RUHR vorgestellt. 2<br />

Zentraler Impulsgeber für Arctic Perspective ist die über zehnjährige Aktivität<br />

des Makrolab, einer mobilen und autonomen Forschungsstation an der Schnittstelle<br />

zwischen Kunst, Technologie und Wissenschaft, die von dem slowenischen Medienkünstler<br />

Marko Peljhan entwickelt wurde. Peljhan, 1969 im jugoslawischen Nova<br />

Gorica geboren, ist einer der bedeutendsten Medienkünstler seiner Generation. Seit<br />

Mitte der 1990er Jahre arbeitet er mit verschiedenen Partnern an der Entwicklung<br />

einer ungewöhnlichen Verbindung von Kunst, Technologie und Wissenschaft. Seine<br />

Projekte dienen der Beobachtung und Erfahrbarmachung unserer heutigen, auf<br />

technologisch-medialen Strukturen basierenden Welt, die sich zunehmend der kör-<br />

1 Marko Peljhan/Projekt Atol, Ladomir – Antarctic Base, 2007, Leuchtkasten, 100 × 25 cm, gezeigt im Rahmen<br />

der Ausstellung Situational Awareness, Lentos Museum, Linz, Österreich, 2007.<br />

90 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Inke Arns Arctic Perspective<br />

2 Marko Peljhan/Projekt Atol, Ladomir – Antarctic Base, 2007, Leuchtkasten, 100 × 25 cm, gezeigt im Rahmen<br />

der Ausstellung Situational Awareness, Lentos Museum, Linz, Österreich, 2007.<br />

perlich-sinnlichen Wahrnehmung entzieht. 3 Peljhan wurde 2000 mit dem Medienkunstpreis<br />

des Zentrums für Kunst und Medientechnologie, 2001 mit der Goldenen<br />

Nica der Ars Electronica, 2004 mit dem Unesco Digital Media Art Award ausgezeichnet<br />

und erhielt 2006 den Slowenischen Nationalpreis. Zentral für das Verständnis von<br />

Peljhans Arbeiten ist das Makrolab – eines der wichtigsten Projekte, die aus dem<br />

taktischen Medienkunstbereich der 1990er Jahre hervorgegangen sind. 4<br />

Makrolab (1997–2007)<br />

Das Makrolab ist eine mobile Forschungsstation, die mittels diverser Antennen das<br />

elektromagnetische Spektrum über einem spezifischen geografischen Standort<br />

kartografiert. 4 Um einen möglichst störungsfreien Blickauf dieses ‹immaterielle<br />

Territorium› der Signale zu bekommen, wird das Makrolab abseits urbaner Ballungszentren<br />

aufgestellt und dort zum ‹Horchposten› für verschiedene Besatzungen<br />

– interdisziplinäre Gruppen von WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und<br />

TheoretikerInnen, die ihre Projekte ‹an Bord› des Makrolab realisieren können.<br />

Es wurde erstmals 1997 zur documenta X auf dem Lutterberg vor den Toren<br />

Kassels aufgebaut, operierte Anfang 2000 auf Rottnest Island vor der Westküste<br />

Australiens, im Frühsommer 2002 in Schottland und von Juni bis Dezember 2003<br />

auf der Insel Campalto bei Venedig. Beim Makrolab handelt es sich um eine mobile<br />

und autonome Forschungs-, Arbeits- und Wohneinheit, die vom Aussehen her<br />

einer Weltraumstation nicht unähnlich ist. Sie registriert mit Hilfe von technischem<br />

Gerät die «Topografie der Signale» im gesamten elektromagnetischen<br />

Spektrum: Das Labor ist ausgerüstet mit Sende- und Empfangsantennen, die verschiedene<br />

Signalbereiche erfassen und dort zirkulierende Datenströme aufzeichnen<br />

können. 5 Diese Datenströme enthalten Informationen aus den unterschiedlichsten<br />

Quellen: aus privaten Telefongesprächen, satellitengesteuerten Navigationssystemen<br />

und militärischen und wirtschaftlichen Kommunikationen. Neben<br />

der Telekommunikation untersucht das Projekt Wetterentwicklungen und elektromagnetische<br />

Systeme sowie Migration und Navigation.<br />

In Kassel klinkte sich das Makrolab in Telefonate und andere Arten von Kommunikation<br />

ein, die in dieser Zeit über internationale Telekommunikationssatelliten<br />

INMARSAT liefen. Der amerikanische Künstler Brian Springer, der einige<br />

Zeit im Makrolab arbeitete, schrieb später: «Wir näherten uns dem Himmel über<br />

dem Lutterberg als einer lebendigen Bücherei [...], aus deren Regalen uns Stimmen,<br />

Bilder und Datenkommunikation entgegenströmten.» 6 Untersucht wurde<br />

zum Beispiel, wer die INMARSAT-Satelliten zu welchen Zwecken benutzte, «wie<br />

91


estimmte Machtstrukturen [...] sich der Technologie bedienen und was da verborgen<br />

wird», und auch die Anfälligkeit privater Telekommunikation. 7 Ziel des<br />

Makrolabs ist es, so Johannes Birringer, «to transcribe invisible and micro-environmental<br />

activities, to render and document found data which can be sensed in<br />

the abstract areas of the electromagnetic spectrum only via suitable interfaces<br />

and specialized knowledge». 8<br />

Peljhan verfolgt in diesem Projekt eine Strategie, die er «insulation/isolation»<br />

(Isolierung/Isolation) nennt. 9 Es handelt sich dabei um eine Kombination aus vollkommener<br />

physischer Isolation und gleichzeitig totaler medialer Vernetzung mit<br />

der Außenwelt, die wie eine Umsetzung des McLuhanschen Prothesenmodells anmutet<br />

und der Besatzung die Unabhängigkeit von und gleichzeitige Reflexion der<br />

(auch medial vermittelten) gesellschaftlichen Bedingungen ermöglichen soll. 10 Der<br />

Rückzug aus der ‹Gesellschaft des Spektakels› soll einen Raum der Ruhe und der Reflexion<br />

eröffnen, von dem aus eine Art Vogelschau auf die Topografie der Signale<br />

möglich wird, die zwischen den Zentren zirkulieren. Darüber hinaus sollen durch<br />

diese insulation/isolation auch die Voraussetzungen für eine intensivierte Kommunikation<br />

unter den Besatzungsmitgliedern geschaffen werden. Peljhans These ist,<br />

dass wenige Individuen in einer solchen intensiven Isolierung mehr «evolutionären<br />

Code» produzieren können, als große politische Bewegungen. 11<br />

Das hier geschilderte Elitemodell einer isolierten kleinen Forschergruppe<br />

bleibt einerseits durch seine suggerierte Vorbildfunktion für die Gesellschaft als<br />

Ganzes seltsam ambivalent. Andererseits entsteht durch die insulation/isolation<br />

auf dem Mikrolevel des Makrolab eine spezifische Subjektivität, eine «affective<br />

sociality», die das Makrolab, so Kodwo Eshun, von der Sterilität der meisten Projekte<br />

unterscheidet, die Wissenschaft und Kunst miteinander verbinden. 12 Unter<br />

‹evolutionärem Code› versteht Peljhan die experimentelle Erforschung und Entwicklung<br />

von Strategien und Verhaltensweisen in zeitgenössischen und zukünftigen<br />

Gesellschaften, die zunächst in der Laborsituation des Makrolab getestet<br />

werden, um später im alltäglichen Leben eingesetzt werden zu können.<br />

(Ant)arktische Perspektiven<br />

Nach einer zehnjährigen Phase kontinuierlicher Weiterentwicklung sollte das Makrolab<br />

2007 endgültig in der Antarktis – dem sicherlich entferntesten aller bisherigen<br />

Standorte – aufgestellt werden. Dazu wurde 2006 mit Partnern in Kanada und<br />

Südafrika das internationale Konsortium Interpolar Transnational Art Science Constellation<br />

(I-TASC) gegründet. Im Zuge der Vorbereitung des Antarktisprojektes<br />

(das bis heute allerdings nicht abgeschlossen ist) eröffneten sich für Peljhan vollkommen<br />

neue geografische und konzeptuelle Handlungsräume. Die (ant-) arktischen<br />

Regionen als wirtschaftliche und territoriale Konfliktzonen und gleichzeitig<br />

als Zonen der wissenschaftlichen Kooperation und Zusammenarbeit sind hochkomplexe<br />

ökologische und kulturelle Systeme, deren prekäres Gleichgewicht heute<br />

durch verschiedene Faktoren (globale Klimaveränderung, potentielle Ausbeutung<br />

von Bodenschätzen) empfindlich gestört wird. Die Projekte im Rahmen von I-<br />

TASC holen diese Entwicklungen in das öffentliche Bewusstsein und entwickeln<br />

kreative und nachhaltige Lösungsansätze. 2007 wurden diese erstmals im Rahmen<br />

einer Einzelausstellung von Peljhan im Lentos Kunstmuseum während der Ars Electronica<br />

in Linz sowie in der Einzelausstellung Situational Awareness in den Räumen<br />

des European Commissioner for Science and Research in Brüssel gezeigt. 13<br />

92 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Inke Arns Arctic Perspective<br />

3 Marko Peljhan/Projekt Atol, Ladomir – Antarctic Base, 2007, Leuchtkasten, 100 × 25 cm, gezeigt im Rahmen<br />

der Ausstellung Situational Awareness, Lentos Museum, Linz, Österreich, 2007.<br />

Third culture – künstlerische Forschung<br />

Im Zentrum des 2008 entwickelten Projekts Arctic Perspective steht die Methode<br />

der künstlerischen Forschung, die heute ganz wesentlich zur Vermittlung und<br />

Aneignung von innovativer Welterfahrung beiträgt. Klaus Heid und Ruediger<br />

John schreiben zu aktuellen künstlerischen Strategien:<br />

Mit unterschiedlichen interventionistischen Strategien erweitern Künstlerinnen und<br />

Künstler ihren Aktionsraum. Sie fühlen sich nicht länger einem objektzentrierten Kunstmarkt<br />

verpflichtet, sondern finden und erfinden operative, prozesshafte Formen in der<br />

Zusammenarbeit mit Partnern in allen gesellschaftlichen Bereichen. Neben der strategischen<br />

Handlungsoption nimmt dabei die Erforschung und Reflexion systemischer Verhältnisse<br />

einen wichtigen Platz ein. Künstlerische Forschung kann so ganz wesentlich<br />

zur Vermittlung und Aneignung von innovativer Welterfahrung beitragen. 14<br />

Künstlerische Forschung ist, so schreiben Heid und John weiter,<br />

nicht an konventionelle Paradigmen der Wissenschaftlichkeit gebunden, sie kann ohne<br />

dogmatischen Methodenzwang agieren (wobei ein gemeinsames Grundmotiv beider Formen<br />

das Zweifeln-als-Methode ist), kann ohne Rücksicht auf die Definitionsmacht von<br />

Spezialisten in unterschiedlichsten Lebensbereichen erkenntnisfördernd tätig werden,<br />

dabei das Subjekt als Parameter einsetzen und ästhetische Kriterien bei der Konstruktion<br />

von Wirklichkeiten zu Grunde legen 15<br />

Künstlerische Forschung befördert so potentiell die Entstehung einer third culture,<br />

einer dritten Kultur, die zur Brücke zwischen den von C. P. Snow beschriebenen<br />

zwei Kulturen werden könnte – nämlich den sich unversöhnlich gegenüber stehenden<br />

Geistes- und den Natur- und Technikwissenschaften. 16 Snow beklagte in seinem<br />

1959 erschienenen Buch die seit dem 19. Jahrhundert entstandene Kluft, die<br />

zur Verarmung beider Seiten geführt habe. In seiner darauf folgenden Studie The<br />

Two Cultures: A Second Look prophezeite er 1963 optimistisch das Heranwachsen einer<br />

‹dritten Kultur›, einer neuen Generation von Wissenschaftlern, die die Kommunikationslücke<br />

zwischen den zwei traditionellen Kulturen schließen werde.<br />

Diese dritte Kultur stellen dabei jedoch, so der Ansatz des Projektes Arctic Perspective,<br />

nicht diejenigen WissenschaftlerInnen dar, die in ihren populärwissenschaftlichen<br />

Veröffentlichungen versuchen, Antworten auf die so genannten ‹letzten<br />

Fragen› einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. 17 Ebenso wenig findet<br />

sich die dritte Kultur in aktuellen Tendenzen der so genannten biotech art wieder,<br />

die der Faszination heutiger Naturwissenschaften erliegt und sich diesen –<br />

auch in den Laborformaten – andient. Vielmehr findet die dritte Kultur an der<br />

Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft im Bereich der künstlerischen Forschung<br />

93


statt, die im Projekt Arctic Perspective starkgemacht werden soll. Beiden Kulturen,<br />

der Kunst und der Wissenschaft, ist menschliche Neugier, Kreativität und der<br />

Wunsch nach Verständnis und Darstellung des Unbekannten gemeinsam. Die InitiatorInnen<br />

dieses Projektes sind der Auffassung, dass gerade die unterschiedlichen<br />

Formen der Wissensproduktion in der gemeinsamen Arbeit von KünstlerInnen<br />

und WissenschaftlerInnen produktiv gemacht werden können. 18 Arctic Perspective<br />

wird eine interkulturelle Landschaft ästhetischer und ethischer Wissensproduktion<br />

schaffen, die die Bedeutung der Polarregionen, der Veränderungen in diesen<br />

Gegenden und der zukünftigen Auswirkungen dieser Veränderungen in Form<br />

von gemeinsamen art-science-Forschungsprojekten, gegenseitigem Austausch und<br />

öffentlichen Präsentationen der gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse verdeutlicht.<br />

Anmerkungen<br />

1 <strong>Hartware</strong> <strong>MedienKunstVerein</strong> (Dortmund,<br />

Deutschland), The Arts Catalyst (London, Großbritannien),<br />

Projekt Atol (Ljubljana, Slowenien),<br />

Lorna (Reykjavik, Island) und C-TASC (Montréal,<br />

Kanada). Vgl. http://arcticperspective.org.<br />

2 International Symposium of Electronic Arts<br />

(ISEA). Die international bedeutendste Konferenz<br />

im Bereich der elektronischen Kunst findet<br />

seit 1988 alle zwei Jahre auf einem anderen<br />

Kontinent statt und wird im Rahmen der Kulturhauptstadt<br />

Europas Ruhr 2010 zum ersten Mal in<br />

Deutschland stattfinden (vgl. http://www.isea2010ruhr.org).<br />

3 Vgl. Arns, Inke, «Transparent World. Minoritarian<br />

Tactics in the Age of Transparency», in:<br />

Un_imaginable, hg. v. Dennis Del Favero, Ursula<br />

Frohne u. Peter Weibel, Ostfildern 2008, S. 20–35.<br />

4 Vgl. Arns, Inke, Objects in the Mirror May be<br />

Closer Than They Appear! Die Avantgarde im<br />

Rückspiegel. Zum Paradigmenwechsel der künstlerischen<br />

Avantgarderezeption in (Ex-)Jugoslawien<br />

und Russland von den 1980er Jahren bis in<br />

die Gegenwart, Diss. Humboldt-Universität zu<br />

Berlin 2004, http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/arns-inke-2004-02-20/PDF/Arns.pdf.<br />

Dies.,<br />

«Faktur und Interface: Chlebnikov, Tesla und der<br />

himmlische Datenverkehr in Marko Peljhans makrolab<br />

(1997–2007)», in: ‹Ohne Schnur...› Kunst<br />

und drahtlose Kommunikation. Kommunikationskunst<br />

im Spannungsfeld von Kunst, Technologie<br />

und Gesellschaft, hg. v. Katja Kwastek, Frankfurt<br />

am Main 2004, S. 62–79. Brian Holmes, «Coded<br />

Utopia: Makrolab, or the Art of Transition», in:<br />

Continental Drift, 2007, http://brianholmes.wordpress.com/2007/03/27/coded-utopia.<br />

5 Dieter Daniels, in: cITy. Internationaler Medienkunstpreis<br />

2000, Karlsruhe 2000, S. 94–97,<br />

hier: S. 95.<br />

6 Zit. n. Tilman Baumgärtel, «Kunst als<br />

Lauschangriff. Ein Gespräch mit Marko Peljhan<br />

über dessen Projekt Makrolab», in: Telepolis, 6.<br />

Oktober 1998, http://www.heise.de/tp/deutsch/<br />

special/info/6299/1.html.<br />

7 Marko Peljhan, in: Tilman Baumgärtel,<br />

[net.art]. Materialien zur Netzkunst, Nürnberg<br />

1999, S. 136-141, hier: S. 138.<br />

8 Johannes Birringer, «Makrolab: A Heterotopia»,<br />

in: PAJ: A Journal of Performance and Art, 60<br />

(September 1998), S. 66–75, http://muse.jhu.<br />

edu/journals/performing_arts_journal/toc/paj<br />

20.3.html.<br />

9 Marko Peljhan, «makrolab | lecture<br />

310897. The Makrolab Lecture in the 100 Days<br />

Program», Vortrag, documenta X, Kassel 1997,<br />

http://makrolab.ljudmila.org/reports/marko.html.<br />

10 Marshall McLuhan (1911–1980) bezeichnet<br />

‹Medien› als Extensionen des Menschen. Medien<br />

(oder allgemein: Apparate) seien nach außen<br />

gelagerte Sinnesorgane, die der Mensch<br />

von sich abgetrennt hat (‹Selbstamputation›).<br />

Medien werden so gleichsam zu Prothesen des<br />

menschlichen Wahrnehmens und Handelns.<br />

Vgl. Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle.<br />

Understanding Media, Dresden 1994 (Understanding<br />

Media: The Extensions of Man, 1964).<br />

11 Peljhan 1999 (wie Anm. Fehler! Textmarke<br />

nicht definiert.).<br />

12 Kodwo Eshun, «Makrolab’s Twin Imperatives<br />

and Their Children Too», in: makrolab, hg. v.<br />

The Arts Catalyst u. Zavod Projekt Atol, London<br />

2003, S. 6–14, hier: S. 7.<br />

13 Vgl. http://www.lentos.at/de/195_1527.asp<br />

und http://www.lentos.at/de/download/PressetextundBio_dt.pdf.<br />

14 Klaus Heid u. John, Ruediger, TRANSFER:<br />

Kunst Wirtschaft Wissenschaft, Baden-Baden<br />

2003. Vgl. auch http://www.<strong>kritische</strong>-aesthetik.de/transferkunst.html.<br />

15 Ebd.<br />

16 C. P. Snow, The Two Cultures and the Scientific<br />

Revolution, Cambridge 1959.<br />

17 So der Anspruch von John Brockman, The<br />

Third Culture – Beyond the Scientific Revolution,<br />

New York1995, http://www.edge.org/3rd_culture.<br />

18 Auch die Verfasserin dieses Artikels gehört<br />

zu den Initiatoren des Projekts.<br />

94 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Michael Mönninger Das umgedrehte Fernrohr<br />

