kritische berichte - Hartware MedienKunstVerein
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Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften Mitteilungsorgan des Ulmer Vereins –<br />
Verband für Kunst- und Kulturwissenschaften e.V.<br />
<strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Heft 3 2009Jahrgang 37<br />
Planetarische<br />
Perspektiven.<br />
Bilder der Raumfahrt<br />
Annette Tietenberg<br />
Tristan Weddigen<br />
Editorial 3<br />
Dunja Evers Apollo 16 7<br />
Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen<br />
Perspektive. Der Blick von oben in der Sukzession<br />
neuzeitlicher Raumvorstellungen 9<br />
Ulrike Bergermann Darstellungsraum Welt: gekrümmte Horizonte 24<br />
Joachim Block Eine Vision wird illustriert. Wernher von<br />
Braun, Chesley Bonestell und die Geburt der<br />
Space Art 34<br />
Robert Bramkamp Für ein realkomplexes Raketenmuseum 45<br />
Jasmine Wohlwend Bauen im Space Age. Je realer die Raumfahrt,<br />
desto astrofantastischer die Architektur 54<br />
Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer<br />
Suprematismus 63<br />
Christina Wessely Welteiszeit. Kälte und Kosmos 1900–1930 78<br />
Inke Arns Arctic Perspective. Planetarische<br />
Perspektiven in Zeiten des Klimawandels 90<br />
Michael Mönninger Das umgedrehte Fernrohr. Die Fernerkundung<br />
der Nahwelt – vom Himmelsblick zur Erdbeobachtung<br />
96<br />
Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht<br />
mehr zu beobachten!» – Astronomy in Action 105<br />
Alexandra Gerbaulet<br />
Karen Winzer<br />
Vom Top of Europe in den Himmel 121<br />
1
2 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Editorial<br />
Annette Tietenberg und Tristan Weddigen<br />
Editorial<br />
«Wie riecht der Mond?», fragt Hans Blumenberg in seiner astronoetischen Essaysammlung<br />
Die Vollständigkeit der Sterne – und eröffnet damit eine Dimension des<br />
Denkens, die Philosophen, Künstler und Schriftsteller für faszinierender halten<br />
mögen als professionelle Weltraumforscher. 1 Denn auf dem Mond, das ist wissenschaftlich<br />
erwiesen, ist der Mensch mangels Atmosphäre gar nicht imstande, etwas<br />
zu riechen. Die Weltraumforschung hat sich von Beginn an auf das konzentriert,<br />
was man messen, beschreiben und begreifen kann: die Darstellbarkeit und<br />
die chemisch-physikalische Zusammensetzung der Himmelskörper. So sind es –<br />
neben Gesteinsproben und Zahlen – vor allem Bilder, die in der Weltraumforschung<br />
als Wissensspeicher Akzeptanz finden. Von ihrer Analyse verspricht man<br />
sich Aufschluss über nichts Geringeres als die Entstehung der Erde, unseres Sonnensystems,<br />
ja des gesamten Universums. Was Astronauten ertasten, riechen, hören,<br />
was sie ahnen, phantasieren und träumen, hat seinen Platz in Sciencefictionromanen,<br />
nicht jedoch in den Auswertungen der Daten von Missionen der National<br />
Aeronautics and Space Administration (NASA), der European Space Agency<br />
(ESA), des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), der sowjetischen<br />
Kosmischen Streitkräfte (WKS) oder ihrer Nachfolgeorganisation Roskosmos. 2<br />
Die technischen Bilder, die Astronauten, Teleskope und Sonden zur Erde übermitteln,<br />
sind eine in der Weltraumforschung als objektiv geltende Grundlage<br />
verblüffender Thesen, ob diese nun das Vorkommen von Wasser auf dem Mars,<br />
den Carinanebel oder die kosmische Hintergrundstrahlung betreffen. Zugleich<br />
appellieren sie an die Einbildungskraft von Millionen von Menschen, die über<br />
Massenmedien Zugang zu Weltraumfotografien haben und deren kollektives<br />
Selbstverständnis vom Blickauf die Erde geprägt ist, wie ihn die Apollo-11-Mission<br />
einst eröffnet hat. Welche Erkenntnisse vermag eine Kunstwissenschaft, die<br />
sich darauf spezialisiert hat, den Status der Bilder kritisch zu reflektieren, aus der<br />
Betrachtung solch technischer Bildern abzuleiten? Welche ‹planetarischen Perspektiven›<br />
eröffnet eine Kulturwissenschaft, die anatomische Instrumente als<br />
Wahrnehmungsstrategie untersucht, Planetenmodelle in historischen Kontexten<br />
betrachtet und ikonografische Traditionen von Himmelserkundungen aufgedeckt<br />
hat? Einen ersten Einblick gibt das vorliegende Heft, das zugleich aufzeigt,<br />
wie viele Fragen der Wunsch nach Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomen<br />
noch immer aufwirft. 3<br />
Seeing is believing. Um die Plausibilität dieses Satzes wissend, stellt ihn der<br />
Physiker Stephen Hawking seiner telegenen Version der Schöpfungsgeschichte<br />
als Motto voran. 4 Sichtbarkeit verheißt Evidenz. Sehen kann man auf dem Mond<br />
weit besser als auf der Erde. Fotografieren ebenfalls. «Keine atmosphärische Trübung<br />
mindert die Optik», notiert Blumenberg. 5 So war die erste Mondlandung<br />
3
4 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> vom 20. Juli 1969 nicht zuletzt eine – wenn auch von den Ingenieuren der NASA<br />
zunächst völlig unterschätzte – fotografische Expedition.<br />
3.2009<br />
6 Und zwar eine ausgesprochen<br />
erfolgreiche, auch wenn die Astronauten zwecks Reduzierung des<br />
Startgewichts die speziell für den Mondeinsatz umgerüsteten, mit verzerrungsfreien<br />
Linsen ausgestatteten Kameras auf dem Erdtrabanten zurücklassen mussten.<br />
Das Equipment wurde gegen etwas weitaus Kostbareres eingetauscht: Bilder,<br />
«die nie ein Mensch zuvor gesehen hat». 7 Die vintage prints, darunter auch<br />
die vielfach veröffentlichte Aufnahme des Astronauten Buzz Aldrin, der im Mondstaub<br />
posiert, wobei sich in der goldbedampften Sichtscheibe seines Raumanzugs<br />
der Gefährte und Fotograf Neil Armstrong sowie der Sockel der Landefähre<br />
Eagle spiegeln, sind heute, vierzig Jahre nach der ersten Mondlandung, gefragte<br />
Sammlerstücke. 8 Sie werden gleichermaßen als wissenschaftliche wie als ästhetische<br />
Sensation geschätzt.<br />
Nicht zuletzt aber sind sie Beweisstückeines beispiellosen Triumphzugs der<br />
amerikanischen Raumfahrtbehörde im Kalten Krieg, weswegen man sie in hoher<br />
Qualität und kostenlos von der Website der NASA herunterladen und unkontrolliert<br />
weiterverwenden darf. Anknüpfend an die Geschichte der analogen Fotografie,<br />
der Mitte des 19. Jahrhunderts die Eigenschaft zugeschrieben wurde, objektiv<br />
zu sein, da sie auf einem Verfahren der ‹Selbstabbildung› basiere, verleiht die NA-<br />
SA ihren Unternehmungen Glaubwürdigkeit und Relevanz durch die Verbreitung<br />
von Bildern. 9 Zu diesem Zweckentwickeln Softwareingenieure nicht nur Programme,<br />
die so genannte ‹Bildstörungen› entfernen, sondern auch solche, die die<br />
zunehmende Glätte und hohe Auflösung der digitalen Fotografien in ihr Gegenteil<br />
verkehren: Den Bildern wird gezielt der Anschein analoger Produktion verliehen,<br />
indem man ihnen eine Art von malerischem ‹Grundrauschen› und Reflexe<br />
implantiert. 10 Hinzu kommt, dass die Bilderfassung in den letzten Jahrzehnten<br />
an so genannte imagers, automatisierte Bildaufzeichnungsinstrumente von Satelliten,<br />
delegiert wurde. Der subjektive Faktor ‹Mensch›, dessen sensorische Fähigkeiten<br />
im wissenschaftlichen Kontext im Verdacht stehen, unzuverlässig zu sein,<br />
konnte mithin bei der Bildproduktion zur Gänze ausgeschaltet werden.<br />
Es ist, als verdankten sich die Bilder vom Universum einer höheren Sicht und<br />
einem übergeordneten Interesse. Als die älteste europäische Raumsonde Ulysses<br />
im Sommer 2008 nach siebzehn Jahren im All in den Ruhestand ging, sagte Ed<br />
Smith, Projektwissenschaftler am Jet Propulsion Laboratory, der die Mission gemeinsam<br />
mit der ESA betreut hatte: «Während ihrer langen Laufzeit hat Ulysses<br />
unser Bild der Heliosphäre neu definiert.» 11 Dem Wechselspiel von Vertrautheit<br />
und Fremdheit, das Einfluss auf unser Bewusstsein sowie unsere Wahrnehmung<br />
von Welt und Kosmos nimmt, widmet sich auch die Wissenschaftshistorikerin<br />
Charlotte Bigg. Im Zuge einer Untersuchung der Daten, die die ESA im Januar<br />
2005 anlässlich der Landung der Weltraumsonde Huygens auf dem Saturnmond<br />
Titan ins Internet stellte, kam sie zu dem Schluss, dass es die Bilder waren, «welche<br />
in dieser Mission und ihrer Vermarktung gegenüber einer breiten Öffentlichkeit<br />
die Hauptrolle spielten». 12 Sie spricht in diesem Zusammenhang sogar von<br />
einem furor videndi, einem Seheifer, von dem die Weltraumforschung durchdrungen<br />
sei. 13 Dieser Furor bringt mitunter Bilder hervor, die mit der Imaginationskraft<br />
von Künstlern und Filmemachern nicht nur konkurrieren, sondern diese gar<br />
überflügeln können. So gab Filmregisseur Adrian Maben zu, dass die Aufnahmen<br />
des Hubble-Weltraumteleskops exakt das seien, was er vor über dreißig Jahren
Editorial<br />
gesucht habe, als er eine vollkommene Verschmelzung von Musik und Bild anstrebte.<br />
14 Angesichts der Bilder, die Hubble aus dem Weltraum übermittelte, entschloss<br />
er sich dazu, den 35-mm-Film Pink Floyd – Live at Pompeii aus dem Jahr<br />
1972 mit einem neuen Vor- und Nachspann zu versehen. Der auf DVD übertragene<br />
director’s cut von 2003 schlägt nun einen weiten Bogen vom Weltraum zu den<br />
Ausgrabungsstätten von Pompeji.<br />
Von welcher Art sind die Bilder, die uns aus dem Weltraum erreichen? Wie<br />
werden sie erzeugt, bearbeitet, archiviert? Welche Stufen des vermittelten Sehens<br />
– Fernrohr, Kamera, Monitor – durchlaufen sie? 15 In welchem Maße ist ihre<br />
Existenz gebunden an Technikgeschichte? 16 Nach welchen Gesichtspunkten<br />
wählen Mitarbeiter der ESA und NASA Satellitenbilder aus, um sie, etwa auf ihren<br />
Websites, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Welche Auffassung von<br />
Raum tritt in diesen Bildern zutage? Welche Auswirkungen haben sie auf unser<br />
Sehen und Denken? Und nicht zuletzt: In welchen Traditionen stehen sie? Rekurrieren<br />
sie auf Vorbilder aus der Kunst, etwa auf die romantische Landschaftsmalerei?<br />
Sind sie somit Teil der Kunstgeschichte? Und wirken sie sich auf die gegenwärtige<br />
Kunst- und Filmproduktion aus?<br />
Fragen wie diese wurden im Rahmen der von Annette Tietenberg konzipierten<br />
Tagung Planetarische Perspektiven diskutiert, die im November 2008 in der Aula<br />
der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig stattfand. In ihren Beiträgen<br />
zum vorliegenden Heft, das mit organisatorischer Unterstützung von Burkhard<br />
Krüger erscheint, präzisieren ausgewählte Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />
der Tagung nun ihre Antworten. Um aufzeigen zu können, vor welchem kulturhistorischen<br />
Horizont sich ‹planetarische Perspektiven› entfalten, wurde der<br />
Kreis der Autorinnen und Autoren erweitert. Es kommen – neben Kunst-, Medienund<br />
KulturwissenschaftlerInnen – KünstlerInnen, FilmemacherInnen, ein Physiker<br />
und eine Philosophin zu Wort. Dennoch sind, soviel ist gewiss, ‹planetarische<br />
Perspektiven› nicht erschöpfend zu behandeln. Sie streifen das Unendliche. Sie<br />
sind gerade deshalb ein ideales Forschungsfeld für eine Bildwissenschaft, die<br />
sich im Zuge des pictorial turn Bildwelten zuwendet, die an der Grenze von Natur-,<br />
Kultur- und Ingenieurwissenschaften angesiedelt sind. 17 Denn nur eine Bildwissenschaft,<br />
die zur Transdisziplinarität bereit ist, wird in der Lage sein, die<br />
ikonografischen, historischen, medialen, ideologischen und technologischen Implikationen<br />
von Bildern zu erschließen, die uns zwar allgegenwärtig, aber dadurch<br />
nicht minder schwer verständlich sind.<br />
5
Anmerkungen<br />
1 Hans Blumenberg, Die Vollständigkeit der<br />
Sterne, Frankfurt am Main 1997, S. 478.<br />
2 Vgl. Ray Bradbury, «Der Raumfahrer», in:<br />
ders., Der illustrierte Mann, Zürich 1977, S. 112–<br />
128.<br />
3 Vgl. Martin Kemp, Bilderwissen. Die Anschaulichkeit<br />
naturwissenschaftlicher Phänomene,<br />
Köln 2003.<br />
4 Vgl. Stephen Hawking’s Universe, Bd. 1, Seeing<br />
is Believing, Dokumentarfilm-TV-Serie, PBS<br />
1997.<br />
5 Blumenberg, 1997 (wie Anm. 1), S. 478.<br />
6 Sie steht in der Tradition der Nilexpedition,<br />
mit der die französische Regierung 1849 Maxime<br />
du Camp beauftragte.<br />
7 Vgl. Vorspann der TV-Serie Raumschiff Enterprise<br />
(1972), der für das deutsche Fernsehen<br />
synchronisierten Fassung von Star Trek (1966–<br />
1969).<br />
8 Vgl. Hermann-Michael Hahn, «Hinterm Horizont<br />
geht’s weiter. Wenn die Erde überm<br />
Mond aufgeht: In Berlin werden jetzt Fotos von<br />
den frühen bemannten Raumflügen versteigert»,<br />
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,<br />
25. Mai 2008, Nr. 21, S. 59.<br />
9 Lorrain Daston und Peter Galison, Objektivität,<br />
Frankfurt am Main 2007.<br />
10 Vgl. Michael Lynch und Samuel Edgerton,<br />
«Abstract Painting and Astronomical Image<br />
Processing», in: The Elusive Synthesis: Aesthetics<br />
and Science, Dordrecht/London 1996, S. 103–<br />
124.<br />
11 Dpa-Meldung vom 15. Juli 2008.<br />
12 Charlotte Bigg, «Bilder des Titans», in: Bildwelten<br />
des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch<br />
für Bildkritik, Bd.5,2Imagination des Himmels,<br />
Berlin 2007, S. 9–19, hier S. 10.<br />
13 Ebd.<br />
14 Paul Powell/Matt Johnshttp, An Interview<br />
With Adrian Maben, in: http//www.brain-damage.co.uk/other-related-interviews/adrian-maben-live-at-pompeii-2003-with-brain-d.html.<br />
Zuletzt aufgerufen am 30. Juni 2009.<br />
15 ‹Sehen› wird hier, mit Bezug auf Jonathan<br />
Cray, als historische Konstruktion begriffen.<br />
«Die betreffenden optischen Geräte sind, und<br />
das ist überaus wichtig, Schnittpunkte, an denen<br />
philosophische, wissenschaftliche und ästhetische<br />
Diskurse mit mechanischen Techniken,<br />
institutionellen Erfordernissen und sozioökonomischen<br />
Kräften zusammentreffen.» Jonathan<br />
Crary, Techniken des Betrachters. Sehen<br />
und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel<br />
1996, S. 19.<br />
16 Nicht nur ihre Entstehung, auch die Methoden<br />
ihrer Entschlüsselung stehen im Zusammenhang<br />
mit technologischen Innovationen.<br />
So merkt Horst Bredekamp in seiner Studie<br />
über Galileis Zeichnungen an: «Reziprokzum<br />
Fernrohr, mit dem Galilei den Himmel betrachtete,<br />
erfordert das Studium des Materials,<br />
durch das er die Phänomene festhielt, die analoge<br />
und die digitale Lupe. In der Vergrößerung<br />
tut sich ein historisches Theater aus, das zu den<br />
großen Momenten des Einsatzes visueller<br />
Denkformen gezählt werden kann. In dieser Rekonstruktion<br />
von Galileis zeichnerischer Intelligenz<br />
liegt der Kern der vorliegenden Untersuchung.»<br />
Horst Bredekamp, Galilei der Künstler –<br />
Der Mond. Die Sonne. Die Hand, Berlin 2007, S. 6.<br />
17 Vgl. W. T. Mitchell, «Pictorial Turn», in:<br />
ders., Bildtheorie, Frankfurt am Main 2008, S.<br />
101–135.<br />
6 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Dunja Evers Apollo 16<br />
Dunja Evers<br />
Apollo 16<br />
1 Dunja Evers, Apollo 16, Nr. 1/2004, C-Print handkoloriert auf Aluminium kaschiert, 39.0 × 57.5 cm.<br />
7
2 Dunja Evers, Apollo 16, Nr. 7/2004, C-Print handkoloriert auf Aluminium kaschiert, 42.0 × 57.0 cm.<br />
3 Dunja Evers, Apollo 16, Nr. 3/2004, C-Print handkoloriert auf Aluminium kaschiert, 42.0 × 57.0 cm.<br />
8 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />
Christoph Asendorf<br />
Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive.<br />
Der Blick von oben in der Sukzession neuzeitlicher Raumvorstellungen<br />
I.<br />
Auch wenn schon seit dem Zeitalter der Entdeckungen und fortan mit jeder<br />
raumbezogenen technischen Innovation über dichter werdende irdische Zusammenhänge<br />
nachgedacht wurde, so sind es doch wohl besonders die Jahre zwischen<br />
den Weltkriegen, in denen sich, vielleicht zum ersten Mal, gleichzeitig auf<br />
allen nur denkbaren Ebenen ein entsprechendes Bewusstsein zeigt. Neben aktuellen<br />
Verkehrs- und Kommunikationstechnologien, konkret der Luftfahrt und<br />
dem Radio, mag hier auch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges eine Rolle gespielt<br />
haben. Als etwa Karl Jaspers 1931 sein Buch Die geistige Situation der Zeit<br />
veröffentlichte, konnte er einen inzwischen weit verbreiteten Eindruck zusammenfassen:<br />
Als technische und wirtschaftliche Probleme scheinen alle Probleme planetarisch zu werden.<br />
Der Erdball ist nicht nur zu einer Verflechtung seiner Wirtschaftsbeziehungen und<br />
zu einer möglichen Einheit technischer Daseinsbemeisterung geworden; immer mehr<br />
Menschen blicken auf ihn als den einen Raum, in welchem als einem geschlossenen sie<br />
sich zusammenfinden zur Entfaltung ihrer Geschichte. 1<br />
An die Stelle der Vorstellung separierbarer Einheiten ist die eines übergreifenden<br />
Kontinuums getreten. Jaspers versteht diesen zivilisatorischen Entwicklungsstand<br />
als krisenhaft; seine Begleiterscheinungen seien zunehmende Nivellierung, allgemeiner<br />
Substanzverlust und Autoritätsverfall, ergo die Auflösung aller Bindungen<br />
durch das Verschwinden des Heterogenen. Die vorsichtige Antizipation eines neuen<br />
humanen Selbstverständnisses dagegen, gespeist aus einem aufgeklärten Katholizismus,<br />
findet sich zur selben Zeit bei Romano Guardini in seinen Briefen vom<br />
Comer See. Gerade dass die Erde übersehbar, «zu einem geschlossenen Feld politischen<br />
Geschehens und Handelns» wird, könnte ein neues «Kosmos-Bewusstsein»<br />
heraufbringen, ein Bewusstsein, das vom Menschen her gesehen ist und die Entwicklung<br />
der Technik auf den ihm zugewiesenen Lebensraum bezieht. 2<br />
Besonders intensiv wird die Entwicklung hin zu einem planetarischen Kontinuum<br />
in Hinsicht auf Kommunikationstechnologien diskutiert. Die geordnete<br />
Sukzession der Informationen, garantiert durch die räumliche Distanz und die<br />
Langsamkeit ihrer Übermittlung, geht über in einen Zustand der Simultaneität.<br />
Die Reaktionen auf diese Entwicklung waren zwiespältig. Der Kulturtheoretiker<br />
Aby Warburg behauptete 1923 apodiktisch: «Telegramm und Telefon zerstören<br />
den Kosmos.» 3 Diese Äußerung – er bezieht als ‹Ferngefühl-Zerstörer› auch die<br />
Gebrüder Wright mit ein – wird nur im Rahmen seiner Kulturtheorie verständlich.<br />
Warburg sieht durch die Geschwindigkeit der elektrischen Informationsübertragung,<br />
die plötzliche Nähe, das Übertragene in einen Zustand der Indifferenz<br />
zurückfallen, der chaotischen Ununterscheidbarkeit, in der Distanz, Über-<br />
9
lick und damit die Möglichkeit auseinandersetzender Reflektion vernichtet sind<br />
– das aber sind für ihn zivilisatorische Grundbedingungen. Paul Valéry hingegen<br />
preist 1928 denselben technischen Vorgang als ‹Eroberung der Allgegenwärtigkeit›.<br />
Mit dem Heraufkommen audiovisueller Medien seien weder die Materie<br />
noch Raum und Zeit das geblieben, was sie zuvor waren. Warburgs Alptraum erscheint<br />
bei Valéry als hoffnungsvolle Antizipation einer globalisierten Kultur:<br />
Man wird das Gefüge der Empfindungen – genauer: das Gefüge der Reize – überall hin zu<br />
befördern oder an jedem Orte neu zu erzeugen verstehen, das irgendein Gegenstand oder<br />
irgendein Geschehnis ausstrahlt. Die Werke werden eine Art von Allgegenwärtigkeit gewinnen.<br />
4<br />
Als ein Sinnbild der erweiterten Raumvorstellung der Epoche kann vielleicht das<br />
Naturbild dienen, das Paul Klee zur Veranschaulichung der Voraussetzungen seiner<br />
künstlerischen Arbeit wählt. Er unterscheidet das Erlebnis eines Schiffers im<br />
Altertum, der ganz selbstverständlich sein Boot benutzt, vom dem eines modernen<br />
Menschen auf einem Dampfer. Der hat Folgendes zu gewärtigen:<br />
1. die eigene Bewegung, 2. die Fahrt des Schiffes, welche entgegengesetzt sein kann, 3.<br />
die Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit des Stromes, 4. die Rotation der Erde, 5. ihre<br />
Bahn, 6. die Bahnen von Monden und Gestirnen drum herum. Ergebnis: ein Gefüge von<br />
Bewegungen im Weltall, als Zentrum das Ich auf dem Dampfer. 5<br />
Für Klee geht es nun darum, ein variables System zu erfinden, ein bildnerisches<br />
Zeichensystem, welches, changierend zwischen Anschauung und Abstraktion,<br />
zwischen Mikro- und Makrokosmos, einem energiegeladenen Raum gerecht<br />
wird, dessen einzelne Zonen interagieren und sich beständig verändern. Der<br />
Grund ist allgemeiner Natur: Unter den Bedingungen der Moderne verweist<br />
schon eine Dampferfahrt auf die hochgradige Komplexität raumzeitlicher Zusammenhänge.<br />
II.<br />
Geht man von hier aus zurückan den Ausgangspunkt neuzeitlicher Raumvorstellungen,<br />
in das 15. und 16. Jahrhundert, dann zeigt es sich immer wieder, dass eine<br />
besondere Form des Sehens als aussagekräftiger Indikator von Veränderungen<br />
herangezogen werden kann: Es ist der Blick von oben. Er kommt erstmals im Zuge<br />
der vielfältigen Erweiterung der Raumvorstellung ins Spiel, die das Zeitalter<br />
der Entdeckungen charakterisiert und die schließlich in eine planetarische Perspektive<br />
einmündet. Künstlerische Werke mit dieser ungewöhnlichen Blickrichtung<br />
treten jetzt neben die weiterhin dominierenden Horizontalsichten. Eines<br />
der frühen Beispiele einer technisch ausgereiften Vogelperspektive findet sich in<br />
der Ansicht Venedigs, die Jacopo de’ Barbari im Jahr 1500 gab (Abb. 1): Diese<br />
großformatige, aus sechs Holzschnitten zusammengesetzte Darstellung zeigt einen<br />
außerordentlichen Grad an Exaktheit und beeinflusste spätere Stadt- und<br />
Landschaftsdarstellungen auch deswegen, weil sie reproduziert und damit verbreitet<br />
werden konnte.<br />
Produktion und Distribution lagen in der Hand des Nürnberger Kaufmanns<br />
Anton Kolb, der in Italien auch die Schedel’sche Weltchronik vertrieb. 6 Wenn man<br />
wollte, könnte man Nürnberg, damals eine Stadt von europäischer Bedeutung<br />
und in dichtem ökonomischen und kulturellen Austausch mit Venedig stehend,<br />
als eines der Zentren der Erarbeitung eines neuen Weltbildes verstehen. Hartmann<br />
Schedels Chronikerschien 1493 und zählt zu den «aufwendigsten und kost-<br />
10 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />
1 Jacopo de’ Barbari, Venedig aus der Vogelperspektive, 1500. Holzschnitt, 134.5 × 282 cm, Venedig, Museo<br />
Correr.<br />
spieligsten verlegerischen Unternehmen» der Zeit. 7 Wesentlicher Bestandteil<br />
sind die Stadtansichten, meist aus der Distanz und leicht erhöhtem Blickpunkt<br />
gegeben. Im Falle der Ansicht von Nürnberg selbst korrespondiert der Überblick<br />
des Betrachters mit dem kontrollierenden des Burgherrn, über den Schedel sagt:<br />
«darvon ist ein gesichte in die statt». 8 Zeitgleich mit Schedel arbeitete Martin Behaim<br />
am Entwurf seines ‹Erdapfels›, seinem Erdglobus, der die älteste erhaltene<br />
Darstellung der Erde in Kugelgestalt ist. Da er unmittelbar vor der Reise des Kolumbus<br />
bemalt wurde, fehlt Amerika; dennoch aber ist ein Zusammenhang gegeben,<br />
das zeitgenössische Interesse an der räumlichen Gestalt der Gänze der Welt.<br />
Behaim übrigens, ein Nürnberger Patriziersohn, lebte zeitweilig in Portugal, am<br />
Hof des Königs Johann II., und reiste mindestens einmal auch nach Afrika. 9<br />
Und nicht weit von Nürnberg liegt Regensburg, die Wirkungsstätte Albrecht<br />
Altdorfers, von dem das wohl grandioseste ‹Weltbild›, der Epoche stammt, nämlich<br />
die Alexanderschlacht von 1529 (Abb. 2). Dieses Gemälde zeigt die Erde nicht<br />
nur von oben, sondern geradezu aus der supervisionären Perspektive eines Satelliten.<br />
Wo die Maler der Renaissance in der Regel allseitig fest begrenzte, überschaubare<br />
und klar geordnete Räume darstellen, da weitet Altdorfer die Perspektive<br />
bis fast ins Unendliche, zieht den Blickvom nahsichtig gesehenen Kampfgetümmel<br />
unmerklich in große Höhe. Genauer gesagt: Der Betrachter, der von einem<br />
unwesentlich erhöhten Standpunkt aus auf das Kampfgeschehen hinabblickt,<br />
gewinnt dann, wenn er den Blick in die Bildtiefe richtet, visuell an Höhe.<br />
Wo eben noch das Kampfgeschehen war, sieht er nun im Mittelgrund das gesamte<br />
östliche Mittelmeer, die Insel Zypern, das Nildelta und dahinter noch das Rote<br />
Meer, überschaubar wie in der Realität nur aus dem Weltraum – und jenseits dessen,<br />
durch eine erstaunliche, weil gebogene Horizontlinie abgetrennt, auf die<br />
sich in umgekehrter Kurve ein Wolkenband hinabsenkt, Sonne und Mond in dramatischem<br />
Licht. Wo im Vordergrund noch Details des Zaumzeuges der Pferde zu<br />
erkennen sind, da geht (fast so etwas wie ein Zoom vom Mikro- in den Makrokosmos)<br />
das Bild Raumschicht für Raumschicht in eine Darstellung kosmischer Dimensionen<br />
über.<br />
11
2 Albrecht Altdorfer, Alexanderschlacht, 1529. 158 ×<br />
120 cm, Öl auf Holz, München, Alte Pinakothek.<br />
3 Pieter Brueghel zugeschrieben, Landschaft<br />
mit Ikarussturz, Detail, 1555. Holz auf Leinwand<br />
übertragen, 73.5 × 112 cm, Brüssel, Musées Royaux<br />
des Beaux-Arts de Belgique.<br />
12 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Hier handelt es sich also offensichtlich um etwas anderes als in den gleichsam<br />
abschreitbaren Darstellungen der Renaissance; dem Blickwerden sehr weite Räume<br />
geöffnet, die da, wo es um die Darstellung geografischer Großräume geht,<br />
aus großer Höhe visiert werden. Für diesen Typ von Landschaftsbildern, bei dem<br />
es um das Zeigen eines potenziell infiniten Ganzen geht, hat sich der Terminus<br />
‹Weltlandschaft› eingebürgert. Friedrich Schlegel, der die Alexanderschlacht 1803<br />
in Paris sah, wohin Napoleon sie verbracht hatte, entdeckte eine «Welt auf wenigen<br />
Quadratfüßen» und verstand die Darstellung des Mittelmeers durchaus als<br />
eine des Weltmeers.<br />
3.2009<br />
10 Bei Altdorfer geht noch um mehr; er gibt nicht nur eine<br />
«grandiose Landkarte», sondern «eine Schau des Erdballs und des Himmelsraums»<br />
zugleich. 11 Dass hier der Blickvon oben, die erstaunliche, geradezu extraterrestrische<br />
Vogelperspektive in eine kosmische Landschaft übergeht, alles bewegt<br />
von einem übergreifenden Dynamismus, ist immer wieder emphatisch beschrieben<br />
worden. Altdorfers Werkgehört ins Zeitalter der Entdeckungen mit<br />
seinen geografischen und kartografischen Interessen. Die Alexanderschlacht steht<br />
historisch genau zwischen der ersten technisch ausgereiften Vogelperspektive<br />
Jacopo de’ Barbaris und den Weltlandschaften Pieter Brueghels.<br />
Brueghels Werkist es auch, an dem Ludwig von Baldass 1918 den Begriff der<br />
‹Weltlandschaft› entwickelt hat (Abb. 3). Der ist umfassender als ‹Vogelperspektive›,<br />
bei der es nur um den hochgelegenen Blickpunkt geht; ein Synonym wäre<br />
eher noch ‹Überschaulandschaft›. In der ‹Weltlandschaft›, die von Baldass zunächst<br />
am Beispiel der Arbeiten Joachim Patinirs aus den Jahren um 1520 beschreibt,<br />
sind Stadt und Land, Gebirge und Ebene sowie alles nur mögliche Wei-
Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />
tere vereint; der Bildraum «entwickelt sich konsequent vom vorderen Bildrand<br />
bis zum Horizont«. 12 Erst bei Bruegel aber, und besonders in dessen Spätwerk<br />
nach 1559, sei eine Entwicklung hin zu «vollster räumlicher Freiheit» zu beobachten.<br />
13 Dabei erscheinen seine Werke «unendlich organisch» dadurch, «dass nicht<br />
zuletzt durch die Kunst der atmosphärischen Zusammenfassung das kosmische<br />
Vielerlei, aus dem sie zusammengesetzt sind, sich zu einem einheitlichen Bilde<br />
vereint». 14 Der Baldass’sche Text übrigens ist eine der Stützen für die Argumentation<br />
von Max Dvorak, der nur wenig später auch am Werk Brueghels einen modernen<br />
Begriff des Manierismus entwickelt. 15<br />
Wollte man ein Bild Brueghels herausgreifen, das den Typ ‹Weltlandschaft› beispielhaft<br />
verkörpert, so wäre dies vielleicht Der Sturz des Ikarus. Bruegel lebte in den<br />
1550er Jahren, an deren Ende das Ikarus-Bild entstand, in der aufstrebenden Welthandelsmetropole<br />
Antwerpen und war unter anderem mit Abraham Ortelius befreundet,<br />
von dem der erste Weltatlas stammt. Das Bild verbindet stufenlos Nahraum<br />
und Fernsicht, einen Acker im Vordergrund, eine Hafenstadt in mittlerer Entfernung,<br />
und, schon verschwimmend, Gebirgszüge am weit entfernten Horizont,<br />
hinter dem die Sonne schon halb verschwunden ist. Der stürzende Ikarus, klein wie<br />
eine beliebige Staffagefigur, ließe sich leicht übersehen, er ist bereits kopfüber ins<br />
Wasser gestürzt, nur seine Beine sind gerade noch sichtbar. Hier aber wird es interessant:<br />
So wie räumlich vom Nahen ins Ferne ‹gezoomt›, wird, so bringt Bruegel auf<br />
erstaunliche Weise auch vergehende Zeit ins Bild. 16 Im Moment des Beginns seines<br />
Sturzes war Ikarus sehr hoch gestiegen und der Sonne über ihm zu nah gekommen,<br />
was seine von Wachs zusammengehaltenen Flügel schmelzen ließ. Auf einem vorangegangenen<br />
Stich hatte auch Bruegel noch, wie es der Darstellungstradition entsprach,<br />
die Sonne hoch oben am Himmel dargestellt, und unter ihr den stürzenden<br />