Michael Mönninger<br />

Das umgedrehte Fernrohr<br />

Die Fernerkundung der Nahwelt – vom Himmelsblick zur Erdbeobachtung<br />

Beim ersten bemannten Orbitalflug der Amerikaner um die Erde 1962 – ein Jahr<br />

nach Juri Gagarins Erdumrundung – bekam der Astronaut John Glenn einen ungewöhnlichen<br />

Willkommensgruß. Als er in der Nacht des 20. Februar in seiner<br />

Raumkapsel Friendship 7 das westliche Australien überquerte, schalteten die Bewohner<br />

der Küstenstadt Perth auf Verabredung alle Lichter ein, um dem einsamen<br />

Astronauten in 260 Kilometern Höhe ein Zeichen zu geben. Glenn sandte<br />

hocherfreut eine Nachricht an sein Kontrollzentrum in Cape Canaveral: «Die Lichter<br />

sind sehr gut zu sehen. Sagt bitte den Leuten dort unten meinen herzlichen<br />

Dank.» 1<br />

Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis nach John Glenns erster Lichtimpression<br />

aus dem All die hier abgebildete populäre Darstellung der Erde bei<br />

Nacht entstand (Abb. 1). Ihre Veröffentlichung datiert von 1986 und damit gleichsam<br />

aus der Steinzeit der Erdbeobachtung, lange vor der totalen Orbitalisierung<br />

der Weltbetrachtung durch die Luft- und Satellitenphotografie heute. Diese Aufnahmen<br />

stammen aus dem Defense Meteorological Satellite Program der United<br />

States Air Force und wurden in achthundert Kilometern Höhe für kurzfristige<br />

1 Earth at Night, Hansen Planetarium, Salt Lake City 1986.<br />

95


Wettervorhersagen gemacht. Die Lichtempfindlichkeit dieser Bilder war so groß,<br />

dass sie selbst noch eine Hundert-Watt-Glühlampe sichtbar machen konnten.<br />

Wegen ihrer Datenfülle wurden diese Aufnahme von der amerikanischen Luftwaffe<br />

regelmäßig vernichtet.<br />

Einer ersten, die diesen Bildervorrat sammelten, war Woodruff L. Sullivan,<br />

Professor für Radioastronomie an der University of Washington in Seattle. Er<br />

setzte in seiner Freizeit ausgewählte Aufnahmen zu einem Mosaikder nächtlichen<br />

Erde zusammen. Wegen der Bewölkung, dem störenden Einfluss des Mondlichtes<br />

und der vielfältigen optischen Verzerrungen musste Sullivan Aufnahmen<br />

aus einem Zeitraum von über zehn Jahren heranziehen, um ein optimales Ergebnis<br />

zu erreichen. Die Bilder wurden digital auf ein einheitliches Format gebracht,<br />

zu einer Mercator-Projektion, ähnlich wie Weltkarten, kompiliert und schließlich<br />

vom ehemaligen Hansen Planetarium, Salt Lake City, als Poster publiziert. 2<br />

Bevor es um die Verzeichnungen dieses konstruierten Bildes geht, das eine indexikalische<br />

Funktion behauptet, aber in Wirklichkeit eine gewaltige ikonische<br />

Illusion erzeugt, stellt sich die Frage: Was war hier damals zum ersten Mal zu sehen?<br />

Jahrhunderte lang war der Blickder Astronomen immer weiter hinaus ins<br />

Universum gegangen. Erst mit dem Aufkommen der Satellitenfotografie geriet<br />

die Erde selber wieder ins Blickfeld. Bei dieser Retrospektive mit Erderkundungssatelliten<br />

fällt eine radikale Veränderung auf. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />

war die Erde ein Planet wie Venus, Mars oder Jupiter und reflektierte nur das<br />

Licht des Zentralgestirns. Seit der Industrialisierung wird die Erde immer mehr<br />

zu einem leuchtenden Ball, der als einziger Himmelskörper in der Umlaufbahn<br />

der Sonne sich aus eigener Kraft illuminiert.<br />

Die Erde ist zu einem Stern geworden, dessen Feuerschein von Häusern, Straßenlaternen,<br />

Autoscheinwerfern, Waldbränden, Brandrodungen und Erdgasabfackelungen<br />

auf Bohrfeldern stammt. Auf den ersten Blick gleicht die Erde bei<br />

Nacht in der Montage von 1986 dem Sternenhimmel selber – einem funkelnden<br />

Flickenteppich, der erst bei längerem Hinsehen seine Konstellationen zeigt. Im<br />

Osten leuchtet Japan wie eine gigantische Neonröhre im Stillen Ozean. China<br />

liegt bis auf die Regionen um Peking und Shanghai noch in vorzeitlicher Dunkelheit.<br />

Westeuropa dagegen ist ein Flammenmeer, das nur von den Küstenrändern<br />

trennscharf konturiert wird. Amerikas taghelle Nacht im Osten verliert sich in<br />

der Weite des Westens. Die südliche Halbkugel dagegen liegt bis auf einzelne<br />

Millionenstädte tief im Schatten eines Fortschritts, der in der immer schnelleren<br />

Umwandlung von Rohstoffen in Licht und Müll besteht.<br />

Herkömmliche Luftaufnahmen bei Tage zielen auf eine Ästhetik der Neutralität.<br />

Sie wollen, wie Landkarten, nur natürliche Konturen und Bodenreliefs zeigen,<br />

aber täuschen darüber hinweg, dass sie wie Landkarten von Herrschaftsinteressen<br />

und Ideologie geprägt sind. Der Nachtblickauf die Erde hingegen, der<br />

gleichsam aus dem Abfalleimer der amerikanischen Luftwaffe stammt, bildet den<br />

seltenen Fall einer interesselosen Kartografie im Sinne einer unbewussten Realaufzeichnung.<br />

Es handelt sich um ein Symptom, eine Spur, um ein verstecktes<br />

Zeichen, das im Fortschritt unserer bildlichen Durchdringung der Erd- und Welträume<br />

noch einen kleinen Riss, ein Stück ‹Un-Sinn› trägt. So hat der französische<br />

Kunstwissenschaftler Georges Didi-Huberman die schwierige Grenzziehung zwischen<br />

dem Übermaß an fotografischer Reproduktion und den kleinsten Spuren<br />

96 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Michael Mönninger Das umgedrehte Fernrohr<br />

von Echtheit beschrieben. 3 Er bezog sich dabei auf die Fotografietheorie von<br />

Walter Benjamin, der vom «winzigen Fünkchen Zufall, vom Hier und Jetzt»<br />

sprach und solche Momente als «Loch» bezeichnet, in denen «die Wirklichkeit<br />

den Bildcharakter durchgesengt hat». 4<br />

Dieses Phantom- oder Symptombild der Erde gleicht einem Kupferstich, in den<br />

die Menschheit kollektiv die Spuren ihrer Arbeit eingraviert hat. Jeder nadelspitze<br />

Lichtfleckist ein sichtbares Zeichen für alle Arten von Energieumwandlung. Er<br />

stellt gleichsam ein Loch im Stoffwechsel der Natur dar‚ durch den Energie entweicht.<br />

Man könnte durchaus von einer zunehmenden Perforation der Erdoberfläche<br />

sprechen. In der griechischen Kosmologie gab es einst eine ähnliche Vorstellung,<br />

nur in umgekehrter Richtung. Der Naturphilosoph Anaximander sah Sonne,<br />

Mond und Sterne als Löcher im dunklen Himmelszelt, durch die von außen eine<br />

kosmische Feuerwelt hindurch scheine. Heute gibt es diese Lichtlöcher umgekehrt<br />

in der Erde. Sie sind die Feuerstellen einer Zivilisation, die ihr Erdinneres verheizt.<br />

Die Neuartige an diesen Nachtaufnahmen war damals, dass die Menschheit<br />

zum ersten Mal gemeinsam das Licht ihrer eigenen Welt erblickte. Es war die Geburt<br />

einer Erkenntnis, die die einen ähnlichen Schock auslöste wie zuvor der Anblickder<br />

ersten Aufnahmen der Erde vom Mond aus. Der Philosoph Hans Blumenberg<br />

hatte eindringlich die grandiose Enttäuschung beschrieben, als die Sonde<br />

Lunar Orbiter II im August 1966 erstmals die Bilder einer Mondlandschaft funkte,<br />

über der die Erde leuchtete. Der Anblick, «dass am Himmel des Mondes die Erde<br />

steht», 5 war nur die anschauliche Vollendung der Lehre von Galileo Galilei und<br />

Nicolaus Copernicus: dass die Erde nur ein kleiner Wandelstern unter den unzähligen<br />

Planeten im Kosmos ist.<br />

Doch je weiter die astronomischen Expeditionen in die Wüste des Universums<br />

führten, desto mehr hat sich, wie Blumenberg schreibt, die Erde als «kosmische<br />

Ausnahme» erwiesen: «Der angestrengt in den Weltraum hinausblickende<br />

Mensch bekam nicht das ganz Andere und Fremde zu Gesicht, sondern den kosmischen<br />

Spiegel seiner eigenen Welt» – einfach deshalb, weil ihm in der gigantische<br />

Leere keine andere Wahl als die Erde bleibt. 6<br />

Seitdem ist die Hoffnung weitgehend geschwunden, dass die Menschheit im All<br />

noch eine andere Option als die Erde hat. Als Reaktion darauf sah Blumenberg «das<br />

Erlahmen der kosmischen Neugierde, die Wendung des Interesses von der Fernwelt<br />

auf die Nahwelt, von der zentrifugalen Richtung in die zentripetale». 7 Er nahm zugleich<br />

vorweg, was Astronomen heute als ‹Lichtverschmutzung› beklagen. Denn<br />

Blumenberg schlug vor, nicht von einem Verblendungs-, sondern einem «Abblendungszusammhang»<br />

zu sprechen, und beschrieb dies als «Sezession aus einer der<br />

menschlichsten Möglichkeiten: der interesselosen Neugierde und Schaulust, für<br />

welche der gestirnte Himmel die unüberbietbare Alltagsferne angeboten hatte». 8<br />

Diese Umkehrung der Neugierde und der Blickrichtung steht mit am Anfang<br />

der Raumwende, die heute in den Literatur- und Kulturwissenschaften ‹spatial<br />

turn› genannt wird. Es ist der Versuch, das utopische, das heißt ortlose Verfügbarkeitsideal<br />

von Raum, Zeit, Materie und Menschen wieder in ihrer strukturellen<br />

Interdependenz und Gebundenheit zu begreifen, aber zugleich ihre substantialistischen<br />

Verhärtungen aufzubrechen, indem jede Raumvorstellung als kulturell<br />

konstruiert verstanden wird. Als eines der ersten Embleme, vielleicht sogar<br />

als Leitfossil dieser Raumwende könnte man Woodruf Sullivans Mosaik der Erde<br />

bei Nacht ansehen.<br />

97


Worin unterscheidet sich die Erde bei Nacht von den harmonischen Tageslicht-<br />

Trugbildern des schönen blauen Planeten? Das Lichtermeer bei Nacht ist ein weitgehend<br />

unverstelltes Röntgenbild, ein Funktionsdiagramm der Welt, das mit bloßem<br />

Auge gelesen werden kann. Das ist zugleich eine der avanciertesten Formen von ästhetischer<br />

Totalität der Wahrnehmung, eine Totalität, die paradoxerweise durch Reduktion<br />

entsteht: Schlagartig charakterisiert eine einzige menschliche Tätigkeit –<br />

die Lichterzeugung – die physiognomischen Grundzüge einer ganzen Zivilisation.<br />

Freilich ist das über Jahre hinweg fotografierte und anschließend zusammengesetzte<br />

Lichtermeer nur eine hochartifizielle, synchronische Simulation von diachronen,<br />

zeitlich weit auseinander liegenden Momentaufnahmen. So täuscht<br />

die Faszination dieses Anblicks über die gröbste Irreführung dieser Montage hinweg:<br />

Selbstverständlich kann immer nur über einer Erdhälfte Nacht herrschen.<br />

Doch es fragt sich, ob diese Rekonstruktion eines über zehn Jahre währenden Beobachtungsvorgangs<br />

tatsächlich so unwirklich ist?<br />

Zumindest hat sie den gleichen imaginären Realitätsgehalt wie der umgekehrte<br />

Blick in den nächtlichen Sternenhimmel, wo ebenfalls das Nacheinander<br />

zur Gleichzeitigkeit wird. Denn unzählige der leuchtenden Gaskugeln, deren<br />

Licht heute auf der Erde zu sehen ist, sind verglüht, bevor es überhaupt Menschen<br />

gab. Andere senden seit langem ihr Licht, das jedoch erst ankommen wird,<br />

wenn die Sonne längst erloschen und die Erde verschwunden ist. Der Nachthimmel<br />

ist nicht nur ein Blick in die Unendlichkeit, sondern auch in die Ewigkeit, die<br />

gemeinhin als Gegenwart missverstanden wird.<br />

Im Vergleich dazu ist die Korrektur, die der nächtlichen Weltkarte zugrunde<br />

liegt, winzig. Die Zeitdifferenz zwischen der abendlichen Illumination in Europa<br />

und der Morgendämmerung über China schrumpft selbst im Abstand von zehn<br />

Jahren zum Augenblickzusammen. Durch Montage erfährt die Grammatikdieser<br />

Einzelaufnahmen eine gewaltige rhetorische Aufladung. Zeichentheoretisch gesprochen,<br />

wird hier aus dem Index ein Ikon, indem die Zeigefunktion oder ‹Spur›<br />

durch das Ausblenden des Zeitfaktors dramatisiert und zu einem paradoxen Simultanbild<br />

wird, das auf einem Maximum an Konstruiertheit und Künstlichkeit<br />

beruht, aber zugleich die geografischen, ökonomischen, anthropologischen und<br />

ökologischen Hauptmerkmale der Erde lesbar macht.<br />

Vergleicht man die Montage von 1986 mit heutigen Satellitenbildern der NA-<br />

SA, so fallen einige Unterschiede auf. Im Gegensatz zu den perfektionierten und<br />

ästhetisch geglätteten Schaubildern enthält die fast dilettantisch wirkende Komposition<br />

von 1986 zahlreiche Nebenvalenzen. Dazu zählt etwa die einzige natürliche<br />

Lichtquelle: die sichelförmige Aurora, ein Nordlicht über Grönland, das in<br />

heutigen Aufnahmen nicht mehr vorkommt. Die Aurora ist eigentlich ein Störfaktor<br />

und Fehler, der allerdings mit Benjamins Worten jenes «winzige Fünkchen<br />

Zufall» bildet, das der Aufnahme Authentizität verleiht.<br />

Einen noch befremdlicheren Anblickbei Nacht bietet ein gleißender Fleckim<br />

japanischen Meer, der ebenfalls den Charakter einer visuellen Spur besitzt. Bei<br />

der Auswertung dachten die Astronomen zunächst an gewaltige Gewitterstürme<br />

mit Blitzentladungen. Nachforschungen ergaben jedoch, dass es sich um Fischereiflotten<br />

aus Japan und Korea handelt, die zur Tintenfisch- und Makrelensaison<br />

gemeinsam in See stechen: Über tausend Boote locken mit Scheinwerfern die Fische<br />

an die Wasseroberfläche und entwickeln dabei eine Leuchtkraft von rund<br />

zweihundert Millionen Watt. 9<br />

98 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Michael Mönninger Das umgedrehte Fernrohr<br />

2 Earth at Night, NASA 2001.<br />

Ebenso fallen beim Nachtbild von 1986 gigantische Lichtspuren ins Auge, die<br />

auf heutigen Darstellungen kaum mehr hervortreten. Es handelt sich um Feuerstellen<br />

auf Erdölfeldern, wo natürliches Gas abgefackelt wird. Auf der indonesischen<br />

Insel Sulawesi, im sibirischen Surgut, am Persischen Golf, in Libyen und Algerien,<br />

im Ölgürtel Äquatorialafrikas oder im Norden von Lateinamerika – überall<br />

kommen Öl und Gas zusammen als schaumige Flüssigkeit aus der Erde, deren<br />

Verwertung unrentabel ist. 10 Es stellt sich die Frage, ob diese Lichter mittlerweile<br />

erloschen sind oder auf heutigen Darstellungen wegretuschiert werden. Weitere<br />

Unterschiede betreffen vor allem die extremen Kontrastwirkungen zwischen<br />

urbanisierten und ländlichen Regionen, während auf heutigen Fotos die Spitzenwerte<br />

deutlich harmonisiert erscheinen.<br />

Seit den Anfängen der Weltraumphotografie hat die Fernerkundung der Erde<br />

große Fortschritte gemacht (Abb. 2). Heute umkreisen insgesamt mehr als dreitausend<br />

Satelliten für Kommunikation, Aufklärung, Militär und Astronomie die<br />

Erde. Knapp hundert Satelliten davon dienen der direkten Fernerkundung der Erde.<br />

Beim Vergleich zwischen den popularisierten Versionen von NASA-Bildern<br />

der Erde bei Nacht mit Sullivans Urbild wird die starke Glättung und Beruhigung<br />

des irritierenden nächtlichen Lichtermeeres deutlich. Aus der ruppigen bricolage<br />

von Sullivan ist ein hochauflösendes visuelles Klischee geworden, das spürbar<br />

den Anschluss an die Tageslicht-Trugbilder vom schönen blauen Planeten finden<br />

will. Vergebens sucht man hier die unbeabsichtigten Spuren oder ‹Löcher› wie<br />

das Nordlicht, die Bohrinselfeuer, die japanische Fischereiflotte oder die Fortschrittsnacht<br />

der Dritten Welt. Zugleich sind die neuen Bilder entschärft durch<br />

Überpräzision und Überdetermination. Sie lassen keinen Winkel des Globus unausgeleuchtet<br />

und stellen Präsenz- und Evidenzbehauptungen auf, die imaginations-<br />

und interpretationsfeindlich sind. Denn in diesen Readymades sind keine<br />

Spuren ihrer Hervorbringung mehr auszumachen – und damit sind auch kaum<br />

mehr Empirie und Empathie möglich.<br />

Auf diese ermüdende Perfektion der technischen Bilder folgte 2005 eine weitere<br />

Epochenwende: die von der Fern- zur Naherkundung. Damals brachten Goo-<br />

99


3 Google Maps, Dresdner Frauenkirche 2008.<br />

gle (Abb. 3) und Microsoft eine online Software heraus, die Luftaufnahmen, Satellitenfotos,<br />

Landkarten, Stadtpläne und Geodaten zu einem virtuellen Allraum zusammenfügt.<br />

Der Bochumer Literaturwissenschaftler Manfred Schneider feierte<br />

diese Bilder bereits als «die stärkste public relation der globalisierten Welt» und<br />

als «neues Zeitalter totaler optischer Raumbeherrschung», die den Weg zu «künftigen<br />

Echtzeitvisionen von allem» bahne. 11<br />

In der Tat: Hier geschieht etwas Neues in der Entwicklung der Erdbetrachtung.<br />

Es ist die Subjektivierung des Blicks, die erstaunlicherweise an eine vortechnische<br />

Darstellungskunst anknüpft: an das Landschaftsgemälde. Man kann allgemein<br />

den Fortschritt der Kartografie – und ihrer Perfektionierung durch die Satellitenfotografie<br />

– als Konstruktion einer betrachterunabhängigen Repräsentation<br />

der Erdoberfläche beschreiben, die nicht auf einem Augenpunkt, sondern auf trigonometrischen<br />

Messungen basiert. Dagegen ist es bei den neuen virtuellen<br />

Raumbildern genau umgekehrt: Sie betreiben die Individualisierung des Beobachterstandpunktes<br />

durch Markierungen und overlays und clips und erzeugen eine<br />

neue Vielfalt der Ansichten, die aus physischen geradezu psychisch zu nennende<br />

Karten, mental maps, machen. Diese hybriden Bilder verweisen nicht nur auf die<br />

Außenwelt, sondern auch auf die Position und Befindlichkeit des Betrachters.<br />

Hier lässt sich eine Analogie zur Malerei aufstellen: Die kubistische Simultanperspektive<br />

wurde als Versuch beschrieben, die perspektivische Raumkonstruktion<br />

im Bild aufzulösen, um die Konstruktionsprinzipien von Raum im Bild offenzulegen.<br />

Dagegen gehen diese mentalen Karten einen Schritt weiter, indem sie<br />

auch die Rezeptionsprinzipien von Raum zeigen wollen. Sie zielen nicht mehr<br />

bloß auf Sichtweisen der Dinge, sondern auf von leiblicher Präsenz bestimmte<br />

Empfindungsweisen. Sie überführen den Gegensatz von äußerem Raum und innerem<br />

Selbst durch die Perspektivenvielfalt ihrer simultanen Fernbeobachtung<br />

von oben und der Nahbeobachtung auf Augenhöhe in eine Art Möbius-Band, in<br />

dem Ich und Welt idealiter wie in einem Höhlensystem oder einer Faltung inein-<br />

100 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Michael Mönninger Das umgedrehte Fernrohr<br />

4 Google Maps, Eiffelturm 2008.<br />

ander verschlungen wahrnehmbar sein sollen. Jeder Benutzer trägt sein Raumkompartiment<br />

gleichsam wie ein Schneckenhaus mit sich herum.<br />

Das ist der dritte Perspektivwechsel, der vom vormodernen Himmelsblick<br />

über die satellitengestützte Erdbeobachtung bis zur Individualisierung der Google-Weltsicht<br />

führt (Abb. 4). Die neuen fragmentierten Hybridbilder verwandeln<br />

nicht nur totale in partikulare Raumerlebnisse. Sie gehen vielmehr von der Topografie<br />

zur Topologie über, also von der topografischen Naturraumbeschreibung<br />

zur topologischen Kartierung des Kulturraums – einschließlich seiner Verwertung<br />

zu kommerziellen und Unterhaltungszwecken. Der objektive, absolute System-<br />

oder Containerraum der Kartografie und Satellitenfotografie wird durch<br />

die topologische Perspektivenvielfalt zu einem relativen Anordnungsraum der<br />

insularen Wahrnehmung. Er verspricht phänomenologische Fülle, aber erzeugt<br />

eine Raumauffassung, die eher der kindlichen Weltwahrnehmung entspricht.<br />

Dazu ein kurzer Exkurs in die Entwicklungspsychologie: Laut Jean Piaget beginnt<br />

die kindliche Raumerfahrung im Stadium der topologischen Ortsfixierung.<br />

Kinder nehmen auf voreuklidische und vorperspektivische Weise zunächst einzelne<br />

Raumstellen wahr, zwischen denen viele unverbundene, leere Zwischenräume<br />

liegen, die erst sensomotorisch und intellektuell verknüpft werden müssen. Oben<br />

und unten, links und rechts sind bis zum Alter von acht bis neun Jahren noch keine<br />

absoluten Koordinaten in einem festen Bezugssystem, sondern werden durch topologische<br />

Relationen wie Nachbarschaft, Reihenfolge oder Trennung erfahren<br />

und vorgestellt. Daher rührt auch die besondere Fähigkeit von Kindern, Bilder verkehrt<br />

herum zu betrachten oder spiegelverkehrt zu schreiben.<br />

Dann beginnt der Lernprozess, diese Vielzahl von uneinheitlichen, diskontinuierlichen<br />

und bewegten Orten ohne konstante Dimensionen fortan miteinander<br />

zu einem einheitlichen Systemraum zu verbinden. Dies ist eine fundamentale<br />

geistige Syntheseleistung. Sie besteht darin, aus der topologischen Wahrnehmung<br />

von Teilräumen eine einheitliche, euklidisch-perspektivische Raumvorstel-<br />

101


lung zu machen. Dabei geht es darum, dass die Wahrnehmung sich dem Denken<br />

angleicht und die Auffassungsfähigkeit von Räumen kontinuierlich expandiert.<br />

Die Sozialisationsforschung <strong>berichte</strong>t allerdings davon, dass dies unter den heutigen<br />

Bedingungen einer stadträumlich insularen Sozialisation sowie angesichts<br />

der Ungereimtheiten der virtuellen Räume technischer Medien immer schwieriger<br />

wird. Es treten starke Irritationen auf, aus denen eine «Zerstückelung des<br />

Raumes» (Wilhelm Heitmeyer) resultiert, die zu manifesten Desozialisierungserfahrungen<br />

und Orientierungsverlusten führt.<br />

Diese vereinfachende Gegenüberstellung von topografisch kartiertem System-<br />

oder Containerraum und topologisch konstruierten Relationsraum erlaubt<br />

noch eine weitere Deutung. Eigentlich stammt das Raummodell der Topologie<br />

nicht aus der Entwicklungspsychologie, sondern ist eine weitaus ältere mathematische<br />

Disziplin. Sie geht auf die Algebraisierung der Geometrie zurück, als die<br />

anschauliche Repräsentation von Raum und Körpern in einen unanschaulichen,<br />

weil nur noch gerechneten Raum überführt wurde. Seitdem lassen sich Lagebeziehungen<br />

von Elementen, Netzen und Gruppenbildung auch in gekrümmten, gedehnten<br />

oder gestauchten Räume analysieren. 12 Tatsächlich bewegen und orientieren<br />

wir uns heute mit Hilfe von GPS-Koordinaten und Navigationssystemen<br />

zunehmend in gerechneten Räumen, um den Anschauungs- und Orientierungsverlust<br />

im realen Raum zu kompensieren.<br />

So entspringt aus einem Zuwenig an leiblichem Raumerleben ein Zuviel an<br />

technisch konstruierten, gerechneten Verbundräumen. In der Alltagswahrnehmung<br />

von Raum, der zunehmend mit Hilfe virtueller Hybridbilder, Google-Montagen<br />

und digitalisierten Koordinaten erschlossen wird, die neuerdings mittels<br />

street views auch die horizontale Fußgängerperspektive liefern, steckt demnach<br />

der Versuch, die Unanschaulichkeit und Zerstückelung des Raumes wieder in den<br />

Griff zu bekommen. Man unternimmt, ähnlich wie Kinder, Versuche der Kontingenzbewältigung,<br />

indem man zwischen unverbundenen Raumstellen vielperspektivische<br />

Beziehungsnetze bildet und in technisch generierte kubistische Simultanperspektiven<br />

flüchtet, um anstelle der bis ins Extrem getriebenen Zergliederung<br />

eine elementarästhetische Einheitserfahrung von räumlicher Totalität zu<br />

machen.<br />

Die Dynamisierung der Erdbeobachtung durch technisch generierte Bilder –<br />

von panoramatischen Satellitenaufnahmen bis hin zur Perspektivenexplosion<br />

der street views – erlaubt eine immer größere maßstäblichen Detaillierung und<br />

qualitative Hochauflösung. Die Kehrseite ist, dass die Spuren der Hervorbringung<br />

dieser Bilder getilgt und ihre Verzeichnungen unkenntlich werden. Zudem<br />

steckt in dieser visuellen Verwirbelung das, was Gottfried Benn einst die ‹Elefantenäugigkeit<br />

der Moderne› nannte, nämlich die Unfähigkeit, Ruhe zu sehen. Zwar<br />

ist seit Isaac Newton bekannt, dass Ruhe nur einen Sonderfall in einem vollständig<br />

bewegten Universum darstellt. Trotzdem bleibt weiterhin ein Traum vom<br />

Raum bestehen – eben jener geradezu archaisch anmutende Anblickder Erde bei<br />

Nacht, von dessen Schönheit, Wunschbildlichkeit und erhabener Alltagsferne<br />

uns einst der Astronaut John Glenn und der Astronom Woodruff Sullivan einen<br />

epochalen Eindruckgegeben hatten.<br />

102 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Michael Mönninger Das umgedrehte Fernrohr<br />

Anmerkungen<br />

1 Nigel Henbest, «The DarkSide of the<br />

Earth», in: New Scientist Magazine, 8. April 1989,<br />

Nr. 1659.<br />

2 Alle Angaben aus der Informationsbroschüre<br />

Earth at Night, Hansen Planetarium, Salt Lake<br />

City, 1986. Ich bitte, die schlechte Reproduktionsqualität<br />

dieses Bildes mitsamt der Knickstellen<br />

zu entschuldigen. Ich besitze das Bild<br />

nur in einer gedruckten Version auf Papier, wie<br />

es 1986 veröffentlich wurde. Eine digitalisierte,<br />

allgemein zugängliche Version gibt es meines<br />

Wissens nicht.<br />

3 Georges Didi-Huberman, «Ästhetikund<br />

Ethik– das Bild brennt», in: Iconic worlds. Neue<br />

Bilderwelten und Wissensräume, hg.v.Christa<br />

Maar u. Hubert Burda, Köln 2006, S. 286–311,<br />

hier S. 300.<br />

4 Walter Benjamin, «Kleine Geschichte der<br />

Photographie», in: ders., Gesammelte Schriften,<br />

Werkausgabe Bd. 4, Frankfurt am Main 1980, S.<br />

371.<br />

5 Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen<br />

Welt, Frankfurt am Main 1981, Teil 6,<br />

Band 4, Reflexive Teleskopie, S. 786–787.<br />

6 Ebd., S. 784.<br />

7 Ebd., S. 786.<br />

8 Blumenberg 1981 (wie Anm. 5), Teil 1, Bd.<br />

8, Anachronismus und lebensweltlicher Bedarf:<br />

Realitäten und Simulationen, S. 138.<br />

9 Diese Energiemenge entsprach damals ungefähr<br />

der Hälfte dessen, was die Vereinigten<br />

Staaten gleichzeitig für elektrische Beleuchtung<br />

verbrauchen. Vgl. Thomas A. Croft,<br />

«Nighttime Images of the Earth from Space», in:<br />

Scientific American, 1978, Bd. 239, S. 68–79,<br />

hier S. 76.<br />

10 Thomas A. Croft hat berechnet, dass die<br />

Energiemenge der Gasabfackelungen etwa drei<br />

Prozent des jährlichen Verbrauchs an fossilen<br />

Brennstoffen beträgt. Ebd.<br />

11 Manfred Schneider, «Den Globus tanzen<br />

lassen», in: Neue Zürcher Zeitung, 14. Dezember<br />

2007.<br />

12 Vgl. Stephan Günzel, «Raum – Topographie<br />

– Topologie», in: Topologie. Zur Raumbeschreibung<br />

in den Kultur- und Medienwissenschaften,<br />

hg. v. dems., Bielefeld 2007, S. 21–22.<br />

103


Rolf F. Nohr<br />

«Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!» –<br />

Astronomy in Action<br />

104 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Sucht man nach Orten und Handlungsformen, die sich mit unserer Vorstellung<br />

vom Weltall beschäftigen, ist der Blickhin zur Astronomie als wissenschaftliche<br />

Disziplin naheliegend. Sowohl in ihrer historischen Entwicklung als auch in ihrer<br />

aktuellen Ausprägung scheint sie ein paradigmatischer Ort zu sein, an dem eine<br />

Gesellschaft ihr Wissen und ihre Sichtweisen auf den Raum jenseits des eigenen<br />

Planeten aushandelt und manifestiert. Die Disziplin der wissenschaftlichen<br />

Astronomie ist der Ort der Herstellung technischer Sichtbarkeit: Hier überformt<br />

sich ‹professionell› das subjektive Sehen zum objektiven Beobachten und Wissen.<br />

Eine Reihe unterschiedlichster wissenschaftstheoretischer und kultur- wie bildtheoretischer<br />

Veröffentlichungen konzentrieren sich daher vorrangig auf die<br />

professionelle Astronomie als Denkraum der Herstellung von Erkenntnis und<br />

Sichtbarkeit.<br />

Zum Verständnis spezifischer Produktionsformen von Wissen und Bildlichkeit<br />

ist die Konzeptualisierung und Evaluation eines solchen ‹Labors› der Astronomie<br />

sehr sinnvoll. Verstehen wir unter einem ‹Labor› einen hochvariablen Denkraum,<br />

der sich um einen Erkenntnisgegenstand bildet, dann ermöglicht die Untersuchung<br />

dieses ‹Labors› Aufschlüsse über Modellbildungsverfahren als Reduktionen,<br />

die in Konsequenz zumeist Stillstellungen sind, sowie Erkenntnisse über<br />

die Herstellung von Repräsentationsordnungen. Diese Repräsentationen entfalten<br />

zumeist «zirkulierende Referenzen» und mäandrieren durch genealogisch<br />

und archäologisch hervorgebrachte Diskursfelder.<br />

3.2009<br />

1 Die Untersuchung solcher<br />

mehr oder weniger abgrenzbarer ‹Labore› lässt also Aufschlüsse über die Integrations-<br />

und Reintegrationsverfahren von Visualisierungen der Erkenntnisgegenstände<br />

und deren Rolle für die Herstellung eines epistemisch wirksamen Sichtbaren<br />

zu. So entsteht im Rekonstruktionsverfahren ein Aufschluss über die «Viskurse»,<br />

die einen Gegenstand umgeben. 2<br />

Wie liest sich eine solche Analyse im Bezug auf die professionelle Astronomie<br />

durch die Brille einschlägiger Theoriebildung zum Thema? Exemplarisch soll an<br />

dieser Stelle die Untersuchung Alex Soojung-Kim Pangs erwähnt werden. 3 Dieser<br />

beschäftigt sich im Kontext der These über eine «Ordnung der Sichtbarkeit» mit<br />

dem Status der Fotografie in der Astronomie. 4 Es sei das Versprechen der Fotografie,<br />

so Pang, sie würde «die astronomische Beobachtung einfacher machen,<br />

die Verlässlichkeit der Daten erhöhen und außerdem lückenlose Aufzeichnungen<br />

des sichtbaren Himmels produzieren». 5 Erst in der Kombination von makroskopischen<br />

Sehen und technischem ‹Aufschreiben› entstünde Astronomie als apparatives<br />

System und nicht zuletzt auch ein Diskurs des technisch-objektiven Beobachtens.<br />

Insofern kulminiere der Stellenwert von Beobachten und Fotografieren<br />

auch in der Symbiose der beiden Praktiken als «fotovisueller Beobachtung». 6


Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />

Amateurastronomie<br />

Antrieb der hier vorgelegten Untersuchung ist die Annahme, dass der Himmel<br />

und das Weltall nicht nur ‹Labore der Professionalität› begründen, sondern auch<br />

und vor allem in breiten Diskursen und populären Aneignungen Wirksamkeit entfalten.<br />