Ikarus. Nicht so bei dem großen Gemälde: Die Sonne steht am Horizont, hat also ihre<br />
Bahn schon bis fast zum Untergang durchlaufen. In Zeit ausgedrückt, müssen also<br />
einige Stunden seit dem Beginn des Sturzes vergangen sein. Das aber bedeutet<br />
räumlich, dass dieser Sturz, dessen Ende wir auf dem Bild gerade noch sehen, aus<br />
den Tiefen des Weltraums heraus erfolgt sein muss. Mit dieser erstaunlichen Konstruktion<br />
verweist Bruegel also auf einen Raum, der gegenüber der im Bild repräsentierten<br />
Weltlandschaft noch nahezu unendlich viel weiter ist.<br />
III.<br />
Der Blickvon oben, wie er sich mit dem Typ der Weltlandschaft zwischen Altdorfer<br />
und Brueghel reich entfaltet, zeigt einen anderen Blickauf die Welt, als ihn etwa<br />
Stadtansichten oder Landschaften der Renaissance geboten hatten. Und dabei<br />
geht es nicht einfach um eine Veränderung des Sehwinkels – denn wer schräg<br />
von oben und aus weiter Distanz blickt, dem bieten sich die Dinge zugleich auch<br />
weniger als einzelne dar, sondern sie erscheinen in einem größeren Zusammenhang.<br />
Zeitlich fallen die prominentesten Beispiele von Weltlandschaften in die<br />
Übergangsepoche des Manierismus. Die Pole der Veränderung zwischen Renaissance<br />
und Barocksuchte Heinrich Wölfflin in fünf Gegensatzpaaren zu erfassen.<br />
So sieht er mit der Entwicklung vom ‹Linearen› zum ‹Malerischen› den tastbaren<br />
Charakter der Dinge zum Barock hin sich auflösen: «Das plastische und konturierende<br />
Sehen isoliert die Dinge, für das malerisch sehende Auge schließen sie sich<br />
zusammen»; es gehe um die «Sichtbarkeit in ihrer Gesamtheit». 17 Und als zweites<br />
indirekt auch den Blick von oben und die Weltlandschafen mit berührendes<br />
13
14 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Merkmal ist die Entwicklung vom «Vielheitlichen zum Einheitlichen» zu nennen;<br />
die Selbständigkeit der einzelnen Teile wird graduell durch den Wunsch nach<br />
Einheitlichkeit oder nach «Unterordnung der übrigen Elemente unter ein unbedingt<br />
führendes» abgelöst.<br />
3.2009<br />
18 Man vergleiche nur den Platz vor dem Findelhaus in<br />
Florenz mit dem Petersplatz in Rom, und diese grundsätzliche Differenz zeigt<br />
sich genauso wie zwischen einer der gemalten idealen Stadtansichten der Renaissance<br />
und der Alexanderschlacht, von der ja Oskar Kokoschka nicht zufällig<br />
meinte, dass hier zum ersten Mal der Barocksichtbar werde. 19 Der die Dinge<br />
nicht separierende, sondern synthetisierend verschmelzende Blickvon oben gehört<br />
also auch in die Geschichte der grundsätzlichen Veränderung der Sehweise,<br />
wie sie zwischen Renaissance und Barockzu beobachten ist.<br />
Wollte man nun ein Leitmotiv der mit dem Barockheraufziehenden Epoche<br />
von Absolutismus und Gegenreformation benennen, so könnte man von Herrschaftsausübung<br />
durch Blickachsenorganisation sprechen. Dies gilt für jede nur<br />
denkbare Richtung im Raum; stets geht es um die Möglichkeit der Supervision,<br />
den Punkt, von dem aus und auf den hin das Zueinander von Dingen und Menschen<br />
organisiert wird. Räume werden in einem bisher unbekannten Maß gleichsam<br />
choreografisch durchgearbeitet, die Teile auf ein Ganzes bezogen. Zentralperspektivische<br />
Ordnungsverfahren, obwohl ursprünglich nicht für diesen<br />
Zweckentwickelt, sind unter solchen Umständen besonders den Interessen eines<br />
absoluten Souveräns dienstbar. «Nur in einer Gesellschaft,» so Rudolf zur Lippe,<br />
«in der eine Person das richtige Sehen aller für sie und vor ihnen repräsentativ<br />
wahrnimmt, nur an einem absolutistischen Hof gibt es einen ‹idealen Betrachter›,<br />
der, im Distanzpunkt sitzend, der perspektivischen Darstellungswirklichkeit<br />
politisch die Geltung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verleihen kann.» 20<br />
Hier ließe sich eine Linie ziehen, deren Ausgangspunkt Andrea Palladios um<br />
1580 entstandenes Teatro Olympico ist, mit seinem schräg ansteigenden Bühnenboden<br />
und fest eingebauten Kulissen, angedeuteten Straßenzügen, die sich<br />
nach fünf Richtungen hin von einem zentralen Punkt im Zuschauerraum aus verzweigen<br />
oder auf diesen zulaufen, den idealen Beobachtungspunkt eben auch.<br />
Den Endpunkt bildeten die zentralen Räume in Versailles, um die herum sich die<br />
Architektur des Schlosses genauso wie die Anlage von Garten und Stadt organisieren.<br />
In diesem Fall kann man auch von einem Achsenkreuz sprechen, wobei<br />
die eine Achse aus der Stadt durch das Schloss in den Garten hinein verläuft,<br />
während die andere in Versailles durch den Spiegelsaal, und im Normaltyp des<br />
barocken Schlosses durch die Enfilade gebildet wird, eine verbindende Querachse,<br />
die von einem Ende zum anderen durchsehen werden kann. In einem allgemeinen<br />
Sinn setzte damit der Absolutismus ein zentralistisches Herrschaftsprinzip<br />
durch, das auch moderne Staatsformen weiterentwickeln sollten, allerdings<br />
in weniger visuell offensichtlicher und grandioser Form. 21<br />
Idealtypisch müsste dieser Weise einer horizontalen Raumerfassung eine vertikale<br />
entsprechen. Und tatsächlich gehört mit dem Blick von oben eine solche<br />
genauso zum Epochenprofil. Allerdings handelt es sich hier zumeist nicht um reine<br />
Vertikal- oder Plansichten, sondern um ein weites Spektrum schräger Blickwinkel,<br />
um Vogelperspektiven also. Eine typische Bildform sind die Topografien.<br />
Die wohl berühmtesten Stadtansichten dieses Typs stammen von Matthäus Merian,<br />
einem Kupferstecher und Verleger, in dessen in der Zeit des Hochbarockerschienener<br />
Topographia Germaniae schließlich über zweitausend Orte dargestellt
Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />
4 Matthäus Merian, Topographia und eigentliche<br />
Beschreibung der vornembsten Stäte, Schlösser auch<br />
anderer Plätze und Örter in denen Herzogthümer<br />
Braunschweig und Lüneburg, und denen dazu gehördenden<br />
Grafschafften, Herschafften und Landen,<br />
Frankfurt am Main 1654.<br />
waren, und der besseren Übersicht halber in aller Regel von einem erhöht gelegenen<br />
Standpunkt aus. Von Merian stammt auch ein großer Vogelschauplan von<br />
Frankfurt am Main (Abb. 4), der, auf vier Platten gedruckt, 1628 zum ersten Mal<br />
erschien und in überarbeiteten Auflagen bis 1770 immer wieder neu gedruckt<br />
wurde. Insgesamt lässt sich über seine Ansichten sagen, dass «die Städte miniaturisiert,<br />
in die Ferne gerückt» werden, was ebenso wie der erhöhte Blickpunkt<br />
die Überschaubarkeit befördert. 22<br />
Für die Darstellung von Schlössern und Parkanlagen, zur Repräsentation also<br />
auch eines aristokratischen Herrschaftsanspruchs, wurden ähnliche Bildmuster<br />
verwendet. 23 Besonders bedeutsam scheint darüber hinaus die spezifische Anwendung<br />
der Vogelperspektive für Zwecke der Architekturdarstellung. Hier ist an die<br />
Arbeit des bedeutenden spätbarocken Architekten Filippo Juvarra zu erinnern. Bei<br />
Carlo Fontana in Rom ausgebildet, war er zuerst Bühnenbildner, eine Erfahrung,<br />
die seiner späteren Arbeit zugute kam. 1714 wurde Juvarra Hofarchitekt des Königs<br />
von Savoyen. Er blieb zwanzig Jahre in Turin und schuf hier und im Umland<br />
Meisterwerke wie die Superga oder das Schloss Stupinigi. Bedeutend ist auch sein<br />
zeichnerisches Werk, und dies nicht zuletzt wegen des innovativen Einsatzes von<br />
Visualisierungstechniken. Die allgemein gebräuchlichen Planzeichnungen sind<br />
zwar präzise, aber für den Laien oft wenig anschaulich. Bauten in allen drei Dimensionen<br />
exakt zu definieren, war nicht üblich; erst beim Neubau von Sankt Peter in<br />
Rom, also in der Mitte des 16. Jahrhunderts, ging man dazu über, mit Grundriss,<br />
Aufriss und Schnitt einen Bau schon in der Planungsphase tatsächlich zu fixieren.<br />
Juvarra ging um 1700 noch einen Schritt weiter: «Vogelschauperspektiven, die<br />
Kontrolle von Sichtachsen mit Hilfe von Skizzen oder die Überprüfung der Wahr-<br />
15
16 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> nehmung einer Schlossanlage aus der fahrenden Kutsche heraus stehen in ihrer<br />
Gesamtheit [...] für ein multiperspektivisches Planungsverfahren».<br />
3.2009<br />
24 Dabei erlaubt<br />
gerade die Vogelperspektive, die das Objekt aus beliebiger Höhe zeigen kann, in einer<br />
Art Intensivierung oder Überdehnung des räumlichen Eindrucks auch besondere<br />
Eigenschaften noch besonders herauszustellen.<br />
Die Kunst des Barockkennt auch so etwas wie die Umdrehung der Vogelperspektive,<br />
eine kunstvolle Inszenierung also nicht nur des Blicks von oben, sondern<br />
auch nach oben. Mit der malerischen Öffnung des Blickfeldes in Richtung<br />
Himmel ist im barocken Illusionismus der Anschauungsraum so gekippt wie anders<br />
herum in den Weltlandschaften. Die Deckenmalerei entwickelt sich im 16.<br />
Jahrhundert weit über die Vorstufen in der Frührenaissance hinaus und gipfelt in<br />
den Arbeiten Pietro da Cortonas und Andrea Pozzos, und später noch einmal bei<br />
Giovanni Battista Tiepolo. Decken oder Kuppeln werden ihrer raumabschließenden<br />
Funktion enthoben, Blicke in perspektivischer Untersicht über gemalte Architekturen<br />
und Figuren aus dem Realraum hinaus in einen unbegrenzten Himmelsraum<br />
geführt. Bei solchen Malereien ist das gewohnte Koordinatensystem<br />
außer Kraft, die irdische Tektonik gerät weit mehr als bei den Vogelperspektiven<br />
in die Schwebe. Der Bezug auf unsere Körperachse und die vertrauten Begriffe<br />
von Richtung und Schwere, zu denen wir horizontal organisierte Bildwelten unwillkürlich<br />
in Bezug setzen, ist nicht mehr gegeben. Wo das Hintereinander von<br />
Figuren zu einem Übereinander an der Decke geworden ist, verändern sich alle<br />
Relationen. Die Betrachtung solcher Werke ist also, wie Wolfgang Schöne einmal<br />
formulierte, «vom Steuer der Schwerkraft gelöst». 25<br />
Wenn sich hier also nach der horizontalen auch verschieden gerichtete vertikale<br />
Modi der Raumerfassung zeigen, so wären die spatialen Strategien des Barockdoch<br />
nicht zureichend beschrieben, käme nicht auch noch die Frage der Dimensionierung<br />
ins Spiel. Hier ist so etwas wie ein Sprung ins maximal Mögliche<br />
zu beobachten, vor allem, wenn man barocke Größenskalierung mit der in vorangegangenen<br />
Epochen vergleicht. Leonardo Benevolo weist diesbezüglich in seinem<br />
schönen kleinen Buch Fixierte Unendlichkeit auf Alexandre Koyrés Werk Von<br />
der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum hin und sieht, wo letzterer für<br />
die Wissenschaftsgeschichte des 17. Jahrhundert einen Aufbruch ins Unendliche<br />
feststellte, etwas entsprechendes auch in der Architektur, nämlich den Versuch,<br />
«in den noch unerforschten Bereich der großen Dimension vorzudringen». 26 Was<br />
dies bedeutet, zeigt ein Vergleich mit dem Mittelalter (und auch der Renaissance):<br />
Bis dahin waren Architekturen, zumindest die der griechisch-römischen Tradition,<br />
in der Regel von überschaubarer, den menschlichen Sinnen angemessener<br />
Größe, was auch in Bezug auf die Reichweite der Stimme gilt. Vor allem aber entfalten<br />
diese Bauten «innerhalb einer Entfernung von dreihundert Metern [...] ihre<br />
maximale räumliche Wirkung»; jenseits dessen wirken sie deutlich flacher. Ausnahmen<br />
waren exponierte und auf weite Distanz sichtbare Anlagen wie etwa die<br />
Akropolis in Athen oder die Tempelformation von Agrigent: Hier wurde der Gefahr<br />
der Verflachung durch sorgfältige Platzierung und Konturierung entgegengewirkt,<br />
während die mächtigen gotischen Kathedralen immer entschieden auf<br />
Nahsicht hin detailliert sind. 27<br />
Die bis dahin also meist respektierten Grenzen wurden schon in der Renaissance<br />
langsam verschoben, Donato Bramante bietet Abweichungen gleich in<br />
zwei Richtungen: Sein Tempietto zeigt eine leise befremdende Miniaturisie-
Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />
rung, während seine Pläne für den Vatikan, genauer für den Belvederehof und<br />
Sankt Peter, den Maßstab langsam vergrößern. Wenige Jahrzehnte später, in<br />
der Zeit der Weltbildrevolution durch Nicolaus Copernikus, Giordano Bruno<br />
und Galileo Galilei sowie des sich entfaltenden Barock, erfolgt dann der große<br />
Sprung in Architektur und Raumplanung, nach dem die gewohnten und vielfach<br />
anthropomorphen Bezüge nicht mehr gegeben sind. 28 Als Architekturen<br />
allein zeigen Sankt Peter und Versailles das Resultat. Und hinsichtlich eines Zusammenspiels<br />
von Architektur und Raumplanung kann wieder das Turiner Gebiet<br />
als Beispiel dienen: Juvarra nämlich positionierte die Superga auf einer Linie,<br />
welche die Verlängerung einer Uferstraße des Po ist. So entsteht eine perspektivische<br />
Achse über die erstaunliche Distanz von annähernd zwanzig Kilometern.<br />
Von der Kirche aus ergibt dies auch eine Vogelperspektive, zuerst vierhundert<br />
Meter hinab und dann hundert wieder hinauf. Jenseits das Ausgangspunktes<br />
der Uferstraße liegt noch das Schloss von Rivoli, das natürlich auch<br />
von der Superga aus zu sehen ist. Mit ihm erst entsteht das ganze Bild: «Die beiden<br />
Komplexe modellieren und betonen die Lage Turins zwischen zwei Gebirgszügen,<br />
den Alpen und dem Apennin, indem sie die Formationen durch ein Netz<br />
feiner visueller Linien zueinander in Beziehung setzen.» Und wertend fährt Benevolo<br />
fort: «Hierbei handelt es sich um die mit Abstand spektakulärste perspektivische<br />
Wirkung, die mit Hilfe der Architektur je erzielt worden ist.» 29<br />
Darum geht es also: Perspektiven bis an die Grenze ihrer Wahrnehmbarkeit<br />
auszudehnen, in fast unbegrenzte Weiten vorzudringen.<br />
Hier spielt beides zusammen, großräumige perspektivische Raumorganisation<br />
und der Blickvon (und nach) oben, der, bei solcher Dimensionierung und anders<br />
als es bei horizontaler Disposition der Fall wäre, das Gesamtbild erst erkennbar<br />
macht. Beides, die Perspektive und der Blick von oben, sind neuzeitliche<br />
Welterfassungs- und Welterfahrungsmittel. Und ähnlich wie erstere setzt der<br />
Blickvon oben einen grundsätzlichen Einstellungswandel voraus. Um 1700, in<br />
der Zeit Juvarras, gibt es bereits eine zweihundertjährige Praxis, in der die Vogelperspektive,<br />
begründet mit Jacopo de’ Barbaris Venedigansicht, sich immer weiter<br />
ausdifferenziert hat. Es ist nun eine etablierte Form, die Welt darzustellen,<br />
und in ihr zeigt sich auch in allgemein weltanschaulicher Betrachtung eine neue<br />
Sicht. Was deren spezifische Eigenschaften sind, offenbart schnell ein Rückblick<br />
auf Antike und Mittelalter. In beide Epochen gibt es, so Hans Blumenberg, «eine<br />
eigentümliche Hemmung, die Welt von oben zu betrachten oder als vom Menschen<br />
betrachtet zu denken». 30 Als naturgegeben scheint der Mensch sein Dasein<br />
auf der Erde zu empfinden, in einer horizontal strukturierten Erfahrungswelt,<br />
aus der er höchstens einmal nach oben blickt. Prägnant beschrieb dies Jacob<br />
Burckhardt am Beispiel griechischen Empfindens:<br />
Es ist wahr, dass liebevoll ausgeführte Schilderungen sich fast immer auf die Nähe, ja auf<br />
das eng Eingeschlossene, auf Waldtäler, Grotten usw. beziehen [...] dagegen fehlt, so viele<br />
Akropolen auch hoch über ihre Städte emporragten, jede Schilderung des Blickes aus<br />
der Höhe in die Tiefe und Weite. 31<br />
Nur die Götter schauen von oben. Diese Einstellung ändert sich sehr langsam.<br />
Kurz vor Beginn der Renaissance ist Francesco Petrarcas Beschreibung seiner Besteigung<br />
des Mont Ventoux auch deswegen ein so aufschlussreicher Text, weil<br />
die alte und eine sich herausbildende neue Sicht sich eigenartig durchdringen. Einerseits<br />
treibt ihn an einem Apriltag des Jahres 1336 die Begierde, den hochgele-<br />
17
genen Ort kennenzulernen, und damit wohl auch der Wunsch nach einem Blick<br />
von oben hinab auf die Welt, andererseits aber richtet er vom Gipfel seinen Blick<br />
nach oben, auf das himmlische Leben. Doch schon mit dieser Ambivalenz rechnet<br />
ihn Burckhardt zu den «frühesten unter den Modernen», weil er nämlich die<br />
Landschaft als etwas aus sich heraus Schönes wahrgenommen habe. 32 Und tatsächlich<br />
zeigt gerade die seit dieser Zeit sich entwickelnde Landschaftsmalerei<br />
eine stufenweise Abfolge sich aufschlussreich verändernder Interessen, was mit<br />
staunenswerter Übersicht wohl zuerst von Johann Wolfgang von Goethe beschrieben<br />
wurde. Er spricht von Dürer, Brueghel, auch Merian und einer «nach<br />
und nach steigenden Anmut», um dann mit Claude Lorrain gleichsam den Vollender<br />
einer weiträumigen, meist aus leichter Höhenlage Übersicht schaffenden<br />
Landschaftsdarstellung zu feiern; bei ihm sei ein Prozess der Emanzipation abgeschlossen;<br />
«das 17. Jahrhundert», so Goethe, «befreit sich immer mehr von der<br />
zudringlichen äußeren Welt». 33 Dies sind zugleich die Zeit und auch die Sicht des<br />
Absolutismus. Das Privileg nur der Götter bei den Alten, nämlich von oben zu<br />
schauen, ist nun neuzeitlich-profan einerseits sublim ästhetisiert und zugleich<br />
herrscherlicher Praxis zugänglich gemacht. 34<br />
18 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> IV.<br />
Die großen Expeditionen, die Captain James Cookund andere in der zweiten<br />
Hälfte des 18. Jahrhunderts unternahmen, sollten weitreichende Auswirkungen<br />
auf das Weltbild der Jahre um 1800 haben, auf eine Epoche also, die heute auch<br />
als zweites Entdeckungszeitalter firmiert. So veränderte sich der Bildungsbegriff,<br />
man begann, statt einer humanistischen eine globale Bildung zu fordern, die<br />
eben auch den neuen Welterfahrungen Rechnung tragen sollte.<br />
3.2009<br />
35 Signifikanter<br />
Ausdruckdieser Orientierung ist die Begründung der neuen Wissenschaft der<br />
Erdkunde durch Carl Ritter. Carl von Clausewitz, Karl Marx, Wilhelm Raabe und<br />
Alexander von Humboldt waren unter seinen Hörern, als er von 1820 an der Berliner<br />
Universität seine Vorstellung einer globalen Bildung entwickelte, die allein<br />
einer nunmehr als allseitig zusammenhängend verstandenen Welt angemessen<br />
sei. Hier entwickelt sich die Frühform einer planetarischen Perspektive, die wir<br />
heute Globalisierung nennen:<br />
Die früher getrennt scheinende Gestadewelt des Planeten wurde in ihrem Gesammtkreis,<br />
in allen Zonen, zu einer Einheit erhoben für das System der Wissenschaft, wie für die Kulturwelt<br />
und für den Markt des gemeinen Lebens, des Tageverkehrs, der selbst nicht ohne<br />
merklichen Einfluss auf Geschichte, Politik und allgemeine Kultur bleibt. 36<br />
In diesen Jahren wurde der Planet nicht nur als Einheit, sondern darüber hinaus<br />
auch in noch einmal erweiterten Zusammenhängen betrachtet. Issac Newtons<br />
neue Kosmologie und ebenso die Erfindung der Montgolfieren erlaubten einen<br />
auf besondere Weise distanzierten Blickvon außen und von oben auf die<br />
menschliche Lebenswelt. Dies hatte auch ästhetische Konsequenzen. Im Jahr<br />
1784 entwarf Étienne-Louis Boullée seinen Kenotaph für Newton, mit dem das<br />
Weltbild der neuen Kosmologie signifikant verbildlicht ist (Abb. 5).<br />
Mit Newton wurde «die Vorstellung von der Unendlichkeit des Universums, in<br />
der die Erde nur ein winziges Gestirn unter anderen ist und in der der Mensch<br />
keine ausgezeichnete Stellung mehr behaupten kann», auf epochale Weise manifest.<br />
37 Jede Rahmung oder Einordnung, jede Korrespondenz zu gewohnter Erfahrung,<br />
ja sogar jeder geozentrische Bezug ist fortan obsolet. Boullée entwirft nun
Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />
5 Étienne-Louis Boullée, Kenotaph für Isaac<br />
Newton, 1784. Modell im Maßstab 1:400 auf der<br />
Grundlage von Zeichnungen, 2002, Gips und<br />
Alabaster, Höhe 42 cm, Durchmesser 84 cm.<br />
eine gewaltige und kaum auf Realisierbarkeit hin angelegte Kugel, in deren Innern<br />
der Besucher, wie der Schnitt zeigt, leicht erhöht gestanden haben würde,<br />
mit der Möglichkeit also des freien Blicks nach allen Seiten. Über ihm wäre bei<br />
Tageslicht ein Bild des nächtlichen Sternenhimmels erschienen: Durch Röhren<br />
nämlich, die die obere Hälfte der innen dunklen Kugel durchstoßen, und die in ihrem<br />
Verlauf alle auf den Blickpunkt des Besuchers gerichtet sind, wären einzelne<br />
Lichtpunkte des Tageshimmels sichtbar geworden, um nun aber eine nächtliche<br />
Sternenkonstellation zu repräsentieren. Jedem, der unter solch gewaltigem<br />
künstlichem Himmelsgewölbe stünde, würde also die Erfahrung suggeriert, in<br />
der unendlichen Weite eines kosmischen Raumes ausgesetzt zu sein.<br />
Boullée hat einige Jahre nach diesem Entwurf in seiner Abhandlung über die<br />
Kunst einige der grundsätzlichen Überlegungen mitgeteilt, die ihn dabei leiteten.<br />
Hier gibt es einen Abschnitt über das ‹Erhabene›, in dem von einer besonderen<br />
Schönheit die Rede ist, die sich unter anderem in der Erscheinung sehr großer<br />
Räume oder Objekte zeige, denen gegenüber es keine Vergleichsmöglichkeiten<br />
mehr gibt. Und in das Erfahrungsfeld des Erhabenen gehört für Boullée neben<br />
seinem Kenotaphen noch eine andere Kugel, die nämlich des Ballons, in dem<br />
man, wie er schreibt, «in den Lüften schwebend, die Erde aus den Augen verloren<br />
hat und von der ganzen Natur nur noch den Himmel erblickt». 38 Der Blickvon<br />
oben ist also mit einer gänzlich neuen Erfahrung verbunden, wenn er aus einer<br />
Höhe wie der des Boullée’schen Ballons erfolgt: Statt mit Übersicht und Welterkenntnis<br />
geht er nun mit Alienation einher. Genau diese Erfahrung sollte den Ballonfahrer<br />
in Adalbert Stifters 1840 erschienener Erzählung Der Condor veranlassen,<br />
den Wert gerade des begrenzten irdischen Lebens zu preisen. Wo Boullée<br />
den Blickganz entfesseln will, sein Interesse auf die erhabenen Leerräume des<br />
Kosmos richtet, nach außen, ins Unbekannte, da wendet sich Stifter zurück, wie<br />
es übrigens auch viele Astronauten taten, die die (Wieder-) Entdeckung der<br />
Schönheit der Erde zu den wesentlichen Erträgnissen ihrer Flüge zählten.<br />
V.<br />
Schon vor den beiden Schwellen erst zum Zeitalter des Ballons und dann zur eigentlichen<br />
Luftfahrt im 20. Jahrhundert hatten sich ja bereits staunenswert ausdifferenzierte<br />
Modi des Umgangs mit dem Blickvon oben herausgebildet, und<br />
zwar als Teil neuzeitlicher Inbesitznahme des Raumes. Die Luftfahrt selber wurde<br />
erst nach der Phase der Flugpioniere vom Schlage eines Louis Blériot und nach<br />
19
dem wesentlich auf Luftaufklärung beschränkten Einsatz im Ersten Weltkrieg zu<br />
einem, wie man sagen könnte, Weltbildgenerator, und das, wie eingangs erwähnt,<br />
besonders in den 1920er Jahren. Aviatorische Seherfahrungen fließen in<br />
die Ästhetik der zwanziger Jahre ein – sie werden zum Anknüpfungspunkt für die<br />
Fotografen des ‹Neuen Sehens›. Von ihnen wird, wie etwa das prominente Beispiel<br />
Alexander Michailowitsch Rodtschenkos zeigt, das Kippen des Anschauungsraums<br />
zum Programm erhoben. Verwandt sind in dieser Hinsicht auch Programmatikund<br />
Werkdes Filmemachers Dziga Vertov. In einem Manifest von<br />
1923 erkärt er, dass es ihm – bei beständiger Eigenbewegung – um die kameratechnische<br />
Exploration aller nur denkbaren Aspekte des Raums zu tun ist.<br />
Dieses epochenspezifische gestalterische Wollen wurde in der zweiten Hälfte<br />
der zwanziger Jahre von László Moholy-Nagy in zwei am Bauhaus publizierten<br />
Büchern gleichsam synthetisiert. Im zweiten dieser Bände, der 1929 unter dem<br />
Titel Von Material zu Architektur erschien, vergleicht er beispielsweise Luft- mit<br />
Mikroaufnahmen und sieht in beiden Fällen die Möglichkeit, sonst verborgene<br />
Zusammenhänge zu erkennen. Moholy nutzt die Luftaufnahmen als eines der<br />
Medien, die seinen dynamischen Begriff des Raumes veranschaulichen, eines<br />
Raumes, dessen Grenzen flüssig werden, in dem innen und außen und oben und<br />
unten «zu einer Einheit verschmelzen», in dem eine one world, ein stetes Fluktuieren<br />
an die Stelle statischer Beziehungen getreten ist. 39<br />
Dem beweglich gewordenen und geweiteten Raumbild der Künstler entspricht<br />
auf der allgemeinen Ebene eines übergreifenden Weltbildes die Vorstellung<br />
der one world, das heißt, einer Welt vielfältiger Interaktion und des Ausgreifens<br />
in jede nur mögliche Richtung des Raumes, was ja auch Jaspers schon gespürt<br />
hatte. One world war das wohl wirkungsmächtigste politische Schlagwort<br />
der mittleren vierziger Jahre. Es leitet sich ab vom Titel eines millionenfach verkauften<br />
Buches von Wendell Willkie. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entwikkelte<br />
er ein Konzept, wie die USA in Kooperation mit anderen Staaten unter Nutzung<br />
der im Krieg aufgebauten Infrastrukturen den Übergang in eine friedliche<br />
und demokratische Nachkriegswelt bewerkstelligen könnten.<br />
Von Wendell Willkie stammt auch das Motto für eine Ausstellung im New<br />
Yorker Museum of Modern Art, in der diese neue Weltordnung visualisiert werden<br />
sollte. Ihr Titel war Airways to Peace, und gestaltet wurde sie 1943 vom ehemaligen<br />
Bauhaus-Künstler Herbert Bayer (Abb. 6). Mit der Technikeines dreidimensional<br />
organisierten field of vision, setzte er auf eine intensivierte, Zusammenhänge<br />
mit einem Blickübergreifende Partizipation der Besucher. Dies geschah<br />
auch durch Rampen, von denen die Besucher fast wie aus dem Flugzeug<br />
auf unter ihnen ausgebreitete Großfotos herabsahen, Luftaufnahmen zumeist.<br />
Die Inszenierung dieser Ausstellung, ihre raumintegrierende Gestalt, und ebenso,<br />
noch im Krieg, die optimistische Vorführung einer zukünftigen Geografie globaler<br />
Bezüge – das weist beides auf ein Raumbewusstsein, das Separation nicht<br />
mehr kennt. Bayers gestalterisches Kredo eines allseitig freien Energie- und Kommunikationsflusses,<br />
das er seit seinen Bauhaus-Zeiten laufend fortgeschrieben<br />
hatte, ist hier wie selbstverständlich auf die Visualisierung eines politisch-zivilisatorischen<br />
Großprojektes übertragen. Die Luftfahrt und der Blick von oben induzieren<br />
ein Weltbild, das vom Gedanken universeller Interaktion geprägt ist.<br />
Dabei ist nun, in der Mitte des 20. Jahrhunderts, der Blickvon oben häufig ein<br />
Blickaus sehr großer Höhe oder Entfernung. Die Perspektive in den frühen Jah-<br />
20 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />
6 Herbert Bayer, Grafische Darstellung des erweiterten<br />
Gesichtsfeldes, 1935.<br />
ren der Luftfahrt ließe sich demgegenüber vielleicht als ‹pastoral› bezeichnen.<br />
Geringe Flughöhen verweisen trotz allem noch auf das vertraute Bild der Welt.<br />
Bei Flughöhen um zehntausend Meter ändert sich dies. Der wachsende Abstand<br />
zum Konkreten zeigt sich symptomatisch an einer Arbeit von Gyorgy Kepes, einem<br />
langjährigen Partner von Moholy-Nagy. Kepes erhielt 1959, also am Beginn<br />
des jet age, von der Fluggesellschaft KLM den Auftrag, an der Fassade ihrer New<br />
Yorker Niederlassung das Nachtbild einer Stadt aus der Luft darzustellen. Er löste<br />
die Aufgabe mit einer «mobilen Lichtwand», durch die er auch seinem allgemeinen<br />
Arbeitsziel, nämlich eine «dynamische Ikonografie» für die Gegenwart zu<br />
entwickeln, näherzukommen glaubte. 40 Ein vielfach durchbrochener Aluminiumschirm<br />
wurde von hinten durch farbige Lampen und Röhren so beleuchtet, dass<br />
mit dem Wechsel von Stromimpulsen fließende Lichtmuster entstanden. Auf<br />
schwarzem Grund wurden – immer unter der Voraussetzung des vom Straßenpassanten<br />
vorzustellenden Blicks von oben – mehrere Raumschichten sichtbar,<br />
eine untere fein punktierte Rasterstruktur, über der, fast in der Manier des Abstrakten<br />
Expressionismus, der im Atelier ja auch von oben abgeworfenen drips<br />
von Jackson Pollock, leuchtende Farbspuren lagen, hier vielleicht Wolken repräsentierend.<br />
Für Kepes ist das reale Nachtbild einer Stadt aus dem Flugzeug eines<br />
der «großen Schauspiele unserer Epoche»; zugleich erinnert es, schreibt er weiter,<br />
«an die großen bunten Fenster der Kathedralen des 13. Jahrhunderts». 41 Und<br />
dies ist nun eine sehr moderne Inversion: Das numinose Leuchten der Glasmalereien<br />
kehrt wieder als Effekt der Beleuchtung nächtlicher Städte. Der Blick geht,<br />
statt wie bei den Gläubigen hoch zum Fenster in die Darstellungen biblischen Geschehens,<br />
nun von hoch oben hinunter zur Welt. Mit dem im Flugzeug gegebenen<br />
Abstand aber hat sich das Bild der Körper- und Anschauungswelt in ein vibrierendes<br />
Lichtmuster verwandelt.<br />
Einen Sprung in noch ganz andere Dimensionen brachte die Weltraumfahrt.<br />
Eine neue Ära auch der Fotografie begann, als 1946 die ersten Aufnahmen von<br />
jenseits der Erdatmosphäre gemacht wurden. Kameraträger waren nach Amerika<br />
verbrachte deutsche V2-Raketen. Doch alles, was es bis dahin an Bildern gegeben<br />
hatte, wurde durch eine Aufnahme in den Schatten gestellt, die im Grunde ein<br />
Abfallprodukt der Erkundung der Mondoberfläche gewesen ist und doch zugleich<br />