Interessant werden die ‹Bilder› der Astronomie dadurch, dass sich der Erkenntnisgegenstand<br />

nicht nur dem paradigmatisch kontextualisierten Wissenschaftler<br />

darstellt, sondern auf eine sehr unmittelbare Weise auch dem Menschen,<br />

dem ‹populären Subjekt› selbst. Der Blick zum Himmel zählt zu den basalen<br />

Erfahrungen des Menschen; das Erkenntnisinteresse der Astronomie gehört somit<br />

zu einem unmittelbar geteilten Interesse. Am Bilderkanon der Astronomie vermag<br />

sich die menschliche Projektionskraft und Phantasie direkt zu entzünden.<br />

Insofern erscheint es mir sinnvoll, nicht nur das hochprofessionelle Labor der<br />

fachdisziplinären Astronomie zu untersuchen oder die populärkulturellen Aneignungsformen<br />

der ‹Produkte› dieses Labors, sondern auch ein Zwischenstadium<br />

solcher Produktionsformen. Insofern möchte ich die Frage nach der Konstitution<br />

des Objekts der Sichtbarkeit und der Produktion von Visualität an den Amateurastronomen<br />

richten. Getragen ist diese Motivation von der Idee, dass unsere aktuelle<br />

Wissenskultur von Differenzierungsbewegungen gekennzeichnet ist.<br />

Hochspezialisierte Denkräume grenzen sich nicht zuletzt über Fachwissen und<br />

-sprache von ‹Breitenwissen› ab. Diese Abgrenzung wird kompensiert durch Integrationsverfahren,<br />

die jene Bestände dieser Spezialdiskurse in einem abgestuften<br />

Prozess in common sense-Artikulation überführt. 7 Insofern stellt der semiprofessionelle<br />

oder hobbyistisch motivierte Astronom einen herausgehobenen Akteur<br />

in der Zirkulation von Wissen dar. 8<br />

Im Folgenden möchte ich daher anhand der Berichterstattung der für diese<br />

Zielgruppe relevanten Zeitung Sterne und Weltraum über den Mars vor allem auf<br />

die Auseinandersetzung über die Herstellung von Sichtbarkeit, die visuellen<br />

Hilfsmittel zu Beobachtung und zum Status des eigenen Sehens fokussieren. 9 Mit<br />

den Mitteln der Diskursanalyse sollen dabei Artikel über den Mars aus dem Zeitraum<br />

von 1965–2006 untersucht werden. 10 Es sind zwei wesentliche Fokussierungen,<br />

die in dieser Analyse untersucht werden sollen: Zum einen geht es darum<br />

nachzuvollziehen, wie paradigmatische Wissenskonstellationen das Sehen<br />

prägen und zum anderen, wie technisch-apparative Formen dieses Sehen ausformen.<br />

Eine ad hoc Vermutung wäre dabei sicherlich, dass die Einführung apparativer<br />

und hochtechnologischer Praktiken in die professionelle Astronomie die<br />

Amateurastronomie zusehends abkoppelt und zurücklässt. Man erwartet, dass<br />

ein Zitat wie das folgende einen paradigmatischen Punkt innerhalb eines solchen<br />

Diskurses markiert, der den Amateur zur randständigen Figur macht:<br />

Mit der Einführung von Raumsonden und anderen modernen Hilfsmitteln in die astronomische<br />

Forschung geht ein Kapitel klassischer Beobachtungsmethoden zu Ende. Das ‹Experiment›<br />

hat nun auch Einzug in diesen Zweig der Naturwissenschaft gehalten; herkömmliche<br />

visuelle und fotografische Beobachtungsmethoden sind nicht mehr ausschließlich<br />

Grundlagen der Planetografie. Der Amateur bedient sich ihrer noch, weil er<br />

keine anderen Hilfsmittel besitzt. [...] So ist auch die Ära der Marsbeobachtung, wie sie etwa<br />

von Schiaparelli begründet wurde, in unserer Zeit vorüber. 11<br />

Dem gegenüber soll die folgende Analyse zeigen, dass die Produktion eines Diskurses<br />

astronomischen Sehens und der Sichtbarkeit des Mars nicht so linear und<br />

im Sinne eines turns geschrieben werden kann. Mit dem Übergang vom analogen<br />

105


Sehen zum digitalen Messen wird die professionelle Astronomie von einer beobachtenden<br />

Feldwissenschaft zu einer bildprozessierenden Laborwissenschaft<br />

und lässt die ‹analoge› Himmelsbetrachtung zu einer – in den Worten Karin<br />

Knorr-Cetinas – backyard-Disziplin werden. Michael Hagner unterscheidet im<br />

epistemologischen Prozess des Labors (in Anlehnung an den Levi-Strauss’schen<br />

bricoleur) den Typus des Ingenieurs und des Bastlers, um den Begriff einer science<br />

in action, einer ‹Wissenschaft im Machen›, zu etablieren – mithin einen höchst<br />

unscharfen und prozessualen Repräsentationsbegriff. 12 Diese Beschreibung erscheint<br />

mir für das Fortbestehen der ‹analogen› und beobachtungsgestützten<br />

Astronomie neben der digitalen Beobachtung eher angebracht als der leicht normative<br />

Begriff einer ‹Hinterhof›-Astronomie im Zusammenhang mit der Amateurund<br />

semiprofessionellen Himmelsbeobachtung. Gerade aber diese astronomy in<br />

action hat aber epistemologisch mehr zu bieten als eine Geschichte des apparativen<br />

Verlusts oder einer Deklassierung des Nicht-Spezialisierten.<br />

Den Mars ansehen, den Mars zeichnen<br />

Diese Ausgangsposition bestimmt die Analyse des Materials: Auch wenn im untersuchten<br />

Material die Exploration des Mars mit bloßem Auge keine Rolle mehr<br />

spielt, so ist doch die (Amateur-) Astronomie zunächst eine Wissenschaft der Beobachtung<br />

und der zeichnerischen Niederlegung. Alles beginnt mit der Zeichnung,<br />

und die Zeichnung begleitet die Erkundung der Sterne. Die Beobachtung wird nur<br />

durch die Niederlegung und Speicherung intersubjektivierbar. Noch vor dem Fernrohr<br />

ist die Beobachtung mit dem Auge das Instrument der Produktion von Wissen.<br />

Dem Auge beigegeben ist die zeichnende Hand, also die Fixierung des Gesehenen<br />

zur Speicherung, Zirkulation und zur potentiellen Überprüfung und Verifikation<br />

gegenüber Dritten. Gleichzeitig ist die Frage nach der Zeichnung der Astronomie<br />

auch immer eine Verhandlung darüber, ob die Zeichnung eine Stillstellung einer<br />

singulären und subjektiven Beobachtung sein sollte, die naturgemäß dann<br />

auch nicht mehr verifizierbar ist, oder ob es sich bei einer Zeichnung um die Zusammenführung<br />

eines möglichst breiten Samples paralleler Beobachtungen handeln<br />

sollte, die weniger den Anschauungseindruckfesthalten, sondern vielmehr an<br />

der Objektivierung und Verifikation der Beobachtung arbeiten soll. Noch vor der<br />

Frage nach dem Technischen und Apparativen steht also in der Astronomie die Frage<br />

nach dem beobachtenden Subjekt und der Tragfähigkeit des beobachtenden Auges<br />

als Instanz der Wissenschaftlichkeit. Wo die professionelle Astronomie heutzutage<br />

längst auf hochtechnisch erzeugte Daten und Abstrakta zurückgreift, da<br />

zeichnet der Amateur ‹immer noch›. Damit aber ist er keineswegs defizitär, sondern<br />

weitaus stärker in eine permanente Auseinandersetzung um den Status der<br />

Niederlegung von Erkenntnisobjekten eingebunden. Der Amateur muss sich anhand<br />

seiner Zeichnung und später seines Fotos weitaus stärker mit der Fragestellung<br />

nach der Leistungsfähigkeit des Auges und dem interpretatorischen Moment<br />

der stillstellenden Niederlegung auseinandersetzen.<br />

Die Untersuchung des Materials setzt an dieser Stelle ein: Ein erstes Analyseraster<br />

entsteht aus der Annahme, dass mit den frühen Mars-Missionen (den Mariner-<br />

Sonden) eine Verschiebung des Beobachtungsstatus einsetzt, der zu signifikanten<br />

Veränderungen der Diskursformationen über den Status der Beobachtung und des<br />

Sehens führen müsste. Die Frage wäre also auch, ob mit den ‹neuen› Bildformen eine<br />

spezifische Form der Stillstellung auftaucht. Angesichts des in wenigen Monaten<br />

106 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />

1 Normblatt Beobachtung, aus: Sterne und Weltraum, 2003.<br />

erwarteten Ergebnisses der Mariner IV-Mission weist ein ausführlicher Artikel in<br />

der Märzausgabe von 1965 Sterne und Weltraum auf die Relevanz des Mars für die<br />

Amateurbeobachtung hin: Der Mars wird, so die Annahme, durch seine Erdnähe<br />

auch künftig ein ergiebiges Objekt für die erdgebundenen Beobachtung darstellen.<br />

Der Artikel ist aber zugleich als Aufforderung zur Selbstdisziplin in der Beobachtung<br />

zu lesen. Aus diversen Lehrbeispielen der Missinterpretation und Fehlbeobachtung<br />

soll der Amateur die Konsequenz der sorgfältigen Überprüfung der<br />

eigenen Beobachtung ableiten. Es zeichnet sich eine Art der institutionellen Einübung<br />

von Repräsentationsordnungen ab. In einem zweiten Argument des Artikels<br />

werden dann diese Beobachtungen als forschungsrelevant charakterisiert,<br />

welche die astronomische Tätigkeit von zeichnender Beobachtung angesichts<br />

der zu erwartenden Ergebnisse der Sondenerkundung rechtfertigen:<br />

Daneben werden aber die bisherigen Forschungen weiter laufen, auch die gute alte visuelle<br />

Beobachtung mit dem Okular. Und hier bietet sich für den ernsthaften Amateur immer<br />

noch ein lohnendes Betätigungsfeld. Man darf nur nicht erwarten, dass ein paar<br />

Zeichnungen schon sensationelle Ergebnisse liefern. Die visuelle Beobachtung befasst<br />

sich heute vor allem mit den Veränderungen des Marsbildes, und dazu gehören vornehmlich<br />

die atmosphärischen Vorgänge [...]. Notwendig dazu sind vor allem Übung im teleskopischen<br />

Sehen und in der zeichnerischen Darstellung sowie möglichst langjährige<br />

und lückenlose Beobachtungsreihen. 13<br />

Dieser paradigmatische Verweis im Zeichen der Wende in der Mars-Astronomie<br />

angesichts des wenige Monate später erfolgenden ersten Sondenüberflugs über<br />

den roten Planeten markiert eine über Jahre hinweg vertretene Position innerhalb<br />

der Sterne und Weltraum. Der Amateur ist als Beobachtungshelfer der Sondenfernerkundung<br />

mit der Aufgabe betraut, vermittels sorgfältiger und möglichst<br />

objektiver Beobachtung und zeichnerischen Niederlegung vor allem ephemere<br />

Phänomene des Mars zu beobachten und zu sammeln.<br />

Gerade die wiederkehrenden Mars-Oppositionen, in jenen der Mars höchste<br />

Erdnähe erreicht und zur detailreichen Beobachtung einläuft, bieten in den folgenden<br />

Jahren auch immer wieder Anlässe zur Sammlung und Zusammenführung<br />

von Amateurbeobachtungen. Die Institution Sterne und Weltraum zeigt sich<br />

also nicht nur als ein ‹hierarchischer Ort›, in dem die Gültigkeiten von Repräsentationsordnungen<br />

verhandelt werden, sondern auch als ein ‹Labor› im eingeführten<br />

Sinne, als es sich bei dem um und in der Zeitung geführten Diskurs generell<br />

um eine ‹Aushandlung des Wissbaren› handelt. Diese Aushandlung ist eine Ver-<br />

107


108 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> handlung, in der vom Amateurastronomen über die Mitarbeiter, Redakteure und<br />

Gastreferenten der Zeitung bis hin zum ‹Profiastronomen› ein weites Feld von<br />

Stimmen und Aussagepraktiken zusammen finden.<br />

3.2009<br />

14<br />

Damit schreibt sich auch eine ‹Instanzenfolge› fest, die für die nächsten fünfzehn<br />

Jahre der Berichterstattung über die Oppositionen stabil bleibt: Der Amateur<br />

beobachtet sorgfältig und unter beständiger Supervision des ‹Labors› Sterne und<br />

Weltraum. Er sendet seine Zeichnungen und später auch Fotografien an Sterne und<br />

Weltraum, wo Einzelbeobachtungen zusammengeführt und auswertet werden.<br />

Unausgesprochen ist also der Garant einer ‹Objektivität› der Beobachtung, die statistische<br />

Nivellierung (der massenhafte Vergleich der Beobachtungen), die Selektion<br />

durch eine Instanz (der auswertende Autor von Sterne und Weltraum) unddie<br />

Relevanz des Untersuchungsobjekts durch seinen ephemeren Status gegeben.<br />

Erst die Viking I-Mission leitet eine Wende ein, die die Berichterstattung verschiebt.<br />

Am 20. Juli 1976 landet Viking I auf dem Mars, während der zugehörige<br />

Orbiter kontinuierlich Überflugdaten an die Erde sendet. Als am 7. August 1980<br />

der Orbiter abgeschaltet wird, hatte er über 37 000 Fotos des Mars übertragen.<br />

Das Argument der nicht-kontinuierlichen Beobachtung des Mars durch die Sondenmissionen<br />

war aufgehoben. Insofern <strong>berichte</strong>t Sterne und Weltraum in einem<br />

neuen Tenor: Zwar werden weiterhin die eingesandten Zeichnungen und Beobachtungsergebnisse<br />

ausgewertet und verglichen; die Motivation des Amateurastronomen<br />

wird aber hier erstmals nur noch als ‹Vergnügen› charakterisiert:<br />

Wenngleich diese Resultate im Zeitalter der Planetensonden keine wissenschaftliche Effekte<br />

mehr zu erreichen vermögen, so zählt hier in erster Linie die Begeisterung zu einem<br />

interessanten Hobby, die den Sternenfreund an ein kleines Fernrohr führt. 15<br />

Diese Suspendierung des Amateurs bleibt allerdings singulär. Bereits zwei Jahre<br />

später beginnt wiederum eine Neubewertung. 16 Anlässlich eines nochmaligen<br />

Vergleichs von eingereichten Mars-Zeichnungen kehrt die Diskussion um die potenzielle<br />

Normierung der Beobachtungsniederschreibung als Zeichnungen unterschwellig<br />

zurück, legitimiert aber allein schon durch die Wiederaufnahme der<br />

Zeichnungsexegese das Verfahren prinzipiell. Für diese Rücknahme der noch<br />

kurz zuvor ausgerufenen melancholischen Abkehr des wissenschaftlichen Werts<br />

der Amateurbeobachtung sorgen die bei der Mars-Opposition von 1982 entstandenen<br />

ersten Amateurfotografien des Mars, die nun als mögliches Korrektiv der<br />

parallel entstandenen Zeichnung diskutiert werden. 17 Und so ist es auch hier das<br />

Moment der Beobachtung des Ephemeren, das als potenziell nutzbringende Aufgabe<br />

des Amateurs gewertet wird. Die Beobachtung der Mars-Atmosphäre, von<br />

Wolken und Farben, Staubstürmen und Polkappenschmelze, sowie die möglichst<br />

kontinuierliche Auswertung der Dynamik dieser Phänomene in Zeichnungen,<br />

Karten, Diagrammen und ersten Fotos stehen im Zentrum der Diskussion.<br />

Bis 1990 konsolidiert sich somit ein ‹Forschungsauftrag des Amateurastronomen›,<br />

der sich in ein institutionelles ‹Marswatch-Programm› verfestigt, das die<br />

Wichtigkeit der teleskopischen Amateur- und Profibeobachtungen sowie der Kartierung<br />

und Niederlegung des beobachteten Ephemeren betont, solange es noch<br />

keine kontinuierlichen Daten von den Fernerkundungssonden gibt. 18 Es ist hier<br />

immer noch vorrangig die Zeichnung oder Skizze, die als Niederlegung der Beobachtungsleistung<br />

verhandelt wird, da sich die Amateur-Sternenfotografie bis zu<br />

diesem Zeitpunkt noch nicht soweit technisch vervollkommnet hat, dass sie als<br />

ebenbürtig zur Zeichnung gewertet wird.


Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />

Fernrohr als Prothese: Beobachtungsproblematik<br />

Als zweites Analyseraster sollen die Berichterstattungen der ausgewerteten<br />

Quellen nun nach der Wiedergabe klassischer wissenschaftlicher Paradigmen<br />

und Methoden befragt werden, die sich im weitesten Sinne um das Paradigma<br />

der ‹Erkenntnis durch Beobachtung› gruppieren. Dabei soll nun der Schwerpunkt<br />

der Auswertung auf dem Gebrauch des Teleskops liegen. Das Teleskop stellt in<br />

diesem Zusammenhang eine Technikdar, die nützlichen Bilder in den Laboren<br />

herstellt und als ‹Sehhilfe› im Sinne Noëll Carolls zu verstehen wäre. Ebenso wie<br />

das Mikroskop oder das Fernglas sind die apparativen Formen der Astronomie als<br />

»referenzielle Prothesen« zu begreifen. 19 Von entscheidendem Interesse ist im<br />

Falle der Astronomie aber, dass sich hier ab einem bestimmten Punkt unterschiedliche<br />

technische Formen solcher Sehhilfen zu hybridisieren scheinen. Dem<br />

astronomischen Teleskop als Externalisierung des Auges wird im Zuge der sich<br />

weiter entwickelnden Astronomie die Fotografie als Speichertechnologie beigegeben.<br />

20 Zunächst aber soll die Konstellation des ‹Fernrohrs als referentielle Prothese›<br />

als eine Erweiterung des (Amateur-) Sehens im Vordergrund der diskursiven<br />

Spurensuche stehen. Dabei ist es vor allem das Verhältnis des Sehens oder<br />

Blickes und dem Instrument, das hierbei signifikant ist. So wenig wie sich nun<br />

das Paradigma der Erkenntnis durch Beobachtung verändert, so sehr verändert<br />

sich die Technikund apparative Technologie der Astronomie.<br />

Inwieweit spiegelt sich aber der Vorgang des teleskopischen Sehens in Abgrenzung<br />

vom ‹Augensehen› in der Berichterstattung von Sterne und Weltraum?<br />

Zunächst darin, dass dem Vorgang des subjektiven und individuellen Sehens immer<br />

wieder ein objektivierender Zusammenhang des Vergleichs zur Verifikation<br />

an die Seite gestellt wird. Bei der Auswertung der Mars-Opposition von 1967<br />

wird beispielsweise auch von «diversen Zeugenschaften unterschiedlicher Beobachter»<br />

gesprochen und ein großes Ungleichgewicht der Beobachtungen konstatiert.<br />

21 In der Reflexion des Verfahrens der Auswertung gemeinschaftlicher Beobachtungsergebnisse<br />

heißt es dann auch:<br />

Sicher ergibt sich aus derartigen synoptischen Erhebungen erst eine wirkliche Beurteilung<br />

von Gesamtvorgängen auf unserem Nachbarplaneten. Nur in einer ‹Massenverarbeitung›<br />

von Daten kommt eigentlich einer einzelne Marsbeobachtung ihre Bedeutung zu. 22<br />

Signifikanter ist aber eine fast durchgängige diskursive Strategie, die sich schon<br />

in der Auswertung des Diskursstranges des ‹Sehens und Zeichens› angedeutet<br />

hat: die Legitimationsfrage des Amateur-Tuns selber. Kann im Zusammenhang<br />

mit Zeichnung und Beobachtung mit dem wiederholten Verweis auf das Ephemere<br />

noch eine Legitimation des Amateurs gewonnen werden, so ist dies im engen<br />

Bezug auf das Teleskop selbst kaum mehr möglich. Zu übermächtig ist der ‹Sehvorteil›<br />

der Profisternwarten und vor allem der Sonden. Somit ist es auch die Berichterstattung<br />

über diese Beobachtungsergebnisse, die Darlegungen der Sterne<br />

und Weltraum ab Mitte der 1960er Jahre maßgeblich prägen: die Berichterstattung<br />

über das teleskopisch-prothetische Sehen der ‹Anderen› und die Suspension<br />

des eigenen, defizitären prothetischen Sehens – wie es sich auch in dem oben angeführten<br />

und titelgebenden Zitat aus Sterne und Weltraum andeutet. 23<br />

Angesichts der Mariner IV-Bilder konstatiert Sterne und Weltraum bereits<br />

1969 «Oberflächendetails [...], welche vom Erdboden aus auch mit den besten Teleskopen<br />

nicht hätten gefunden werden können». 24 Im selben Artikel findet aber<br />

auch die Radarastronomie im Bezug auf Mars eine ihrer ersten Erwähnungen.<br />

109


110 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Dies ist der dritte Strang im Diskursmuster des prothetischen Sehens, der vielleicht<br />

am maßgeblichsten zur Suspension des Amateurfernrohrs führt: Die Tatsache,<br />

dass die Astronomie mit Beginn der Fernerkundung auf Messtechniken und<br />

Verfahren jenseits des Optisch-Sichtbaren umschwenkt, die sich nicht zuletzt<br />

aufgrund der wissenschaftliche Komplexität und der hohen Kompetenz in Einsatz<br />

und Auswertung dem Amateur entziehen.<br />

3.2009<br />

25<br />

Mit der Einführung von Raumsonden und anderen modernen Hilfsmitteln in die astronomische<br />

Forschung geht ein Kapitel klassischer Beobachtungsmethoden zu Ende. Das ‹Experiment›<br />

hat nun auch Einzug in diesen Zweig der Naturwissenschaft gehalten; herkömmliche<br />

visuelle und fotografische Beobachtungsmethoden sind nicht mehr ausschließlich<br />

Grundlagen der Planetografie. Der Amateur bedient sich ihrer noch, weil er<br />

keine anderen Hilfsmittel besitzt. Er hat viel durch sie beigetragen und kann es in gewissem<br />

Umfang weiter tun [...] So ist auch die Ära der Marsbeobachtung, wie sie etwa von<br />

Schiaparelli begründet wurde, in unserer Zeit vorüber. 26<br />

Der Sinn und Zweckder «amateurmäßigen Planetenbeobachtung» scheint also<br />

primär motiviert durch «eigene Freude»; die eingeforderte wissenschaftliche Exaktheit<br />

scheint Mitte der 60er Jahre mehr an Selbstdisziplin zu appellieren denn<br />

als Verifikationsstrategien zu fungieren. 27<br />

Eine in dieser Weise nach Möglichkeit lückenlos durchgeführte Beobachtungsreihe stellt<br />

dann nicht nur einen persönlichen ideellen Gewinn und vielleicht auch einen willkommenen<br />

Ausgleich zur oftmals eintönigen beruflichen Tätigkeit dar, sondern kann auch<br />

durchaus einmal als Quellmaterial für eine wissenschaftliche Untersuchung herangezogen<br />

werden. 28<br />

Dementsprechend scheint auch der Punkt erreicht, mit dem das Projekt einer gemeinschaftlichen<br />

Basis der Amateurbeobachtung im Vergleich anlässlich der<br />

massenhaften Beobachtungen bei Oppositionen grundsätzlich zu Ende gehen<br />

müsste: Anlässlich der Auswertung der Opposition von 1971 klingt an, dass dies<br />

die letzte Zusammenfassung der diversen Amateurbeobachtungen sei.<br />

Man könnte an dieser Stelle von einem ‹Mariner IV-Schock› der teleskopischen<br />

Amateurbeobachtung sprechen. Dieser scheint sich erst um 1975 mit den nächsten<br />

Bildern vom Mars, übermittelt durch die folgenden Mariner- und Viking-Missionen<br />

sowie durch die erst zu diesem Zeitpunkt vollständig zugänglichen Ergebnisse der<br />

sowjetischen Mars-Missionen aufzuheben. Zu diesem Zeitpunkt wird klar, dass der<br />

augenscheinliche Eindruck, den die ersten Bilder von Mariner IV–VIII vermitteln,<br />

nämlich den einer verkraterten und mondähnlichen Mars-Oberfläche, trügt. Die ersten<br />

Mariner-Missionen hatten bis dato nur die Südhemisphäre fotografiert, die in<br />

der Tat starkverkratert ist. Mit den folgenden Bildern von Mariner IX wird aber diese<br />

Hypothese grundlegend revidiert. In der Berichterstattung setzt nun die Erkenntnis<br />

ein, dass die Interpretation angesichts der als omnipotent erlebten Sondenerkundung<br />

aus der laborativ selbst intendierten Annahme der Augenscheinlichkeit erwächst.<br />

29 Der Mars ist nicht mondähnlich, weil 22 Bilder dies suggerieren. Die Beobachtung<br />

und Auswertung des Mars mit Sonden scheint den gleichen Problemen ausgesetzt,<br />

mit dem auch der teleskopierende Amateur und sein Fachblatt zu kämpfen<br />

haben. Und insofern rehabilitiert sich die ‹prothetische› Technikdes Amateurs vor<br />

dem Hintergrund der Entzauberung der ‹professionellen› Technologie des Sehens.<br />

Hier sind es nun vor allem zwei weitere Techniken der prothetischen Astronomie,<br />

die dem Amateur zur Verfügung gestellt werden: zunächst die Sternenfotografie –<br />

dazu gleich mehr – und die elektronische Datenauswertung im weiteren Sinne.


Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />

In einem Artikel über neue Karten und Globen des Mars und seines Mondes<br />

Phobos vergleicht die Redaktion einen Mars-Globus von 1928 mit dem aktuellen<br />

teleskopischen Beobachtungsstand:<br />

Es wird dann deutlich, dass mit visuellen und erdgebundenen fotografischen Beobachtungen<br />

seither keine wesentlichen Fortschritte in der Marskartografie zu erzielen waren.<br />

Dieser tote Punkt ist erst durch die Anwendung elektronischer Hilfsmittel, durch Radaruntersuchungen<br />

und Fernsehübertragungen aus dem Weltraum überwunden worden. 30<br />

Auch wenn hier noch einmal paradigmatisch das Ende der teleskopischen Beobachtung<br />

ausgerufen wird, so ist der Artikel insofern von einem gewissen Interesse,<br />

als er in einer großen Ausführlichkeit den komplexen Prozess der Herstellung<br />

von Karten und Globen aus beobachtungsgebundenen, langwierigen Transformationsprozessen<br />

von Messdaten in Karten beschreibt: Störungen beseitigen, Kontrast<br />

verstärken, Umarbeitung in Senkrechtprojektionen, Schattenwurf einarbeiten<br />

etc. Damit läutet der Artikel aber eine Wende oder Renaissance des Amateurs<br />

und seiner Seh-Prothese ein. Denn es ist nun weniger das Teleskop und das teleskopische<br />

Sehen, wodurch der Amateur mit einer professionellen Astronomie<br />

konkurriert, sondern die Ebene der technischen Bildherstellung als Genese. Deutlich<br />

wird dies in einem signifikanten Artikel in Sterne und Weltraum über den Versuch,<br />

eine EDV-unterstützte Oberflächenkarte herzustellen – das Projekt Mars. 31<br />

Digitales Sehen<br />

Ausgangspunkt ist hierbei die Position, dass die technische aufgerüstete und verbesserte<br />

teleskopische Beobachtung nicht nur das Ephemere beobachten, sondern<br />

auch Oberflächenstrukturen wahrnehmen könne. Daher ist es möglich, aus<br />

den Beobachtungen der Opposition in diesem Falle von 1988 eine Oberflächenkarte<br />

zu synthetisieren. Dabei dient aber nun nicht mehr ein ‹Kompositverfahren›<br />

oder eine synoptische Zusammenführung einzelner Beobachtungsblätter als<br />

Verfahren. Vielmehr hilft die Technikder zwischenzeitlich etablierten CCD-Fotografie<br />

und der neuen Bildverarbeitungstechnikam heimischen Computer bei der<br />

Konturierung einer Renaissance der Astronomie des Amateurs. 32 Der Status der<br />

Amateurastronomie tritt hier wieder in ein technisch-prothetisches Feld ein, das<br />

als Kompensation des Verlustes der Legitimation des Tuns jenseits der ‹Freizeitunterhaltung›<br />

genutzt wird. Das ‹Basteln› des Amateurbeobachters schwankt<br />

hier zwischen den Polen des Defizitären des eigenen Sehens und den aneignenden<br />

Formen des Nachvollzugs ‹ernsthafter› Wissenschaften:<br />

Insgesamt wurde das Ziel, die gesamte erreichbare Marsoberfläche zu kartografieren, zufriedenstellend<br />

erreicht. Der Versuch, die beim Zeichnen entstandenen Positionsfehler<br />

auszugleichen, war wenig erfolgreich, da sich der unterschiedliche subjektive Eindruck<br />

von ein und derselben Marsgegend bei unabhängigen visuellen Beobachtungen durch zu<br />

große Unterschiede in den Zeichnungen niederschlägt. 33<br />

Hier deutet sich schon an, dass der Diskurs des Bildes vom Mars für den Amateur<br />

kein in sich geschlossenes Feld bildet, sondern eine weit mäandrierende Form<br />

unterschiedlichster Repräsentationsordnungen, Techniken, Apparate, Sehformen,<br />

Bildgebungen und vor allem immer wieder Verhandlungen der Selbstbeteiligung<br />

an den jeweiligen Diskurs-Partikeln. Der Mars als Objekt des Ansehens<br />

und Erkennens schlägt sich nicht in einem eindeutigen Repräsentationszusammenhang<br />

nieder, sondern vielmehr in einer mäandrierenden Form zirkulierender<br />

Referenz, in der sich zwischen Objekt Mars und betrachtendem Subjekt eine Rei-<br />

111


112 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> he von Techniken, Formen und Handlungen ‹kaskadisch› anordnen – und dabei<br />

ein heterogenes Diskursfeld bilden.<br />

Die Verschiebung wird im zeitlichen Voranschreiten der Berichterstattung<br />

noch deutlicher. Die Beobachtung ist keine unmittelbare Erfahrung mehr, sondern<br />

wird zu einer aufgeschobenen Perzeption, einer Erfahrung des Sichtbaren aus<br />

zweiter Hand. Visualisierung findet für den Amateur in einer ‹externen Instanz›<br />

statt; die Bilder und Daten der Sonden und Orbiter sind es nun, die gespeichert<br />

und konfektioniert das Erleben der Teilhabe am Erkenntnisobjekt darstellen. Angesichts<br />

der Veröffentlichung einer digitale Mars-Karte auf CD-ROM heißt es beispielsweise:<br />

«Dem interessierten Amateur werden die Planeten und ihre Monde<br />

auf eine völlig neue Art zugänglich.»<br />

3.2009<br />

34 Und weiter:<br />

Stellen Sie sich vor, Sie könnten auf Ihrem Computer mühelos Bilder jeder gewünschten<br />

Region des Planeten Mars abrufen! Innerhalb von Sekunden wäre der Blick frei auf die<br />

Gipfelcaldera des Olympus Mons oder die Abgründe des riesenhaften Vallis Marineris [...]<br />

Wunschdenken? Seit kurzer Zeit nicht mehr! [...] Da mittlerweile viele zehntausende von<br />

Einzelaufnahmen der verschiedenen Missionen vorliegen, ist es praktisch undenkbar, sie<br />

in gedruckter Form zu verbreiten. 35<br />

Das teilhabende, prothetische Sehen wird ersetzt durch eine Mittelbarkeit der Erfahrung,<br />

wobei der Tenor des zitierten Artikels darauf abzielt, die Erfahrung der<br />

Bildbetrachtung als ähnlich erlebnisintensiv darzustellen wie die eigene teleskopische<br />

Observation. Nicht also die Funktion der Speicherung oder die Übernahme<br />

eines ‹fremden› Blicks wird thematisiert, sondern die Kompensation des eigenen<br />

Sehens durch die Übernahme eines als ‹analog› suggerierten visuellen Erlebens.<br />

Die anklingende Frage nach der Bearbeitung der Bilddaten also einer potenziellen<br />

‹Referenzstörung› wird an dieser Stelle nur exkursiv angedeutet. Im Vordergrund<br />

steht vielmehr die Herstellung eines möglichst ungebrochenen Wegs der Übermittlung<br />

der Daten von der Quelle zum Amateur, sozusagen direkt ab Viking.<br />

Ganz offensichtlich eröffnen sich dankder Verbreitung leistungsfähiger PCs und MACs<br />

mit CD-ROM-Laufwerkauch für astronomisch Interessierte völlig neue Welten. Bei<br />

schlechtem Wetter machen wir uns auf zur persönlichen Erforschung der Planeten. Als<br />

Grundlage dienen uns dabei nichts weniger als die Originaldaten der Planetensonden! 36<br />

Zur Kompensation des prothetischen Sehens kommt hier also noch die Teilhabe<br />

an der Auswertung und Bearbeitung des nur mittelbar Gesehenen. Der Verlust<br />

der vorgeblichen Unmittelbarkeit des teilhabenden Sehens wird also durch eine<br />

Position des performanten Handelns ausgeglichen.<br />

Ganz ‹zu sich› findet diese Kompensation beispielsweise im Projekt Clickworker,<br />

über das Sterne und Weltraum im Jahr 2001 <strong>berichte</strong>t. Hier wird der Astronomie-Laie<br />

von der NASA zur Bearbeitung und Auswertung von Viking-Bildmaterial<br />

rekrutiert:<br />

Hier markiert der Laienforscher per Mausklick alle erkennbaren Krater – daher die Bezeichnung<br />

clickworker. Fortgeschrittene können sich dann an der Klassifizierung der Einschlagbecken<br />

versuchen. [...] Zur Sicherheit vergeben die NASA-Forscher ein Gebiet an<br />

mehrere clickworker und vergleichen anschließend die Ergebnisse. 37<br />

Wenn also der Status der prothetischen-teleskopischen Beobachtung sich durch<br />

die Suspendierung des Werkzeuges selbst vollzieht, wenn also die Sonde das Teleskop<br />

endgültig zur ‹Freizeitunterhaltung› degradiert, dann reagiert der Diskurs<br />

der Amateurbeobachtung durch die Verlagerung seiner Wissensproduktion an<br />

andere Formen der nachvollziehbaren Bilderherstellung. Ganz im Sinne der von


Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />

2 Screenshot Projekt Clickworker.<br />

Hagner vorgeschlagenen bricolage-Form einer science in action treffen wir hier<br />

auf Formen des Umgangs mit Technik und Prothese, die das Erkenntnisobjekt-Sehen<br />

für den Amateur erhalten und legitimieren. Das ‹bastelnde Labor› produziert<br />

im Bezug auf die Verhandlung der Repräsentationsordnung Formen der Aneignung.<br />