auch in einem ganz konkreten Sinn das Weltbild veränderte: Das ist die Aufnah-<br />
21
me, die Lunar Orbiter I im Jahre 1966 aus einer Mondumlaufbahn heraus von der<br />
Erde machte. Dies war der erste Blickauf den Planeten in seiner Ganzheit, und er<br />
zeigte, wie Beaumont Newhall formulierte, «a globe suspended in space». 42 Der<br />
Blickging nicht mehr auf die Erde hinunter, sondern zur Erde hin – und insofern<br />
ist dies, anders als es erscheinen mag, zumindest im üblichen Sinne auch kein<br />
Blickvon oben mehr, denn das bis dahin quasi unverrückbare Bezugssystem Erde<br />
ist hier relativiert. Als nach der Mondlandung von 1969 das Interesse am Erdtrabanten<br />
und an weiteren Explorationen des kalten und leeren Weltraums relativ<br />
schnell verblasste, wurde offenkundig, dass auf die Dauer das Bild unseres blauen<br />
Planeten die eigentlich faszinierende Entdeckung war, so dass die Feststellung<br />
erlaubt ist, dass das, «was als interplanetarische Expedition zu fernen Abenteuern<br />
begonnen hatte, in einem gewissen Sinn mit einer Rückwendung zum<br />
Ausgangspunkt endete». 43<br />
22 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Christoph Asendorf Von der ‹Weltlandschaft› zur planetarischen Perspektive<br />
Anmerkungen<br />
1 Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit,<br />
Berlin 1971, S. 72.<br />
2 Romano Guardini, Die Technik und der<br />
Mensch. Briefe vom Comer See, Mainz 1981, S. 37<br />
und 42.<br />
3 ErnstH.Gombrich,Aby Warburg, Frankfurt<br />
am Main 1981, S. 303.<br />
4 Paul Valéry, «Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit»,<br />
in: ders., Werke. Frankfurter Ausgabe,<br />
Frankfurt 1995, S. 479–483, hier S. 479.<br />
5 Paul Klee, Das bildnerische Denken, hg.v.<br />
Jürg Spiller, Basel 1956, S. 79.<br />
6 Andrew John Martin, «Das Bild vom Fliegen.<br />
Dokumentierte Flugversuche und das Aufkommen<br />
von Ansichten aus der Vogelschau zu<br />
Beginn der frühen Neuzeit», in: Fliegen und<br />
Schweben, hg. v. Dieter R. Bauer u. Wolfgang<br />
Behringer München 1997, S. 223–239.<br />
7 Martin Warnke, Spätmittelalter und frühe<br />
Neuzeit 1400–1750. Geschichte der deutschen<br />
Kunst, Bd. 2, München 1999, S. 51.<br />
8 Ebd, S. 54.<br />
9 Führer durch die Sammlungen, hg.v.Germanischen<br />
Nationalmuseum, Nürnberg 2001, S.<br />
92.<br />
10 Europa. Eine Zeitschrift, hg. v. Friedrich<br />
Schlegel, 1803, hier zit. n. Altdorfer und der<br />
phantastische Realismus in der deutschen Kunst,<br />
Ausst.-Kat. Centre Culturel du Marais, Paris<br />
1984, S. 250. Vgl. zu den geistesgeschichtlichen<br />
Hintergründen: Ernst Behler, Friedrich Schlegel,<br />
Reinbek1966, S. 93.<br />
11 Otto Benesch, Der Maler Albrecht Altdorfer,<br />
Wien 1940, S. 31.<br />
12 Ludwig von Baldass, «Die niederländische<br />
Landschaftsmalerei von Patinir bis Bruegel», in:<br />
Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des<br />
Allerhöchsten Kaiserhauses, Bd. 34, Wien 1918, S.<br />
111–157.<br />
13 Ebd., S. 154.<br />
14 Ebd., S. 155.<br />
15 Max Dvorak, «Pieter Bruegel der Ältere», in:<br />
Kunstgeschichte als Geistesgeschichte, Berlin<br />
1995, S. 219.<br />
16 Vgl. Rose-Marie Hagen u. Rainer Hagen,<br />
Meisterwerke im Detail, Bd. 1, Köln 2005, S. 264<br />
sowie Christine Buci-Glucksmann, Der kartographische<br />
Blick der Kunst, Berlin 1997, S. 9 und<br />
Beat Wyss, Peter Brueghels Landschaft mit Ikarussturz,<br />
Frankfurt am Main 1990.<br />
17 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche<br />
Grundbegriffe, Dresden 1983, S. 22.<br />
18 Ebd., S. 23.<br />
19 Oskar Kokoschka, Aufsätze, Vorträge, Essays<br />
zur Kunst, Hamburg 1975, S. 87.<br />
20 Rudolf zur Lippe, «Hof und Schloss – Bühne<br />
des Absolutismus», in: Absolutismus, hg. v.<br />
Ernst Hinrichs, Frankfurt 1986, S. 138–161, vgl.<br />
S. 147.<br />
21 Ebd., S. 160.<br />
22 Warnke 1999, S. 292.<br />
23 Gotthardt Frühsorge, «Anco Wigboldus»,<br />
in: Ein brüderliches Alliance-Oeuvre, hg. v. Harald<br />
Blanke, Hundisburg 2004, S. 93–116.<br />
24 Elisabeth Kieven u. Hermann Schlimme, Vogelschauperspektiven,<br />
skizzierte Blickachsen und<br />
Vedutenfolgen – Kurzbeschreibung der Fallstudie.<br />
http://wissensgeschichte.biblhertz.it:8080/<br />
WdA/WdA/WdA_coll/specials/Architekturzeichnungen<br />
(zuletzt aufgerufen 8. 5. 2009).<br />
25 Wolfgang Schöne, «Zur Bedeutung der<br />
Schrägsicht für die Deckenmalerei des Barock»,<br />
in: Festschrift Kurt Badt, hg. v. Martin Gosebruch,<br />
Berlin 1961, S. 144–172.<br />
26 Leonardo Benevolo, Fixierte Unendlichkeit,<br />
Frankfurt am Main 1993, S. 7.<br />
27 Ebd., S. 14.<br />
28 Ebd., S. 26.<br />
29 Ebd., S. 62, vgl. 7, 66 sowie die Schaubilder<br />
X und XI.<br />
30 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit,<br />
Frankfurt am Main 1966, S. 336.<br />
31 Jacob Burckhardt, «Griechische Kulturgeschichte»,<br />
in: Das Geschichtswerk, Bd. 2, Frankfurt<br />
am Main 2007, S. 259; vgl. Blumenberg<br />
1966 (wie Anm. 30), S. 337.<br />
32 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance,<br />
Stuttgart 1976, S. 274; vgl. Joachim Ritter,<br />
«Landschaft», in: ders., Subjektivität, Frankfurt<br />
am Main 1974, S. 141.<br />
33 Johann Wolfgang von Goethe, «Landschaftliche<br />
Malerei», in: Johann Wolfgang von Goethe,<br />
Werke, Bd. 12 (Hamburger Ausg.), München<br />
1989, S. 216–223, hier S. 222.<br />
34 Vgl. Frühsorge 2004 (wie Anm. 23), S. 105.<br />
35 Karl S. Guthke, Die Erfindung der Welt, Tübingen<br />
2005, S. 10, 54. (Für den Hinweis auf dieses<br />
Buch danke ich Reinhard Blänkner.)<br />
36 Carl Ritter, Einleitung zur allgemeinen vergleichenden<br />
Geographie, Berlin 1852, S. 162, zit.<br />
n. Guthke 2005 (wie Anm. 35), S. 39.<br />
37 Hans Holländer «Der schwebende Blickund<br />
der Abgrund des Universums», in: Architektur<br />
und Kunst im Abendland, Festschrift Günter Urban,<br />
hg. v. Michael Jansen u. Klaus Winands,<br />
Rom 1992, S. 265–286.<br />
38 Etienne-Louis Boullée, Architektur, Zürich/<br />
München 1987, S. 75.<br />
39 Laszlo Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur<br />
(1929), Mainz 1968, S. 37, 222.<br />
40 Gyorgy Kepes, «Mobile Lichtwand», in: Wesen<br />
und Kunst der Bewegung, hg. v. Gyorgy Kepes,<br />
Brüssel 1969, S. 18; vgl. 16. Vgl. auch ders.,<br />
Sprache des Sehens, Mainz 1970.<br />
41 Kepes 1969 (wie Anm. 40), S. 18.<br />
42 Beaumont Newhall, Airborne Camera – The<br />
World from the Air and Outer Space, New York<br />
1969, S. 112, hier 118.<br />
43 Wolfgang Sachs, «Satellitenblick», in: WZB-<br />
Papers FS II 92-501, Berlin 1992, S. 6.<br />
23
Ulrike Bergermann<br />
Darstellungsraum Welt:<br />
gekrümmte Horizonte<br />
24 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Es wird kein rundes Bild. ‹Die Welt als ganze› darzustellen, das Bild des Ganzen,<br />
ließe sich vielleicht unternehmen im Versuch einer fragmentarischen Anhäufung<br />
– nach dem Modell der Ausstellung The Family of Man für ‹die Menschheit› – oder<br />
aber im Verfolgen der kontinuierlichen Eroberung immer weiterer Räume, des<br />
fortwährenden Auffüllens weißer Flecken auf einer Weltkarte, oder mit Blick auf<br />
den Planeten Erde: des fortgesetzten Aufsteigens des Menschen von der Erdoberfläche,<br />
bis sich der Horizont mehr und mehr krümmt und sich schließlich zu einer<br />
Kugel zusammenschließt.<br />
3.2009<br />
1 Solche kontinuierlichen Additionen bilden Schließungsfiguren,<br />
die die Frage nach dem ‹ganzen Darstellungsraum Welt› verstellen.<br />
Vielmehr muss es eine Bilderpolitikdes Planetarischen geben, die das Ganze<br />
ebenso anstrebt wie seine Unmöglichkeit voraussetzt. 2 «Jede anspruchsvolle Globalisierungstheorie<br />
[sollte] gleichzeitig die Totalität des Globalen und die Unmöglichkeit,<br />
diese in toto beobachten zu können, zusammen denken», schreibt<br />
Ulfried Reichardt in seiner kulturwissenschaftlichen Vermessung des Globalen. 3<br />
Totalität, unendliche Addition und bipolares Denken haben angesichts komplexer<br />
Verhältnisse von Partikularem und Allgemeinem oder Globalem ausgedient.<br />
Auch das Schema, das im beliebten Dreierschritt das Denken der Globalisierung<br />
erstens als eines der rein gedanklichen-mathematischen Weltentwürfe<br />
der Antike, zweitens der praktisch-expansionistischen Eroberung des terrestrischen<br />
Raums und drittens nun der elektronischen Umzirkelung des Globus fasst,<br />
soll hier nicht verfolgt werden. 4 Vielmehr wäre diese Konstruktion vom Gedanklichen<br />
zum Konkreten und zum Simulierten selbst zu hinterfragen, in ihrem Hin<br />
und Her zwischen Immaterialität und Materialität, um nicht zu sagen: in ihrer<br />
fast geschlossenen Kreisförmigkeit, in einer eigenen räumlichen Topografie des<br />
Denkens, der es gefällt, eine Rückkehr zu inszenieren, eine quasisymmetrische<br />
Ordnung der Geschichte und des Denkens. Anstatt nachzuverfolgen, wie das Bild<br />
der Erde Schritt für Schritt ganz wird, oder Figurationen des Typs zu verfolgen,<br />
demzufolge etwas ‹zu sich selbst kommt›, wie im Moment der ersten weltweiten<br />
Live-Satellitensendung oder solcher am 11. September 2001, möchte ich einzelne<br />
Bilder aus der Geschichte des Bilds der ganzen Welt herausgreifen und an ihnen<br />
jeweils die Einschreibung ihres visuellen und epistemologischen Selbstverständnisses<br />
betrachten. 5<br />
Der Darstellungsraum Welt und die Problematikder Abbildbarkeit des Ganzen<br />
ist in Sprüngen zu verfolgen, das heißt in Einzelbildern oder einzelnen Bildfolgen,<br />
von denen offen bleibt, ob sie Momentaufnahmen aus einer kontinuierlichen<br />
visuellen Aneignung eines Ganzen wären, insofern sie im Einzelnen exemplarisch<br />
die jeweiligen medienhistorischen Verhältnisse einschließen, innerhalb<br />
derer sie Welt darstellen. In einer zunächst essayistischen Zusammenstellung ist
Ulrike Bergermann Darstellungsraum Welt<br />
1 Illustration aus: Ernst Mach, Beiträge zur Analyse<br />
der Empfindungen, Jena 1886.<br />
so das Verhältnis von Ich und Welt als eines der Perspektivität, ein Verhältnis<br />
von Innen und Außen, zu formulieren. 6 Es geht um Zentralperspektivität als Darstellungsbedingung<br />
unserer visuellen Kultur, um die Krümmung, die eine Linse<br />
macht, und zwar sowohl die Linse des Auges als auch die Linse einer Kamera, vor<br />
dem Hintergrund der wechselseitigen Plausibilisierung und Evidenzstiftung, die<br />
sich visuelle Wahrnehmung und Apparaturen gegenseitig verleihen – seit der<br />
Entdeckung der optischen Gesetze, die das Auge ebenso wie optische Geräte bestimmen.<br />
Es geht um den Standpunkt der Aufnahme der Welt wie im Foto der<br />
whole earth aus dem Weltraum oder dem Blickvom Mond aus. Es geht um keine<br />
kontinuierliche Bildergeschichte, sondern vielmehr um die Exzentrizität des Wissens<br />
von der Welt, um den Standpunkt menschlicher ‹Vermessung›.<br />
Ausblick vom Innenraum<br />
Der Horizont ist die Tennlinie zwischen der Erde und dem Himmel, eine Linie, die<br />
keine ist und die immer weiter zurückweicht, wenn man sich ihr nähert. Eine<br />
Verschränkung der Frage nach Ich, Welt und Horizont findet sich in der bekannten<br />
Zeichnung des Naturwissenschaftlers und Philosophen Ernst Mach aus dem<br />
Jahr 1886 (Abb. 1). 7<br />
Einäugig, da nur aus dem linken Auge blickend (wie für die Zentralperspektive<br />
ideal konstruiert), und in entspannter Lage – wie im Kino zum Schauen den<br />
Körper ruhig stellend –, in einem Raum mit Fluchtlinien zum gegenüberliegenden<br />
Fenster hin, sehen wir durch die ovale Rahmung von Machs linker Augenhöhle<br />
auf seinen Körper, in sein Zimmer. Die Verlängerung der ausgestreckten<br />
25
26 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Beine verweist auf ein Fenster ohne Vorhang, hinter dem eine Landschaft mit<br />
Berg, Meer und Himmel zu sehen sind – wie zum Beweis dafür, dass auch die alten<br />
Bildkonventionen in diesem Setting funktionieren. Zwei Fensterteile entsprechen<br />
zwei Augen (auch hochgerechnet auf zwei Augen würde die Darstellung<br />
funktionieren); das linke Gesichtsfeld verschwimmt in der Darstellung eines<br />
Regals, rechts ist das Sichtfeld durch die Nase begrenzt. Von unten her ragt<br />
in die Bildmitte und darüber hinaus der Körper des Zeichners (auf einem ‹Ruhebett›,<br />
so Mach). Von rechts ragt eine Hand in die Bildmitte hinein, die rechte<br />
Hand des Zeichners, in der ein Zeichenstift zu sehen ist. Machs Bild durchziehen<br />
drei bis vier orientierende Horizontalen: die Fensterrahmen; hinter diesen der<br />
Horizont/das Meer; darunter: eine parallele Horizontale im Holzfußboden,<br />
schließlich (etwas schräg) der halbe Schnurrbart des Zeichners als untere Sichtbegrenzung.<br />
Man könnte wissenschaftshistorisch verfolgen, wie Ernst Mach im Bild von<br />
1886 seine Welt, die Darstellung seiner Welt, aufbaut.<br />
3.2009<br />
8 Man könnte aber auch<br />
analysieren, wie Rahmungen durch anatomische Setzungen und durch die sich<br />
selbst zeichnende Hand Versicherungen des Darstellungsraums wie auch Verunsicherungen<br />
gleichzeitig einsetzen, wie der Fluchtpunkt dieses Bildes in eine logische<br />
Unmöglichkeit mündet, sich selbst in dem Augenblick zu malen, in dem<br />
man sich sieht. Damit käme man zur Beschreibung von Verhältnissen eines im<br />
gleichen Moment sich instituierenden wie als mögliche Leerstelle fassenden Subjekts.<br />
Die in der Luft schwebende Hand, die nichts mit dem Stift berührt, hat kein<br />
Papier unter sich. Ihre Darstellung berührt nicht wirklich die Darstellung eines<br />
Mach’schen Körperteils mit ihrer Spitze, sie schwebt einfach, im Gegensatz zur<br />
Linken abgelöst von der Schulter, in unklarem Verhältnis zur Blickzentrale. Eigentlich<br />
ist sie sinnlos, da das Bild im Kopf, hinter dem Auge, gebildet wird und<br />
nicht vor diesem. Henning Schmidgen hat das Bild eine ‹antimetaphysische<br />
Zeichnung› genannt und auf den Positivismus Machs hingewiesen. Aber auch er<br />
konstatiert, dass der Körper flach wie ein Papier erscheine, das (alles andere als<br />
positivistisch) «auf sich selbst zurückgebogen [sei], wie ein Möbiusband». 9 Auch<br />
wenn die in Machs Buch proklamierte ‹Selbsttätigkeit› des Menschen beim Erstellen<br />
dessen, was er wahrnimmt, hier fast ironisch einfließt, so bleibt dieser ‹Darstellungsraum<br />
Welt› doch tatsächlich in sich bezogen, auf sich ‹gekrümmt›. Er<br />
trägt einen Witz in sich ein oder zeigt seine Verfaltungen in mehrfacher Weise,<br />
aber er macht die anderenorts konstatierte Verlegung des Horizonts nach innen<br />
nicht mit (wie auch später Mach nicht die Relativitätstheorie).<br />
Stefanie Wenner hat in ihrem Buch Vertikaler Horizont die These aufgestellt,<br />
dass die Durchsetzung der zentralperspektivischen Darstellung in der Renaissance<br />
in einem «Ideal des Bildes als Spiegel-Bild [...] sich genau dann durchzusetzen<br />
beginnt, als die Unendlichkeit in die Welt hineinbricht». 10 Unendlichkeit insofern,<br />
als es diesen Punkt des perspektivischen Bildes gibt, in dem die Konstruktionslinien<br />
konvergieren, und dieser liegt außerhalb der Darstellungsfläche, entworfen<br />
für einen idealisierten einäugigen stillstehenden Betrachter, häufig als<br />
‹transzendenter Punkt› apostrophiert. Verunsicherung und Versicherung, Zentralperspektive<br />
und Subjektposition, so Wenner, gingen seitdem eine unauflösliche<br />
Verbindung ein, die auch eine von Grenzenlosigkeit und Zentrierung der Bilder<br />
im Subjekt sei. Bezugspunkte wanderten in die Immanenz, der Horizont werde<br />
zum Spiegel der Wahrnehmungskoordinaten. 11
Ulrike Bergermann Darstellungsraum Welt<br />
Als Präludium für den Horizont im Darstellungsraum Welt steht Mach für die<br />
Frage nach der Doppelbödigkeit im Eintragen des eigenen Standpunkts und Sichtpunkts<br />
im Betrachten sowie für die Doppeltheit von Realismus und unmöglicher<br />
Faltung. Gekrümmt ist in dieser Darstellung nicht das Bildergebnis, das Reale, die<br />
Außenwelt, sondern die Blickbedingung, die so im Rahmen mitgezeichnet ist, dass<br />
sie im Bildmotiv nicht mehr eingetragen werden muss. Das könnte sich ändern.<br />
Auch wenn in der Zusammenstellung dieser beiden Bilder die Herstellungstechniken,<br />
die entsprechenden Kodierungen des Realismusgehalts der Abbildung<br />
und die Blickrichtungen unterschiedlich sind, so lassen sie sich doch als Miniaturen<br />
einer Darstellungsproblematikverhandeln, die einen zentralen Punkt in der<br />
Frage nach dem Darstellungsraum Welt thematisiert: die Frage nach dem Standpunkt,<br />
dem Ort der Bilderproduktion, die Frage danach, ob sich dieser Ort ins Bild<br />
mit einschreiben lässt, als Markierung der Problematik von Ganzem und einzelnem<br />
Punkt, der das Ganze in den Blick nehmen will. Der Horizont als Bildelement,<br />
als Grenze des zu Erkennenden, als Versprechen der Fortsetzung, gleichermaßen<br />
einen Standpunkt wie die ewige Verschiebbarkeit dieses Standpunkts markierend,<br />
hat sich mit den Technologien und der Wissensgeschichte stets neu bestimmt.<br />
Messen und Vermessen<br />
Erst im 20. Jahrhundert hat der Mensch die Erde fertig kartografiert, schrieb Hannah<br />
Arendt, und die «weit offenen Horizonte, die unerreichbar und lockend alle<br />
vergangenen Generationen der Erde durch ihr Leben begleiteten, sich in den Erdball<br />
zusammengeschlossen, dessen majestätischer Umkreis uns in allen seinen<br />
Einzelheiten so bekannt ist wie die Linien im Innern der eigenen Hand». 12 Kurz<br />
nach dem Sputnik-Schock 1957 und kurz vor der Mondlandung 1968, nachdem ein<br />
Satellit die Welt von außen ‹sieht› und bevor menschliche Augen mit der Kamera<br />
diesen Blickzurückauf die Erde bringen, beschreibt Arendt die Bedingungen von<br />
Wissen als auf diesem Feld bestimmte. Mit der kopernikanischen Wende, schreibt<br />
sie, wurde nicht nur klar, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern<br />
vor allem, dass die Erfindung des Teleskops und die entsprechenden Messungen<br />
den theoretischen Berechnungen entsprechen, und das heißt: dass Formeln<br />
ein Aneignungsvermögen des Kosmos bereitstellen. Was Arendt als ‹Vermessungsvermögen›<br />
bezeichnet, demzufolge der menschliche Verstand durch Zahlen, Symbole<br />
und Modelle alles auf beliebige Größenmaße reduzieren kann, das löst den<br />
Messenden von seinem Angelpunkt. Nichts bleibt unermesslich, «wenn es vermessen<br />
ist, dass alles Vermessen darin besteht, Entferntes zusammenzubringen, dass<br />
also die Messung Nähe konstituiert, wo bis dahin Ferne gewaltet hat». 13<br />
Der archimedische Wunsch, einen Punkt außerhalb der Erde zu finden, um sie<br />
aus den Angeln zu heben, hat sich erfüllt; was in Laboren geschieht, behandelt<br />
die Erde wie von einem außerirdischen Standpunkt aus, einem «männlichmenschlichen<br />
Verstand, der von der Sonne aus die Planeten überblickt». 14 Um<br />
den Preis einer Entfremdung also werde Erkenntnis in der Moderne gewonnen.<br />
Im Gemessenen begegne der Mensch letztlich nur sich selbst, da die gemessene<br />
Natur ja nur seinem Wahrnehmungsvermögen entsprechend zugerichtet worden<br />
sei. 15 Wo der Blickdes Menschen ins All geht, in die maximale Ferne, kehrt er sich<br />
zurück: weil die Erkenntnisse<br />
weder mit dem Makrokosmos noch mit dem Mikrokosmos das Geringste zu tun haben,<br />
[weil] sie vielmehr den Regeln und Strukturen entsprechen, die für uns selbst und unser<br />
27
Erkenntnisvermögen charakteristisch sind, für das Vermögen nämlich, das die Apparaturen<br />
und Instrumente erfand – in welchem Fall es wirklich ist, als vereitele ein böser Geist<br />
alle Anstrengungen des Menschen, exakt zu wissen und zu erfahren, was immer er selbst<br />
nicht ist, und zwar so, dass er ihm, unter der Vorgabe, ihm die ungeheuren Reiche des<br />
Seienden zu zeigen, immer nur das eigene Spiegelbild vorhält. 16<br />
Techniken der Raumvermessung, der Fernwahrnehmung, der Telekommunikation<br />
haben Formeln einer ‹Rückwendung› der Erde auf sich selbst provoziert, die<br />
Krümmung des Horizonts und die Überwindung ihrer Grenze, der Blickauf die<br />
ganze Erde von einem externen Standpunkt und eine ‹Selbstbegegnung› der Erde<br />
herbeigeführt.<br />
Blick zurück. Bilder des Planeten<br />
Günter Anders, der bereits 1956 in Die Antiquiertheit des Menschen den Begriff der<br />
‹prometheischen Scham› des Menschen vor den Fähigkeiten der technischen Dinge<br />
beschrieben hatte, führte 1962 während des sowjetischen Weltraumflugs Tagebuch<br />
und veröffentlichte 1970 seine Reflexionen auf die Apollo-Flüge mit Blikken<br />
auf «das teleskopische Gefälle», «das Universum im Zimmer» (durch die Fernsehübertragung),<br />
den «Kollektiv-Phallus-Kult» und die «Selbstbegründung der Erde».<br />
17 Die Selbstbespiegelung des Menschen, das nationalistische Heroentum in<br />
«kosmischer Provinzialität», ein un<strong>kritische</strong>r Fortschrittsglaube und das massenmediale<br />
Spektakel produzierten ein Amalgam aus kosmischem Minderwertigkeitsgefühl<br />
und emotionalem Geozentrismus: 18<br />
Gewusst haben wir alle, dass unser Globus wie eine nirgendwo verankerte und im Ozean<br />
des Raums schiffbrüchig herumschwimmende Boje aussehen würde. Aber das Gewusste effektiv<br />
zu sehen und als Wahrheit wahrzunehmen, das war doch etwas anders, etwas vollständig<br />
Neues, das war doch eine kaum mehr erträgliche Kränkung und Erniedrigung. 19<br />
Ohne Nennung von Nietzsche, der in der Fröhlichen Wissenschaft den tollen, ortlos-planetarischen<br />
Menschen auf der losgeketteten Erde, die durchs All stürzt, irrend<br />
durch den leeren Raum ausrief, resümiert Anders, wir sähen nun die «vereinsamt<br />
durch die Schwärze des Raumes rollende irrelevante Kugel unserer Erde»,<br />
und schließt, möglicherweise seien diese Entwicklungen eben nicht mehr in<br />
ein Bild zu bringen, da die erforderliche «Nippifizierung» des jetzt Sichtbaren auf<br />
Fernsehformate, Postkartengrößen und Wohnzimmereinrichtungsmaßstäbe<br />
nicht dazu beitrüge, die Darstellungsproblematikzu reflektieren. 20 Die Erde als<br />
ein Abstraktum wahrzunehmen, sei bislang eine Frage intellektueller Anstrengung<br />
gewesen und werde nun für alle im Bild möglich, da sich die Kamera, wie in<br />
der wörtlichen Übersetzung des lateinischen ab-strahere, von der Erde selbst losgerissen<br />
habe. 21 Da bei der Mondlandung geschätzte fünfhundert Millionen Menschen<br />
zugesehen hätten, könne man von «den Augen der Erde» sprechen, die sich<br />
selbst sähen: die «Selbstbegegnung der Erde». 22<br />
Die öffentliche Wahrnehmung war dem entgegengesetzt und von Begeisterung<br />
getragen. Der Flug von Apollo 8 um den Mond herum wurde 1968 live im Fernsehen<br />
übertragen, und noch nachhaltiger wirkte das Foto der whole earth, die sichtbare<br />
Einheit, der blaue Stein auf dunklem Grund, ein Schmuckstück, das ‹Raumschiff<br />
Erde›, das auf dem Titelblatt des berühmten Whole Earth Catalogue 1969 und<br />
mit dem Bericht des Club of Rome zur drohenden Umweltkatastrophe ein neues<br />
Bewusstsein der Einmaligkeit der Erde und der Notwendigkeit des gemeinsamen<br />
Engagements ansprach. 23 Wie ein Lebewesen, Gaia, konnte der Erdball erscheinen<br />
28 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Ulrike Bergermann Darstellungsraum Welt<br />
2 Neil Armstrong, Buzz Aldrin Walks on the Moon,<br />
July 20, 1969, Fotografie.<br />
3 William Anders, Whole Earth, Fotografie, Apollo<br />
8, 25. Dezember 1968.<br />
und wie das spaceship earth (Barbara Ward und Buckminster Fuller). 24 Das ist die<br />
erste planetarische Szene, in der ein menschliches Auge die Erde nicht nur aus der<br />
Höhe, ihren gekrümmten Horizont etwa von einem Berg oder Ballon aus sehen<br />
kann, sondern mit dem Moment, in dem es ein Bild der ganzen Erde, vom Weltall<br />
aus gesehen (Abb. 2–3). Die erste amerikanische Raummission, die schon aus ideologischen<br />
Gründen bemannt sein musste, brachte Augen ins All, die ‹da draußen›<br />
natürlich nichts, aber im Blickzurückdie Erde als eine ganze Kugel sahen. 25<br />
Mach von außen<br />
Hier wird zunächst nur in einem sehr buchstäblichen Sinne ‹der Menschheit der<br />
Spiegel vorgehalten›, von dem Arendt sprach. Man sieht im Visier des Helms die<br />
Spiegelung der Mondoberfläche, einen Teil der Mondfähre Eagle und den Fotografen<br />
Neil Armstrong. 26 Der Horizont in der Spiegelung setzt den Horizont hinter<br />
dem Spiegel in gleicher Höhe fort. Die Kontinuität von ‹realem› wie ‹fotografiertem<br />
oder gezeichnetem Bild› wird wie bei Mach nahe gelegt. Kann man der sichtbaren<br />
Spiegelung des Horizonts auch eine epistemologische Dimension abgewinnen?<br />
Das Foto, das von Edwin Aldrin um die Welt ging, genauer: das Foto, das der<br />
erste Mann auf dem Mond vom zweiten machte, zeigt in der gekrümmten spiegelnden<br />
Helmoberfläche des Astronauten ebenso wenig dessen Gesicht, wie wir<br />
Ernst Machs Gesicht gesehen haben, sondern wir sehen, was er sieht, in entgegen<br />
gesetzter Richtung, einen Ausschnitt aus einem gekrümmten Raum (wie dem<br />
der Augenhöhle), jedenfalls einen Teil eines Horizonts, in einer Abbildung, die<br />
selbst gekrümmt ist – hier nicht durch die Nachahmung der Linse des Auges,<br />
auch nicht durch die Inszenierung einer Krümmung durch eine Kameralinse, sondern<br />
durch den runden Helm und sein Visier.<br />
Die Bildunterschrift im Magazin LIFE vom Dezember 1969 lautete: «an astronaut’s<br />
visor mirrored the bleakhorizon of a new frontier we actually reached». 27<br />
Eine verquere Formulierung: Wird hier der karge Horizont einer neuen Grenze gespiegelt?<br />
Der Horizont einer Grenze? Einer Grenze, die keine mehr ist, weil wir sie<br />
erreicht haben, während sich der Horizont dadurch auszeichnet, dass er eben nie<br />
29
4 Blue Marble, Foto aus der Apollo 17, 7. Dezember<br />
1972. Neil Armstrong, Buzz Aldrin Walks<br />
on the Moon, July 20, 1969, Fotografie.<br />
30 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> erreicht werden kann? Wenn dieser Horizont sich krümmen könnte (zur Kugel),<br />
könnte er dann einer bleiben und gleichzeitig erreichbar sein? Der Begriff ‹Krümmung›<br />
funktioniert also nicht mehr im horizontalen Sinne, nach dem sich der<br />
sichtbare Rand einer Kugel dem Auge immer nur in einer Linie darbietet, die nicht<br />
gerade ist, sondern im Sinne einer Grenze, die gleichzeitig eine bleiben muss und<br />
keine mehr sein kann, um dem Menschen einen Ort im Weltall zu geben.<br />
Ist es hierfür erforderlich, dass es nicht das alte Auge ist, das diesen Horizont<br />
sieht, sondern dass es sich um eine Spiegelung handelt, die diesen Horizont<br />
zeigt? Sicher ist es nicht ‹technisch erforderlich› in dem Sinne, als könnte man<br />
nicht direkt auf die Szenerie blicken. Wenn Aldrin in diese Richtung schauen<br />
kann, könnte man zumindest einen Schirm, ein goldbeschichtetes Visier für eine<br />
Kamera bauen, die ebenfalls nur solche Strahlen auf die Linsen lässt, die diese<br />
nicht zerstören und die ein Bild aufzeichnen können.<br />
3.2009<br />
28 Mindestens symbolisch<br />
ist es aber vielleicht erforderlich, dass es erst der vermutete, der unsichtbare, der<br />
unterstellte Blickeines Menschen ist, dessen Sichtfeld die einzigen warmen Felder<br />
im Bild sind (Gelbtöne statt des Grau-Blaus), der für uns ins Licht sieht. Unter<br />
anderem auch den Schatten des Fotografen, der seinen Blickvom Licht abwendet,<br />
um den Blick des anderen aufzunehmen (inklusive seines Standpunkts), so<br />
dass eine dem Planetarischen korrelierende Multiperspektivität entsteht, die den<br />
Sehenden und das Angesehene, die Medialität und den räumlich-politischen Kontext<br />
ins Bild setzt.<br />
Ältere Bilder, die den Horizont und die Welterkenntnis thematisierten, zirkulierten<br />
nicht auf der Welt. Mitte des 20. Jahrhunderts ist es gleichzeitig die Massenpresse,<br />
die Fotografien in Umlauf bringt, und das Satellitenfernsehen, das die<br />
ersten Live-Schaltungen ‹rund um den Globus› ermöglicht und das so dem Darstellungsraum<br />
Welt eine andere Verteilung und Sichtbarkeit gibt, die diesem<br />
nicht sekundär bleibt. 29<br />
Lorenz Engell hat in seinem Text Die kopernikanische Wende des Fernsehens die<br />
Umkehrung des galileischen Blickschemas auf die Erde in ihrer Fortsetzung und<br />
Neuschreibung durch das Fernsehen analysiert. Das Fernsehen ist nicht nur der
Ulrike Bergermann Darstellungsraum Welt<br />
5 Buzz Aldrins Visier, Ausschnitt aus Abb. 2.<br />
Zeuge des Blicks zurück auf die Erde, technologisches wie großmachtpolitisches<br />
Movens der Raumfahrt und nicht nur nachträglich an der Verteilung der neuen<br />
Bilder beteiligt, sondern von Anfang an nicht ohne das Fernsehen zu denken. Einerseits<br />
steht es in den optischen und epistemischen Traditionen, die die Stellung<br />
des Blickenden im Raum auf ein Objekt, einen Planeten, in einem evidenzproduzierenden<br />
Setting situiert haben – ein Bild beweist die Berechnungen von<br />
Kopernikus und die Beobachtungen von Galilei. Andererseits ist diese Bildproduktion<br />
neu organisiert. Sie gehorcht nicht mehr der Logik des Teleskops, des einen<br />
ausgewählten Auges, sondern die Sichtbarmachung geschieht vor vieler, vor<br />