Die aufgeschobene Unmittelbarkeit des Amateur-Sehens wird hier also erkennbar<br />

zu einer variabel produzierbaren Handlungsform.<br />

Fotografie als technische Sichtbarkeitsproblematik<br />

Der Zusammenhang von prothetischem Sehen und einer Suggestion erfahrbarer<br />

Unmittelbarkeit verdichtet sich aber innerhalb der Materialdiskurse deutlich unter<br />

dem Diktum der Einführung der Fotografie in der (Amateur-) Astronomie. Fotografie<br />

muss als eines der technisch-medial-bildgebenden Verfahren gelten, das<br />

über seine kulturelle und technologische Einbindung stark an eine Diskussion<br />

der Unmittelbarkeit und Selbsteinschreibung der Natur gekoppelt ist und andererseits<br />

in Zusammenhang mit ihrer Digitalisierung ebenso sehr für eine Auseinandersetzung<br />

mit der Entreferenzialisierung von Bild- und Erkenntnisobjekt einsteht.<br />

Findet eine solche Wende nun aber auch im Amateurbereich statt? Vorweggenommen<br />

lässt sich konstatieren, dass die Fotografie auch im Amateurdiskurs ihren<br />

Niederschlag findet, allerdings nicht in dem paradigmatischen Maße wie zu<br />

erwarten wäre. Die Fotografie wird hier vorrangig unter zwei Fokussierungen<br />

thematisiert: einerseits als ‹Ersatz› und ‹Verbesserung› des teleskopischen Sehens<br />

und andererseits als Möglichkeit für den Amateur, sich wiederum ‹bastelnd›<br />

seinem Gegenstand zu nähern. Hier geht es in der Tat und fast buchstäblich um<br />

die Problematikder Stillstellung: Wie lässt sich das beobachtete Objekt technisch<br />

so fixieren, dass die Stillstellung einen signifikanten Mehrwert der Erkenntnis im<br />

Vergleich zu Skizze oder Auge erwirtschaftet? Hier ist es aber vor allem die digitale<br />

Fotografie, die diese Thematisierungen anregt. Die analoge, emulsionsge-<br />

113


114 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> stützte Fotografie bleibt in Sterne und Weltraum vermutlich nicht zuletzt aufgrund<br />

der kostenintensiven und schwierig zu beherrschenden Umsetzung und<br />

Anwendung vergleichsweise unterrepräsentiert.<br />

Weitaus stärker wird die Fotografie jedoch als bildgebendes und technisches<br />

Verfahren der Herstellung einer entreferenzialisierten Bilderschrift fokussiert.<br />

Hier ist es der Umweg über die intensive Beschäftigung mit den bildgebenden<br />

Verfahren der Sondenfernerkundung, die das Feld bereitet für einen überraschend<br />

abgeklärten Umgang mit technisch-digitalen Verfahren astronomischer<br />

Bildgenerierung auch im eigenen Handeln.<br />

Im untersuchten Amateurdiskurs hält die Sternenfotografie um 1970 herum<br />

ihren Einzug: Sterne und Weltraum <strong>berichte</strong>t beispielsweise in einer kurzen Notiz,<br />

dass die fotografische Beobachtung für Amateure jetzt auf der Basis technischer<br />

Verbesserungen und verbilligter Materialien an die professionelle Astronomie<br />

heranreicht.<br />

3.2009<br />

38 Eine Steigerung in der Lichtempfindlichkeit und Körnung der verwandten<br />

Emulsionen führt dann anlässlich der Auswertung der Mars-Opposition<br />

1971, bei der erstmals nicht nur Beobachtungszeichnungen sondern auch Fotografien<br />

eingesandt werden, in Sterne und Weltraum zu dem bereits zitierten Fazit:<br />

«Wer so fotografieren kann braucht nicht mehr zu beobachten!» 39<br />

Aber wie oben ausgeführt, wendet sich die Thematisierung nach dem ‹Schock›<br />

der 1970er Jahre zu einem moderateren Umgang mit den neuen Bedingungen<br />

und Formen des Amateursehens. Hier ist es vermutlich vor allem das Ausbleiben<br />

spektakulärer Amateurfotografien, die den Diskurs zurückkehren lassen. Der<br />

Amateur beobachtet und zeichnet weiter und beschäftigt sich dabei in der Exegese<br />

der Sondenbilder und der unterstützenden Beobachtung des Ephemeren. Dabei<br />

blendet sich aber das Argumentationsmuster der ‹Selbsteinschreibung der<br />

Natur› aus, nicht zuletzt, da dies auf der Basis der Qualität und erkennbaren technischen<br />

Genese der Sonden-‹Fotos› obsolet zu sein scheint.<br />

So ist die Berichterstattung von Sterne und Weltraum von Mitte der 1970er<br />

Jahre bis Anfang der 1990er Jahre geprägt durch ein wiederholtes Diskutieren<br />

der Möglichkeiten des Emulsionsfotos im Vergleich zur Beobachtungszeichnung<br />

und der Diskussion der technisch-bildgebenden Verfahren. Erst zu dem Zeitpunkt,<br />

an dem die digitale Fotografie des consumer-Bereichs einen für Astronomiefotografie<br />

‹brauchbaren› Status im Bezug auf Kosten, Lichtstärke, und Auflösung<br />

erreicht, beginnt ein Äußerungsdiskurs, der die digitale Fotografie als Alternative<br />

zur Emulsionsfotografie oder der Beobachtung diskutiert.<br />

Sterne und Weltraum postuliert 1994 paradigmatisch die der digitalen Bildgebung<br />

innewohnenden Vorteile. Schnellere Belichtungszeit, die Möglichkeit digitaler<br />

Nachbearbeitung oder die Rauschunterdrückung als Mittel der Bildverbesserung<br />

werden hier als Fortschritt gewürdigt. Gleichzeitig stellt der kurze Artikel<br />

jedoch heraus, dass «die gute alte Zeichnung» in der Beobachtung nicht ausgedient<br />

hat, aber «gewaltige Konkurrenz» bekommen habe. 40<br />

Anlässlich der Opposition von 1988 subsumiert Sterne und Weltraum die Möglichkeiten<br />

und Grenzen der Beobachtung:<br />

Während also visuelle Beobachter die Positionstreue von fotografien nie erreichen können,<br />

sind sie jedoch fähig, feinste Strukturen wahrzunehmen, die keine fotografie zeigen<br />

kann [...]. Die optimale Beobachtungsmethode ist die Kombination der Vorteile der fotografischen<br />

und der visuellen Methode. Amerikanische Sternenfreunde prägten hierfür<br />

den Begriff der ‹fotovisuellen Beobachtung›. 41


Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />

Sowohl die analoge als auch die digitale Fotografie führen sich im Berichterstattungskorpus<br />

von Sterne und Weltraum eher weniger als Formen der ‹Selbstaufzeichnung›<br />

ein. Vielmehr dienen sie als Kontrastfolie zur Beobachtung mittels<br />

Auge und Teleskop. Die analoge wie digitale Fotografie werden als arbitrarisierende<br />

Technologien eingeführt. Im Bezug auf die beginnende Digitalfotografie<br />

wird dies an zwei Punkten besonders deutlich. Zum einen in der parallel stattfindenden<br />

Diskussion der Möglichkeiten der digitalen Speicherung und zum anderen<br />

in der ausführlichen Diskussion der Verfahren und Funktionen ‹professioneller›,<br />

also hochtechnischer Systeme der astronomischen Spitzenforschung.<br />

Mitte der 1990er Jahre finden sich in Sterne und Weltraum mehrere Artikel, die<br />

sich paradigmatisch mit einerseits den Schwierigkeiten des Hubble-Projekts beschäftigen,<br />

andererseits mit der Technikder Digitalkameras in den Sonden. Anlass<br />

für die gesteigerte Beschäftigung mit der Kameratechnikder Sonden ist die<br />

zeitgleich stattfindende Entwicklung von Sondenkameras für Mars-Missionen<br />

durch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Neukum. Im Jahr<br />

1995 <strong>berichte</strong>t Sterne und Weltraum beispielsweise von einem Kameratest und<br />

stellt ausführlich dar, wie der CCD-Zeilenscanner funktioniert. 42 Wiederholt wird<br />

aber über Themenkomplexe wie ‹Zeilenabtastung› und ‹Datenkompression› auch<br />

der Produktionszusammenhang digitaler Bildgebung thematisiert und als technisch-progressive<br />

Leistung positiv konnotiert. Forciert könnte gefolgert werden,<br />

dass die Stillstellung des Beobachtungsobjekts über die Zeit eine im ‹Labor› Sterne<br />

und Weltraum herausgearbeitete Kontur erfährt, die sich dadurch charakterisieren<br />

lässt, das ein ‹Vor-Apparatives› in eine apparative mediale Form umwandelt<br />

wird. Die Material-Sematikdieser Inskription ist aber als eine Form der Kodierung<br />

zu begreifen, insofern die Repräsentationen als arbiträr verstanden werden;<br />

‹arbiträr› zumindest in dem Sinne, als dem handelnden Amateur deutlich ist,<br />

dass diese kontinuierliche Spur der Mars-Fotografie eine Niederlegung ist, die<br />

nicht dem subjektiven oder intersubjektiven direkten Kommunikationsakt entspringt,<br />

sondern einem nur mittelbaren Interagieren mit einem technisch-appartiven<br />

System des prothetischen Benennens.<br />

Die Sondenfotos verweisen zunächst unmittelbar auf die Sonde, dann nur<br />

mittelbar auf den Amateur, sein Handeln und Kommunizieren in einer laborativdiskursiven<br />

Eingebundenheit – sie verweisen jedoch nicht auf die Konzeption des<br />

Erkenntnisobjekts Mars in ontologischer Form. Somit entsteht hier eine Form der<br />

zirkulierenden Referenz, die sich der Ontologie entsagt und dennoch für eine bestimmte<br />

Form der Unmittelbarkeit der Erfahrung sorgt. Zu spekulieren wäre, ob<br />

und wieweit eine solche ‹Entontologisierung› professioneller digitaler Bilddatengenerierung<br />

ein Rückübertrag auf bildgebenden Verfahren für den Alltag jenseits<br />

des Labors vorgenommen wird.<br />

Fazit<br />

Wenn also ein ‹entreferenzialisierender› Entstehungszusammenhang der Bilder<br />

der Astronomie im Zusammenhang mit der Berichterstattung von Sterne und<br />

Weltraum kontinuierlich und signifikant thematisiert wird, wäre in einem letzten<br />

Schritt also nun zu reflektieren, welche Konsequenz der Amateur aus diesem<br />

Wissen ableitet. Folgt der Amateur dem Ideal der ‹Selbstelimination aus dem<br />

Bild›? Leitet er aus der Datengestütztheit und technisch-apparativen Herstellungslogik<br />

der Bilder ein Verdikt der ‹mechanischen Objektivität› bei gleichzeiti-<br />

115


ger Aufgabe des subjektiven Erkenntnisgewinns ab? Inwieweit ist ein Autor oder<br />

Enunziator in den technisch-apparativen Sehhilfen der Beobachtung des prothetischen<br />

Auges mit eingeschrieben?<br />

Um es vorwegzunehmen: Die Auswertung der Amateurzeitung Sterne und<br />

Weltraum ergibt ein signifikant anderes Bild. Der Amateur wendet sich nicht dem<br />

‹Ästhetisch-Schönen› zu, wie es die ‹professionelle› Astronomie tut – zumindest<br />

im Zuge eines wissenschaftspolitischen Gestus der Kommunikation nach außen.<br />

Ebenso wenig eliminiert der Amateur sich selbst aus dem Bild; im Gegenteil; er<br />

scheint danach zu streben, in einer Geste der appropriation ‹bastelnd› und die Innovationsdiskurse<br />

sorgfältig beobachtend und nachvollziehend sich selbst sein<br />

Labor, seine Sehnsucht ins Bild einzuschreiben. Ebenso wenig erliegt der Amateur<br />

der Versuchung einer Re-Ontologisierung der Bilder des Mars oder der Konstruktion<br />

einer visuellen Referenz der Verwechslung oder Naturalisierung der<br />

technischen Bildgebungsverfahren. Das Diktum des Amateurs ist das fast unveränderte<br />

Festhalten an der Herrschaft des beobachtenden Auges. Die Prothese des<br />

Teleskops ist das Diskursmuster, an dem sich die gesamte Reflexion der Mars-Observation<br />

nachzuvollziehen scheint.<br />

So verzeichnet der Amateurdiskurs sehr wohl den Moment, an dem sich die Beobachtungsleistung<br />

des Amateurs nicht mehr mit der ‹professionellen› und laborativen<br />

Astronomie vergleichen kann; er entdeckt aber immer neue Aufgaben und<br />

Aufträge, die eine Legitimation des eigenen Tuns sicherstellen. Der Amateur versichert<br />

sich also – prothetisch-sehend – seiner selbst. Das Erkenntnisobjekt Mars ist<br />

dabei, so könnte man forciert formulieren, nachgeordnet: Ich sehe – also bin ich.<br />

Der Amateur schreibt sich ins Bild ein, um im Bild zu sein. Der Mars als Erkenntnisobjekt<br />

liefert das Bild, wobei dem Amateur die Abbildung des Erkenntnisobjekts<br />

nur als Selbstbestätigung gilt. Woran aber liegt diese Abgeklärtheit des<br />

Amateurs? Die Zeitung Sterne und Weltraum selbst ist es, die das isolierte Amateursubjekt<br />

an den Vergleich des Gesehenen und visuell Niedergelegten adaptiert. Sie<br />

ist es aber auch, die das Subjekt des Amateurs immer wieder konstituiert. Die Geschichte<br />

des Amateurs, der den Mars beobachtet ist – durch die Brille von Sterne<br />

und Weltraum gelesen – auch eine Geschichte der Selbsteinschätzung.<br />

Die Abgeklärtheit kann aber weder aus dem Selbstbezug des Untersuchungsmaterials<br />

noch ausschließlich aus einem Muster der Selbstbestätigung und damit<br />

auch der selbstreferenziellen Funktion der Mars-Bilder für den Amateur erklärt<br />

werden. Es sind noch weitere Signifikanten zu benennen, die erklären helfen,<br />

warum der Amateur die technischen Visualisierungen unter Vorbehalt liest, also<br />

nicht dem Diktum einer Objektivierungsleistung verfällt, wie sie einerseits innerhalb<br />

der Astronomiegeschichte häufig anzutreffen sind (Galilei, Lowell) und andererseits<br />

wissenschaftshistorisch als epistemologische Figuren postuliert worden<br />

sind. 43 Viel konkreter rückt im Amateur-Diskurs immer wieder die Verhandlung<br />

einer Distanzierung zum Bildobjekt ins Zentrum. Dem Amateur scheint das<br />

Problem der ‹voreingenommene Betrachtung› und Analogisierung insofern bekannt,<br />

als es für ihn wesentlich stärker als für den ‹professionellen› Astronomen<br />

kein und nur schwach ausgeprägte Instanzen und Handlungsformen der mittelbar<br />

vergleichenden Verifikation oder Falsifikation des Gesehen gibt. Also muss<br />

sich der Amateur in einem sehr viel stärkeren Maße mit der Selbstkritik des Gesehenen<br />

auseinandersetzen, da ihm die enge und zeit<strong>kritische</strong> community des Labors<br />

abgeht und da ihm die technischen Verifikationsverfahren im Sinne einer<br />

116 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />

zeitlich der Beobachtung nahen Diskussion fehlen. Professionelle Interpretationsfehler<br />

aufgrund der Bildauswertung sind ihm Lehrstücke für das eigene Tun.<br />

Die Fehlinterpretationen beispielsweise angesichts der Mariner IV- Bilder zeigen<br />

dem Amateur nicht nur sinnfällig, dass die professionelle Beobachtung nicht in<br />

dem Maße omnipotent ist, wie es das technische Projekt Mars-Exploration suggeriert,<br />

sondern es ist ihm auch vor Augen geführt, dass das Evidente der Bilder<br />

nicht nur ihn selbst, sondern auch den Fachdiskurs zu verunsichern vermag.<br />

Subsumierend könnte sich also der Durchlauf durch die Berichterstattung aus<br />

und über die Amateurastronomie des Mars als ein zwar mäandrierendes und vielschichtiges,<br />

aber dennoch überraschend stabiles Argumentieren über einen entreferenzialisierten<br />

und ‹nicht-fotografischen/ontologischen› Diskurs zusammenfassen<br />

lassen, der zwar die Handlungen und Wirkungen einer Unmittelbarkeitserfahrung<br />

verhandelt, dabei aber die referenziell-repräsentativen bildlichen<br />

Objekte selbst ausklammert. Das Sehen und die Prothese rücken als Auseinandersetzungsobjekte<br />

an die Stelle des Fotos und der Beobachtung. Die Fragestellung,<br />

wie also wissenschaftliche Visualisierungsformen innerhalb eines Labors einen<br />

Gestus mechanischer und nicht intervenierender Objektivität im Bezug auf die<br />