– im Prinzip – aller Augen, unterschiedslos, live. «Obwohl die neuzeitliche Weltordnung<br />
die zentrale Position der Erde unwiederbringlich aufgibt, so bestätigt<br />
und bestärkt sie doch zugleich die zentrale Position des Blicksubjekts – und damit<br />
des Erkenntnissubjekts – in Relation zum Blickobjekt.» 30 Das nennt Engell die<br />
«Reflexivität der televisiven Raumordnung» und fragt, ob sich damit nicht die<br />
Souveränität des Betrachterblicks paradoxerweise erneuere: Wenn die technische<br />
Definition des Fernsehens dieses als Übertragungsmedium (nicht Speichermedium)<br />
charakterisiert, trennt es weiterhin Blicksubjekt und Blickobjekt sowie<br />
deren Orte A und B und folgt dem skopischen Regime der Neuzeit. Da der Blick<br />
aber nun von einem Trabanten (der Rakete, dem Mond, dem Satelliten) aus auf<br />
den Erdball geworfen wird, von einem dritten Ort, entsteht ein Bild, in «dem ohnehin<br />
schon alle Orte als andere Orte und alle Blicke als andere Bilder umeinander<br />
kreisen». Eine Entpersonalisierung und Multiplizierung des Blicks zeigt nun<br />
im Fernsehbild der Erde «den gesamten Möglichkeitsraum der Blickpunkte und<br />
Bildrelationen». 31<br />
Zum Horizont als Visier<br />
Die Abbildungstechniken nach den anfangs skizzierten Modellen reichen nicht<br />
mehr aus für diesen ‹Möglichkeitsraum›, die Krümmungen zerstreuen die Sehstrahlen<br />
ohne transzendentalen Treffpunkt. Ist jedes Bild, das seine Herstellung<br />
mitschreiben will, ein Möbiusband? Wenn man das für Machs Bild sagen konnte,<br />
31
in das die zeichnende Hand eingefügt ist, würde man solche Einfaltungen in den<br />
Bildern der whole earth nur im Wissen um ihre Herstellungs- und Sendebedingungen<br />
aufspüren können. 32 Eine dem Planetarischen angemessene Multiperspektivität<br />
in unsere perspektivischen Konventionen von Ich und Welt einzutragen, die<br />
Horizonte nicht mehr nur als gekrümmte Linien, sondern selbst als Flächen, die<br />
die konstruierten Blicklinien zerstreuen, zu betrachten, erfordert ebenso eine Exzentrizität<br />
des Wissens von der Welt wie eine Reflexion der eigenen Situiertheit.<br />
Das hat Aldrin in seinem goldenen Visier mitgebracht.<br />
Anmerkungen<br />
1 Dass die Fotografie als ‹Sprache der<br />
Menschheit› die Vielfalt der Family of Man abbilden<br />
konnte, war Anliegen der Ausstellung,<br />
die ab 1951 von Edward Steichen für das Museum<br />
of Modern Art in New Yorkkonzipiert<br />
wurde, aus zwei Millionen Fotos 503 auswählte<br />
und ab 1955 in weltweiten Ausstellungen Millionen<br />
von BesucherInnen anzog. Auf die Naturalisierung<br />
und den Eurozentrismus der Ausstellung<br />
haben unter anderem Roland Barthes<br />
oder Viktoria Schmidt-Linsenhoff hingewiesen.<br />
Das Medium Fotografie war damit aber einmal<br />
mehr geeignet, die Welt für alle wiederzugeben<br />
und so eine der Voraussetzungen für den<br />
durchschlagenden Erfolg der Blue Marble, dem<br />
Bild der Erde, das zum ersten Mal von außerhalb<br />
der Erde aufgenommen wurde und das<br />
Bild von der Erde fundamental veränderte.<br />
2 Eine ausführlichere Darstellung der Theorien<br />
des Planetarischen sowie des Verhältnisses<br />
von ‹Globus› und ‹Planet› findet sich in meinem<br />
Beitrag zum Band Das Planetarische. Kultur –<br />
Technik – Medien im postglobalen Zeitalter, hg.v.<br />
Ulrike Bergermann, Isabell Otto u. Gabriele<br />
Schabacher, München 2009 (im Druck).<br />
3 Ulfried Reichardt, «Globalisierung, Mondialisierungen<br />
und die Poetikdes Globalen», in: Die<br />
Vermessung der Globalisierung. Kulturwissenschaftliche<br />
Perspektiven, hg. v. Ulfried Reichardt,<br />
Heidelberg 2008, S. 21–47; ders., «Einleitung»,<br />
ebd., S. 7. Ein weiterer interdiszipinär-kulturwissenschaftlicher<br />
Band ist Welt-Räume. Geschichte,<br />
Geographie und Globalisierung seit 1900,<br />
hg. v. Iris Schröder u. Sabine Höhler, Frankfurt<br />
am Main/New York2005.<br />
4 Vgl. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des<br />
Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung,<br />
Frankfurt am Main 2006, z. B. S. 21.<br />
5 Eine Kultur- und Literaturgeschichte des<br />
Horizonts hat Albrecht Koschorke vorgelegt:<br />
Die Geschichte des Horizonts, Frankfurt am Main<br />
1990. Stefanie Wenner bietet Anschlussstellen<br />
z. B. zwischen Zentralperspektive und Subjektbildung<br />
in: Vertikaler Horizont. Zur Transparenz<br />
des Offensichtlichen, Zürich/Berlin 2004, v. a. S.<br />
108.<br />
6 Vielen Dankfür die zahlreichen Anregungen<br />
in der Diskussion meines gleichnamigen<br />
Vortrags zur Reihe Darstellungsräume an das<br />
Graduiertenkolleg Schriftbildlichkeit der Freien<br />
Universität Berlin im Juni 2009.<br />
7 Ernst Mach, «Antimetaphysische Vorbemerkungen»,<br />
in: ders., Die Analyse der Empfindungen<br />
und das Verhältnis der Physischen zum<br />
Psychischen, 2. verm. Aufl., Jena 1900. Die erste<br />
Auflage erschien 1886 unter dem Titel Beiträge<br />
zur Analyse der Empfindung. Hier aus dem Neudruckder<br />
9. Aufl. 1922, Darmstadt 1985, online<br />
unter: http://www.payer.de/fremd/mach.htm,<br />
zuletzt abgerufen am 28. Juni 2009.<br />
8 Eine ausführliche Lesart des Bildes würde<br />
32 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Ulrike Bergermann Darstellungsraum Welt<br />
rekapitulieren, wie Mach hier seine wahrnehmungsphilosophischen<br />
und positivistischen<br />
Ansätze verhandelt, welchen Stellenwert das<br />
Werk Antimetaphysische Vorbemerkungen (als<br />
Teil der Analyse der Empfindungen und das Verhältnis<br />
des Physischen zum Psychischen) einnimmt.<br />
Insgesamt will Mach in diesem Buch<br />
zeigen, dass auch Raum und Zeit nur Eigenschaften<br />
der Gegenstände sind, die wir ihnen<br />
so bestimmten wie ihre Farbe oder andere Eigenschaften.<br />
Auch Raum und Zeit sind nur Sinnesempfindungen.<br />
9 Henning Schmidgen, «Begriffszeichnungen.<br />
Über die philosophische Konzeptkunst von<br />
Gilles Deleuze», in: Deleuze und die Künste, hg. v.<br />
Peter Gente u. Peter Weibel, Frankfurt am Main<br />
2007, S. 26–53, hier S. 31.<br />
10 Wenner 2004 (wie Anm. 4), S. 108.<br />
11 Ebd., S. 109.<br />
12 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen<br />
Leben, München, Zürich (Piper) 1994 (zuerst<br />
1963), S. 245 (Arendt 1994).<br />
13 Ebd., S. 246.<br />
14 Ebd., S. 258.<br />
15 Ebd., S. 256, 260f.<br />
16 Ebd., S. 279.<br />
17 Günter Anders, Die Antiquiertheit des Menschen,<br />
Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten<br />
industriellen Revolution [1956], München,<br />
7.Aufl./Nachdruck1992, S. 8, 16, 21, 123. Ders.,<br />
Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge<br />
[1970], München 1994.<br />
18 Anders 1994 (wie Anm. 17), S. 60, 72, 99, 112.<br />
19 Ebd. 1994, S. 59.<br />
20 «Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen<br />
Horizont wegzuwischen? Was taten wir,<br />
als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?<br />
Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen<br />
wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir<br />
nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts,<br />
vorwärts, nach allen Seiten? gibt es noch ein<br />
Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch<br />
ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der<br />
leere Raum an?» Friedrich Nietzsche, «Die fröhliche<br />
Wissenschaft», in: ders., Sämtliche Werke,<br />
hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 3,<br />
München 1999, Aphorismus 125.<br />
21 Anders 1994 (wie Anm. 17), S. 66.<br />
22 Ebd., S. 89.<br />
23 Dennis Meadows u. a., Die Grenzen des<br />
Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der<br />
Menschheit, [The Limits to Growth, New York<br />
1972], übers. v. Hans-Dieter Heck, Stuttgart<br />
1972.<br />
24 James E. Lovelock, «The Gaia Hypothesis»,<br />
in: Environmental Evolution. Effects of the Origin<br />
and Evolution of Live on Planet Earth, hg. v. Lynn<br />
Margulis, Clifford Matthews u. Aaron Haselton,<br />
2. Aufl. Cambridge, Mass./London 2000, S.<br />
1–28. Barbara Ward, Spaceship Earth, New York<br />
1966. Richard Buckminster Fuller, Bedienungs-<br />
anleitung für das Raumschiff Erde und andere<br />
Schriften [Texte 1961–1970], hg. v. Joachim<br />
Krausse, übers. v. Joachim Krausse u. Ursula<br />
Bahn, Hamburg 2008.<br />
25 Das Foto trägt die offizielle Bezeichnung<br />
AS17-148-22727 und wurde am 7. Dezember<br />
1972 um 10:39 UTC von Harrison Schmitt oder<br />
Ron Evans mit einer 70-Millimeter-Hasselblad-<br />
Kamera und einem 80-Millimeter-Objektiv aufgenommen.<br />
Es ist eine der wenigen Aufnahmen,<br />
die einen voll erleuchteten Erdball zeigen,<br />
da die Astronauten die Sonne hinter sich hatten.<br />
Die Originalaufnahme zeigt den Südpol<br />
oben. Wegen der besseren Wiedererkennbarkeit<br />
wurde die Fotografie um 180 Grad gedreht.<br />
Viel ist geschrieben worden über die Symbolwirkung<br />
der blauen Murmel (auch: den blauen<br />
Marmor, Blue Marble), die Schönheit, Zerbrechlichkeit,<br />
das Juwel auf dunklem Grund, die Farben<br />
Blau und Grün als Zeichen des Lebens, einer<br />
Natur, die die Heimat der Menschheit in<br />
tiefschwarzer Nacht ist.<br />
26 Hier aus der Sonderausgabe der LIFE vom<br />
Dezember 1969, darin auf einer Doppelseite ein<br />
Ausschnitt aus dem Foto, das Armstrong von<br />
Aldrin auf dem Mond geschossen hat. LIFE, Special<br />
Double Issue: The '60s. Decade of Tumult and<br />
Change, 22. Dezember 1969. Dankan Ute Holl.<br />
27 Ebd., S. 143.<br />
28 Außerdem ist der Blickin Richtung Sonne<br />
der typische auf diesen Bildern – was an Kopernikus<br />
erinnert, der die Sonne als Zentralstern<br />
pries, als er ihn an die Stelle der Erde setzte.<br />
29 Lorenz Engell, «Die kopernikanische Wende<br />
des Fernsehens», in: Bergermann/Otto/<br />
Schabacher 2009 (wie Anm. 2).<br />
30 Ebd.<br />
31 Ebd.<br />
32 Eine Weiterentwicklung der Fragestellung<br />
mit Blickauf Google Earth findet sich in meinem<br />
Aufsatz in: Bergermann/Otto/Schabacher<br />
2009 (wie Anm. 2). In diesem Sinne müsste man<br />
anfangen, die Navigationstools, alle verschiedenen<br />
Notations- und Kommandosymbole von<br />
Google Earth als solche Markierungen machscher<br />
Einfaltungen zu lesen. Sie deuten die Herstellung<br />
des Bilds nicht nur an, sondern setzen<br />
als operationalisierte Schrift Aktionen am Bild<br />
in Gang. Vgl. Sybille Krämer, «‹Schriftbildlichkeit›<br />
oder: Über eine (fast) vergessene Dimension<br />
der Schrift», in: Bild, Schrift, Zahl, hg.v.<br />
ders. u. Horst Bredekamp, München 2003, S.<br />
157–176. Dies., «Operationsraum Schrift. Ein<br />
Perspektivenwechsel im Schriftverständnis»,<br />
in: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand<br />
und Maschine, hg. v. ders., Gernot Grube u. Werner<br />
Kogge, München 2005, S. 13–32. Im Anschluss<br />
an Arendts Buch Vita Activa (unterschieden<br />
von der vita contemplativa) müsste man sagen:<br />
statt pictura contemplativa sind wir eingetreten<br />
ins Weltbild der pictura activa.<br />
33
Joachim Block<br />
Eine Vision wird illustriert<br />
Wernher von Braun, Chesley Bonestell und die Geburt der Space Art<br />
Der Gedanke, in den Weltraum vordringen und andere Himmelskörper erreichen<br />
zu können, hat die Fantasie der Menschen zu allen Zeiten beflügelt, wie die zahlreichen<br />
utopischen Erzählungen über Reisen zum Mond, zur Sonne oder zu den<br />
Planeten belegen, die wir schon seit der Antike kennen. Freilich erwartete bis zur<br />
Mitte des 20. Jahrhunderts kaum jemand im Ernst, diese Utopien könnten einmal<br />
Wirklichkeit werden. Raumfahrt blieb ein reiner Traum, eine literarische Fiktion.<br />
Wie spätere Umfragen in den USA zeigten, glaubten noch im Jahre 1950 die meisten<br />
Amerikaner nicht, dass der Mensch tatsächlich in den Weltraum vorstoßen<br />
könnte, geschweige denn, dass sie selbst dies noch erleben würden.<br />
Vorspiel in Deutschland<br />
Die Mischung aus Skepsis und Gleichgültigkeit, mit der die Mehrheit der Amerikaner<br />
dem Raumfahrtgedanken noch um 1950 gegenüber stand, wäre zweifellos auch<br />
im nachkriegszerrütteten Deutschland zu registrieren gewesen. Angesichts der<br />
Zeitumstände ist dies nur allzu verständlich, obwohl man es gerade in Deutschland<br />
eigentlich hätte besser wissen können. Denn hier hatte Hermann Oberth schon<br />
1923 in seinem bahnbrechenden Werk Die Rakete zu den Planetenräumen (Abb. 1)<br />
34 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009<br />
1 Hermann Oberth, Die Rakete zu den Planetenräumen,<br />
München 1923.
Joachim Block Eine Vision wird illustriert<br />
physikalisch exakt dargelegt, dass Raumflug auf der Basis des Rückstoßprinzips<br />
durchaus verwirklicht werden könnte, sobald es erst hinreichend große mehrstufige<br />
Flüssigkeitsraketen gäbe. 1 Und hier, im Deutschland der zwanziger und frühen<br />
dreißiger Jahre, hatte er damit sogleich einen kleinen Kreis von Idealisten wie Johannes<br />
Winkler, Rudolf Nebel und Willy Ley inspiriert, die 1927 den Verein für<br />
Raumschifffahrt (VfR) gründeten, auf einem stillgelegten Heeresgelände in Berlin-<br />
Reinickendorf den Raketenflugplatz Berlin betrieben und den UFA-Klassiker Die<br />
Frau im Mond von Fritz Lang mit erstaunlich vorausschauenden Ideen bereicherten.<br />
Als jüngstes und talentiertestes Mitglied war 1930 der erst achtzehnjährige Wernher<br />
von Braun zu dieser Gruppe gestoßen, nachdem er – ganz untypisch für den<br />
Sohn eines adligen preußischen Gutsbesitzers und höheren Beamten – ein Ingenieurstudium<br />
an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg aufgenommen<br />
hatte. An Enthusiasmus übertraf er von Anfang an alle Anderen.<br />
Nach 1930 waren die Aktivitäten auf dem Raketenflugplatz zunehmend ins Blickfeld<br />
der Reichswehr geraten, die wegen der Beschränkungen des Versailler Vertrages<br />
an der Rakete als einer möglichen Alternative zur verbotenen schweren Artillerie<br />
interessiert war und einigen der Raketenpioniere daher materielle Unterstützung<br />
um den Preis der Geheimhaltung versprach. Schon bald nach der Machtergreifung<br />
der Nationalsozialisten nahm diese Bindung einen faustischen Charakter an,<br />
vor allem für den ‹Nachwuchsstar› Wernher von Braun, der massiv gefördert und<br />
1937 mit gerade erst 25 Jahren zum Technischen Direktor der Heeresversuchsanstalt<br />
Peenemünde ernannt wurde. Während die Raketenpioniere in den westlichen Demokratien,<br />
wie Robert H. Goddard in den USA oder Robert Esnault-Pelterie in Frankreich,<br />
stets idealistische Amateure blieben, zog die deutsche Raketenforschung unter<br />
von Brauns charismatischer Führung professionell davon – freilich unter Inkaufnahme<br />
einer nach Kriegsbeginn immer tiefer werdenden, wenn auch ungewollten<br />
Verstrickung in die verbrecherischen Ziele und Methoden des NS-Regimes.<br />
Die Öffentlichkeit bekam so gut wie nichts davon mit. Sie erfuhr nichts von<br />
den endlosen Versuchen, Fehlschlägen, mühsamen errungenen Erfolgen und Kinderkrankheiten<br />
der neuen Technologie in Peenemünde, und erst recht nichts von<br />
2 Wernher von Braun<br />
in Peenemünde, 1941.<br />
35
dem ersten vollständig gelungenen Start einer A4 am 3. Oktober 1942, als zum<br />
ersten Mal in der Geschichte ein von Menschenhand gebautes Objekt den Rand<br />
des Weltraums erreichte. Erst in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges, in<br />
der das Dritte Reich im Angesicht der bevorstehenden Niederlage Tausende von<br />
A4-Raketen als ‹Vergeltungswaffe 2› auf London und auf Ziele hinter der näher<br />
rückenden Invasionsfront abfeuerte, erfuhr die Weltöffentlichkeit von der Raketenentwicklung<br />
in Deutschland. Noch viel länger dauerte es, bis auch die mörderischen<br />
Bedingungen der A4- und V2-Serienfertigung im Konzentrationslager<br />
Mittelbau-Dora bei Nordhausen am Harz ins allgemeine Bewusstsein drangen. In<br />
jedem Fall wurden Raketen in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem als<br />
neuartige Fernwaffen wahrgenommen. Dass man mit ihnen auch zu den Planeten<br />
fliegen könnte, blieb zunächst noch eine Fiktion.<br />
Visionäre in der Wüste<br />
Zu den Wenigen, die den Traum konsequent weiterverfolgten, gehörte Wernher<br />
von Braun. Er hatte sich im Frühjahr 1945 – gerade rechtzeitig, aber auch nicht<br />
selbstmörderisch früh – aus Peenemünde in die bayerischen Alpen abgesetzt,<br />
sich gezielt von den Amerikanern gefangen nehmen lassen und sie sofort davon<br />
überzeugt, dass er die Schlüsselperson der deutschen Raketenentwicklung und<br />
im übrigen kooperationsbereit sei. Die amerikanische Armee schaltete blitzschnell.<br />
Buchstäblich in den letzten Tagen und Stunden, bevor sie sich hinter die<br />
vereinbarte Grenze ihrer Besatzungszone zurückziehen und Nordhausen an die<br />
Sowjets übergeben musste, evakuierte sie in einem spektakulären Coup die Stollen<br />
des Mittelwerks. Hunderte fertiger und halbfertiger A4-Raketen fanden von<br />
dort ihren Weg nach Fort Bliss in der Wüste von New Mexico, wo sie in den folgenden<br />
Jahren auf dem nahe gelegenen Testgelände White Sands untersucht und<br />
getestet werden sollten.<br />
Das Personal, das den Amerikanern dort die dringend nötigen Nachhilfestunden<br />
in Raketentechnologie erteilte, bestand aus einer Gruppe von 127 Peenemündern,<br />
die Wernher von Braun persönlich ausgesucht hatte und die daraufhin in<br />
der Operation Paperclip in die USA gebracht worden waren. Auch von Brauns früherer<br />
Wehrmachtsvorgesetzter, General Walter Dornberger, stieß in der Folge<br />
dazu. Sahen sich die Deutschen anfangs fast auf den Status von Zivilinternierten<br />
gedrückt, verbesserte sich ihre Situation in den nächsten Jahren zusehends, als<br />
sie ihre Familien nachholen und wieder in normaler privater Umgebung leben<br />
durften. Im April 1950 zog die gesamte Gruppe geschlossen von Fort Bliss nach<br />
Huntsville (Alabama) um, wo auf dem Gelände des alten Redstone-Arsenals die<br />
Keimzelle des späteren George Marshall Space Flight Centers (MSFC) entstehen<br />
sollte. Über Jahrzehnte hinweg, bis in die Ära des Apollo-Projekts hinein, sollten<br />
diese Paperclip Germans fest zusammenhalten, zahlreiche Schlüsselpositionen in<br />
der noch jungen NASA besetzen und dafür sorgen, dass Huntsville für lange Zeit<br />
den Spitznamen ‹Peenemünde-Süd› bekam.<br />
Ende der vierziger Jahre waren diese Entwicklungen jedoch keineswegs abzusehen.<br />
Wernher von Brauns Sorgen, die Amerikaner könnten das technologische<br />
Wissen seiner Mannschaft einfach bis zum Ende ausschöpfen und sie danach alle<br />
entlassen, vielleicht sogar nach Deutschland zurückschicken, waren nur allzu begründet.<br />
Er musste eine Perspektive finden, die weit jenseits der bloßen militärischen<br />
Anwendungen der Rakete lag und die die Verheißungen der frühen dreißi-<br />
36 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Joachim Block Eine Vision wird illustriert<br />
3 Start einer A4 mit<br />
WAC Corporal als Oberstufe<br />
in White Sands,<br />
1947.<br />
ger Jahre wieder aufgriff; eine Perspektive, die von der amerikanischen öffentlichen<br />
Meinung getragen werden und die auch ihn selbst tragen würde:<br />
Faced with a prolonged drought in the rocket business because of a lack of popular support,<br />
von Braun would turn to the idea of selling the American public on spaceflight. Since<br />
it obviously was not going to come about simply as a by-product of military development,<br />
he had to convince ordinary people that space travel was not a silly or utopian proposition.<br />
But the question was how? 2<br />
Das Marsprojekt<br />
Bereits in Fort Bliss hatte von Braun angefangen, die Versatzstücke seiner Technologie<br />
zu einem grandiosen Szenario zusammenzutragen. Wenn man die Peenemünder<br />
Ansätze nur groß und konsequent genug weiterverfolgen würde, könnte<br />
man riesige geflügelte Raketen von über sechstausend Tonnen Startgewicht bauen,<br />
die ansehnliche Nutzlasten in eine 1730 Kilometer hohe Erdumlaufbahn<br />
transportieren könnten. Hunderte solcher ‹Transportschiffe›, jedes fast doppelt<br />
so schwer wie die spätere Mondrakete Saturn 5, würden den Bau einer großen<br />
radförmigen Raumstation erlauben, die alles zugleich sein sollte: Erdbeobachtungsplattform,<br />
Sternwarte, Wissenschaftslabor, Raumschiffbaustelle und nicht<br />
zuletzt Militärbasis. Sämtliche Aufgaben würden natürlich von Astronauten<br />
wahrgenommen werden, denn moderne Computer waren noch nicht vorstellbar<br />
– der spätere Automatisierungsgrad in der Raumfahrt erschien vor 1950 fast utopischer<br />
als die Raumfahrt selbst. Von dieser Raumstation aus würden dann ganze<br />
Flotten von Raumschiffen zu Expeditionen zum Mond und zum Mars aufbrechen<br />
und den amerikanischen Traum perpetuieren: So wie die Pioniere des 19. Jahrhunderts<br />
in Planwagen und Eisenbahnen die Prärien des Westens bezwungen<br />
hatten, so würden ihre Urenkel in Raumschiffen das Sonnensystem durchqueren<br />
und das Banner grenzenloser Freiheit mit sich tragen.<br />
Diese Botschaft erschien wie geschaffen für die amerikanische Volksseele, aber<br />
sie musste erst einmal die Chance bekommen, dem Volk überhaupt vermittelt werden<br />
zu können. Denn all die physikalischen Ansätze und Formeln, die akribischen<br />
37
Berechnungen, technischen Zeichnungen und detaillierten Tabellen, mit denen von<br />
Braun nachwies, dass die Technologie der Mitte des 20. Jahrhunderts im Prinzip bereits<br />
ausreichen würde, den Traum vom Raumflug zu verwirklichen, waren nur für<br />
Fachleute verständlich – und selbst von den Fachleuten waren vorerst nur sehr wenige<br />
bereit, sich mit derart utopisch erscheinenden Ideen ernsthaft zu befassen.<br />
Immerhin konnten sich die wenigen Raumfahrtenthusiasten, die es gab, in<br />
den Nachkriegsjahren wieder ungehindert organisieren; und auch Wernher von<br />
Braun selbst durfte sich nach den Restriktionen der Anfangszeit in Fort Bliss allmählich<br />
wieder freier äußern. Er begann, Kontakte in alle Welt zu knüpfen, trat<br />
der American Rocket Society bei, einem Vorläufer der späteren American Institute<br />
of Aeronautics and Astronautics (AIAA), und aus Großbritannien erreichte ihn<br />
im August 1949 die Ernennung zum honorary fellow der British Interplanetary Society<br />
(BIS). Diese Ehrung, nur viereinhalb Jahre, nachdem die letzte V2 auf London<br />
gestürzt war, bereitete ihm eine außerordentliche Genugtuung und zeugte<br />
vom Pragmatismus der BIS und ihres führenden Kopfes, des nachmals berühmten<br />
Sciencefiction-Autors Arthur C. Clarke. Von noch größerem praktischen Nutzen<br />
war das Ansehen, das von Braun bei den in der alten Heimat verbliebenen Raumfahrtlobbyisten<br />
genoss: Die Gesellschaft für Weltraumforschung (GfW) ernannte<br />
ihn zum Ehrenmitglied, und dankdes Engagements von Heinz Hermann Koelle<br />
und Otto Wolfgang Bechtle wurde das ‹Marsprojekt› erstmals in eine Form gebracht,<br />
in der es schließlich 1952 als schmales Büchlein von 81 Seiten in deutscher<br />
Sprache publiziert werden konnte. 3<br />
Trotz dieser bescheidenen Anfangserfolge wäre Wernher von Braun der<br />
Durchbruch zur dringend benötigten Akzeptanz seiner Ideen in der amerikanischen<br />
Öffentlichkeit beinahe misslungen. Ein Versuch, das Marsprojekt in Prosaform<br />
zu gießen und einen Roman daraus zu machen, scheiterte jämmerlich – zu<br />
blutleer und langweilig war die Handlung, zu hölzern die Charaktere, zu krampfhaft<br />
gewollt das ganze Buch. Kein einziger Verleger wollte das 482 Seiten lange<br />
Manuskript annehmen. Ob das alte Sprichwort, dass ein gutes Bild mehr sagt als<br />
tausend Worte, von Braun damals in den Sinn gekommen ist, wissen wir nicht.<br />
Fest steht: Er brauchte nichts dringender als einen guten Illustrator. Nur Bilder,<br />
Bilder und nochmals Bilder konnten sein grandioses Konzept retten.<br />
Chesley Bonestell kommt ins Spiel<br />
Im Hayden-Planetarium des Amerikanischen Museums für Naturgeschichte in New<br />
Yorkfand am 12. Oktober 1951 eine Veranstaltung statt, die sich emphatisch First<br />
Annual Symposium on Space Travel nannte, aber im Grunde kaum mehr war als eine<br />
von einer Handvoll Insider getragene Werbeveranstaltung für die Idee der Raumfahrt.<br />
Wernher von Braun selbst war an diesem Tag gar nicht anwesend; stattdessen<br />
hatte ein anderer Veteran aus Raketenflugplatz-Tagen, der VfR-Mitbegründer<br />
Willy Ley, das Heft in der Hand. Ley war bereits 1935 aus Deutschland in die USA<br />
emigriert, hatte hier durchaus unabhängig für die Idee der Raumfahrt geworben<br />
und bereits 1949 ein Buch geschrieben, das den visionären Titel The Conquest of<br />
Space trug, aber erst 1952 in größerer Auflage publiziert werden sollte. 4 Anders als<br />
das Marsprojekt Wernher von Brauns enthielt es zwar keine wirklich verwertbaren<br />
technischen Konzepte, aber dafür war es phantastisch illustriert.<br />
Die Bilder für dieses Buch, die von Ley natürlich auch bei der Veranstaltung im<br />
Hayden-Planetarium gezeigt wurden, stammten von einem damals schon älteren<br />
38 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Joachim Block Eine Vision wird illustriert<br />
Architekturmaler, Fassadendesigner und Kulissengestalter, dem 1888 in San Francisco<br />
geborenen Chesley Bonestell, der bis dahin außerhalb seines beruflichen<br />
Umfelds nur wenig bekannt gewesen war. Bonestell hatte sich von früher Jugend<br />
an gleichermaßen für Astronomie und Architektur interessiert und einige prägende<br />
Eindrücke, die er als Schüler bei Besuchen des Lick-Observatoriums empfangen<br />
hatte, auf seiner Staffelei in Ölbildern festgehalten. Leider sind diese frühen Ansichten,<br />
unter anderem des Saturn, allesamt verloren – sie wurden 1906 bei dem<br />
großen Erdbeben in San Francisco zerstört – , ihre Faszinationskraft aber verließ<br />
Bonestell nie mehr und er besuchte später wiederholt das Observatorium auf dem<br />
Mount Wilson, um sich die Planeten im Teleskop anzusehen.<br />
Nach einem abgebrochenen Architekturstudium an der Columbia-Universität<br />
hatte er sich zunächst bei verschiedenen renommierten Architekturbüros verdingt<br />
und, obgleich er keinen akademischen Abschluss erreicht hatte, bald einen<br />
Ruf als guter Fassadengestalter erworben: das Chrysler Building, das New York<br />
Central Building und das Gebäude des Obersten US-Bundesgerichts verdanken<br />
ihm ihr Aussehen ebenso wie das Plymouth RockMemorial (an der Landungsstelle<br />
der Mayflower von 1620) und verschiedene bundesstaatliche Kapitolgebäude.<br />
Mit dem Aufblühen der Filmindustrie etablierte sich Bonestell in Hollywood als<br />
meisterhafter Gestalter anspruchsvoller Kulissen (etwa für den Klassiker Der<br />
Glöckner von Notre Dame) und als Experte für Spezialeffekte, dreidimensionale Ansichten<br />
und das Spiel mit Licht und Schatten.<br />
Nebenbei begann er aus Liebhaberei Landschaftsbilder fremder Planeten zu<br />
malen, in die er sein Talent für optische und geometrische Effekte und einen<br />
starkan die RomantikCaspar David Friedrichs erinnernden Stil einfließen ließ.<br />
Meisterstücke wie Saturn as Seen From Titan (Abb. 4) wirken auch heute noch unmittelbar<br />
emotional und hätten bestimmt schon in den frühen 1940er Jahren, als<br />
Bonestell einige davon in der Zeitschrift Life veröffentlichte, eine viel breitere Resonanz<br />
gefunden und seinen Namen bekannt gemacht, wenn nicht der Zweite<br />
Weltkrieg die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit fast völlig absorbiert hätte.<br />
4 Chesley Bonestell,<br />
Saturn as Seen From Titan.<br />
39
So aber bedurfte es noch etlicher Jahre und der vorbereitenden Zusammenarbeit<br />
mit Willy Ley, bis Bonestells Stunde kam. Bei der Veranstaltung am 12. Oktober<br />
1951 saßen einige Reporter des bekannten Collier’s Magazine im Publikum,<br />
ließen sich von der Aufbruchstimmung der Teilnehmer und der Faszination des<br />
Themas anstecken und <strong>berichte</strong>ten ihrem Chef und Herausgeber Walter Davenport<br />
mit entsprechender Begeisterung. Der Stein kam ins Rollen.<br />
Collier’s Paukenschlag<br />
Das Magazin Collier’s, dem Walter Davenport viele Jahre als Herausgeber vorstand,<br />
war eine mächtige Einflussgröße in der amerikanischen Gesellschaft jener Zeit.<br />
Ähnlich wie Reader’s Digest enthielt es eine bunte Mischung von gut recherchierten,<br />
spannenden und lehrreichen, aber auch unterhaltsamen Artikeln, war ausgezeichnet<br />
illustriert und entsprach der politischen Weltsicht der großen Mehrheit der<br />
Durchschnittsamerikaner geradezu perfekt. Wer in jener Zeit, bevor das Fernsehen<br />
allgegenwärtig wurde und den Einfluss der Zeitschriften allmählich zurückzudrängen<br />
begann, die öffentliche Meinung für sich einnehmen wollte, konnte gar keinen<br />
besseren Weg einschlagen als den über diese monatlich erscheinenden Magazine.<br />
Walter Davenport ließ sich jedenfalls von dem, was ihm seine Reporter von<br />
der Veranstaltung am 12. Oktober im Hayden-Planetarium <strong>berichte</strong>ten, spontan<br />
mitreißen. Schon knapp vier Wochen später, am 6. November 1951, würde in San<br />
Antonio unter dem Dach der US Air Force eine weitere Konferenz stattfinden, in<br />
der es zwar explizit um Physikund Medizin in der Hochatmosphäre gehen würde,<br />
wo die Möglichkeit von Flügen in den Weltraum aber sicherlich ernsthaft diskutiert<br />
werden würde. Davenport beschloss, zu dieser Konferenz nicht nur irgendwelche<br />
Mitarbeiter zu entsenden, sondern seinen persönlichen Stellvertreter<br />
und Mitherausgeber Cornelius Ryan.<br />
Cornelius Ryan, ein gebürtiger Ire und langjähriger Kriegs<strong>berichte</strong>rstatter,<br />
der die Invasion in der Normandie hautnah miterlebt hatte und später durch seine<br />
beiden Bestseller Der längste Tag und Die Brücke von Arnheim bekannt werden<br />
sollte, folgte dem Ruf Walter Davenports und fuhr zu der Konferenz, aber ziemlich<br />
lustlos. Wie er Wernher von Braun gegenüber dort sofort freimütig zugab,<br />
verstand er überhaupt nichts von den Raumfahrtideen und hielt auch nichts davon.<br />
Was sollte er eigentlich hier in San Antonio?<br />
Von Braun aber erkannte sofort, welchen Fisch er da an der Angel hatte. Ryan<br />
war der Schlüssel zu einem der bedeutendsten amerikanischen Medien; er verkörperte<br />
die einmalige Chance, nach der die führenden Peenemünder und ihr Chef so<br />
lange vergeblich gesucht hatten. Er musste einfach gewonnen werden, hier und<br />
heute! Zusammen mit dem Hochatmosphären-Physiker Joseph Kaplan und dem<br />
Astronomen Fred Whipple bearbeitete von Braun den unsicher werdenden Mitherausgeber<br />
von Collier’s mit seiner Überzeugungskraft und seinem ganzen, oft<br />
beschriebenen Charisma, zuerst am Rande der Konferenz, dann beim abendlichen<br />
Dinner und schließlich bis in die Nacht hinein an der Bar des Hotels. Am Ende war<br />
es vollbracht. Sie hatten Ryan umgedreht, in Fred Whipples Worten:<br />
That evening he [Ryan] appeared to be highly skeptical about any possibility of artificial<br />
satellites or space travel... The three of us worked hard of proselytizing Ryan and finally<br />
by midnight he was sold on the space program. 5<br />
Einmal überzeugt, machte Ryan Nägel mit Köpfen. Er organisierte sofort einen<br />
Workshop in der Redaktion von Collier’s in New York, auf dem sich noch vor Weih-<br />
40 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Joachim Block Eine Vision wird illustriert<br />
5 Collier’s Magazine, März 1952: Man Will Conquer<br />
Space Soon.<br />
nachten die führenden Raumfahrtpioniere mit einigen ausgesuchten Illustratoren<br />
treffen sollten, um für die kommende Märzausgabe einen Paukenschlag vorzubereiten.<br />
Auf Seiten der Künstler nahmen außer Chesley Bonestell, dem hier von Anfang<br />
an die unbestrittene Führung zufiel, noch Fred Freeman und Rolf Klep an<br />
dem Treffen teil. Die Riege der Wissenschaftler wurde von Wernher von Braun angeführt.<br />
Seine Mitstreiter waren Willy Ley, Heinz Haber und Fred Whipple – letzterer<br />
bezeichnenderweise der einzige gebürtige Amerikaner in dieser Gruppe. Die<br />
Zeitvorgabe (März 1952) war extrem knapp, und insbesondere auf Bonestell kam<br />
harte Arbeit zu. Er malte ja niemals aufs Geratewohl, sondern setzte alle technischen<br />
Entwürfe zunächst in maßstabsgetreue dreidimensionale Modelle aus Holz,<br />
Gips und Draht um, erprobte an diesen die verschiedensten Perspektiven, Beleuchtungs-<br />
und Umgebungseffekte und setzte sich erst ganz zum Schluss an seine<br />
Staffelei. Dieser akribischen Mühe war es schließlich zu verdanken, dass seine<br />
Bilder so ‹wahrheitsgetreu› aussahen. Jetzt, im Winter 1951/52, musste er Wernher<br />
von Brauns dreistufige Satellitenrakete und die radförmige Raumstation, für<br />
die folgenden Ausgaben von Collier’s auch die Raumschiffe zum Mond und zum<br />
Mars als Modelle bauen. Aber die Mühe lohnte sich.<br />
Am Vorabend des Erscheinens der Märzausgabe trat Wernher von Braun in<br />
zwei Fernseh- und zwei Rundfunksendungen auf, und Geschäfte in New York waren<br />
plakatiert, um eine ganz besondere Botschaft anzukündigen: Der Mensch wird<br />
den Weltraum erobern (Abb. 5), und zwar schon sehr bald! Das Echo war überwältigend.<br />
Die Leute rissen sich um das Heft, Vorträge von Brauns waren überfüllt,<br />
und Mediengiganten wie Walt Disney begannen, sich für ihn und sein Programm<br />
zu interessieren. In den folgenden Monaten wurde die Vision weitergesponnen:<br />
Weitere Nummern von Collier’s beschrieben den Flug zum Mond sowie die Errichtung<br />
einer Mondbasis und schließlich das ganze gigantische Marsprojekt mit seiner<br />
Raumflotte von zehn Schiffen und dem 449-tägigen Aufenthalt einer Forschungsmannschaft<br />
auf dem roten Planeten (Abb. 6). Und bei allen diesen Be-<br />
41
6 Cesley Bonestell, Marsexpedition bereitet sich zum Rückflug vor.<br />
schreibungen wurde die Imaginationskraft des Lesepublikums durch Bonestells<br />
phantastische Illustrationen beflügelt. Danach war der entscheidende Durchbruch<br />
geschafft. Die öffentliche Meinung begann sich zu bewegen, und ein immer<br />
größerer Teil der amerikanischen Bevölkerung hielt Raumfahrt nicht nur für<br />
grundsätzlich machbar, sondern zunehmend auch für ein erstrebenswertes Ziel.<br />
Wernher von Brauns zweite Karriere<br />
Für Wernher von Braun war die enorme Publizität, die er durch die Artikel in Collier’s<br />
und nachfolgende Veröffentlichungen erreicht hatte, der Schlüssel zur zweiten<br />
Karriere, diesmal im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Zunächst katapultierte<br />
sie ihn in eine unanfechtbare Position an der Spitze des Marshall Space Flight<br />
Centers (MSFC) in Huntsville und ermöglichte es ihm, mit der dort entwickelten<br />
Redstone-Rakete eine einsatzfähige Lösung parat zu haben, als im Herbst 1957 der<br />
Sputnik-Schock Amerika erschütterte. Unter der Eisenhower-Administration hatten<br />
Heer, Luftwaffe und Marine voneinander getrennte und schlecht koordinierte<br />
Programme verfolgt, anlässlich des Internationalen Geophysikalischen Jahres (IGY)<br />
einen Erdsatelliten zu starten, aber es hatte zunächst nur Misserfolge gegeben. Als<br />
dann die Sowjets, die das gleiche Ziel angekündigt hatten, denen aber im Westen<br />
niemand so recht geglaubt hatte, tatsächlich den ersten Satelliten ins All brachten,<br />
sah sich die US-Regierung unter massivem Erfolgsdruck, und Wernher von Braun<br />
war zur Stelle. Das Dreierfoto, das ihn zusammen mit William Pickering und James<br />
van Allen unter einem Modell des ersten amerikanischen Satelliten Explorer 1<br />
zeigt, steht für einen seiner größten Triumphe.<br />
Danach konnte Eisenhower ihn nicht mehr fallen lassen, und Kennedy erst<br />
recht nicht. Das unter dem Eindruckdes Kalten Krieges von Kennedy am 25. Mai<br />
1961 verkündete Ziel, bis zum Ende des Jahrzehnts mindestens einen Amerikaner<br />
auf den Mond und sicher zurückzur Erde zu bringen, legte den Grund für das<br />
Apollo-Projekt einschließlich der Entwicklung der gewaltigen Trägerrakete Saturn<br />
5 und beförderte Wernher von Braun auf den Zenit seines Lebens. In diesen<br />
Jahren glaubten zahllose Menschen in den und außerhalb der USA, er sei der Chef<br />
des gesamten amerikanischen Raumfahrtprogramms, obwohl er tatsächlich im-<br />
42 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Joachim Block Eine Vision wird illustriert<br />
7 William Pickering, James<br />
van Allen und Wernher von<br />
Braun nach dem Start von Explorer<br />
1, 1958.<br />
mer nur Leiter des MSFC in Huntsville war und oft mit den anderen NASA-Zentren,<br />
vor allem Houston, im Wettstreit um Ressourcen und Kompetenzen lag.<br />
Die erfolgreiche Mondlandung 1969 war triumphaler Höhepunkt und Peripetie<br />
seiner Karriere zugleich. Nachdem unter dem Zeitdruckder 1960er Jahre Milliarden<br />
von Dollar in die Saturn- und Apollo-Entwicklung investiert worden waren,<br />
um den Wettlauf mit den Russen zu gewinnen, hätte man nun, nachdem Infrastruktur<br />
und Fluggerät einsatzbereit vorhanden waren, mit relativ geringem<br />
finanziellen Aufwand und in viel größerer Ruhe noch eine ganze Reihe von Wissenschaftsmissionen<br />
realisieren können. Stattdessen brach das Mondprogramm<br />
der USA sang- und klanglos zusammen. Bereits bezahlte Raketen wurden nicht<br />
mehr gestartet, Budgets wurden dramatisch gekürzt und Positionen demontiert.<br />
Wernher von Braun sah sich binnen kurzem abgeschoben auf einflusslose Ehrenposten,<br />
erkrankte an Krebs, und auch der lange Schatten von Mittelwerk-Dora<br />
war plötzlich, nach so vielen Jahren, wieder da. Als er am 16. Juni 1977 starb, waren<br />
die Fragezeichen aus der NS-Zeit in den Medien zahlreicher als die rühmenden<br />
Nachrufe.<br />
Chesley Bonestell, der Vater der Space Art<br />
Chesley Bonestell blieb diese Tragikerspart. Obwohl er fast ein Vierteljahrhundert<br />
älter war als Wernher von Braun, überlebte er ihn noch um neun Jahre und<br />
starb erst im Sommer 1986, bald hundertjährig, mit einem unvollendeten Bild<br />
auf seiner Staffelei.<br />
43
8 Chesley Bonestell.<br />
Nach dem Durchbruch 1952 hatte er noch eine Reihe von Jahren mit Wernher<br />
von Braun zusammengearbeitet, bis dieser immer weniger auf die Publikation illustrierter<br />
Bücher angewiesen war, um seine Ziele zu erreichen. Bonestells<br />
Raumfahrt- und Planetenansichten aber verbreiteten sich über die ganze Welt<br />
und begeisterten Millionen von Menschen. Waren sie ursprünglich Sciencefiction<br />
im besten Sinne gewesen, wurden sie nun zu Klassikern eines neuen Kunstgenres:<br />
der Space Art. Zwar dominiert auf diesem Gebiet heute der Computer als<br />
Kompositionswerkzeug, und Sciencefiction-Bilder werden kaum noch mit Pinsel<br />
und Ölfarben gemalt. Aber das ist unwesentlich. Wesentlich ist die Inspiration,<br />
die Chesley Bonestell der Space Art gegeben hat. Man kann ihn als den ‹Vater›<br />
dieser Kunstrichtung bezeichnen.<br />
44 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Anmerkungen<br />
3 Wernher von Braun, Das Marsprojekt,<br />
3.2009<br />
1 Hermann Oberth, Die Rakete zu den Plane- Frankfurt am Main 1952.<br />
tenräumen, München 1923.<br />
4 Willy Ley u. Chesley Bonestell, The Conquest<br />
2 Michael J. Neufeld, Von Braun. Dreamer of of Space, New York1952.<br />
Space, Engineer of War, New York2007, S. 224. 5 Neufeld 2007 (wie Anm. 2), S. 257.
Robert Bramkamp Für ein realkomplexes Raketenmuseum<br />
Robert Bramkamp<br />
Für ein realkomplexes Raketenmuseum<br />
Mein Film Prüfstand 7 ist eine dokufiktionale ‹Charakterstudie der Rakete› mit der<br />
Hauptdarstellerin Inga Busch als zur Erde zurückgekehrtem ‹Geist der Rakete›. 1<br />
Dieses Wesen, das sich ‹Bianca› nennt, erforscht auf der Suche nach ihrem Ursprung<br />
1999 ein ‹Raketendreieck› zwischen Bremen, Peenemünde und Nordhausen,<br />
zwischen dem Ursprung und der Zukunft der Rakete oszillierend und Motive<br />
aus Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow durchquerend.<br />
Für mich als Filmemacher, der versucht, im Passagenraum zwischen Kunst<br />
und Wissenschaft zu arbeiten und hier das Projekt eines ‹realkomplexen Raketenmuseums›<br />
in Worte zu fassen, war es zehn Jahre nach den Dreharbeiten ein besonderer<br />
Moment, die Ankunft des Films im mehrpoligen Zusammenhang eines<br />
interdisziplinären Symposiums wie Planetarische Perspektiven zu erleben. Der<br />
Film kam nun real in eben der vielstimmigen Situation an, die er zuvor nur ästhetisch<br />
modellieren konnte. Durch Montage von Fakten und Erfindungen wird filmisch<br />
ein Zusammenhang spürbar, der dann ermöglicht, vom Raketengeschehen<br />
zu handeln. Mit einer wirklichkeitsnahen, eher unwissenschaftlichen Unschärfe<br />
möchte ich im Folgenden als ‹Raketengeschehen› die Abfolge ziviler oder militärischer,<br />
wichtiger oder übersehener Ereignisse und Zustände bezeichnen, mit der<br />
die Rakete in eine große Zahl von Realitäten hineinregiert. 2 Das Raketengeschehen<br />
zeigt sich insofern erst, wenn man die Rakete als eigensinnige Akteurin betrachtet.<br />
Man sieht dann ihre besondere Leistung, die sich mit einer Filmfigur<br />
umgangssprachlich präzisieren lässt: «Die Rakete bringt alles auf den Punkt – Ursprung,<br />
Raketenspitze, Einschlagspunkt –, was wir nicht einmal mehr zusammenbringen.»<br />
Der Zusammenhang muss demnach weit gespannt werden, will<br />
man der faszinierenden, eigenwilligen Performanz der Rakete gerecht werden –<br />
er muss realkomplex sein, statt unterkomplex.<br />
In Braunschweig materialisierte sich eine diskursive mehrpolige Realität<br />
samt zugehörigen ExpertInnen und Institutionen sowie berufsbedingten Perspektiven<br />
und Interessen am selben Ort: Vertreter der European Space Agency<br />
und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, Physiker, KunsthistorikerInnen,<br />
Satelliteningenieure der Technischen Universität Braunschweig, KünstlerInnen,<br />
Filmemacher und PhilosophInnen. Sieht man von Vertretern der Politik,<br />
der Waffenindustrie sowie der Organisation der Überlebenden des Konzentrationslagers<br />
Mittelbau-Dora und der zugehörigen unterirdischen RaketenfabrikMittelwerke<br />
ab, die zumindest medial anwesend waren, so waren zu diesem<br />
Anlass die wichtigsten Parteien des Raketengeschehens zusammengekommen.<br />
3 Dies schien mir ein Novum zu sein, auf das ich hier und jetzt reagiere, indem<br />
ich in Form einer künstlerisch-wissenschaftlichen Anschlusshandlung eine<br />
Idee skizziere.<br />
45
46 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Als Abwechslung zu dem ‹Retro-Biedermeier› des deutschen Films, der nach<br />
zwanzig Jahren Reduzierung von Komplexität geradezu ‹totalitär› mit allen verfügbaren<br />
Budgets die filmische Fantasie limitiert, wünsche ich mir: ein realkomplexes<br />
Raketenmuseum. Wie ein Kunstmuseum sammelt es nicht nur Artefakte,<br />
die es thematisch präsentiert, sondern betreibt ebenso Forschung und Politik. Da<br />
nach Friedrich Kittler gelten darf: «Raketentechnologie braucht Filmtechnologie<br />
und umgekehrt», wäre ein derart forschendes Museum auch ein exemplarisches<br />
Praxisfeld für realkomplexes Filmemachen.<br />
3.2009<br />
4 Ziel des Raketenmuseums wäre es,<br />
publikums- und forschungsorientiert alle im Raketengeschehen zusammenfließenden<br />
Wirklichkeiten experimentell zu verbinden, künstlerisch und wissenschaftlich<br />
zu erforschen und zu vermitteln, um auf diese Weise wirksame Aufklärung<br />
oder Abklärung zu leisten.<br />
Vielleicht genügt dies nicht, aber beispielsweise wäre es zu wünschen, wenn<br />
ein solches Raketenmuseum in Zukunft dazu beitragen könnte, die gefährliche<br />
Eskalierung zu vermeiden, die etwa US-Außenministerin Condoleeza Rice auslöste,<br />
als sie den russischen Entscheidungsträgern mitteilte, sie würde es nicht<br />
verstehen, worüber sie sich aufregten, handle es sich doch nur um einige wenige<br />
Raketen vor ihrer Landesgrenze. Diese mehrfache Demütigung könnte fiktional<br />
als Szenario entfaltet werden und gehört deshalb in eine Abteilung des vielstimmigen<br />
Raketenmuseums. Thema dieses Raumes wäre der Raketeneinsatz als letzter<br />
Ausweg einer uneingestanden verzweifelten Partei. Immer dann, wenn die<br />
Rakete ins Zentrum der politischen, kollektivsymbolischen und militärischen<br />
Wahrnehmung gerückt wird, weiß mindestens eine der Parteien weder ein noch<br />
aus. Wer Raketen startet oder stationiert, versucht, die nicht mehr zu bewältigende<br />
Komplexität (etwa des Irakkriegs) auf die Gestalt eines simpel-schönen Objekts<br />
zu reduzieren und mittels einer Tat zu bannen, die Erlösung verspricht:<br />
Countdown, Treffer, Klarheit, Eindeutigkeit. Eine Rakete zu starten, bedeutet<br />
dann, aus der Verzweiflung heraus einen Hilferuf abzusetzen und zugleich eindeutig<br />
Stärke zu behaupten, was allerdings keine Gestaltung, sondern das Auslösen<br />
einer unkontrollierbaren Eigendynamik zur Folge hat, zwischen Zerstörung<br />
und Weltraumträumerei. Das klingt ‹schizo› und ist es auch. Und entspricht gerade<br />
dadurch dem Charakter der Rakete, die eine Show garantiert, aber nicht sagt,<br />
welche. Man sollte diesen Charakter aus dem Zentrum politischer Entscheidungsprozesse<br />
und medialer Kommunikation herausrücken und ‹erden›.<br />
Das Raketenmuseum könnte die Raketengeschichte mit verschiedenen Medien<br />
‹realkomplex› entfalten und wahrnehmbar machen, Faszination und Denken<br />
miteinander in Beziehung setzen und auf dieser Basis als medialer Akteur das tagesaktuelle<br />
Raketengeschehen beeinflussen. Die analog zur Rakete in diesem Museum<br />
zusammenfließenden Wirklichkeiten müssen das Akademisch-Interdisziplinäre<br />
überschreiten, da auch Erfahrungsräume wie space park rides, Filme aller<br />
Couleur sowie andere Formen der populären Interaktion berücksichtigt werden<br />
sollten. Als Modell für die nötige enzyklopädische Grundhaltung darf weiterhin<br />
«der genaueste aller Romane» gelten, der wegen seiner großen Spannbreite von<br />
Perspektiven und Tonlagen nichts von seiner Faszination eingebüßt hat. 5 Will<br />
man der Rakete und den ‹planetarischen Perspektiven›, die sie uns eröffnet, auf<br />
die Schliche kommen, empfiehlt es sich, die faustische Show zu transzendieren<br />
und mit Pynchon zu konstatieren, dass die Rakete «jenseits der simplen Erektion<br />
aus Stahl ein ganzes System ist, abgewonnen einem weiblichen Dunkel». 6 Dieses
Robert Bramkamp Für ein realkomplexes Raketenmuseum<br />
vielschichtige System regiert in viel mehr Realitäten, seien es emotionale, politische,<br />
technische und diskursive, hinein, als wir im Laufe unseres Lebens erfahren,<br />
geschweige denn kombinierten können.<br />
Nur der liebe Gott überblickt, was geschieht. Aber ist nicht auch die Rakete eine<br />
Göttin? Selbst 67 Jahre nach ihrem ersten Flug ins All taucht sie in der Tagesschau<br />
auf, wann immer es ihr beliebt und sobald eine ihrer größeren Inkarnationen<br />
startet, unabhängig davon, ob sie aus Russland, Europa, den USA, Nordkorea,<br />
China oder dem Iran stammt. 7 Ihr Start ist ein Ereignis, nicht nur, weil er nicht<br />
Routine werden will und jederzeit zum Fehlstart werden kann, sondern auch,<br />
weil jeder Start, der glückt, Teil eines medialen Regierungsprogramms ist. Wenn<br />
die Rakete sich einmischt, verbindet sie nicht nur jene Realitätssegmente, die wir<br />
oder unsere Systeme nicht mehr zusammenbekommen, plötzlich und auf zwingende<br />
Weise, sondern sie tut dies auch auf unvorhersehbare Weise. Kein Start ist<br />
redundant, denn die Rakete steckt voller Widersprüche. Ob sie gerade gut oder<br />
böse handelt, können wir nicht wissen. Ob sie Tod bringt oder Leben sucht, weiß<br />
die Rakete manchmal selbst nicht.<br />
Entscheidend ist, dass es wenigstens eine gibt, die selbst in der unübersichtlichsten<br />
Situation qua Start oder Startversuch handlungsfähig bleibt. Darauf können<br />
wir uns verlassen. So lädt die Rakete als dramatisch veranlagtes Einzelwesen<br />
zur Identifikation ein und bleibt uns zugleich überlegen. 8 Sie ist ein derart vergrößertes<br />
Einzelwesen, dass sie uns Normalsterblichen mit jedem Start Demut<br />
einflößt, während sie selbst in ein bestimmtes, diskretes technisches Walhalla<br />
fliegt, das die Normalsterblichkeit zu beenden verspricht. 9 Jeder Regierungsakt<br />
der Rakete erscheint als mediale Performanz. Sie ist die Königin der Ambivalenz.<br />
In bestimmten Momenten regiert sie alles, weil sie jede unserer Fragen mit einem<br />
‹Jein› beantworten kann, das keinen Widerspruch zulässt. Ihr Start ist das<br />
letzte Wort und das Ende der Sprache zugleich.<br />
Zum Beleg dieser These möchte ich im Folgenden eine etwa zehn Jahre währende<br />
Langzeitbeobachtung anführen, die das Agieren der Rakete in der Rolle eines<br />
Kollektivsymbols, im Sinne von Jürgen Link, nachzeichnet. 10 Linkunterscheidet<br />
Kollektivsymbole nach pictura und subscriptio. Einem spezifischen Bild wachsen<br />
veränderbare subscriptiones zu, wodurch eine Illusion eines Gesamtbildes<br />
entsteht: im 18. Jahrhundert etwa der Ballon, im 19. Jahrhundert der ‹Zug des<br />
Fortschritts›, später der ‹Supertanker SPD› und bis heute die Rakete. Ich möchte<br />
behaupten, dass in der massenmedialen Präsenz der Rakete eine systematische<br />
Abfolge von guten und bösen Handlungen mitgeteilt wird, die durch ihre Ambivalenz<br />
die Rakete dauerhaft am Leben erhält.<br />
Das realkomplexe Raketenmuseum soll diese Pole erforschen und als Elemente<br />
ihrer subscriptio anschaulich machen, die von der Performanz der Rakete<br />
angesprochen werden und die sie für die Konstituierung von radikaler Ambivalenz<br />
braucht. 1999, zur Entstehungszeit meines Films, konnten in Deutschland<br />
die Pole von (a) aktueller Raumfahrtindustrie samt Zukunftsprogramm und Zukunftspropaganda,<br />
(b) historischer Aufarbeitung der Naziverbrechen und (c)<br />
Technikgeschichte kaum miteinander verbunden werden. Es herrschte Funkstille<br />
zwischen den beteiligten Parteien. Die Erwähnung des Wortes ‹Peenemünde›<br />
führte bei den Planern des Bremer space parks und verwandten Industrien<br />
zum Gesprächsabbruch. Die jüngste Rakete, die auf den Werbebannern<br />
für den Bremer space park dargestellt wurde, war eine V2/A4, geschmückt mit<br />
47
einer amerikanischen Flagge. ‹Vergangenheitsbewältigung›? Von wegen. Alle<br />
Fragen, die sich mit dem Urobjekt der deutschten V2/A4- Rakete verbinden,<br />
sollten durch diese Anti-Traditionsstrategie gelöscht werden. 11 Das Thema<br />
wurde reduziert auf ‹Raumfahrt› und war «nahezu ausschließlich eine Sache<br />
der Großen, der sogenannten Supermächte. Später erhielten oder erschlossen<br />
sich auch Nationen wie Deutschland die Chance zur Beteiligung» an der Raketengeschichte.<br />
12<br />
Aus anderen Gründen wurde das Ur-Objekt, die deutsche A4/V2-Rakete, aus<br />
der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora ausgeschlossen und damit jeglicher Hinweis<br />
auf die Herkunft der Rakete vermieden. Die wenigen noch lebenden Häftlinge,<br />
die zu historischer Aufklärungsarbeit motiviert die Gedenkstätte besuchten,<br />
wollten keine V2-Rakete oder anderen nationalsozialistischen Technikschrott<br />
dulden. Zuletzt vermochte das Historisch-Technische Informationszentrum<br />
(HTI) in Peenemünde angesichts dieser Kommunikationslage wenig mehr,<br />
als zwischen dem <strong>kritische</strong>n Hinweis auf die todbringenden Seiten der Rakete<br />
und der Verehrung der Ingenieure, der ‹alten Peenemünder›, zu schwanken. Diese<br />
unverbundene Koexistenz zusammenhängender Sphären verhinderte bei allen<br />
Beteiligten die Ausbildung einer zeitgemäßen, der Komplexität angemessenen<br />
Haltung zur Rakete. Immerhin wurde in der «Leeren Ethikabteilung» (Bianca)<br />
im obersten Stockwerk des entstehenden HTI dieser Mangel anschaulich,<br />
während das reduktionistische, von kalifornischen Beraterfirmen nach der<br />
‹Zwei-Küstenlogik› gestaltete Konzept eines geschichtsfreien Retrofuturismus<br />
mit dem Scheitern des Bremer space parks eine fünfhundert Millionen Euro teure<br />
Bauruine produzierte. 13 Angesichts der vom federführenden ‹Mr. Space› geschilderten<br />
Attraktionen entstand zudem der Verdacht: «Die Planer dieses Parks bauen,<br />
unbewusst, die Struktur Peenemünde-Mittelbau Dora nach.» 14 Diese geschichts-<br />
und kontextferne Propaganda erscheint wie ein in die Praxis umgesetztes<br />
re-enactment des Kurzfilms Wir verbauen 3 × 27 Milliarden Dollar in einen Angriffsschlachter<br />
von Alexander Kluge.<br />
Einen ersten Vorschlag zu möglichen Räumen oder thematischen Abteilungen<br />
des realkomplexen Raketenmuseums trägt Bianca, der Geist der Rakete, beim finalen<br />
Gang durch die ausgeräumten, renovierungsbedürftigen Räume der ‹leeren<br />
Ethikabteilung› des HTI Peenemünde vor. 15<br />
Auszug Prüfstand 7, Regiebuch (Filmminute 104)<br />
Leerer Raum<br />
Bianca: Ich könnte beinahe den sentimentalen Voelkers verstehen,<br />
der sich in jedem leeren Raum der Ethikabteilung ausmalte,<br />
welche Themen dort nie auftauchen würden.<br />
Melodramatische Musik<br />
Kameragang durch die leere Ethikabteilung<br />
Handkamera durch mehrere Räume<br />
2. Raum<br />
Voelkers: Der Sex des Raketenkörpers. Superschwanz. Maschinenbraut,<br />
Junges Ding, alte Hexe... immer beides.<br />
Und immer zwei Körper die wegflogen. Die Rakete... und<br />
von gleicher Länge und Form: ihre Flamme.<br />
48 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Robert Bramkamp Für ein realkomplexes Raketenmuseum<br />
3. Raum<br />
Bianca: Romeo und Julia! Mussten auch weg aus der Wiege der Singles!?<br />
4. Raum<br />
Voelkers: Ein Beerdigungsritual, statt aller anderen...<br />
Bianca: Für Unsterbliche? Für Untote?<br />
5. Raum und Schwenkzurück.<br />
Bianca: Hallo Hand, weißt du jetzt, ob du leben willst oder sterben?<br />
Voelkers: Als das Peenemündefieber nach Kalifornien auswanderte, das<br />
war die zweite Stufe. In Bremen wird die Rakete ohne Vergangenheit<br />
dastehen und ihre Wahrheit wieder untertage liegen.<br />
Ist das Stufe drei?<br />
Bianca: Wo steckst du?<br />
Leere fünf Räume<br />
Space Park Bremen, Wilke, Voelckers und Bianca<br />
Wilke und Voelkers stehen in der Knüste auf der Baustelle rum. Im<br />
HG nähert sich der silberne BMW von Bianca, sie steigt nicht aus.<br />
Voelkers: Designed von kalifornischen Firmen, mit Baukosten von 500<br />
Mio. DM, entsteht ein neuer Raketen-Tunnel in Deutschland. Er<br />
führt zu einer Kristallpyramide. Nur die Spitze ragt aus einer<br />
nachgebildeten Marsoberfläche hervor. Was ist der Plan?<br />
Speaker: A state begins to form. And the rocket is it’s soul.<br />
Die Bipolarität der Rakete wirkt sich auch auf ihre Beziehung zur Sprache aus, was<br />
sich insbesondere an der Verabschiedung mit einem wortlosen Schwur auf die Raketenspitze<br />
ablesen lässt, den der Gegenwartsforscher Helmut Höge entdeckt<br />
hat. 16 Das Pendeln der Königin der Ambivalenz zwischen Gut und Böse, Lebensförderung<br />
und Todesarbeit, lässt sich in Form einer Grafikveranschaulichen (Abb. 1).<br />
Zwei Faktoren werden dabei deutlich. Erstens: die Amplitude. Ist die Rakete ein wenig<br />
böse oder sehr brutal? Oder ist sie zivil, optimistisch, begeisternd? Zweitens:<br />
Die Frequenz. Eine schnelle Abfolge von widersprüchlichen massenmedialen Signalen,<br />
verdichtet in nur wenigen Tagen und mit hoher Amplitude durchgeführt, produziert<br />
eine intensive Form der Propaganda oder Manipulation, die man ‹Raketenstunde›<br />
nennen könnte. Gemeint ist der Zeitraum, in dem sich die Rakete als Souverän<br />
im Ausnahmezustand präsentiert. Wer kein Anhänger von Verschwörungstheorien<br />
ist, kann sich verschiedene Ursachen für das launische Verhalten der Rakete<br />
ausmalen. Ob wir es dabei mit gezielter Propaganda zu tun haben, mit Automatismen<br />
von Medienmachern, mit Mustern des kollektiven Unbewussten oder mit einem<br />
unerkannt fortwirkenden, quasireligiösen Ischtar-Kult – das müsste sowohl<br />
künstlerisch als auch wissenschaftlich erforscht werden.<br />
Sind es die Kommunikationen selbst, die Raketenpropaganda mit systemischem<br />
Eigensinn erschaffen, oder stecken planvolle Kommunikatoren dahinter, wenn<br />
nicht sogar eine raffinierte Instanz? 17 In jedem Fall gilt: Propaganda erfordert heute<br />
das Schwanken der Rakete zwischen Gut und Böse, zwischen Rettung und Bedrohung,<br />
Leben und Tod, space-Traum und irdischer Realität, um die Rakete im weltweiten<br />
Nachrichtenverbund dauerhaft präsent zu halten. Nur auf dieser Basis kann<br />
49
50 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> ihr Regierungsprogramm im gewünschten Moment zur radikalen Ambivalenz gesteigert<br />
werden. Erkennbar gelingt es kriegführenden Parteien, mit der Rakete alle<br />
anderen Themen zu überlagern. So kann im ‹Ernstfall› nicht nur der Nachrichtenfluss<br />
in diese Richtung gesteuert werden, sondern als einzig noch handlungsfähig<br />
erscheint stets, wer Raketen schießen kann, was einer Propagandaabteilung, die<br />
über viele Raketen oder Cruise-Raketen verfügt, entgegenkommt. Für die <strong>kritische</strong><br />
Öffentlichkeit bedeutet diese Propaganda, dass sie regelmäßig stillgestellt werden<br />
kann, sobald die Rakete Ernst macht. Das realkomplexe Raketenmuseum sollte deshalb<br />
vorausschauende, vorgefertigte Parodien für verschiedene Ernstfallmuster<br />
entwickeln und ständig in homöopathischen Dosen ausgeben.<br />
Basierend auf einem seit 1998 zusammengetragenen Überblickfolgt hier eine<br />
Skizze zum Raketengeschehen (Abb. 1). In Zusammenarbeit mit den Teilnehmern<br />
der Tagung Planetarische Perspektiven, der Hochschule für bildende Künste Hamburg<br />
(HfbK) und dem jüngst gegründeten Institut Forschender Film (IFF Hamburg)<br />
ließe sich diese grafische Beobachtungsperspektive für ein Raketenmuseum<br />
ausarbeiten und konkretisieren. Die verwendeten Quellen repräsentieren<br />
drei unterschiedliche Wahrnehmungsschwellen und -formen: 1. Die Tageszeitung<br />
(taz); 2. Tageschau, Heute; 3. Bild, Berliner Zeitung (BZ).<br />
Der erste Vorfall ereignete sich nach zehn Jahren andauernder Propaganda<br />
für eine deutsche Remilitarisierung im zerfallenden Jugoslawien. Er wurde mitten<br />