Visualisierungstechnikgenerieren, kann am gewählte Beispiel zunächst nicht<br />

nachvollzogen werden. Nachvollziehbar wird hingegen, wie eine Verschiebung<br />

von Diskurstypen vonstatten geht, die den Amateur und seine Sehweisen selbst<br />

rechtfertigen.<br />

117


Anmerkungen<br />

1 Bruno Latour, «Zirkulierende Referenzen,<br />

Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas»,<br />

in: ders., Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen<br />

zur Wirklichkeit der Wissenschaft,<br />

Frankfurt am Main 2006, S. 36–96.<br />

2 Karin Knorr-Cetina, «‹Viskurse› der Physik:<br />

Konsensbildung und visuelle Darstellung«, in:<br />

Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung<br />

in wissenschaftlichen und virtuellen Welten,<br />

hg. v. Bettina Heintz u. Jörg Huber, Zürich<br />

2001, S. 305–320.<br />

3 Alex Soojung-Kim Pang, «Technologie und<br />

Ästhetikder Astrofotografie», in: Ordnungen der<br />

Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst<br />

und Technologie, hg. v. Peter Geimer, Frankfurt<br />

am Main 2006, S. 100–141.<br />

4 Lorraine Daston u. Peter Galison, «Das Bild<br />

der Objektivität», in: Ordnungen der Sichtbarkeit.<br />

Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie,<br />

hg. v. Peter Geimer, Frankfurt am Main<br />

2005, S. 29–99.<br />

5 Pang 2006 (wie Anm. 3), S. 100.<br />

6 Ebd.<br />

7 Diese theoretische Setzung geht von der<br />

Beobachtung aus, dass verschiedene Faktoren<br />

der Differenzierung unterschiedliche ‹Sprachformen›,<br />

Aussageformen und Wissenskomplexe<br />

prägen, bilden und stabilisieren. Eine solche<br />

Differenzierung setzt an einer Überzeugung an,<br />

moderne Gesellschaften durch funktionale Ausdifferenzierung<br />

charakterisiert zu betrachten,<br />

das heißt durch die Entwicklung abgrenzbarer<br />

und spezieller Praxis- und Wissensbereiche, die<br />

ihre jeweilig eigenen Aussagestrukturen in<br />

Form spezifischer Wissensdiskurse ausbilden,<br />

die dann durch Interdiskurse aneinander gekoppelt<br />

werden. «Die wichtigste Funktion solcher<br />

kulturellen Interdiskurse ist die Produktion und<br />

Bereitstellung von diskursverbindenden Elementen<br />

und mit deren Applikation die Produktion<br />

und Reproduktion kollektiver und individueller<br />

Subjektivität, die in hochgradig arbeitsteiligen<br />

und ausdifferenzierten Gesellschaften<br />

leben können, ohne ständig in verschiedenste<br />

Spezialisierungen und Professionalisierungen<br />

auseinander gerissen zu werden.» Rolf Parr u.<br />

Matthias Thiele, «Eine ‹vielgestalte Menge von<br />

Praktiken und Diskursen›. Zur Interdiskursivität<br />

und Televisualität von Paratexten des Fernsehens»,<br />

in: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen,<br />

hg. v. Klaus Kreimeier u. Georg Stanitzek,<br />

Berlin 2004, S. 261–282, hier S. 265.<br />

8 Der Begriff des ‹Amateurs› wird im Folgenden<br />

als relativer ad hoc Begriff Verwendung finden.<br />

Aus Platzgründen kann nicht die Geschichte<br />

der Amateure und Dilettanten entwickelt<br />

werden, die vor allem im 18. bis 20. Jahrhundert<br />

eine Konturierung epistemologischer Praktiken<br />

einleitet, die zum Verständnis des Diskur-<br />

ses sinnvoll wären. Vgl. Ulrike Bergermann,<br />

«Durchmusterung. Wieners Himmel», in: Archiv<br />

für Mediengeschichte, ‹Wolken›, hg. v. Lorenz Engell,<br />

Bernhardt Siegert u. Joseph Vogl, Weimar<br />

2005, Bd. 5, S. 81–92. Genauso wenig können<br />

Effekte und Praktiken einer aktuellen do it yourself-Kultur<br />

vertiefend reflektiert werden.<br />

9 «Zielgruppe: Sterne und Weltraum richtet<br />

sich an alle, die sich beruflich, während des<br />

Studiums oder als Hobby mit der astronomischen<br />

Forschung, dem Instrumentenbau und<br />

der Himmelsbeobachtung beschäftigen – gleich<br />

ob angehender Sternfreund, langjähriger Amateurastronom<br />

oder promovierter Wissenschaftler.»http://www.suw-online.de/statisch/mediadaten_suw.pdf,<br />

letzter Abruf 1. September<br />

2007. Den Mars als Beispiel für eine solche Untersuchung<br />

zu wählen, ist dabei dadurch motiviert,<br />

dass er sich als erdnaher Planet zur Beobachtung<br />

auch mit erschwinglichen Untersuchungstechniken<br />

anbietet und daher für den<br />

Amateur einen lohnenden Gegenstand darstellt.<br />

Ebenso ist der Mars als Untersuchungsgegenstand<br />

astronomiegeschichtlich starkaufgeladen.<br />

Vgl. William Sheehan, The Planet Mars<br />

– A History of Observation and Discovery, Tucson<br />

1996.<br />

10 Der Untersuchungszeitraum, innerhalb<br />

dessen alle Artikel, die den Mars unmittelbar<br />

oder mittelbar thematisieren ausgewertet wurden,<br />

markiert dabei den zweiten und dritten<br />

‹Schub› der Mars-Exploration. Geht man davon<br />

aus, dass die moderne Beschäftigung mit dem<br />

Mars in drei großen Wellen oder Schüben erfolgt<br />

– die teleskopische Beobachtung, die ersten<br />

Sondenvorbeiflüge (Mariner bis Viking)<br />

und schlussendlich die Phase der Erkundungsmissionen<br />

(Pathfinder, Mars Express) –, so<br />

deckt der Untersuchungszeitraum dabei die<br />

letzten beiden Phasen und vor allem den Moment<br />

innerhalb der Wissenschaftsgeschichte,<br />

an dem in der ‹Laborform› der Wissenschaft eine<br />

letzte große Paradigmenwende weg vom Sehen<br />

einsetzt: mit der Sondenfernerkundung<br />

und der Abwende von teleskopischen Beobachten<br />

hin zur Messwert-Auswertung und in Konsequenz<br />

zur theoretischen Astronomie. Als<br />

Kontrollpanel der Berichterstattung wurde eine<br />

Auswertung aller Berichte der professionellen<br />

Wissenschaftszeitung Nature vorgenommen,<br />

um im Vergleich zur Diskursproduktion des<br />

Amateurs auch eine Diskursproduktion des Profis<br />

rekonstruieren zu können – dieser Vergleich<br />

soll aber im vorliegenden Artikel nicht berücksichtigt<br />

werden.<br />

11 Sterne und Weltraum, 1972, Nr. 5, S. 133.<br />

12 Michael Hagner, «Zwei Anmerkungen zur<br />

Repräsentation in der Wissenschaftsgeschichte»,<br />

in: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung,<br />

Spur, hg. v. Hans-Jörg Rheinberger,<br />

Berlin 1997, S. 339–355, hier S. 341.<br />

118 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />

13 Sterne und Weltraum, 1965, Nr. 3, S. 59.<br />

14 Sterne und Weltraum versammelt in den<br />

Ausgaben 8 und 9 aus dem Jahr 1968 900 Marszeichnungen<br />

und Photografien aus dem Jahre<br />

1901-1967 die mit «hoher Beobachtungssorgfalt»<br />

erstellt wurden (ebd., S. 231), um statistische<br />

Auswertungen der wechselnden Verschleierung<br />

oder Vereisung der Polkappen aufzuarbeiten.<br />

Ausgabe 4 aus dem Jahr 1969 ruft,<br />

angesichts der Auswertung und Interpretation<br />

der Mariner IV-Fotos, nochmals im Bezug auf<br />

mögliche Kanalstrukturen zur Beobachtung<br />

und «Überwachung» (ebd., S. 90) dieser Strukturen<br />

bei der nächster Opposition auf. In der Berichterstattung<br />

über die Beobachtungsergebnisse<br />

der Opposition legt Ausgabe 6 aus dem<br />

Jahr 1969 den Schwerpunkt der Beobachtung<br />

auf meteorologische Vorkommnisse.<br />

15 Sterne und Weltraum 1980, Nr. 11, S. 392.<br />

16 Vgl. Sterne und Weltraum, 1982, Nr. 3.<br />

17 Vgl. Sterne und Weltraum 1982, Nr. 7–8.<br />

18 Sterne und Weltraum 1990, Nr. 6.<br />

19 Noël Carroll, «Auf dem Weg zu einer Ontologie<br />

des bewegten Bildes», in: Philosophie des<br />

Films. Grundlagentexte, hg. v. Dimitri Liebsch,<br />

Paderborn 2005, S. 155–174, hier S. 157.<br />

20 Eine solche Darstellung suggeriert eine Position<br />

des Glaubens an ein Augensehen, die das<br />

Instrument als Technologie suspendiert und<br />

zum reinen Hilfsmittel macht. Auch hier reicht<br />

der Platz nicht hin, eine differenziertere Rekonstruktion<br />

der historischen (Vor-)Bedingungen<br />

des Teleskops als Prothese vorzunehmen. Es<br />

muss genügen hier anzudeuten, dass die Externalisierung<br />

des Teleskops hier als eine bereits<br />

‹naturalisierte› und transparente Technologie<br />

gedacht werden muss.<br />

21 Vgl. Sterne und Weltraum, 1968, Nr. 4.<br />

22 Sterne und Weltraum, 1968, Nr. 4, S. 99.<br />

23 Sterne und Weltraum, 1972, Nr. 5.<br />

24 Sterne und Weltraum, 1969, Nr. 3, S. 65.<br />

25 Interessant wird es an dem Punkt, an dem<br />

die Trennung von Auge/Linse und digitaler<br />

Bildgebung im Amateurdiskurs zu verschwimmen<br />

beginnt. Die Rekonstruktion dieser Bewegung<br />

kann hier aber nicht mehr vorgenommen<br />

werden.<br />

26 Sterne und Weltraum, 1972, Nr. 5, S. 133.<br />

27 Ebd.<br />

28 Sterne und Weltraum, 1969. Nr. 3, S. 65.<br />

29 Vgl. Sterne und Weltraum, 1975, Nr. 1.<br />

30 Sterne und Weltraum, 1978, Nr. 3, S. 81.<br />

31 Sterne und Weltraum, 1992, Nr. 8–9.<br />

32 Der Übergang von ‹analog› zu ‹digital› findet<br />

im Amateurdiskurs nicht als deutlich markierter<br />

turn statt. Vielmehr gleiten digitale Devices<br />

eher sukzessive in den Alltag des Amateurs<br />

hinein; nach den ersten Sondenbildern<br />

und -datensätzen sind es im eigenen Handeln<br />

eher die Möglichkeiten der digitalen Fotografie,<br />

die der Bildver- und -nacharbeitung, die Archi-<br />

vierung und der Zugriff auf professionelles Material,<br />

die Digitale Technologien in den Diskurs<br />

einschleusen.<br />

33 Sterne und Weltraum, 1992, Nr. 8–9.<br />

34 Sterne und Weltraum, 1994, Nr. 5, S. 394.<br />

35 Ebd.<br />

36 Ebd., S. 397.<br />

37 Sterne und Weltraum, 2001, Nr. 7, S. 524. Eine<br />

Projektdokumentation ist unter http://clickworkers.arc.nasa.gov/top<br />

(zuletzt eingesehen<br />

23. August 2007) aufzufinden. Bei Projektabschluss<br />

(Januar 2002) haben über 100 000 clickworker<br />

in mehr als einer halben Million sessions<br />

2.3 Millionen Krater klassifiziert und markiert.<br />

38 Sterne und Weltraum, 1971, Nr. 12.<br />

39 Sterne und Weltraum, 1972, Nr. 5, S. 135.<br />

40 Vgl. Sterne und Weltraum, 1994, Nr. 11, S.<br />

824.<br />

41 Sterne und Weltraum, 1990, Nr. 5, S. 311.<br />

42 Sterne und Weltraum, 1995, Nr. 10.<br />

43 Vgl. Daston/Galison 2005 (wie Anm. 4); Mit<br />

dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung<br />

in wissenschaftlichen und virtuellen<br />

Welten, hg. v. Bettina Heintz u. Jörg Huber, Zürich<br />

2001.<br />

119


Alexandra Gerbaulet und Karen Winzer<br />

Vom Top of Europe in den Himmel<br />

Karen Winzer ist bis zum Jungfraujoch in den Berner Alpen gefahren und hat vom<br />

Top of Europe ihre Blicke schweifen lassen. Auf der Spitze der Felskuppe Sphinx liegt<br />

in 3571 Metern Höhe nicht nur das Sphinx-Observatorium, von dem aus man mit einem<br />

76 cm-Teleskop in den Weltraum gucken kann, sondern hier befindet sich auch<br />

der höchste Bahnhof Europas. Nebst Ausflugslokal Bollywood mit Aussichtsterrasse –<br />

einer Perspektiverweiterung angesichts der Berge, Gletscher und Täler der Berner Alpen.<br />

«Weil Kaschmir zu unsicher ist, ist das Jungfraujoch zu einem beliebten Drehort<br />

für indische Filme geworden.» So steht es im Prospekt. Für die Dreharbeiten ist gutes<br />

Wetter wichtig, ebenso für die weite Sicht der Touristen, aber auch der Bauer plant<br />

mit dem Wetter, während man oben auf der Wetterstation Prognosen erstellt. Ob mit<br />

bloßem Auge, mit dem Objektiv, Fernglas oder Laser: Alle sehen in den Himmel.<br />

Bereits die mittelalterlichen Kunstbetrachter konnten sich in die Position des<br />

Sonnenauges oder des Auges Gottes versetzen, waren es doch die Maler, die das alles<br />

überschauende Auge, das Überfliegen vorweggenommen haben. Bis heute wird<br />

diese Perspektive durch immer neue technische Errungenschaften weiterentwikkelt<br />

und provoziert trotz dieser fortschreitenden Erschließung aber nicht weniger,<br />

sondern eher mehr Geschichten und Mythen als jemals zuvor. Technologien aller<br />

Art bringen auf dem oft langen Weg ihrer Erforschung und Weiterentwicklung<br />

nicht nur Werte und Erkenntnisse hervor, sondern auch Abfälle, Unordnung, Unstimmigkeiten<br />

und in deren Folge immer neue Fragen. Das Wissen schaut zurück.<br />

Winzer geht horizontal vor – nicht vertikal. Wenn sie das Jungfraujoch und die<br />

Menschen dort fotografiert, ist sie nicht am Überblickinteressiert, sondern lässt sich<br />

zwischen verschiedenen Perspektiven treiben. Sie kommentiert ihre Beobachtungen<br />

und weist uns in ihren Bildunterschriften auf bestimmte Details hin. Sie zeigt uns<br />

ein Labor im Sphinx-Observatorium, doch wir müssen nicht die exakte Messung der<br />

wissenschaftlichen Apparaturen nachvollziehen. Stattdessen weist uns die Künstlerin<br />

darauf hin, wer die Gardinen und Abdeckstoffe mit floralen Mustern genäht hat,<br />

die zwischen dem Hightech hängen und die Geräte ansatzweise verhüllen. Oder wir<br />

erfahren, dass bei der Ausrichtung eines Lasers eine Holzschachtel oder ein weißes<br />

Blatt Papier eine große Rolle spielen kann. High and low. Winzer zeigt uns einen heterogenen<br />

Ort, eine Heterotopie und zerstreut unsere Aufmerksamkeit, indem sie sie<br />

zugleich auf viele unscheinbare Begebenheiten im Aufeinandertreffen von Technik<br />

und Textilkunst, von Bollywood-Romantik und Berner Landwirtschaft lenkt. Ihre Beobachtungen<br />

machen aus diesem exklusiven Ort der Wissenschaft und Forschung eine<br />

Passage, die offen wird für Alltagserfahrungen und somit für eine andere Kunst<br />

der Wahrnehmung. Sie geht nicht nach einer Methode, einem festgelegten Programm<br />

vor, sondern lässt sich ablenken von dem, was ihren Weg quert, und erklärt<br />

somit das, was andere Ablenkung nennen, zu ihrer Forschung.<br />

120 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Alexandra Gerbaulet und Karen Winzer Vom Top of Europe in den Himmel<br />

1 Morgens um 8:27 Uhr kommt der erste Zug auf dem Jungfraujoch an.<br />

121


2 Gertrud Hemund putzt das<br />

Badezimmer im Gästehaus der<br />

Forschungsstation.<br />

Das Holztürchen über der Badewanne<br />

ist der Notausgang.<br />

122 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009<br />

3 In Pyramiden verlässt die<br />

Seele über den Grabgang das Grab<br />

und gelangt in einem Winkel von<br />

31° zielgerichtet zum Nordpol.