in den einfallslosen Retrofuturismus der nahenden Jahrtausendwende gesetzt,<br />
den der Reiseveranstalter TUI unfreiwillig zynisch mit seiner Plakatwerbung<br />
auf den Punkt brachte: Ein bekanntes Apollo 17-Foto aus dem Jahr 1973 war<br />
untertitelt mit dem Spruch «Machen Sie doch mal neue Bilder». Eine Rakete aus<br />
dem unter deutscher Beteiligung geführten Kriegs der NATO gegen Serbien hatte<br />
einen Zug mit Flüchtlingen getroffen und 75 Menschen getötet.<br />
3.2009<br />
18 Diese Rakete<br />
war, laut BZ vom 15. April 1999, «die Rakete, die auch uns trifft». Durch diese erste<br />
mehr oder weniger deutsche Rakete seit dem Zweiten Weltkrieg wurde<br />
Deutschland wieder zum militärischen Akteur. Dennoch scheiterte seit den<br />
1980er Jahren das selbsttherapeutische Verlangen der Remilitarisierer wiederholt,<br />
die zur ‹Normalität› (Volker Rühe) zurückzukehren möchten. ‹Normalität›<br />
sollte bedeuten, dass deutsche Soldaten im Ausland wieder andere oder sich<br />
selbst töten. Über viele Jahre ereigneten dabei nur banale, unheroische tödliche<br />
Unfälle: So kamen drei deutsche Soldaten um, als sie in Zentralasien mit einem<br />
Hammer auf den Kopf sowjetischer Flugabwehrraketen aus den 1950er Jahren<br />
schlugen, die daraufhin explodierten. Auffallend ist, wie im Raketengeschehen<br />
von 1999 bis 2009 Elemente der deutschen Remilitarisierung oft eng mit der Ambivalenz<br />
der Rakete, die zwischen Gut und Böse changiert, verkoppelt sind. Plötzlich<br />
– im Mai 2009 – hat sich diese starre Koppelung in eine lose verwandelt. Zwischen<br />
dem 12. und dem 15. Mai 2009 gruppierten sich drei Ereignisse, scheinbar<br />
ohne jeden Zusammenhang, nebeneinander: 1. NASA und ESA inszenieren mit<br />
den Starts von Atlantis und Ariane, den Satelliten Hubble, Herschel und Planck das<br />
Vollbild ziviler Weltraumbegeisterung, wobei die Erforschung der Entstehungsgeschichte<br />
der Planeten «letztlich auch Hinweise auf unser Schicksal» zu geben<br />
versprechen. 19 2. Der deutsche Papst Benedikt II. betrauert in Yad Vashem, Israel,<br />
den Holocaust. 3. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gesteht die Bundeswehr,<br />
dass deutsche Soldaten im Ausland Gegner getötet haben, allerdings<br />
nicht absichtlich, sondern «aufgrund der unübersichtlichen Lage». 20
Robert Bramkamp Für ein realkomplexes Raketenmuseum<br />
Anmerkungen<br />
1 Prüfstand 7, Deutschland 2001, 114 Min.,<br />
Farbe und Schwarzweiß, digital/35mm,<br />
Nextfilm, ZDF-3sat, Bramkamp. Buch und Regie:<br />
Robert Bramkamp, mit Motiven aus Thomas<br />
Pynchons Die Enden der Parabel; mit Inga Busch,<br />
Peter Lohmeyer, Helmut Höge, Friedrich Kittler;<br />
http://www.pruefstand7.de.<br />
2 Von amerikanisch ‹rocketry›, oder als Romanidee,<br />
die Dinge aus der Perspektive der herrschenden<br />
Rakete zu betrachten, die das Geschehen<br />
planvoll lenkt.<br />
3 Vgl. Yves Béon, Planet Dora. Als Gefangener<br />
im Schatten der V2-Rakete, Gerlingen 1999.<br />
4 Friedrich Kittler, «Medien und Drogen in<br />
Pynchons Zweitem Weltkrieg», in: Prüfstand 7.<br />
Das Buch zum Film. Material zum Film und andere<br />
Forschungen zum Geist der Rakete, hg. v. Robert<br />
Bramkamp u. Olga Fedianina, Berlin 2002,<br />
S. 61.<br />
5 Kittler 2002 (wie Anm. 4), S. 63.<br />
6 Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel,<br />
Reinbekbei Hamburg 1994<br />
7 Am 3. Oktober 1942 hat das Versuchsmuster<br />
IV der A4-Rakete vom Peenemünder Prüfstand<br />
VII die juristische und metaphorische<br />
Grenze zum Weltall durchbrochen.<br />
8 Große Raketen sind solistische Individuen.<br />
Man hat noch nie eine Apollo oder Ariane im<br />
Pulkoder auch nur als Duo starten sehen. Als<br />
Kollektivsymbol funktioniert die Rakete aber<br />
unabhängig von ihrer Größe. Auch eine ein Meter<br />
lange palästinensische Papprakete ist eine<br />
Rakete. Ob sich dieser ‹Individualismus›, der alle<br />
Inkarnationen der Rakete medial gleichstellt,<br />
durch die etwas größeren Raketen iranischer<br />
Bauart, die im Zweiten Libanonkrieg gruppenweise<br />
auftraten, verändert hat – «more then<br />
4000 rockets» laut The Guardian – müsste untersucht<br />
werden. Vgl. http://www.guardian.co.uk/world/2006/aug/14/syria.israel2.<br />
9 Das ‹technische Jenseits› (technological beyond),<br />
das Avital Ronell in ihrer Studie zum Telefon<br />
entdeckt hat, ist für Untersuchungen zur<br />
Faszination der Technologie zentral. Vgl. Avital<br />
Ronell, The Telephone Book. Technology, Schizophrenia,<br />
Electric Speech, London 1989.<br />
10 Petra Kuhnau, Masse und Macht der Geschichte:<br />
Zur Konzeption anthropologischer Konstanten<br />
in Elias Canettis Werk Masse und Macht,<br />
Würzburg 1996, S. 121: «Mit der Abbildung der<br />
pictura auf das Analogiengitter der subscriptiones<br />
entsteht das Kollektivsymbol als ein semantisches<br />
Raster, an dem kollektiv, spontan und<br />
anonym weitergedichtet werden kann, indem<br />
z. B. weitere Elemente von pictura und subscriptio<br />
oder auch neue subscriptiones eingebaut<br />
werden.»<br />
11 Vorausgegangen war eine als V2-‹Jubelfeier›<br />
kritisierte Traditionsstrategie der deutschen<br />
Raumfahrtindustrie, die europaweite Medienempörung<br />
ausgelöst hatte. Vgl. Prüfstand 7<br />
(wie Anm. 1), Min. 31.<br />
12 Vgl. Prüfstand 7 (wie Anm. 1), Min. 100.<br />
13 Unter dem Stichwort ‹bicoastal logic›<br />
(Zweiküsten-Logik) untersucht Rickels das gemeinsame<br />
Unbewusste von Deutschland und<br />
Kalifornien. Vgl. Laurence A. Rickels, The Case<br />
of California, Baltimore/London 1991. Christoph<br />
Schlautmann, «Bremer Space Parkwird<br />
zur Mega-Bauruine», in: Handelsblatt, 20. Mai<br />
2003: «Womöglich wird nicht ein einziger Laden<br />
in der 57 000 Quadratmeter großen Shoppingmall,<br />
die zusammen mit dem angeschlossenen<br />
Vergnügungspark‹Space Center› mehr<br />
als 500 Mill. Euro Investitionskosten verschlungen<br />
hat, jemals in Betrieb gehen. ‹So etwas<br />
hat es bei einem fertig gestellten Center<br />
in ganz Deutschland noch nie gegeben›, wundert<br />
sich Einkaufsimmobilien-Experte Peter<br />
Fuhrmann.»<br />
14 Michael Girke, «Die Zeit der Rakete. Gespräch<br />
mit Robert Bramkamp zu seinem Film<br />
‹Prüfstand 7› (& beyond)», in: Jungle World,<br />
2002, Nr. 22.<br />
15 Prüfstand 7 (wie Anm. 1), Regiebuch, Min.<br />
104.<br />
16 Vgl. ebd., Min. 59.<br />
17 Es gibt allerdings auch die <strong>kritische</strong> These<br />
politischer Gruppen im Internet, wonach das<br />
Pentagon die Ambivalenz der Rakete durch globale<br />
Medienarbeit steuert, weil zivile Weltraumbegeisterung<br />
für die Durchsetzung von<br />
‹star wars› und ‹leadership in space›, die eine offizielle<br />
US-Militärdoktrin sind, als unverzichtbar<br />
gilt. Gibt es eine friedlichere, demokratische<br />
Strategie? Vielleicht sollte jede zivile Mission<br />
immer auch reflektieren, welche Rolle sie im<br />
Ambivalenztheater der Rakete einnimmt oder<br />
einnehmen könnte. Wenn daraus ein ästhetisches<br />
Handeln folgen würde, das sich mit der<br />
technischen Eloquenz heutiger Weltraumtechnikauf<br />
ebenso komplexem Niveau verbinden<br />
könnte, wäre glücklicherweise nicht nur das<br />
Filmbiedermeier zu Ende, sondern auch der ‹Retrofuturismus›.<br />
18 Vgl. Prüfstand 7 (wie Anm. 1), Min. 82.<br />
19 Tagesschau, ARD, 14. Mai 2009.<br />
20 Hamburger Morgenpost, 12. Mai 2009, S. 5:<br />
«Zum ersten Mal hat die Bundeswehr nun zugegeben,<br />
selbst Angreifer getötet zu haben.»<br />
WELT Kompakt, 12. Mai 2009, S. 6: «Die Bundeswehr<br />
hat bei den Gefechten der vorigen Woche<br />
in Afghanistan mehrere Aufständische erschossen.<br />
Wie das Verteidigungsministerium in Berlin<br />
erst gestern mitteilte, wurden bei dem stundenlangen<br />
Feuergefecht am vergangenen Donnerstag<br />
mindestens zwei Einheimische durch<br />
deutsche Soldaten getötet. Dies habe sich ‹aufgrund<br />
der unübersichtlichen Lage› erst später<br />
herausgestellt.»<br />
51
52 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009<br />
1 Die Ambivalenz der Rakete.
Jasmine Wohlwend<br />
Bauen im Space Age<br />
Je realer die Raumfahrt, desto astrofantastischer die Architektur<br />
Die zwei Jahrzehnte, die auf das Ende des Zweiten Weltkriegs folgten, waren geprägt<br />
vom Wettlauf um die Eroberung des Weltraums, der sich zwischen dem amerikanisch<br />
ausgerichteten Westen und dem sowjetischen Osten abspielte. Der erfolgreiche<br />
Start von Sputnikim Oktober 1957, das Versprechen der Mondlandung durch<br />
John F. Kennedy im Mai 1961 und schliesslich die ersten Schritte Neil Armstrongs<br />
auf dem Erdtrabanten im Juli 1969 bezeichneten die Höhepunkte des so genannten<br />
‹Space Age›. Forschungen und technische Entwicklungen, die das menschliche Vordringen<br />
ins All ermöglichen sollten, wurden vorangetrieben, und vermeintliche<br />
UFO-Sichtungen weckten ein öffentliches Interesse am Anderen, Fremden und Ausserirdischen.<br />
Insbesondere in den USA, aber auch in Westeuropa und Japan hatte<br />
bereits in den 1920er Jahren eine Verbildlichung und Medialisierung dieser Themenbereiche<br />
eingesetzt. Diese nahm nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu und manifestierte<br />
sich in verschiedener medialer Ausprägung. So entstand eine wirkungsmächtige<br />
kulturelle Produktion, die die Fantasie der Rezipienten beflügelte und Bilder<br />
des Weltraums kursieren liess, so etwa in viel verbreiteten Zeitschriften und populärwissenschaftlichen<br />
Buchpublikationen, in Fernsehserien und im Kino, auf Ausstellungen<br />
und Vergnügungsparks und nicht zuletzt in der Produktkultur.<br />
Auch ArchitektInnen und StadtplanerInnen beschäftigten sich mit fantastischen<br />
und futuristischen Vorstellungen. Die Produktion utopischer Entwürfe in<br />
dieser von Optimismus und Fortschrittsgläubigkeit geprägten Zeit war umfangreich.<br />
Nur wenigen VisionärInnen gelang es jedoch, ihre Projekte auch zu verwirklichen.<br />
So wie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Schiff- und<br />
später die Luftfahrt den ArchitektInnen als Inspirationsquelle dienten, so knüpften<br />
nun einige von ihnen – insbesondere in Nordamerika und Europa – an Visualisierungskonzepte<br />
aus Raumfahrt und Sciencefiction an. Die Bauten, die ich im<br />
Folgenden vorstellen möchte, können also in der einen oder anderen Weise – sei<br />
es im Hinblickauf die Intention der ArchitektInnen oder die Rezeption seitens eines<br />
Publikums – im Zusammenhang mit den Raumfahrtvorstellungen der Nachkriegsjahrzehnte<br />
gesehen werden. Ich schlage für sie, in Ermangelung eines etablierten<br />
Fachterminus, den Begriff ‹astrofantastische› Architektur vor. Er verweist<br />
einerseits auf eine Art fantastische Architektur und als Spezifizierung mit<br />
dem Präfix astro(n), also Stern, auf den Weltraum. 1<br />
Es gibt in der jüngsten kulturhistorischen Forschung einen Konsens dahingehend,<br />
dass das ‹Space Age› zeitlich grob vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis<br />
zum Jahr 1969, dem Zeitpunkt der ersten Mondlandung, andauerte, also solange,<br />
wie auch das Rennen zwischen den USA und der Sowjetunion im Gange war. Die<br />
Ära kann jedoch innerhalb dieses Rahmens noch einmal unterteilt werden, denn<br />
1961, wenige Jahre nach dem so genannten ‹Sputnik-Schock›, als John F. Kennedy<br />
54 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Jasmine Wohlwend Bauen im Space Age<br />
bekannt gab, es sei seine Absicht, die Mondlandung noch im laufenden Jahrzehnt<br />
in die Tat umzusetzen, änderte sich die öffentliche Wahrnehmung der Raumfahrt<br />
grundlegend. Allgemein gelten die 1950er Jahre als das Goldene Zeitalter des<br />
Space Age. Sie waren vor allem in den USA einerseits von einer wissenschaftlichtechnischen<br />
Debatte um Exponenten wie etwa Wernher von Braun (1912–1977)<br />
geprägt. Andererseits standen die fünfziger Jahre aber auch unter dem Eindruck<br />
der seit den späten zwanziger Jahren aufkommenden Sciencefiction-Kultur. So<br />
waren etwa Figuren wie Buck Rogers und Flash Gordon, die seit den 1930ern in<br />
Hörspielen, Comics, Fernsehserien und Filmen präsent waren, massgeblich mitverantwortlich<br />
für eine Einschätzung der Raumfahrt als Fantasie-Unternehmen.<br />
Ron Miller beschreibt den Sachverhalt für die 1950er Jahre zutreffend, wenn er<br />
davon spricht, dass die Öffentlichkeit die Raumfahrt damals als «that crazy Buck<br />
Rogers idea» wahrgenommen habe. 2 Das sich aus dem Fiktionalen speisende Bild<br />
des Weltraums wandelte sich zu Beginn der sechziger Jahre. Nun war die Öffentlichkeit<br />
davon überzeugt, dass die Reise in den Weltraum sehr bald Wirklichkeit<br />
werden könnte. Seit dem Start des Sputniks bestimmten Astronauten, Satelliten,<br />
Raumkapseln und Abschussrampen – mithin technisch-wissenschaftliche Errungenschaften<br />
– das Bild. 3 Während das populäre Bild der Raumfahrt sich also von<br />
einem der fantastischen Literatur und dem Sciencefiction entlehnten zu einem<br />
eher realitätsnahen wandelte, dürfte in der Architektur das genaue Gegenteil der<br />
Fall gewesen zu sein. Je wahrscheinlicher es wurde, dass Menschen imstande waren,<br />
ins All aufzubrechen, desto eher griffen ArchitektInnen auf Motive zurück,<br />
die mit der praktizierten Raumfahrt kaum etwas gemein hatten: Sie reaktivierten<br />
die fantastischen Bildwelten des Weltraums und der Ausserirdischen, die von der<br />
Populär- oder Sciencefiction-Kultur geprägt waren. Diese These soll nun anhand<br />
einiger konkreter Beispiele auf ihre Gültigkeit überprüft werden.<br />
House of the Future, 1956<br />
Dass sich die astrofantastische Architektur zunächst an Entwicklungen der Raumfahrttechnikorientierte,<br />
die dem technischen Niveau und Wissensstand der Zeit<br />
entsprachen, zeigt sich angesichts des House of the Future von Alison (1928–<br />
1993) und Peter Smithson (1923–2003) aus dem Jahr 1956. Zwar kann dieses Haus<br />
nur aufgrund von wenigen Referenzen als Beispiel einer astrofantastischen Architektur<br />
gelten, doch entscheidend scheint mir, welcher Art diese Rückgriffe sind.<br />
Das Architektenpaar hatte von der britischen Tageszeitung Daily Mail den Auftrag<br />
erhalten, für deren Daily Mail Ideal Home Exhibition ein Haus zu entwerfen, das aus<br />
ihrer Sicht in 25 Jahren Standard sein könnte. Sie konzipierten eine vollständig<br />
aus Kunstharzen gefertigte Architektur. Wie Beatriz Colomina herausgearbeitet<br />
hat, lassen sich beim House of the Future neben Anleihen bei Automobildesign<br />
und U-Boot-Ästhetikdurchaus auch Bezüge zu einem Raumschiff finden. 4 Die Daily<br />
Mail Ideal Home Exhibition zeigte – wie viele Ausstellungen der Zeit – auch Modelle<br />
von Raketen und Raumanzügen. Es erstaunt daher wenig, dass die Smithsons<br />
ihr Haus ebenfalls mit Details ausstatteten, die mit dem Weltraum assoziiert<br />
werden konnten. So griffen sie etwa auf Bilder aus Sciencefiction-Filmen der fünziger<br />
Jahre zurück, um diese in der Wohnung zu platzieren. Der Modedesigner<br />
Ted Tinling (1910–1990) entwarf für die während der Ausstellung angeheuerten<br />
‹Bewohner› des Hauses (Abb. 1) Anzüge, die er als ‹Astronautenanzüge› beschrieb<br />
und die dem ‹Superman-Trend› des Space Age entsprechen sollten. 5<br />
55
1 Alison und Peter Smithson, House of the Future, London, 1956,<br />
Bewohner mit von Ted Tinling entworfenen Anzügen im Schlafzimmer.<br />
2 John Graham, Space Needle, Seattle, 1962.<br />
56 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Interessant ist für die hier verfolgte Argumentation auch die Eingangssituation<br />
des House of the Future: Durch eine elektrische Türe betritt der Besucher eine Art<br />
klimatisierte Luftschleuse, die Temperaturschwankungen im Inneren verhindert<br />
und eintretende Personen von Strassenstaub reinigt. Eine solch peinlich genaue<br />
Trennung und Abschirmung von Innen und Aussen erinnert an Übergangsräume in<br />
Raumschiffen, mittels derer Astronauten vom Vakuum des Alls in die Sauerstoffatmosphäre<br />
der Raumkabine zurückgeführt werden. Der Film Destination Moon, der<br />
versuchte, die Raumfahrt möglichst realitätsnah darzustellen, zeigte bereits 1950<br />
eine solche Schleuse. Ein weiteres Detail, das darauf hinweist, dass sich Alison und<br />
Peter Smithson auf ein durchaus technologisch geprägtes Bild der Weltraumforschung<br />
bezogen, ist die Duschkabine. Hier kann sich der Bewohner nicht nur waschen,<br />
sondern gleich auch trocknen lassen.<br />
3.2009<br />
6 In einer Ausgabe von Collier’s aus<br />
dem Jahr 1952 war die Zeichnung des Inneren einer Mondlandefähre von Fred<br />
Freeman (1906–1988) abgebildet. 7 In den Arbeits- und Wohnräumen der Astronauten<br />
befindet sich auch eine transparente Duschanlage, die das Wasser in der<br />
Schwerelosigkeit zu bändigen versucht. Solche Duschen konnten zwar erst nach<br />
den Apollo-Missionen realisiert werden, doch wurde die Idee derselben in den<br />
fünfziger Jahren wohl durchaus für umsetzbar gehalten. Gewiss, das House of the<br />
Future war nicht etwa als space house konzipiert, sondern eben als Haus der Zu-
Jasmine Wohlwend Bauen im Space Age<br />
kunft. Nicht ohne Grund aber haben die Smithsons Bilder der Raumfahrt aktiviert,<br />
um ihrer Vorstellung von einem Wohnen in der Zukunft Gestalt zu verleihen. Bezeichnend<br />
ist, dass sie dabei vor allem an technologische Innovationen gedacht haben,<br />
die sich positiv auf das Wohnen der Zukunft auswirken sollten.<br />
Space Needle, 1962<br />
Ganz anders die so genannte Space Needle (Abb. 2) in Seattle aus dem Jahr 1962. Sie<br />
wurde anlässlich der Seattle World’s Fair vom Architekten John Graham (1908–1991)<br />
entworfen. Der Fernsehturm besteht aus drei grossen zusammenlaufenden<br />
Stützpfeilern. Knapp über der Hälfte der Gesamthöhe von rund 183 Metern vereinen<br />
sich diese zu einem Bündel, worauf sie weiter oben wieder auseinander streben.<br />
Den Abschluss bildet ein dreigeschossiger Turmkorb. Dieser Baukörper ähnelt<br />
aufgrund der abgestuften Geschossgliederung und seines runden Grundrisses dem<br />
Prototyp einer fliegenden Untertasse. Die gebündelten und dadurch sehr dynamisch<br />
wirkenden Stützpfeiler der Space Needle verheissen den Abflug der Untertasse.<br />
So werden Dunststreifen angedeutet, wie sie aus dem Comic bekannt sind oder<br />
sich beim Start einer Rakete zeigen, während diese senkrecht abhebt. Die Space<br />
Needle markiert somit einen Wendepunkt der astrofantastischen Architektur: Sie<br />
bedient sich nun unübersehbar der Elemente des Fiktionalen, wird zur Schnittstelle<br />
von euphorisch begrüsster technologischer Entwicklung und Sciencefiction.<br />
Die Seattle World’s Fair stand ganz im Zeichen der beginnenden Raumfahrt.<br />
Unter das Motto Century 21 gestellt, war sie auf das nächste Jahrhundert ausgerichtet.<br />
Auf dem Messegelände wurden zahlreiche Attraktionen zum Leben der<br />
Zukunft und zum Thema Raumfahrt dargeboten: Eine imaginäre Reise durch ferne<br />
Galaxien und für die Kinder Vergnügungsbahnen mit Namen wie Meteor, Space<br />
Whirl und Trip to Mars. Die Messe wurde zudem von John Glenn (*1921) besucht.<br />
Glenn hatte im Februar 1962 als erster amerikanischer Astronaut die Erde umkreist<br />
und war ein gefeierter Nationalheld. In Seattle war auch Glenns Raumkapsel<br />
Friendship 7 ausgestellt, denn die Messe hatte unter anderem das Ziel, die Bevölkerung<br />
davon zu überzeugen, dass die USA im Rennen ums Weltall durchaus<br />
mit der UdSSR mithalten konnten. 8 Obwohl die Sowjetunion keinen Pavillon bespielte,<br />
war der Kosmonaut Gherman Titov (1935–2000), dem bereits ein halbes<br />
Jahr früher als John Glenn – von Baikonur aus – ein orbitaler Raumflug geglückt<br />
war, als Besucher anwesend. Die Space Needle entstand also im Zusammenhang<br />
mit einer Messe, für die das Thema Raumfahrt zentral war, und Graham reagierte<br />
darauf mit einer flying saucer-Optik. Die ‹fliegende Untertasse› verkörperte zum<br />
einen das Gefährt von Ausserirdischen, zum anderen aber auch das erhoffte Vordringen<br />
des Menschen ins All mittels neuer Technologien. Ihr Bild war spätestens<br />
Ende der 1940er Jahre Teil der Populärkultur und hat seither die Vorstellungen<br />
von Ausserirdischen und fortgeschrittener Flugtechnikgleichermassen geprägt.<br />
UFO-Sichtungen sind, in Wellen auftretend, seit dem 19. Jahrhundert bekannt.<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt das Thema ‹Ausserirdische›, massgeblich aufgrund<br />
des Berichts des Piloten Kenneth Arnold (1915–1984) vom Juni des Jahres<br />
1947, neuen Aufwind. Dieser sollte dem berühmten, auch heute noch vorherrschenden<br />
Typus des ausserirdischen Raumfahrzeugs, der fliegenden Untertasse, zum<br />
Durchbruch verhelfen und sie als Standardform einführen. Der als glaubwürdig eingestufte<br />
Arnold beschrieb unbekannte Flugobjekte, die er während eines Fluges gesichtet<br />
hatte, folgendermassen: «[They were] flat like a pie pan and so shiny they re-<br />
57
3 Fred M. Wilcox, Forbidden Planet, USA, 1956, Filmstill des Raumschiffs.<br />
flected the sun like a mirror». 9 «[The objects] flew like a saucer would if you skipped<br />
it across the water.» 10 Diese Passage wurde in der Folge in zahlreichen Zeitungen<br />
abgedruckt. Arnolds Sichtung wird in der Literatur als Beginn des Mythos der fliegenden<br />
Untertasse eingestuft. Der Pilot prägte den Begriff der fliegenden Untertasse,<br />
weil er mittels eines Vergleichs aus der Alltagswelt das unbekannte Objekt zu<br />
fassen suchte. Auch wenn das Phänomen UFO schon wesentlich älter war, so ist die<br />
Beschreibung von Arnold insofern bedeutend, als sie die Imaginationskraft anregte<br />
und die Öffentlichkeit für das Phänomen sensibilisierte. In der Folge wurden bei<br />
UFO-Sichtungen insbesondere diskusförmige Objekte beschrieben. 11 Sciencefiction-<br />
Filme der fünfziger Jahre wie The Day the Earth Stood Still (1951), Earth vs. the Flying<br />
Saucers (1956) und Forbidden Planet (1956) (Abb. 3) zeigten ‹klassische Untertassen›<br />
und verliehen damit diesem Motiv zusätzlichen Bekanntheitsgrad. Es kann mithin<br />
davon ausgegangen werden, dass die Messebesucher die Space Needle sogleich als<br />
fliegende Untertasse wahrgenommen haben. Sie war die Hauptattraktion einer<br />
Messe, die aus Innovationen aus dem Bereich Raumfahrt Kapital zu schlagen suchte.<br />
Die Space Needle leistete dazu einen wichtigen Beitrag, allerdings – und das ist<br />
das Erstaunliche – mit einer Bildsprache, die keineswegs dem Stand der damals aktuellen<br />
Technikentsprach, sondern von ihrer Form her eindeutig der Populärkultur<br />
und der Sciencefiction entlehnt war.<br />
Chemosphere/Malin House, 1961<br />
Ein weiterer Bau, der eine Synthese aus aktueller Technologie der Weltraumforschung<br />
und einem Motiv aus der fantastischen Literatur anstrebt, ist die so genannte<br />
Chemosphere in der Nähe von Los Angeles. Das private Wohnhaus wurde 1958<br />
von John Lautner (1911–1994) entworfen und 1961, also ein Jahr vor der Space<br />
Needle, fertiggestellt. In seiner Monografie zu Lautner beschreibt Alan Hess die Gesamterscheinung<br />
der Chemosphere treffend als über ihrem Landeplatz schwebende,<br />
fliegende Untertasse. 12 Die Verstrebungen von den Ecken der Grundfläche zum<br />
Mittelpfeiler verstärken diese, durch die flache und symmetrische Form des Hauses<br />
ausgelöste Assoziation und verleihen dem sich vermeintlich im Flug befindlichen<br />
Objekt zusätzliche Dynamik. Obwohl Lautner nicht intendiert haben mag, etwas zu<br />
bauen, das einem ausserirdischen Transportmittel ähnelt – so ebenfalls Hess – sei<br />
ihm klar gewesen, dass der Bau von der Öffentlichkeit auf diese Weise rezipiert<br />
58 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Jasmine Wohlwend Bauen im Space Age<br />
werden könnte. Deshalb betont der Autor auch die Fähigkeit Lautners, die Zeichen<br />
der Zeit zu erkennen, und verweist auf den noch nicht lange zurückliegenden Erfolg<br />
von Sputnik. Der Auftraggeber Leonard Malin selbst hörte den Vergleich mit einem<br />
Raumschiff nicht ungern. Für einen in der Flugzeugbranche tätigen Ingenieur war<br />
Chemosphere das passende Haus. Zudem entsprach es der Kultur, der technologischen<br />
Entwicklung und den Hoffnungen des Space Age. 13 Bezeichnend ist, dass Chemosphere<br />
ebenfalls zu Beginn der sechziger Jahre entstanden ist. Wie die Space<br />
Needle steht Chemosphere damit innerhalb einer Chronologie von Bauten, die sich<br />
in ihrer äusseren Erscheinung einem Bild von Raumfahrt angleichen, das nicht in<br />
erster Linie von deren technischem Fortschritt, sondern von fiktionalen Elementen,<br />
hier im Speziellen einem Fortbewegungsmittel, das in die Zukunft und auf die Existenz<br />
von Ausserirdischen verweist, bestimmt ist. So verliert die astrofantastische<br />
Architektur mehr und mehr den Bezug zur praktizierten Raumfahrt und verortet<br />
sich diskursiv im populärkulturellen Feld des Fantastischen.<br />
Futuro, 1968<br />
Diese Tendenz ist auch an Futuro (Abb. 4) abzulesen. Das 1968 entstandene<br />
Kunststoffhaus des finnischen Architekten Matti Suuronen (*1933) kann wohl als<br />
eines der erfolgreichsten Exemplare astrofantastischer Architektur gelten. Sein<br />
sphäroider Baukörper schwebt auf einer schlanken Stützstruktur über dem Boden.<br />
An der Stelle des grössten Durchmessers der Schale befinden sich rundherum<br />
elliptische und der Form des Gebäudes entsprechend gekrümmte Fensteröffnungen.<br />
Eine Zugangstreppe kann, ähnlich wie bei einem Flugzeug, per Knopfdruckaus<br />
dem unteren Teil von Futuro heruntergeklappt und eingefahren werden.<br />
Ein privater Auftraggeber hatte Suuronen 1965 mit der Planung einer Skihütte<br />
beauftragt, die schnell zu heizen und auf unwegsamem Gelände leicht aufund<br />
wieder abzubauen sein solle. Nachdem das Haus 1968 in Finnland vorgestellt<br />
und im Anschluss auf mehreren Messen im In- und Ausland gezeigt wurde, mel-<br />
4 Matti Suuronen, Futuro, Finnland, 1968,<br />
Cover einer Zeitschrift.<br />
59
deten sich weltweit zahlreiche Interessenten. Die Firma Polyklem, die das Haus<br />
produzierte, ging daher mit Futuro in Serie, und die Lizenz wurde in nicht weniger<br />
als 25 Länder verkauft. Realisiert wurden schätzungsweise sechzig Exemplare,<br />
die teilweise noch heute existieren und bis nach Neuseeland gelangt sind. 14<br />
Seit seiner Entstehung wurde Futuro immer wieder mit einem UFO assoziiert.<br />
In Titeln aus Zeitungen und Zeitschriften, die über das Haus <strong>berichte</strong>ten, finden<br />
sich folgende Formulierungen: «Flying Saucer from Outer Space», «Saucer-Shaped<br />
House», «Lunar Capsule» und «Home from Another Planet». Ein Artikel trägt die<br />
Überschrift: «Where Are the Little Green Men?» 15 Offensichtlich fanden Form und<br />
Design des Hauses Akzeptanz als ‹Ideal› einer fliegenden Untertasse. Es erstaunt<br />
daher zu hören, dass der Architekt bestreitet, es sei keineswegs seine Intention<br />
gewesen, ein UFO-Haus zu entwerfen. Er betont, dass die Form einzig aus mathematischen<br />
Berechnungen resultiere. Zwar ist diese Aussage anhand einer Zeichnung<br />
Suuronens durchaus nachvollziehbar: Sie zeigt, dass er zunächst einfache<br />
Kuppelformen und auch ein Iglu entworfen hatte und erst dann zur endgültigen<br />
Form kam. 16 Dennoch musste ihm klar gewesen sein, dass 1968 eine sphärische<br />
Kunststoffarchitektur mit elliptischen Fenstern und flugzeugartig ausklappbarer<br />
Treppe mit einem ausserirdischen Raumschiff assoziiert werden würde. Die Tatsache,<br />
dass der Baukörper von Futuro über dem Erdboden zu schweben scheint,<br />
verstärkt zudem die Anmutung einer fliegenden Untertasse.<br />
Futuro wurde im Jahr vor der ersten bemannten Mondlandung vom Juli 1969<br />
fertig gestellt. Die Annäherung an jene aus Zeitschriften und Filmen bekannten<br />
mysteriösen Raumfahrzeuge Ausserirdischer ist nur allzu offensichtlich. Futuro<br />
war jedoch nicht der einzige Bau, der als UFO rezipiert wurde. Als 1971/72 in Lüdenscheid<br />
die Internationale Kunststoff-Ausstellung IKA (Abb. 5) stattfand, wurden<br />
zwei weitere Bauten präsentiert, die in dieselbe Kategorie eingeordnet werden<br />
können: Rondo, von den Schweizer Architekten Casoni & Casoni erstmals 1969 in<br />
Basel ausgestellt, sowie eine Kunststoffarchitektur des französischen Architekten<br />
Jean Benjamin Maneval (1923–1986). 17 Letztere trug zunächst den Namen ‹La<br />
Bulle six coques›, und einige Exemplare davon wurden 1967 als Feriensiedlung in<br />
den Pyrenäen aufgestellt. 18 Dieser Bau ist ein Beispiel dafür, wie die Rezeption<br />
auch aktiv in Richtung Weltraumforschung gelenkt werden konnte: Als Maneval<br />
das Haus 1971 auf der IKA in Lüdenscheid ausstellte, hiess es ‹Orion›. Dabei dürfte<br />
sich Maneval auf die gleichnamige deutsche Fernsehserie bezogen haben:<br />
60 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 5 Internationale Kunst-<br />
3.2009<br />
stoff-Ausstellung IKA, Lüdenscheid,<br />
1971–1972, Futuro,<br />
Orion und Rondo (von links<br />
nach rechts).