Alexandra Gerbaulet und Karen Winzer Vom Top of Europe in den Himmel<br />

4 Die Felsspitze, auf die das Observatorium der Forschungsstation gebaut wurde, heißt Sphinx. Die ägyptische<br />

‹Sphinx› bewacht den Tempeleingang. Zum Beweis ihrer Ähnlichkeit beide Sphingen gleichzeitig.<br />

5 Wenn man durch das Holztürchen über eine Metallleiter aus dem Gästehaus steigt, kommt man zwischen<br />

Haus und Berg. Man kann auch die Hintertür, links im Bild, nehmen.<br />

123


6 Je weiter oben man ist, desto deutlicher sieht man das Wetter. Deshalb hat Meteo Schweiz die Hausmeister<br />

der Hochalpinen Forschungsstation Jungfraujoch beauftragt, jeden Tag fünfmal auf die Sphinx zu fahren<br />

und in den Himmel zu gucken.<br />

7 In dieser Höhle neben dem Gästehaus hat früher ein Schafstall gestanden. An den Schafen ist die Wirkung<br />

der Höhe untersucht worden. Seitdem der Stall verfault ist, sind sie wieder unten.<br />

124 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Alexandra Gerbaulet und Karen Winzer Vom Top of Europe in den Himmel<br />

8 Das Herzstück des Labors, in dem Dr. Christian Servais arbeitet, ist die Sonne. Ihre Strahlen werden mit<br />

Hilfe einer Apparatur aus dem Weltall direkt in die Sphinx gelenkt. Sie fallen in diesen Schrank.<br />

9 Dr. Servais wartet auf gutes Wetter, das heißt darauf, dass die Sonne nicht von Wolken verdeckt ist. Nur<br />

dann sind Ergebnisse aussagekräftig, und er vermag zu sagen, wie es um die Zusammensetzung der Erdatmosphäre<br />

steht.<br />

125


10 Ein indisches Haar im Schnee.<br />

11 Das Teleskop ist in den Farben Rot, Grün und Blau abgedeckt.<br />

126 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009


Alexandra Gerbaulet und Karen Winzer Vom Top of Europe in den Himmel<br />

12 Todor Dinoev und Marcel Bartolome sind tagsüber mit der Einrichtung der Geräte beschäftigt.<br />

13 In der Nacht ragt der Laser aus dem obersten Raum der Forschungsstation 4000 Meter in die Höhe.<br />

127


AutorInnen dieses Heftes<br />

Inke Arns (*1968) ist künstlerische Leiterin<br />

des <strong>Hartware</strong> <strong>MedienKunstVerein</strong> Dortmund<br />

(http://www.hmkv.de). Studium in Berlin und<br />

Amsterdam. 2004 Promotion an der Humboldt-<br />

Universität zu Berlin. Seit Anfang der 1990er<br />

Jahre freie Kuratorin und Autorin mit den<br />

Schwerpunkten Medienkunst und -theorie,<br />

Netzkulturen, Osteuropa. Sie kuratierte unter<br />

anderem Irwin: Retroprincip 1983–2003 (2003),<br />

History Will Repeat Itself (2007), Anna Kournikova<br />

... Kunst im Zeitalter des Geistigen Eigentums<br />

(2008) und Wach sind nur die Geister – Über Gespenster<br />

und ihre Medien (2009). Seit 2000 Lehrtätigkeit<br />

an Universitäten und Kunstakademien<br />

in Berlin, Leipzig, Rotterdam und Zürich.<br />

http://www.inkearns.de.<br />

Christoph Asendorf (*1955) ist Professor für<br />

Kulturwissenschaften an der Europa-Universität<br />

Viadrina in Frankfurt an der Oder. Studium<br />

an der Universität Heidelberg und der Freien<br />

Universität Berlin. 1984 Promotion zum Thema<br />

Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge<br />

und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert,<br />

danach als freier Autor und Kurator tätig. 1988–<br />

1990 Lehrbeauftragter an der Hochschule der<br />

Künste Berlin. 1990–1995 Wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter an der Bergischen Universität/Gesamthochschule<br />

Wuppertal. 1997 Veröffentlichung<br />

der Habilitationsschrift Super Constellation.<br />

Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung<br />

der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne.<br />

2004/5 Visiting Fellow am Internationalen Forschungszentrum<br />

Kulturwissenschaften in Wien.<br />

Ulrike Bergermann (*1964) ist Professorin<br />

für Medienwissenschaft an der Hochschule der<br />

Bildenden Künste Braunschweig. 2007/08 war<br />

sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich<br />

Medien und kulturelle Kommunikation<br />

mit dem Projekt Das Planetarische<br />

(http://www.dasplanetarische.de) und bis 2006<br />

Lise-Meitner-Habilitationsstipendiatin (Wissensprojekte.<br />

Kybernetik und Medienwissenschaft).<br />

2003/04 hat sie eine Vertretungsprofessur<br />

an der Ruhr-Universität Bochum wahrgenommen.<br />

Sie hat an der Universität Hamburg<br />

zur disziplinären Verortung von Gebärdensprachnotation<br />

promoviert. Sie ist Vorstandsmitglied<br />

der Gesellschaft für Medienwissenschaft<br />

sowie Gründungs- und Redaktionsmitglied<br />

der Zeitschrift für Medienwissenschaft.<br />

Joachim Block (*1953) absolvierte ein Studium<br />

der Physikan der Technischen Universität<br />

Braunschweig und war anschließend als wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am Deutschen Zentrum<br />

für Luft- und Raumfahrt (DLR) tätig. For-<br />

schungsarbeiten zu Messverfahren an Leichtbaustrukturen<br />

der Raumfahrt. 1988 Promotion<br />

an der Universität Kassel. Seit 1994 Leitung verschiedener<br />

Raumfahrtprojekte am DLR-Institut<br />

für Faserverbundleichtbau und Adaptronikin<br />

Braunschweig, insbesondere im Zusammenhang<br />

mit der Entwicklung der Struktur des Kometenlanders<br />

Philae für die europäische Kometenmission<br />

Rosetta. Seit 2009 Schwerpunktleiter<br />

Raumfahrt am DLR. Lehrtätigkeit und seit<br />

2008 Honorarprofessur an der Technischen<br />

Universität Braunschweig.<br />

Robert Bramkamp (*1961) ist Professor für<br />

Experimentalfilm an der Hochschule für bildende<br />

Künste Hamburg (HfbK). Nach einem Studium<br />

der Germanistikund Kunst (Filmklasse) in Münster<br />

arbeitet er seit 1983 als Filmemacher, Autor<br />

und Dozent. 1995 Lehrauftrag am Pasadena Art<br />

Center. 1998–2005 Regiedozent an der Hochschule<br />

für Film und Fernsehen Konrad Wolf, Babelsberg.<br />

2004 Werkschau im Filmmuseum München,<br />

Filmclub Köln und Berliner Filmkunstkino<br />

Babylon. Seit 2004 Kollektives Erzählprojekt Enki100.net<br />

(Kulturstiftung des Bundes). 2009<br />

Gründung des IFF Hamburg Institut Forschender<br />

Film. Siehe http://www.bramkamp.info.<br />

Dunja Evers (*1963) ist Künstlerin und lebt<br />

in Düsseldorf. Studium der Malerei an der Akademie<br />

für bildende Künste Wien, Meisterklasse<br />

Arnulf Rainer. Seit 1984 Arbeiten mit Film und<br />

Performance, seit 1985 fotografische Arbeiten.<br />

1996–2001 und 2005 Lehrauftrag für Fotografie<br />

am Institut für Kunst und ihre Didaktik an der<br />

Universität Dortmund. 1997 Gastprofessur für<br />

Fotografie an der University of California Santa<br />

Barbara. 2004 Guest Lectures am Rochester Institute<br />

of Technology, New York. Einzelausstellungen<br />

unter anderem in der Städtischen Galerie<br />

Wolfsburg (2009) und im Fotomuseum Winterthur<br />

(2002).<br />

Alexandra Gerbaulet (*1977) ist Filmemacherin,<br />

Künstlerin und Kuratorin. Ihre Themen:<br />

Migration, Rassismus und der alltäglichen Umgang<br />

hiermit in Deutschland. Ihre Filme, unter<br />

anderem: Über Land (2002), Datterode (2005) und<br />

Gefangenenbilder (2007). Nach einem Studium<br />

der Philosophie und Medienwissenschaften in<br />

Braunschweig und Wien Studium der freien<br />

Kunst an der Hochschule für Bildende Künste<br />

Braunschweig (Filmklasse, Birgit Hein); 2007<br />

Meisterschüler-Stipendium der Hans-Böckler-<br />

Stiftung. Seit 2006 Lehraufträge, derzeit künstlerische<br />

Mitarbeiterin an der HBK Braunschweig.<br />

128 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009<br />

Marie-Luise Heuser hat Philosophie, Geschichte,<br />

Physikund Mathematikstudiert. Nach<br />

dem Staatsexamen folgte die Promotion mit einer<br />

Arbeit zu Schelling und die Selbstorganisa-


AutorInnen<br />

tion. Sie war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

an der Universität Stuttgart sowie an der<br />

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf tätig<br />

und ist seit 2007 Wissenschaftliche Angestellte<br />

an der Technischen Universität Braunschweig.<br />

Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen in der Naturphilosophie,<br />

der Wissenschafts- und Technikphilosophie.<br />

Seit 2005 leitet sie das transdisziplinäre<br />

Projekt Kultur und Raumfahrt (siehe<br />

http://www.kultur-raumfahrt.de). In diesem<br />

Zusammenhang erscheint in Kürze von ihr herausgegeben:<br />

Kultur und Raumfahrt. Vorträge aus<br />

dem Naturwissenschaftlich-Philosophischen Kolloquium<br />

der TU Braunschweig 2005–2009.<br />

Michael Mönninger (*1958) studierte Literaturwissenschaft,<br />

Philosophie, Kunstgeschichte<br />

und Musikin Frankfurt am Main und arbeitete<br />

als Architekturkritiker für die Frankfurter Allgemeine,denSpiegel,dieZeit<br />

sowie andere deutsche<br />

Tages- und Wochenzeitungen. Promoviert<br />

wurde er bei Heinrich Klotz in Karlsruhe mit einer<br />

Arbeit über Kunst- und Städtebautheorien<br />

im 19. Jahrhundert. Seit 2003 gibt er in Zusammenarbeit<br />

mit der TU Wien die auf sechs Bände<br />

angelegte Gesamtausgabe der Schriften und<br />

Entwürfe Camillo Sittes heraus. Seit 2007 ist er<br />

Professor für Geschichte und Theorie der Bauund<br />

Raumkunst an der Hochschule für Bildende<br />

Künste Braunschweig.<br />

Rolf F. Nohr (*1968) ist Professor für Medienästhetikund<br />

Medienkultur an der Hochschule<br />

der Bildenden Künste Braunschweig. Arbeitsschwerpunkte<br />

sind mediale Evidenzverfahren,<br />

Game Studies und instantane Bilder. Er<br />

leitet das Forschungsprojekt Strategie Spielen.<br />

Er ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für<br />

Medienwissenschaften sowie Herausgeber der<br />

Reihe Medien’Welten (Münster: Lit). Letzte Veröffentlichungen:<br />

Mitherausgeber von Shooter.<br />

Eine multidisziplinäre Einführung (Münster<br />

2009). Monografie: Die Natürlichen des Spielens.<br />

Vom Verschwinden des Gemachten im Computerspiel<br />

(Münster 2008). http://www.nuetzlichebilder.de<br />

Annette Tietenberg (*1964) ist Professorin<br />

für Kunstwissenschaft mit dem Schwerpunkt<br />

Kunst der Gegenwart an der Hochschule für Bildende<br />

Künste Braunschweig, wo sie die Tagungen<br />

Planetarische Perspektiven (2008) und Raumschiff<br />

(im Rahmen der Phaenomenale Wolfsburg<br />

2009) konzipierte sowie die Ausstellung ZERO G.<br />

Der Artronaut Charles Wilp mitkuratierte. Forschungsschwerpunkt:<br />

das Verhältnis von Kunst<br />

und Design seit den 1960er Jahren. 1996-2001<br />

wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule<br />

der Künste Berlin (UdK). Promotion an<br />

der TU Berlin zum Thema Konstruktionen des<br />

Weiblichen. Eva Hesse: ein Künstlerinnenmythos<br />

des 20. Jahrhunderts (Berlin 2005). Kuratorin<br />

zahlreicher Ausstellungen, darunter Joan Jonas.<br />

Performance – Video – Installation, NGBK Berlin<br />

(2001) und Frankfurter Kreuz, Schirn Kunsthalle,<br />

Frankfurt am Main (2001).<br />

Tristan Weddigen (*1969) ist Ordinarius für<br />

Kunstgeschichte der Neuzeit an der Universität<br />

Zürich. Er hat über die Kunst und Kunsttheorie<br />

der frühen Neuzeit, über Sammlungsgeschichte<br />

des 18. und 19. Jahrhunderts und über Methodenfragen<br />

publiziert, so Raffaels Papageienzimmer<br />

– Ritual, Raumfunktion und Dekoration im<br />

Vatikanpalast der Renaissance (Berlin 2006). Zurzeit<br />

leitet er das Forschungsprojekt des Schweizerischen<br />

Nationalfonds und des European Research<br />

Council Eine Ikonologie des Textilen in<br />

Kunst und Architektur.<br />

Christina Wessely (*1976) ist postdoctoral research<br />

fellow am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte<br />

in Berlin. Sie wurde 2004<br />

mit einer Studie zur Kulturgeschichte zoologischer<br />

Gärten promoviert und forschte anschließend<br />

in Wien und Cambridge/MA. Derzeit arbeitet<br />

sie über kosmologische Weltanschauungen<br />

um 1900. Zuletzt sind erschienen Künstliche<br />

Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne<br />

(Berlin 2008) und Pseudowissenschaft – Konzeptionen<br />

von Nicht/Wissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte<br />

(Frankfurt am Main 2008).<br />

Karen Winzer (*1976) ist Künstlerin und lebt<br />

in Berlin. Studium der freien Kunst an der Hochschule<br />

für Bildende Künste Braunschweig; 2004<br />

Diplom. Seit 2001 Künstlerische Kunstvermittlung<br />

für Ausstellungsinstitutionen wie Kunstmuseum<br />

Wolfsburg, Kunstverein Wolfsburg,<br />

Hamburger Bahnhof/Museum für Gegenwart<br />

Berlin, Deutsche Guggenheim Berlin. 2006<br />

kurzfristige Mitarbeit in der Hochalpinen Forschungsstation<br />

Jungfraujoch, Schweiz. Künstlerischer<br />

Beitrag im Labor; fotografische Dokumentation.<br />

2007 Mineralientausch mit Annette<br />

Richter, Oberkustodin des Niedersächsischen<br />

Landesmuseums, Hannover. 2009 Top of Europe<br />

– in den Himmel kommen. Eine Vortragsveranstaltung<br />

mit Blickauf das Rütli, Berlin-Neukölln.<br />

Jasmine Wohlwend (*1983) hat von 2002<br />

bis 2009 an der Universität Bern, der Università<br />

degli Studi La Sapienza in Rom und an der Universität<br />

Zürich Kunst- und Architekturgeschichte<br />

sowie Neueste Geschichte studiert. Ihr Studium<br />

hat sie mit der Arbeit Bauen im Space Age.<br />

Astrofantastische Architektur 1956–1972 an der<br />

Universität Bern abgeschlossen.<br />

129


Bildnachweise<br />

Editorial<br />

1 Tristan Weddigen, Moskau, 2009.<br />

Arns<br />

1–3 Copyright: Marko Peljhan/Projekt Atol.<br />

Asendorf<br />

1 A volo d’uccello. Jacopo de’ Barbari e le rappresentazioni<br />

di città nell’Europa del Rinascimento,<br />

hg. v. Stefano Grandi, Venedig 1999, S.<br />

135.<br />

2 Christopher Wood, Albrecht Altdorfer and<br />

the Origins of Landscape, London 1993, S. 20.<br />

3 Philippe u. François Roberts-Jones, Pierre<br />

Bruegel l’ancien, Paris 1997, S. 288/9.<br />

4 Matthäus Merian, Topographia, Neue Ausgabe,<br />

hg. v. Lucas Heinrich Wüthrich, Kassel/Basel<br />

1961, S. 94.<br />

5 Interieur/Exterieur, Wohnen in der Kunst,<br />

Ausst-Kat. Kunstmuseum Wolfsburg, Ostfildern<br />

2008, S. 46.<br />

6 Herbert Bayer, Visuelle Kommunikation, Architektur,<br />

Malerei. Das Werk des Künstlers in Europa<br />

und USA, Ravensburg 1967, S. 32.<br />

Bergermann<br />

1 Ernst Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen,<br />

Jena 1886, S. 14.<br />

2 NASA/public domain, http://history.nasa.gov<br />

/ap08fj/photos/a/as08-16-2593hr.jpg.<br />

3 Johnson Space Center of the United States<br />

National Aeronautics and Space Administration<br />

(NASA), Photo ID: AS17-148-22727, http://nssdc.<br />

gsfc.nasa.gov/imgcat/html/object_page/a17_<br />

h_148_22727.html.<br />

4, 5NASA/public domain, NASA Headquarters<br />

of the United States National Aeronautics and<br />

Space Administration (NASA). Photo ID: GPN-<br />

2001-000013. Alternate ID: AS11-40-5903.<br />

Block<br />

1 Autor.<br />

2 Bundesarchiv.<br />

3 Smithsonian National Air and Space Museum.<br />

4 Chesley Bonestell Estate.<br />

5 Collier’s Magazine, März 1952.<br />

6 Chesley Bonestell Estate.<br />

7 NASA.<br />

8 Autor.<br />

Bramkamp<br />

1 Copyright: Robert Bramkamp.<br />

Evers<br />

1–3 Copyright: Dunja Evers.<br />

Heuser<br />

1 http://de.wikipedia.org/wiki/Sergei_Pawlowitsch_Koroljow.<br />

2 Ziolkowski 1990 (wie Anm. 8), S. 112.<br />

3 Ziolkowski 1990 (wie Anm. 8), S. 110.<br />

4 Ziolkowski 1983 (wie Anm. 3), S. 10.<br />

5 Andréi Nakov, Kazimir Malewicz. Le peintre<br />

absolu, Paris 2007, Bd. 2, S. 311.<br />

6 http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Schwarze_Quadrat.<br />

7 Malewitsch. Künstler und Theoretiker, hg.v.<br />

Gerhard Glier, Weingarten 1991, S. 17.<br />

8 Malewitsch 1927 (wie Anm. 38), S. 99, Abb.<br />

91.<br />

Mönninger<br />

1 Poster, Hansen Planetarium, Salt Lake City,<br />

1986.<br />

2 NASA, http://www.nasaimages.org, 2001.<br />

3 Google Earth, 2009.<br />

4 Google Earth, 2009.<br />

Nohr<br />

1 Sterne und Weltraum, 2003, Heft 6, S. 65.<br />

2 http://clickworkers.arc.nasa.gov/landforms?<br />

camera=hirise; letzter Abruf 16. Mai 2009.<br />

Wessely<br />

1 Camille Flammarion, Astronomie populaire.<br />

Description générale du ciel, Paris [1879] 1920, S.<br />

101.<br />

2 Hanns Fischer, Wunder des Welteises, Leipzig<br />

[1922] 1927, S. 65.<br />

3 HA, S/476/157 (wie Anm. 5).<br />

4 Hörbiger 1913 (wie Anm. 4), S. 332.<br />

5 Hanns Fischer, Die großen Fluten in Sage und<br />

Wirklichkeit, Leipzig, 1928, Tafel 7.<br />

Winzer<br />

S. ...Copyright: Karen Winzer.<br />

Wohlwend<br />

1 van den Heuvel/Risselada 2004 (wie Anm.<br />

4), S. 95.<br />

2 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/<br />

commons/f/f8/Early_photo_of_seattle_space_needle.jpg,<br />

Zugriff am 6. Mai 2009.<br />

3 Fred M. Wilcox, Forbidden Planet, USA, Film/<br />

DVD-ROM, 95:00, 2006 (1956), Filmstill.<br />

4 Home 2003 (wie Anm. 14), S. 98.<br />

5 Elke Genzel u. Pamela Voigt, Kunststoffbauten.<br />

Die Pioniere, Weimar 2005, S. 13.<br />

130 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009

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