Jasmine Wohlwend Bauen im Space Age<br />
Raumpatrouille – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion wurde ab<br />
September 1966 von der ARD alle 14 Tage am Samstagabend zur besten Sendezeit<br />
ausgestrahlt und war die erste deutsche Sciencefiction-TV-Serie. Sie war Maneval<br />
mit grosser Wahrscheinlichkeit bekannt, da sie auch in Frankreich gezeigt wurde.<br />
Demnach sucht Orion, wiewohl bereits als konkret umbauter Raum vorhanden,<br />
nachträglich Zuflucht im fiktionalen Raum.<br />
Ausblick<br />
Die astrofantastische Architektur ist noch nicht hinreichend erforscht. Daher wäre<br />
es vermessen, endgültige Aussagen machen zu wollen. Es kann jedoch eine<br />
Tendenz beschrieben werden: In den 1950er Jahren sind zunächst punktuelle Referenzen<br />
an Raumfahrttechnikund Sciencefiction zu erkennen, die jedoch die Architektur<br />
in ihrer äusseren Erscheinung, ihrem Baukörper und ihrem Grundriss<br />
kaum betreffen. Sie beschränken sich hauptsächlich auf Teile der Inneneinrichtung<br />
sowie der Haustechnik. Die Anleihen lassen sich auf relativ eindeutige Vorbilder<br />
zurückführen. In der zweiten Phase des Space Age tritt die Reflexion der<br />
technologischen Innovationen der Weltraumforschung in den Hintergrund. Verstärkt<br />
wenden sich ArchitektInnen jenen Imaginationen zu, die in Sciencefiction<br />
ihren Niederschlag finden und berücksichtigen die dort vorgefunden formalen<br />
Strukturen bei der Konzeption ihrer Bauten. Je mehr sich die Raumfahrt der Realisierung<br />
ihrer anfangs für utopisch gehaltenen Ziele nähert, umso weiter rückt<br />
die astrofantastische Architektur von der Metaphorik ‹Fortschritt durch Technik›<br />
ab und entdeckt den fiktionalen Raum als eigentlichen Motor einer Transformation<br />
von Bauen, Wohnen und Leben.<br />
Anmerkungen<br />
1 Mitunter würde sich auch der vom amerikanischen<br />
Literaturwissenschaftler Douglas De<br />
Witt Kilgore geprägte Begriff des ‹Astrofuturismus›<br />
eignen. Doch in der Kunstgeschichte wird<br />
der ‹Futurismus› in der Regel mit der entsprechenden<br />
Bewegung im Italien des frühen 20.<br />
Jahrhunderts assoziiert, weshalb er eher missverständlich<br />
wäre. Siehe dazu De Witt Douglas<br />
Kilgore, Astrofuturism. Science, Race, and Visions<br />
of Utopia in Space, Philadelphia 2003, sowie<br />
Alexander Geppert, «Flights of Fancy: Outer<br />
Space and the European Imagination. 1923–<br />
1969», in: Societal Impact of Spaceflight, hg. v.<br />
Steven J. Dicku. Roger D. Launius, Washington<br />
DC 2007, S. 585–599, hier S. 599.<br />
2 Ron Miller, «Spaceflight and Popular Culture»,<br />
in: Dick/Launius 2007 (wie Anm. 1), S. 501–<br />
512, hier S. 506–509.<br />
3 Zur Dauer des Space Age vgl. ebd., S. 508–<br />
511; Asif A. Siddiqi, «Making Spaceflight Modern:<br />
A Cultural History of the World’s First<br />
Space Advocacy Group», in: Dick/Launius 2007<br />
(wie Anm. 1), S. 513–537, hier S. 513; Geppert<br />
2007 (wie Anm. 1), S. 589.<br />
4 Beatriz Colomina, «Unbreathed Air 1956»,<br />
in: Alison and Peter Smithson – From the House of<br />
the Future to a House of Today, hg.v.Dirkvan<br />
den Heuvel u. Max Risselada, Rotterdam 2004,<br />
S. 30–49.<br />
5 Ebd., S. 39.<br />
6 Ebd., S. 44–45.<br />
7 Collier’s, 18. Oktober 1952. Siehe dazu FrederikI.<br />
Ordway, «Spaceships of the Imagination<br />
in Collier’s and 2001», in: 2001: Building for Space<br />
Travel, hg. v. John Zukowsky, Chicago 2001,<br />
S. 156–161, hier S. 158.<br />
8 Siehe Historylink, Netzseite, 2009,<br />
http://www.historylink.org/essays/output.cfm?file_id=2290,<br />
Zugriff am 6. Mai 2009.<br />
9 Zit. n. The Encyclopedia of UFOs, hg. v. Ronald<br />
D. Story, New York1980, S. 25.<br />
10 Zit. n. Curtis Peebles, Watch the Skies! A<br />
Chronicle of the Flying Saucer Myth, Washington<br />
1994, S. 9.<br />
11 Siehe dazu Paul Meehan, Saucer Movies. A<br />
UFOlogical History of the Cinema, Lanham 1998,<br />
S. 33; Peebles 1994 (wie Anm. 10), S. 3–7; UFOs<br />
1947–1987. The 40-year Search for an Explanation,<br />
hg. v. Hilary Evans, London 1987, S. 328; Story<br />
1980 (wie Anm. 9).<br />
12 Alan Hess, John Lautner, London 1999, S. 90.<br />
13 Ebd., S. 90–92.<br />
14 Siehe zu Futuro die ausführliche Monogra-<br />
61
fie Futuro. Tomorrow’s House from Yesterday, hg.<br />
v. Marko Home, Helsinki 2003.<br />
15 Zit. n. Home 2003 (wie Anm. 14), S. 98–99.<br />
16 Marko Home u. Mikka Taanila, «From<br />
Snowy Slopes to the Foot of Minarets. The Futuro’s<br />
Journey from Finnish Ski Cabin to International<br />
Art Icon», in: Home 2003 (wie Anm. 14),<br />
S. 12–47, hier S. 13.<br />
17 Das Basler Architekturbüro Casoni & Casoni<br />
setzt sich zusammen aus Angelo S. Casoni<br />
(*1937) und seinem Bruder Dante M. Casoni<br />
(*1942).<br />
18 Siehe Philippe Bancilhon, Jean Benjamin<br />
Maneval, La Bulle six coques, Paris 2004.<br />
62 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />
Marie-Luise Heuser<br />
Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />
Amerikaner und Russen hatten in der Zeit des Kalten Krieges eine unterschiedliche<br />
Haltung zur Raumfahrt. Während die amerikanische Öffentlichkeit erst mit<br />
dem ‹Sputnik-Schock› vom 5. Oktober 1957 (Ortszeit UdSSR) aufgerüttelt wurde<br />
und auf verstärkte Anstrengungen drängte, in der Raumfahrttechnologie aufzuholen,<br />
wurde das Raumfahrtprogramm in der Sowjetunion sehr viel früher aufgelegt.<br />
Dabei hatten die Amerikaner nach 1945 zunächst einen Vorteil gegenüber<br />
den Sowjets, da sie mit der geheimen Operation Paperclip die meisten der deutschen<br />
Raketenpioniere, einschließlich Wernher von Brauns, und den Großteil der<br />
Raketen und Entwicklungsmaterialien in die USA transportieren konnten, während<br />
sich die Sowjets mit der zweiten Garde deutscher Raketenspezialisten sowie<br />
mit Überresten aus Peenemünde und Nordhausen zufrieden geben mussten.<br />
In den USA waren die deutschen Raketenspezialisten lange Zeit nur mit der<br />
Entwicklung von militärischen Raketen beschäftigt. Ihre zivilen Raumfahrtpläne,<br />
insbesondere das Marsprogramm von Brauns, wurden in das Reich der Utopie<br />
verwiesen. 1 Anders war es in der damaligen Sowjetunion. Der Spiritus Rector des<br />
sowjetischen Raketenprogramms, Sergei Pawlowitsch Koroljow (1906–1966,<br />
Abb. 1), der 1945 nach Berlin beordert wurde, um das deutsche Raketenprogramm<br />
zu studieren, und der nach einem Aufenthalt in Nordhausen 1946 in die<br />
UdSSR zurückkehrte, um mit Unterstützung von Helmut Gröttrup, dem ehemaligen<br />
Assistenten von Brauns, und dem Aerodynamiker Werner Albring, die ersten<br />
Raketen zu konstruieren, konnte die sowjetischen Machthaber sehr viel eher von<br />
dem Ziel überzeugen, neben militärischen Raketen auch ein ziviles Raumfahrt-<br />
1 Sergei P. Koroljow auf einer<br />
sowjetiscchen Briefmarke<br />
(1969).<br />
63
programm zu entwickeln. Seine Passion für die zivile Raumfahrt konnte er mit<br />
dem Sputnik1, der ersten orbitalen Raumsonde, und mit Yuri Gagarin, dem ersten<br />
Menschen im Weltraum am 12. April 1961, bravourös umsetzen.<br />
In der Sowjetunion gab es im Gegensatz zu den USA von Beginn an ein sehr viel<br />
stärkeres, genuines Interesse an der Raumfahrt selbst, an dem Vorstoß in den extraterrestrischen<br />
Raum, der Erkundung des Sonnensystems mit Raumsonden und<br />
der möglichen Besiedlung anderer Himmelskörper. Diese unterschiedliche Haltung<br />
zur Raumfahrt, die bis heute nachwirkt, hat ihre Ursache in den unterschiedlichen<br />
kulturellen Traditionen beider Länder. Während die Raumfahrt in Amerika erst<br />
nach der berühmten Kennedy-Rede vom 25. Mai 1961 vor dem US-Kongress eine<br />
ernsthafte Rolle spielte und zwar im Hinblickauf eine Erneuerung amerikanischer<br />
Gründermentalität, der new frontier, war die Raumfahrt in Russland bereits seit<br />
dem 19. Jahrhundert kulturell verankert und zwar in der Bewegung des russischen<br />
Kosmismus, zu der auch der erste russische Raketenpionier Konstantin Eduardowitsch<br />
Ziolkowski (1857–1935) gehörte. In der russischen Avantgarde, die zwischen<br />
1905 und den 1920er Jahren, also bis zur Machtergreifung Stalins, wirkte,<br />
wurden die Raumfahrtkonzepte Ziolkowskis aufgegriffen und künstlerisch umgesetzt.<br />
Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch (1878–1935) verband mit den extraterrestrischen<br />
Utopien der Raumfahrt eine eigene Kunstrichtung, den von ihm begründeten<br />
Suprematismus. Die amerikanische Orientierung des new frontier, die<br />
im Rahmen des Kalten Krieges, verkürzt gesprochen, auf ‹höher-größer-weiter›<br />
setzte, ist von der russischen Orientierung, die im 19. Jahrhundert mit dem russischen<br />
Kosmismus entstand und in der russischen Avantgarde aufgegriffen wurde<br />
und die einen eigentümlich spirituellen Grundzug aufweist, deutlich unterschieden.<br />
Als nach dem Kalten Krieg amerikanische und sowjetische Raumfahrer miteinander<br />
in Kontakt kamen, bemerkte der amerikanische Astronaut Jeffrey A. Hoffmann<br />
über seine Kollegen aus der UdSSR: «Meines Erachtens ist die Erkundung des<br />
Weltalls für sie [die Sowjets] nicht nur aus militärischen Gründen sehr wichtig,<br />
sondern allgemein als weltanschauliche Grundlage für ihre ganze Kultur.» 2 Dieser<br />
weltanschaulichen Grundlage der russischen Kultur soll im Folgenden mit Konzentration<br />
auf Ziolkowski und Malewitsch nachgegangen werden.<br />
Das freie Raumschiff im leeren Raum – Ziolkowski und der russische Kosmismus<br />
Im Jahre 1883 veröffentlichte der russische Raketenpionier Ziolkowski eine erste<br />
Arbeit, die in deutscher Übersetzung Der freie Raum lautet. 3 Ziolkowski, der im<br />
feudalen Zarenreich aufwuchs, in dem seine Schriften verboten waren, hat mit<br />
dem kosmischen Raum vor allem eines verbunden: die Möglichkeit, sich frei zu<br />
bewegen. Schon in frühester Kindheit träumte er vom Fliegen und vor allem von<br />
der Schwerelosigkeit. Er selbst beschreibt seinen Freiheitstraum so:<br />
Wenigstens erinnere ich mich sehr gut daran, dass mein liebster Traum in der frühesten<br />
Kindheit, noch bevor ich Bücher las, die verworrene Vorstellung war, in einer Umwelt ohne<br />
Schwerkraft zu sein, wo die Bewegungen in allen Richtungen völlig frei waren und wo<br />
es einem besser gefiel, als einem Vogel in der Luft. Woher diese Wünsche kamen, kann<br />
ich mir bis heute nicht vorstellen, auch derartige Märchen gibt es nicht, aber ich habe geglaubt<br />
und gefühlt, und ich habe mir genau solch eine Umwelt gewünscht, ohne die Fesseln<br />
der Schwerkraft. 4<br />
Die Schwerkraft und damit einhergehend die Bodenverbundenheit und Erdzentrierung<br />
wird als Fessel erlebt, von der es sich zu befreien gilt. Die Gravitation<br />
64 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />
bindet uns an die Erde und damit auch an die auf der Erde herrschenden politischen,<br />
sozialen und ökonomischen Zwangsverhältnisse. Ein Ausbruch aus diesem<br />
planetaren Gefängnis kommt daher einem Ausbruch aus den sozialen Gewaltverhältnissen<br />
gleich. Das freie Schweben entbindet zudem mental von den<br />
Fixierungen und Verdinglichungen unseres Alltagslebens und eröffnet einen<br />
Raum der Einbildungskraft, den Ziolkowski als ‹Raum der Phantasie› charakterisiert.<br />
Er selbst war nicht nur theoretischer Begründer der Raumfahrt, sondern<br />
schrieb auch Sciencefiction-Geschichten, in denen er seine imaginären Reisen mit<br />
einem ‹freien Raumschiff› ausmalte, so beispielsweise in der 1893 erstmals veröffentlichten<br />
phantastischen Erzählung Auf dem Monde, in der er Traum und Wirklichkeit<br />
miteinander verzahnt. 5 Die Geschichte beginnt in einem Zustand zwischen<br />
Schlafen und Wachen. Der Held der Geschichte weiß nicht, ob er träumt<br />
oder real erlebt, wie leicht er sich auf einmal fühlt, fast schwebend und dass er<br />
sich ohne Widerstand bewegen kann.<br />
Das freie Schweben in der Schwerelosigkeit wird von Ziolkowski als ein ‹topologisches<br />
Raumgefühl› beschrieben (Abb. 2–3), in dem es kein fixes Bezugssystem<br />
mehr gibt, kein ausgezeichnetes Oben, kein Unten, kein Rechts und kein Links.<br />
Wie schon vor ihm Giordano Bruno, auf den sich Ziolkowski wiederholt bezieht,<br />
löste Ziolkowski mit dem Geozentrismus jegliche Zentrierung des Universums<br />
auf. 6 Das Universum hat keinen ausgezeichneten Mittelpunkt mehr, sondern unendlich<br />
viele, um die sich unendlich viele Welten drehen. Die topologische Raumerfahrung,<br />
die vor allem auch ein Produkt der Romantik ist, wird als abgründige<br />
Erfahrung erlebt, die zunächst beängstigend ist. 7 Ziolkowski beschreibt sie so:<br />
Ein Oben und ein Unten gibt es nicht. [...] Wie fühlt man sich wohl die erste Zeit ohne<br />
Stütze, den Abgrund unter den Füßen? Bald verschwinden die Illusionen des Oben und<br />
auch die Angst. Jedoch braucht man zunächst zur Beruhigung die Wohnung, die Wände,<br />
den Fußboden und sogar die Berührung mit ihnen. 8<br />
Die Beruhigung liefert das Raumschiff, welches im ersten evolutiven Schritt zur<br />
vertrauten, erdähnlichen Umgebung wird, für die Ziolkowski auch bereits eine<br />
2 Konstantin E. Ziolkowski, Orientierungsprobleme<br />
in der Schwerelosigkeit.<br />
65
3 Konstantin E. Ziolkowski,<br />
Der unbegrenzte<br />
Raum.<br />
künstliche Schwerkraft, verursacht durch die Rotation des Raumschiffes, vorsah.<br />
Es sind eben nur erste Schritte, die die erdverbundene Menschheit in den Weltraum<br />
wagt. Hat er aber erst einmal diese ersten Schritte getan, so wird er seine<br />
eigentliche Bestimmung erkennen, die darin besteht, dass er nicht primär ein irdisches,<br />
sondern ein kosmisches und universales Wesen ist. Ziolkowski war neben<br />
Bruno einer der wenigen, die eine eigentliche Philosophie und Anthropologie<br />
der Raumfahrt entwickelten, derzufolge es nicht primär darum geht, von einem<br />
Punkt A zu einem Punkt B zu gelangen, beispielsweise von der Erde zum Mond<br />
oder zum Mars, sondern darum, den universalen Raum selbst zur Wohnstätte der<br />
Menschheit zu machen.<br />
Mit der Erfahrung des nichtgegenständlichen Raumes wird der Mensch in der<br />
Schwerelosigkeit frei von allen fixen Bezugssystemen. Er kann nun selbst Bezugssysteme<br />
erfinden und praktisch erzeugen, indem er beispielsweise ein ‹freies<br />
Raumschiff› baut. Die Bedeutung des freien Schwebens der Einbildungskraft und<br />
der Phantasie für innovative Prozesse der Menschheit wurde von Ziolkowski auch<br />
erkenntnistheoretisch reflektiert, indem er an den Anfang jedes Innovationsprozesses<br />
die Fantasie und das Märchen stellt, denen dann die wissenschaftliche Berechnung<br />
folgt, die erst zum Schluss durch die technische Ausführung gekrönt<br />
werden kann. Ziolkowski war in allen Feldern unterwegs. In seiner Epoche war<br />
zwar noch keine reale technische Raumfahrt möglich. Die Zeit der Fantasie und der<br />
Gedankenexperimente, die in der Renaissance vorherrschend waren, wurde jedoch<br />
schon durch die theoretische Fundierung der Möglichkeit von Raketenantrieben<br />
abgelöst. 9 Ziolkowski war der erste, der bereits 1903, noch vor dem deutschen<br />
Raumfahrtpionier Hermann Oberth, der 1923 zum gleichen Ergebnis kam, die Raketengrundgleichung<br />
aufstellte. Zudem konzipierte er auch schon erste funktionstüchtige<br />
Raumschiffe, wie sein Projekt aus dem Jahr 1903 zeigt (Abb. 4).<br />
Auch berechnete er gewaltige, zylindrische Raumstationen mit einer Länge<br />
von drei Kilometern und einem Durchmesser von drei Metern, die in dreihundert<br />
Abschnitte aufgeteilt werden sollten, so dass jedem Raumfahrer einen Abschnitt<br />
von je zehn Metern Länge, drei Metern Breite und somit siebzig Kubikmeter Volumen<br />
als Wohngehäuse zur Verfügung gestanden hätte. Gewächshäuser,<br />
Schleusen zum Aus- und Einstieg in das Raumschiff, Sonnenenergie-Antriebe und<br />
noch viele weitere technische Lösungen entwarf er.<br />
66 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />
4 Konstantin E. Ziolkowski, Raketenprojekt von 1903.<br />
Was waren aus Ziolkowskis Sicht die Ziele der Raumfahrt? Er schreibt: «Bei<br />
der Arbeit an Rückstoßgeräten hatte ich friedliche und hohe Ziele: das Weltall<br />
zum Wohle der Menschheit erschließen, Raum und von der Sonne ausgestrahlte<br />
Energie gewinnen.» 10 Für Ziolkowski war der kosmische Raum ein utopisches Refugium<br />
für die in Armut und Not lebende Menschheit. Das utopische Potential für<br />
eine Verbesserung der sozialen Situation war ihm zentrales Anliegen. 11 Die soziale<br />
und ökonomische Situation, die in Russland im 19. Jahrhundert für das einfache<br />
Volk eine verheerende war, werde sich aber, so Ziolkowski, durch die Fortschritte<br />
in Wissenschaft und Technikallmählich auf der Erde verbessern.<br />
Dadurch könne es jedoch zur ‹Überbevölkerung› kommen. Bekanntlich war<br />
das Argument der Überbevölkerung ein Argument von Thomas Robert Malthus,<br />
der in Diensten der East India Company stand, vor allem gegen den französischen<br />
Revolutionsdenker Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet, der eine Verbesserung<br />
der sozialen Situation für alle Menschen anstrebte. 12 Wohlstand für alle<br />
würde bedeuten, so Malthus, dass sich die Bevölkerung in geometrischer Progression<br />
vermehrt, dagegen die Nahrungsmittelproduktion nur in arithmetischer<br />
Progression. Die Konsequenz wäre eine ‹Überbevölkerung› in Relation zu<br />
den verfügbaren Nahrungsmitteln. Gegen Malthus wurde im 19. Jahrhundert<br />
dann das Argument vorgebracht, dass diese Grenzen des Wachstums durch die<br />
Entwicklung neuer Techniken jeweils überwunden werden können. Das Problem<br />
der Überbevölkerung blieb aber.<br />
Für Ziolkowski ist der Ausweg aus diesem Dilemma für die Menschheit klar vorgezeichnet.<br />
Alle Menschen sollen ein gleiches Recht auf Leben, Wohlstand und Bildung<br />
haben. Um diese humanistische Forderung realisieren zu können, ist aber der<br />
Weg in den Weltraum unumgänglich, da die Ressourcen auf der Erde begrenzt sind:<br />
«Auch die Überbevölkerung der Menschheit auf der Erde zwingt uns zum Kampf mit<br />
der Schwere und zur Benutzung des Himmelsraumes und seiner Reichtümer.» 13 Die<br />
Raumfahrt wird als notwendige Konsequenz einer humanistischen Ökonomie angesehen,<br />
die allen Menschen ein gutes Leben ermöglichen soll, nicht nur einer kleinen<br />
privilegierten Schicht von Menschen. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, neue Ressourcen<br />
zu erschließen, um einen weiteren, sozialen Fortschritt zu ermöglichen.<br />
Ziolkowski war der Auffassung, dass der Mensch «um jeden Preis die Erdenschwere<br />
überwinden und zur Verfügung wenigstens den Raum des Sonnensystems» haben<br />
67
68 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> müsse.<br />
3.2009<br />
14 Im Revolutionsjahr 1917, das ihm eine kleine finanzielle Grundsicherung<br />
durch eine von Lenin persönlich verfügte Leibrente bescherte, formulierte er folgenden<br />
‹ethischen Imperativ›, womit er sich deutlich von der Lehre des ‹Kampfes aller<br />
gegen alle› in einer angeblich begrenzten Welt abhob:<br />
Aus diesem Grund besteht der wahre Weg zur Vollkommenheit darin, niemandem etwas<br />
ohne sein Einverständnis wegzunehmen, keinerlei Gewalt auszuüben, die Freiheit und<br />
die Wünsche der Nahestehenden nicht zu beeinträchtigen, sofern sie uns nicht auf die<br />
gleiche Weise bedrohen. Beruhigt alle Menschen! Sagt ihnen und versprecht, dass niemandem<br />
etwas weggenommen wird. Es besteht keine Notwendigkeit zum Wegnehmen,<br />
wenn in der Natur die Reichtümer in unendlicher Menge vertreten sind. Dann wird unser<br />
Weg zum Ideal friedlich, glücklich und erfolgreich sein. 15<br />
Darüber hinausgehend gab es für ihn auch eine kosmologische Notwendigkeit,<br />
den extraterrestrischen Raum aufzusuchen. Als Teil des Sonnensystems und als<br />
Teil des Universums ist die Erde gefährdet. Der Aufprall eines Meteoriten «kann<br />
der Erde einen solchen Schlag versetzen, dass die sich dabei bildende feste oder<br />
gasförmige Welle alles vom Erdboden tilgt – sowohl den Menschen als auch seine<br />
Bauwerke». 16 Die Erde ist auf Dauer keine sichere Basis für das Leben auf ihr. Irgendwann,<br />
so Ziolkowski, wird die Sonne abkühlen und erlöschen. Dann ist man<br />
darauf angewiesen, auch aus dem Sonnensystem zu fliehen. «Aber» , so Ziolkowski,<br />
«vom Weltraum aus zu fliehen, ist bedeutend leichter als aus unserem<br />
planetarischen Gefängnis, wo wir und alles, was wir besitzen, mit den Ketten der<br />
Gravitation an die Erde gefesselt sind.» 17<br />
Ziolkowski gehörte mit dem Philosophen Nikolai Fjodorowitsch Fjodorow<br />
(1828/9–1903) und dem Naturwissenschaftler Wladimir Iwanowitsch Wernadski<br />
(1863–1945) zu den Gründungsvätern des russischen Kosmismus. 18 Der russische<br />
Kosmismus war einer Fortschrittsidee verpflichtet, die sich teilweise aus Motiven<br />
der westeuropäischen Romantikspeiste. Es wurde ein synergetisches, sich<br />
zu höheren Ordnungsstufen organisierendes Universum angenommen, das mit<br />
der Kreativität des Menschen eine Einheit bildet. Der Einfluss der dynamistischen<br />
Naturphilosophie, insbesondere Friedrich Wilhelm Joseph Schellings ist<br />
unübersehbar, aber bisher noch nicht systematisch untersucht worden. 19 Dies<br />
gilt im Übrigen auch für den Einfluss der romantischen Naturphilosophie auf Malewitsch,<br />
der über den Energetismus von Wilhelm Ostwald an diese Denkströmung<br />
anschloss. Sowohl Ziolkowski und der russische Geologe und Mineraloge<br />
Wernadski als auch der Chemiker Ostwald nahmen ein ‹negentropisches Universum›<br />
an, ein Universum, das, entgegen des bloß für geschlossene Systeme formulierten<br />
Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, des so genannten Entropiesatzes,<br />
nicht irreversibel den von Rudolf Clausius 1865 prognostizierten ‹Wärmetod›<br />
ansteuert, sondern durch die Emergenz von komplexeren Organisationsstufen zu<br />
einer Höherentwicklung tendiert. 20 Dieses Universum erlaubt eine naturtheoretische<br />
Fundierung der aus der Aufklärung stammenden sozialen Fortschrittslehre,<br />
die mit dem Marxismus in der Sowjetunion dann weiteren Auftrieb erfuhr. Innerhalb<br />
dieses Universums kommt der technologischen Entwicklung der Produktivkräfte<br />
eine zentrale anthropologische und auch ethische Funktion zu, da sie<br />
als das zentrale Movens der Menschheitsgeschichte angesehen wird, das uns von<br />
der Biosphäre in die von Wernadski so benannte ‹Noosphäre› überführt.<br />
Der Begriff ‹Noosphäre› knüpft an den altgriechischen Begriff für Geist und<br />
Vernunft nous an und bezeichnet eine überindividuelle, durch die Vernunft des
Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />
Menschen erzeugte künstliche Sphäre, mit der die Biosphäre auf eine höhere Evolutionsstufe<br />
gehoben wird. Die Noosphäre bringt zunehmend ein planetares Bewusstsein<br />
hervor. Ethisches Ziel ist die global versöhnte Menschheit. Die Verwirklichung<br />
der überindividuellen, am Universalen ausgerichteten Noosphäre<br />
geht einher mit dem Aufbruch in den kosmischen Raum. Durch die Überwindung<br />
von Krankheit und Tod wird als ultimatives Ziel der Menschheit auch die Überwindung<br />
der Zeit angestrebt.<br />
Extraterrestrischer Suprematismus – Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch<br />
Malewitsch brachte sein künstlerisches Programm des Suprematismus 1924 auf<br />
folgende kurze Formel: «Ziel des Lebens ist die Befreiung vom Gewicht der<br />
Schwere.» 21 Die Schwerelosigkeit ist für ihn ein physikalischer und zugleich spiritueller<br />
Zustand. Indem die Gegenstände ‹zerstäubt› werden, verlieren sie ihre<br />
Erdenschwere und Materialität, werden leichter und leichter, lösen sich in Erregungsmuster<br />
des Raumes auf und erlauben so eine Überwindung der gegenständlichen<br />
Welt. Mit der Schwerelosigkeit wird eine Befreiung aus der Gegenständlichkeit<br />
und damit aus dem Reich der Notwendigkeit erreicht. Der angestrebte<br />
schwerelose, suprematistische Zustand ist das ‹befreite Nichts›, ein Zustand<br />
im Reich der Freiheit. Mit der Erdenschwere sollen, wie bei den zuvor genannten<br />
russischen Kosmisten, auch bei Malewitsch Krankheit und Tod, Arbeit<br />
und Not, das Jammertal des irdischen Lebens überwunden werden. Die Bildelemente<br />
in Malewitschs suprematistischen Kompositionen sind so zusammengefügt,<br />
dass sie schwerelos und frei erscheinen. Die Menschheit ist dazu in der Lage,<br />
die irdische Schwere zu überwinden, da sie immer wieder aus dem Nullpunkt<br />
heraus kreativ zu sein vermag. 22 Malewitsch verwandelt mit seiner Lehre von der<br />
‹schöpferischen Null› die christliche Lehre der creatio ex nihilo in eine Lehre der<br />
creatio ex zero. 23 Für ihn ist Kreativität, verstanden als die Fähigkeit der Erzeugung<br />
von Emergenz aus einem jeweiligen Nullpunkt heraus, das Wesen des Menschen,<br />
womit er zum höchsten Sein in der Natur wird. 24 Mit dem ‹befreiten<br />
Nichts› wird nicht nur jeweils ein kreativer Neuanfang möglich, sondern es ermöglicht<br />
eine extraterrestrische, kosmische Empfindung. Dazu Malewitsch:<br />
Der Weg des Menschen muss befreit werden von allem gegenständlichen Gerümpel, das<br />
sich in den Jahrtausenden angesammelt hat. Dann erst wird der Rhythmus der kosmischen<br />
Erregung voll wahrgenommen werden können, dann wird der ganze Erdball eingebettet<br />
sein in eine Hülle ewiger Erregung, in den Rhythmus der kosmischen Unendlichkeit<br />
eines dynamischen Schweigens. 25<br />
Der Begriff ‹dynamisches Schweigen› deutet darauf hin, dass das Nichts von Malewitsch<br />
nicht als bloße, gähnende Leere, sondern als nichtgegenständliche<br />
Wirklichkeit aufgefasst wird, die zudem dynamisch verfasst ist. Mit dem Schweben<br />
im extraterrestrischen Raum würden wir diese Wirklichkeit spüren. So<br />
schreibt Malewitsch:<br />
Das ganze Weltall bewegt sich im Wirbel gegenstandsloser Erregung. Auch der Mensch<br />
mit seiner ganzen gegenständlichen Welt bewegt sich in der Unendlichkeit des Gegenstandslosen,<br />
und auch alle seine Dinge sind im Grunde gegenstandslos, da sie ja im Endergebnis<br />
das Ziel nie erreichen. Daraus ist zu folgern, dass die praktische ‹Realität› der<br />
Dinge nicht wirklich ist. In dem Maße, in dem der Mensch die Welt als gegenständliche,<br />
greifbare Sache betrachtet, kann er sich ihrer als Gegenstandslosigkeit, als absoluter Aufhebung<br />
der Schwere, auch nicht bewusst werden. 26<br />
69
Mit der Bewusstwerdung der nichtgegenständlichen, nicht dinglichen Wirklichkeit<br />
wird erst der Befreiungsakt vollzogen und die ‹wahre› Wirklichkeit erkannt,<br />
denn die Natur selbst ist in ihrem Kern ungegenständlich und substratlos. Malewitsch<br />
spricht von der «einen Wahrheit des gegenstandslosen Seins unter der<br />
Oberfläche der Erscheinungen». 27 Er verabschiedet sich demnach nicht von der<br />
Ontologie, er fasst sie nur anders als die traditionelle Dingontologie auf. Die gesamte<br />
Natur befindet sich, ihm zufolge, im gegenstandslosen Zustand. Nur unsere<br />
Vorstellung, die vom praktischen, gegenstandsbefangenen Realismus bestimmt<br />
wird, unterschiebt ihr feste Grenzen und Oberflächen. Wir selbst sind es,<br />
die die Welt als Vorstellung und damit als Gegenständlichkeit konstituieren, womit<br />
wir uns aber von der wahren Realität entfernen. Malewitsch:<br />
Der Mensch ist noch nicht sehend geworden in der Welt der Wirklichkeit, er ist noch<br />
nicht erwacht. Dabei ist er aber unentwegt bemüht, Hilfsmittel zu finden, mit denen er<br />
die harte Schale durchbrechen könnte, die ihn von der Wirklichkeit trennt. Wissenschaft,<br />
Religion, Kunst sind solche Hilfsmittel, die zu seinem Erwachen führen, ihm den Durchbruch<br />
zur kosmischen Wirklichkeit ermöglichen sollen. 28<br />
Erst wenn das Gegenständliche, das Widerständige und Grenzen Setzende fällt,<br />
wenn die diamantene Oberfläche der Erscheinungen aufgelöst wird, beziehungsweise<br />
in der Terminologie Malewitschs ‹zerstäubt›, erst dann kann eigentlich<br />
kosmisches Empfinden entstehen. Die Empfindung der Nichtgegenständlichkeit<br />
oder der gegenstandslosen Welt ist für Malewitsch letztlich identisch mit der<br />
kosmischen Empfindung. Erst mit der Befreiung von der Gegenständlichkeit wird<br />
die Feierlichkeit der unendlichen Erregung, die Feierlichkeit des Weltalls spürbar<br />
(Abb. 5). 29<br />
70 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009<br />
5 Kasimir S. Malewitsch,<br />
Kosmische Komposition, 1917–<br />
1918, Zeichnung.
Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />
Malewitsch hat mit seiner Philosophie nicht nur mystisch-religiöse Motive<br />
formuliert, die etwa mit Traditionen der negativen Theologie oder des Neuplatonismus<br />
verknüpft werden könnten, sondern meines Erachtens die zu seiner Zeit<br />
aufkommende moderne Naturwissenschaft adaptiert. Zwei Konzepte aus der<br />
zeitgenössischen Naturwissenschaft scheinen bei seiner Philosophie der Nichtgegenständlichkeit<br />
Pate gestanden zu haben: zum einen das relativistische Konzept<br />
des Raumes als einer nichtgegenständlichen physikalischen Realität, die durch<br />
ihre Dynamikerst Kräfte und Materie konstituiert (Albert Einstein) und zum anderen<br />
die Erregungslehre des Energetismus (Wilhelm Ostwald).<br />
Einsteins Relativitätstheorie wurde im Umkreis von Malewitsch, insbesondere<br />
von seinem Mitstreiter Lasar Markowitsch Lissitzky (kurz El Lissitzky genannt)<br />
intensiv rezipiert. El Lissitzky vertrat die Auffassung, dass die Kunst der Moderne<br />
nur den Prozess, den die Mathematikim 19. Jahrhundert bereits mit Carl Friedrich<br />
Gauß, Bernhard Riemann und Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski vollzogen<br />
hatte, im Medium der Kunst nachvollzog:<br />
Den ererbten perspektivischen Raum haben die Impressionisten als erste zu sprengen angefangen.<br />
Entscheidender war das kubistische Verfahren. Sie haben den raumabschließenden<br />
Horizont in den Vordergrund gezogen und ihn mit der Malfläche identifiziert. 30<br />
Der euklidische Raum, auf dessen visueller Konstruktion die Zentralperspektive<br />
beruht, wurde durch die moderne Mathematiknicht mehr als allein gültiger<br />
Raum angesehen. Der Raum und mit ihm die Geometrie wurden im 19. Jahrhundert<br />
zunehmend dynamisiert. 31 Zudem wurde dieser dynamisierte Raum zunehmend<br />
als alleiniger Träger der Realität angesehen, oder wie es Einstein 1930<br />
rückblickend formulierte:<br />
Zusammenfassend können wir symbolisch sagen: Der Raum, ans Licht gebracht durch das<br />
körperliche Objekt, zur physikalischen Realität erhoben durch Newton, hat in den letzten<br />
Jahrzehnten den Äther und die Zeit verschlungen und scheint im Begriffe zu sein, auch<br />
das Feld und die Korpuskeln zu verschlingen, so dass er als alleiniger Träger der Realität<br />
übrig bleibt. 32<br />
Darauf aufbauend entwickelte später John Archibald Wheeler die Geometrodynamik,<br />
für die die Raumzeit die einzige Arena ist, in der sich die Naturprozesse abspielen.<br />
Demnach ist das vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum alles, was es<br />
gibt, eine Art magisches Baumaterial, aus dem alles in der physikalischen Welt geformt<br />
ist. Licht beispielsweise ist nur eine Kräuselung des leeren Raumes. Das Gravitationsfeld<br />
wird durch eine schwache Krümmung in einem Gebiet des Raumes<br />
beschrieben. Ladung und Masse sind nichts anderes als verknotete Gebiete hoher<br />
Krümmung des Raumes. Felder und Teilchen sind demnach keine zusätzlichen Wesenheiten<br />
zur Raumzeit, sondern Epiphänomene der Geometrodynamikund damit<br />
der Energie der Raumzeit. 33 Wheelers Theorie scheiterte allerdings letztlich aufgrund<br />
nicht behebbarer, unendliche Werte annehmenden Feldsingularitäten.<br />
Der zweite von Malewitsch verwendete Zentralbegriff ist der Begriff der ‹Erregung›.<br />
«Das Wahre, das Wirkliche ist nur in der Erregung», lautet ein Grundsatz<br />
seiner suprematistischen Ästhetik. 34<br />
Das suprematistische Bewusstsein ist im Verhältnis zur Welt der Erscheinungen und der<br />
ganzen Natur nur Erregung. Darum können in ihm auch keine Zustände existieren, die<br />
wir ‹Materie› nennen, zumal alles, ob wir es nun organisch oder unorganisch nennen, nur<br />
Bewegungskraft der Erregung ist, die sich nur dann in ‹Materie› verwandelt, wenn das<br />
Bewusstsein des Durchschnittsmenschen diese Bewegungskraft in eine von ihm erdachte<br />
71
72 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Ordnung bringt. Doch auch in diesem Falle müsste Materie als ein gewisser Zustand von<br />
Kräften oder Ballungen aufgefasst werden, als Folge der Bewegung.<br />
3.2009<br />
35<br />
Sein Konzept der Erregung basiert wie sein Konzept der Nichtgegenständlichkeit<br />
auf zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Theorien. Offenbar war Malewitsch<br />
von der EnergetikOstwalds beeinflusst. 36 Ostwald stammte aus dem damals<br />
zu Russland gehörenden Riga, war dann ab 1887 Professor der Chemie in<br />
Leipzig und erhielt 1909 den Nobelpreis für seine Arbeiten zur Katalyse. Um 1900<br />
schuf er die Grundlagen für seinen Energetismus, demzufolge die Substanz der<br />
Natur nicht aus dinglich-atomarer Materie, sondern aus purer Energie, das heißt<br />
reiner Dynamikbesteht. Materielle Entitäten sind demnach nur Epiphänomene<br />
basaler energetischer Prozesse. Ostwald hatte seinen Energetismus in bewusster<br />
Anlehnung an die Tradition der dynamistischen Naturphilosophie der Romantik,<br />
aber unter Einbeziehung der neu von ihm begründeten Disziplin der Physikalischen<br />
Chemie entwickelt. 37<br />
Interessant in diesem Kontext ist auch, dass Ostwald eine eigenständige Farbenlehre<br />
schuf, die im Hinblickauf Malewitschs Suprematismus vielleicht neue<br />
Aufschlüsse gewähren könnte. Die Welt als eine Gruppierung von Kräftefeldern<br />
und Energiedichten kann nur über elektrische Nervenreizungen wahrgenommen<br />
werden. Die dynamischen Kräftebewegungen folgen bei Malewitsch den Prinzipien<br />
von Verdichtung und ‹Zerstäubung›. Da, wo die Energiedichte an ihre Grenzen<br />
stößt, kommt es zu ‹Katastrophen›. Dieser Begriff wurde von Ostwald eingeführt,<br />
um <strong>kritische</strong> Übergänge von energetischen Ordnungszuständen zu bezeichnen.<br />
Nach der Zerstäubung entstehen neue Energiefelder, die sich zu neuen Zentren<br />
bündeln und verdichten, bis auch sie wieder zerfallen und ‹zerstäuben›. Malewitschs<br />
Kredo war, dass Licht, Farbe, Form und Malerei nichts als Energie seien.<br />
Damit wird aber die Kunst auch nichtmimetisch, da sie das Paradigma der gegenständlichen<br />
Repräsentation aufgibt. Kunst kann die Welt nicht nachahmen, da sie<br />
mit dem Nachahmen das Wesentliche der Welt verkennt, ihre grundlegende Dynamik.<br />
Diese kunstphilosophische Konsequenz hatte schon Schelling um 1800 aus<br />
seiner dynamistischen Naturphilosophie gezogen. Auch für Schelling kann es<br />
nicht Aufgabe der Kunst sein, den äußeren, gegenständlichen Schein der Dinge<br />
mimetisch wiederzugeben, denn damit würde sie den Kern der Natur genau verfehlen,<br />
sondern sie kann nur versuchen, sich mit dem unbewussten, autogenerativen<br />
Sich-Selbst-Konstruieren der Natur zu identifizieren und so eine Art oszillierende<br />
Zwitterstellung zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten einzunehmen.<br />
Nach Schelling haben wir eine Mitwissenschaft der Schöpfung, die bis an<br />
den Anfang der Welt zurückreicht. Mit der Moderne wurde die gegenständliche<br />
Darstellung in der Kunst mehr und mehr gesprengt. Dies ist offenbar das Resultat<br />
des Dynamismus dieses Zeitalter. Es ist ein Grundzug der Moderne, dass sie sich<br />
nicht mehr in einer fertigen, gegebenen Welt des Gegenständlichen einrichtet,<br />
sondern alle Verhältnisse dynamisiert. Dies hat auch Malewitsch so gesehen. In<br />
seinem Bauhausbuch von 1927 führt Malewitsch dazu aus:<br />
Die neuen Kunstrichtungen können nur in einer Gesellschaft bestehen, die das Tempo der<br />
Großstadt, das metallische der Industrie in sich aufgenommen hat. Es kann keinen Futurismus<br />
geben dort, wo die Gesellschaft noch die idyllisch-ländliche Lebensweise aufrechterhält.<br />
[...] Der Futurismus ist nicht die Kunst der Provinz, sondern die der industriellen<br />
Arbeit. [...] Heute ist der Futurismus allerdings noch der schonungslosen Verfolgung<br />
durch die Anhänger der idyllischen Kunst der Provinz ausgesetzt. 38
Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />
6 Kasimir S. Malewitsch, Schwarzes Quadrat,<br />
1915, Öl auf Leinwand, 79 × 79 cm, Moskau, Tretjakow-Galerie.<br />
Der Suprematismus geht insofern über den Futurismus hinaus, als er die neueste<br />
technische Errungenschaft der damaligen Zeit, die Aviatik, zu ihrer Umgebung<br />
macht, so dass man, wie Malewitsch sagt, «den Suprematismus auch den ‹aeronautischen›<br />
nennen könnte». 39<br />
Offenbar hat Malewitsch in Anlehnung an die SozialenergetikOstwalds eine<br />
Art ‹kulturelle Energetik› vertreten. Demzufolge sind gesellschaftliche Prozesse<br />
Ausdruckvon energetischen Vorgängen, die mit Farbskalen in Verbindung gebracht<br />
werden können. Auf dem Lande ist die kulturelle Verdichtung der Farbenergien<br />
am geringsten, so dass hier die Buntheit überwiegt. Am intensivsten ist<br />
die Verdichtung der Farbenergien in der Großstadt, wo das hohe Maß an Dichtheit<br />
farblicher Energie im Schwarz seinen Ausdruckfindet. Gipfelpunkt der Entwicklung<br />
ist die Metropole, wo der Höhepunkt der Farblichkeit überschritten<br />
wird und die Farbe sich im weißen Licht, der Farblosigkeit ‹zerstäubt›. 40 Das berühmte<br />
Schwarze Quadrat (Abb. 6), das Malewitsch 1913 erstmals auf einen Bühnenvorhang<br />
für die futuristische Oper Sieg über die Sonne malte, womit er den Suprematismus<br />
beginnen ließ, und welches er als eigenständiges Bild 1915 erstmals<br />
ausstellte, ist insofern auch vor dem Hintergrund einer kulturellen Energetikzu<br />
Recht als ‹Ikone der Moderne› bewertet worden. Mit dem Schwarzen Quadrat<br />
wurde der raumabschließende Horizont in aller Radikalität in den Vordergrund<br />
gezogen und dynamisiert. Der dynamische Raum selbst wird Substrat der<br />
Erregungen, die allererst Formen schaffen und zwar als dynamische Formen.<br />
1920 gründete Malewitsch an der Schule in Witebskdie Gruppe UNOWIS (zu<br />
Deutsch: Bestätiger der Neuen Kunst, Abb. 7), die durch die Verbindung von Mathematik,<br />
Naturwissenschaft, Philosophie und Kunst die neue Lehre des Suprematismus<br />
theoretisch untermauerte. In diese Zeit fallen auch seine Überlegungen zu Satelliten<br />
im extraterrestrischen Raum. Er schreibt am 15. Dezember 1920 in einem<br />
Vorwort zur Veröffentlichung seiner suprematistischen Zeichnungen in Witebsk:<br />
Über der Arbeit am Suprematismus fand ich heraus, dass seine Formen mit der Technikirdischer<br />
Oberflächen nichts gemein haben. Sämtliche technischen Organismen sind auch<br />
nichts anderes als kleine Satelliten: die ganze vitale Welt ist auf dem Sprung, in den Raum<br />
abzufließen und einen besonderen Platz einzunehmen. 41<br />
73
Des Weiteren bemerkt er dort, dass seine suprematistischen Formen die Erde<br />
nicht mehr berühren, und: «man kann sie betrachten und erlernen wie jeden beliebigen<br />
Planeten». 42 Er träumt von einer «suprematistischen Zukunft», die durch<br />
eine neue «Raumzeit» architektonischer Konstruktionen geprägt sein werde, mit<br />
der die ganze «Architektur der Erdendinge» transformiert werde, da sie mit dem<br />
Raum des ganzheitlich gefassten «Planetensystems» vereinigt sein würde. 43<br />
Das Diktum des Suprematismus von Malewitsch lautete: Nicht nur die Bodenund<br />
Ortsgebundenheit und damit jegliche Territorialisierung muss zur Befreiung<br />
des Menschen aufgehoben werden, sondern damit einhergehend auch jegliche<br />
Objektfixierung, jegliche Gebundenheit an das Gegenständliche (Abb. 8). Die<br />
Empfindung soll nicht mehr eingeschränkt sein durch Gegebenes, durch eine angeblich<br />
faktische Welt der Tatsachen. Dies ist aber im extraterrestrischen Raum<br />
der Schwerelosigkeit besonders gut zu realisieren. Es ist daher nur folgerichtig,<br />
dass Malewitsch die Ideen von Ziolkowski begeistert in seine futuristischen Projekte<br />
aufnahm. Malewitsch ist überzeugt, dass es in Zukunft möglich sein wird,<br />
einen ‹suprematistischen Satelliten› zu konstruieren, der sich zwischen Erde und<br />
Mond «auf einem Orbit bewegen wird, wo er sich einen neuen Weg bahnt.» 44<br />
Malewitschs konsequenter Übergang zur abstrakten Kunst, den er um 1913<br />
vollzog, war begleitet von philosophischen Schriften, die zeigen, dass seine Hinwendung<br />
zur Nichtgegenständlichkeit mit einem neuen extraterrestrischen<br />
Empfinden verbunden war. Seine suprematistische Hoffnung bestand darin, im<br />
extraterrestrischen Raum die überbordende Fülle der Moderne, die er im Schwarz<br />
verdichtet sah, transformieren zu können in eine neue emergente Stufe, die er<br />
mit der Nichtfarbe Weiß auf weißem Grund darstellte als das ‹dynamische<br />
74 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009<br />
7 UNOWIS 1920. Maletisch, mit dem suprematistischen 8 Kasimir S. Malewitsch, Suprematistische Ar-<br />
in der Hand, in der Mitte seiner Schüler, die ihn zum chitektona, 1927.<br />
Moskauer Bahnhof begleiten.
Marie-Luise Heuser Russischer Kosmismus und extraterrestrischer Suprematismus<br />
Schweigen›. Mit dem extraterrestrischen Raum wurde demnach eine meditative<br />
und spirituelle Dimension verbunden, die bekanntermaßen in der russischen<br />
Kultur tief verankert ist. Es wundert daher nicht, dass die amerikanische und russische<br />
Einstellung zur Raumfahrt seit Beginn so unterschiedlich waren.<br />
Unsere Erde zieht wie verloren ihre Bahn in einer unendlichen Schwärze des<br />
kosmischen Raumes. Dies kann bedrohlich und niederschmetternd wirken, muss<br />
es aber nicht. Wie uns die russischen Denker und Künstler gezeigt haben, ist es<br />
möglich, sich genau mit diesem Nichts an Gegenständlichkeit zu identifizieren. Dazu<br />
muss man sich zunächst kognitiv vom Irdischen lösen, wie es ja bereits durch<br />
die kopernikanische Revolution indiziert war. Wir alle wissen, wie schwer es ist,<br />
unseren evolutionär eingepflanzten Geozentrismus zu überwinden. Wenn dies gelingt,<br />
dann eröffnen sich uns allerdings neue Dimensionen des Denkens und des<br />
ästhetischen Empfindens. Auch dies haben uns die russischen Kosmisten und die<br />
Suprematisten gelehrt. Was davon übrig geblieben ist, wäre eine zweite Frage. 45<br />
Anmerkungen<br />
1 Siehe dazu auch den Beitrag von Joachim<br />
Blockin diesem Heft.<br />
2 FrankWhite, Der Overview Effekt. Wie die Erfahrung<br />
des Weltraums das menschliche Wahrnehmen,<br />
Denken und Handeln verändert, München<br />
1993, S. 306.<br />
3 Siehe das «Verzeichnis der Arbeiten von Z.<br />
E. Ziolkowski zu Problemen der Raumfahrt», in:<br />
Konstantin E. Ziolkowski, Die Erforschung des<br />
Weltraums mit Rückstoßgeräten (1911–1912),<br />
Suhl 1983, S. 56. Eine erste Darstellung der Philosophie<br />
Ziolkowskis in deutscher Sprache findet<br />
sich in: Nina Hager, Der Traum vom Kosmos.<br />
Philosophische Überlegungen zur Raumfahrt, Berlin<br />
1988.<br />
4 Ziolkowski 1983 (wie Anm. 3), S. 8.<br />
5 Ders., Auf dem Monde. Eine phantastische Erzählung,<br />
Berlin 1956.<br />
6 Beispielsweise: «Wie bedauerlich ist der<br />
Mensch doch in seinen Irrtümern! Längst ist die<br />
Zeit vorbei, da das Aufsteigen in die Luft als<br />
schändliches Vergehen angesehen und mit Hinrichtung,<br />
die Erwägung von der Erddrehung<br />
mit Verbrennung bestraft wurden.» Ziolkowski<br />
1983 (wie Anm. 3), S. 9.<br />
7 Siehe Marie-Luise Heuser, «Die Anfänge der<br />
Topologie in Mathematikund Naturphilosophie»,<br />
in: Topologie. Zur Raumbeschreibung in<br />
den Kultur- und Medienwissenschaften, hg. v. Stephan<br />
Günzel, Bielefeld 2007, S. 183–200.<br />
8 Konstantin E. Ziolkowski, Ziele der Raumschifffahrt<br />
(1929), Suhl 1990, S. 10–11.<br />
9 Siehe Marie-Luise Heuser, «Transterrestrik<br />
in der Renaissance. Nikolaus von Kues, Giordano<br />
Bruno, Johannes Kepler», in: Menschen und<br />
Außerirdische. Kulturwissenschaftliche Blicke auf<br />
eine abenteuerliche Beziehung, hg. v. Michael<br />
Schetsche u. Martin Engelbrecht, Bielefeld<br />
2008, S. 55–80.<br />
10 Ziolkowski 1983 (wie Anm. 3), S. 6.<br />
11 In Ziolkowskis Denken gab es auch dunkle,<br />
eugenische Seiten, die teilweise erst jetzt mit<br />
der Publikation der nachgelassenen Schriften<br />
der Öffentlichkeit bekannt werden und die daher<br />
meines Wissens für die Identitätsbildung<br />
dessowjetischen Raumfahrtprogramms von Koroljov<br />
und seiner Crew keine Rolle spielten, was<br />
aber noch weiterer Klärung bedarf. Zur Rezeption<br />
Ziolkowskis durch Koroljow: Sergei P. Korolyow,<br />
The Practical Significance of Konstantin<br />
Tsiolkovsky’s Proposals in the Field of Rocketry,<br />
Moscow 1957<br />
12 Thomas Robert Malthus, Essay on the Principle<br />
of Population, as it Affects the Future Improvement<br />
of Society. With Remarks on the Speculations<br />
of Mr. Godwin, M. Condorcet, and other Writers,<br />
London 1798. Antoine Nicolas de Caritat de<br />
Condorcet, Esquisse d’un tableau historique des<br />
progrès de l’esprit humain, Paris 1793.<br />
13 Ziolkowski 1990, (wie Anm. Fehler! Textmarke<br />
nicht definiert.), S. 52.<br />
14 Ebd., S. 49.<br />
15 Konstantin E. Ziolkowski, «Die ideale Lebensordnung»<br />
(1917), in: Die neue Menschheit.<br />
Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des<br />
20. Jahrhunderts, Boris Groys u. Michael Hagemeister,<br />
Frankfurt am Main 2005, S. 250–277,<br />
hier S. 251. Siehe auch Michael Hagemeister,<br />
«‹Unser Körper muss unser Werksein›. Beherrschung<br />
der Natur und Überwindung des Todes<br />
in russischen Projekten des frühen 20. Jahrhunderts»,<br />
ebd., S. 19–67.<br />
16 Ziolkowski 1990 (wie Anm. 8), S. 50.<br />
75
17 Ebd., S. 51.<br />
18 Zum Geburtsjahr von Fjodorow gibt es unterschiedliche<br />
Angaben. Michael Hagemeister,<br />
Nikolaj Fedorov. Studien zu Leben, Werk und Wirkung,<br />
München 1989, S. 17. Wernadski war der<br />
Schüler des Geologen Wassili Wassiljewitsch<br />
Dokutschajew, nach dem ein Einschlagkrater<br />
auf dem Mars benannt wurde.<br />
19 Ich vermute, dass der Einfluss der dynamistischen<br />
Naturphilosophie unter anderem über<br />
die Rezeption der deutschen Mineralogie und<br />
Geognostikin Russland vermittelt wurde. Der<br />
Schellingianer Christian Samuel Weiß, der die<br />
dynamistische Mineralogie in Deutschland begründete,<br />
der zudem erstmals Ansätze einer extraterrestrischen<br />
Physikverfasste und in Leipzig<br />
und Berlin auch naturphilosophische Vorlesungen<br />
hielt (die ich vor einiger Zeit entdecken<br />
konnte und transkribiert habe), hatte auch sehr<br />
viele russische Schüler. Siehe dazu mein in Fertigstellung<br />
begriffenes Buch Die Entstehung der<br />
modernen Mathematik im 19. Jahrhundert vor<br />
dem Hintergrund der dynamistischen Naturphilosophie<br />
der Romantik.<br />
20 Ziolkowskis negentropische Thermodynamikfindet<br />
sich in seinem bislang nur auf Russisch<br />
zugänglichen Werk: Konstantin E. Ziolkowski,<br />
Vtoroe nacalo termodinamiki, Kaluga<br />
1914. Siehe dazu auch Hagemeister 1989 (wie<br />
Anm. 18), S. 260.<br />
21 Kasimir Malewitsch, «Die Architekur als<br />
Grad der größten Befreiung des Menschen vom<br />
Gewicht. Ziel des Lebens ist die Befreiung vom<br />
Gewicht der Schwere», in: Am Nullpunkt. Positionen<br />
der russischen Avantgarde, hg. v. Boris Groys<br />
u. Aage Hansen-Löve, Frankfurt am Main 2005,<br />
S. 523-544, hier Untertitel S. 523.<br />
22 Aus dem Nullpunkt heraus können übrigens<br />
keine Maschinen handeln. Sie müssen immer<br />
von bestehenden Informationen oder Elementen<br />
ausgehen.<br />
23 Auch für diese Transformation gibt es Vorläufer<br />
in der deutschen Romantik. Der Mineraloge<br />
Christian Samuel Weiß lässt das gesamte<br />
Universum als eine creatio ex zero aus der Polarisierung<br />
von Kräften hervorgehen.<br />
24 Malewitsch: «Creativity is the essence of<br />
man, as the highest being in nature, and<br />
everyone should take up this activity.» In: Kasimir<br />
Malewitsch, Essays on Art 1915–1928, hg. v.<br />
Troels Andersen, Bd. 1, Kopenhagen 1968, S.<br />
170.<br />
25 Kasimir Malewitsch, Suprematismus – die<br />
gegenstandslose Welt, hg. v. Hans von Riesen,<br />
Köln 1962, S. 254.<br />
26 Ebd., S. 51.<br />
27 Ebd., S. 8.<br />
28 Ebd., S. 191.<br />
29 Wir haben bei Malewitsch demnach eine<br />
vollkommen andere Deutung des Schwebens<br />
der Erde in der Schwärze des leeren Raumes als<br />
die, die etwa von Günter Anders vorgenommen<br />
wurde und der zufolge diese Erfahrung die Belanglosigkeit<br />
der Erde und Inhumanität des<br />
Universums zeige: Günter Anders, Der Blick vom<br />
Mond. Reflexionen über Weltraumflüge, München<br />
1970.<br />
30 Lasar Markowitsch Lissitzky, Erinnerungen,<br />
Briefe, Schriften, hg. v. Sophie Lissitzky-Küppers,<br />
Dresden 1967, S. 351.<br />
31 Siehe Heuser 2007 (wie Anm. 7) und dies.,<br />
«Dynamisierung des Raumes und Geometrisierung<br />
der Kräfte. Schellings, Arnims und Justus<br />
Graßmanns Konstruktion der Dimensionen im<br />
Hinblickauf Kant und die Möglichkeit einer mathematischen<br />
Naturwissenschaft», in: ‹Fessellos<br />
durch die Systeme›. Frühromantische Naturkonzepte<br />
im Umfeld von Arnim, Ritter, Schelling und<br />
Hegel, hg. v. Walther Ch. Zimmerli, Klaus Stein<br />
u. Michael Gerten, Stuttgart/Bad Canstatt 1997,<br />
S. 275–316.<br />
32 Albert Einstein, «Raum, Äther und Feld in<br />
der Physik», in: Forum Philosophicum (1930), S.<br />
173–180, hier S. 180.<br />
33 John Archibald Wheeler, Einsteins Vision.<br />
Wie steht es heute mit Einsteins Vision, alles als<br />
Geometrie aufzufassen?, Berlin 1968.<br />
34 Malewitsch 1962 (wie Anm. 25), S. 215.<br />
35 Ebd., S. 227.<br />
36 Dies wurde mehrfach von Kunsttheoretikern<br />
hervorgehoben, bislang aber noch nicht<br />
eingehender untersucht. Siehe beispielsweise<br />
Miroslav Lamac, Jiri Padrta, «Zum Begriff des<br />
Suprematismus», in: Kasimir Malewitsch zum<br />
100. Geburtstag, hg. v. Antonina Gmurzynska,<br />
Ausstellung Juni–Juli 1978, Köln 1978, S. 134-<br />
180, hier S. 138.<br />
37 Wilhelm Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie,<br />
Leipzig 1902.<br />
38 Kasimir Malewitsch, Die gegenstandslose<br />
Welt, München 1927 (Bauhausbücher, Bd. 11), S.<br />
60.<br />
39 Ebd., S. 59.<br />
40 Vgl. Lamac/Padrta 1978 (wie Anm. 36), S.<br />
138.<br />
41 Kasimir Malewitsch, Suprematismus. 34<br />
Zeichnungen, Tübingen 1974, unpag.<br />
42 Ebd.<br />
43 Ebd.<br />
44 Ebd.<br />
45 Es war der ‹Artronaut› Charles Wilp, der<br />
um die extraterrestrischen Visionen des russischen<br />
Kosmismus und des Suprematismus<br />
wusste und sie in sein eigenes Werkeinfließen<br />
ließ. Frau Ingrid Schmidt-Winkeler danke ich<br />
für die Informationen und die schöne Zusammenarbeit<br />
bei der Ausstellung Zero G. Der Artronaut<br />
Charles Wilp, die vom 29. Oktober bis zum<br />
15. Dezember 2008 in der Hochschule für Bildende<br />
Künste Braunschweig gezeigt werden<br />
konnte.<br />
76 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Christina Wessely Welteiszeit<br />
Christina Wessely<br />
Welteiszeit<br />
Kälte und Kosmos 1900–1930<br />
I<br />
Budapest im Spätsommer 1894, weit nach Mitternacht. Der vierunddreißigjährige<br />
Wiener Maschineningenieur und Amateurastronom Hanns Hörbiger steht<br />
schlaflos am Fenster, zum Zeitvertreib sein kleines Teleskop auf den nächtlichen<br />
Sternenhimmel gerichtet. Plötzlich, «wie ein Keulenschlag» übermannt ihn ein<br />
«seelisches Erlebnis», das ihm nichts weniger als das «Geheimnis des Kosmos» offenbarte:<br />
«Noch kann kein Sterblicher den eigentlichen Mond gesehen haben!<br />
Kein einziger! Wir blicken auf einen ungeheuer tiefen, also uferlosen Eisozean!» 1<br />
Auf diese erste Vision folgten weitere, bis sich schließlich, liest man in Hörbigers<br />
biografischen Erinnerungen, innerhalb weniger Stunden ein neues «Weltgebäude»<br />
errichtet hatte. Im Weltall existierten, so die aus der Mondansicht sich immer<br />
konkreter darstellende universale «Endformel», sonnenartige Körper und<br />
solche aus Eis. 2 Zu letzteren zählten neben dem Mond nicht nur die «sonnenfernen»<br />
Planeten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun, sondern auch die Milchstraße<br />
sowie der von Hörbiger postulierte eisige Weltäther – «Feineis», das den Himmelskörpern<br />
kontinuierlich Widerstand entgegensetzt und deren von Hörbiger<br />
postulierten gewaltigen Zusammenstöße verursacht. Das gesamte kosmische Geschehen,<br />
das Entstehen und Vergehen ganzer Sonnensysteme und ihrer Himmelskörper<br />
ebenso wie irdische Wetterphänomene und Begebenheiten der<br />
menschlichen Kulturgeschichte beruhten demnach auf dem Widerstreit von Glut<br />
und Eis – in diesem Gegensatz läge der «Urquell allen Geschehens». 3<br />
Die Konsequenzen dieser Erkenntnis waren derartig weitreichend, dass achtzehn<br />
Jahre vergehen mussten, bis die Einsichten über das Welteis in eine publizierbare<br />
Form gebracht werden konnten. Erst 1913 erschien auf mehr als achthundert<br />
Seiten Hörbigers Glacial-Kosmogonie. Eine neue Entwickelungsgeschichte<br />
des Weltalls und des Sonnensystems. Der Anspruch des Werkes – Hörbigers Angaben<br />
zufolge «nach den neuesten Erkenntnissen sämtlicher exakter Forschungszweige»<br />
bearbeitet – war der denkbar größte. 4 In der Tradition kosmischer Entwicklungsgeschichten<br />
wurde darin eine «allumfassende Theorie des Himmels<br />
und der Erde» vorgestellt, die nichts weniger als die komplette «Umwälzung der<br />
ganzen Wissenschaft» 5 nach sich ziehen und insgesamt ein Lehrgebäude begründen<br />
würde, «das nie überholt [...] sondern wieder nur ergänzt werden kann». 6<br />
Bereits unmittelbar nach seinen visionären Erkenntnis im Jahr 1894 hatte<br />
Hanns Hörbiger Kontakt zu renommierten Naturwissenschaftlern in Deutschland,<br />
Österreich und der Schweiz gesucht. Die Reaktionen auf dessen Lehre waren<br />
zunächst gemischt und schwankten zwischen empörter Ablehnung, belustigter<br />
Neugier und vorsichtiger Ermutigung, die These in einschlägigen Zeitschriften<br />
zu publizieren, um sie mit einem größeren akademischen Fachpublikum zu<br />
77
78 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> diskutieren. Spätestens mit Erscheinen des ‹Hauptwerks› wurde jedoch klar, dass<br />
es sich bei Hörbigers Einsichten nicht eigentlich um Thesen handelte, die zur Diskussion<br />
gestellt würden: Als «Buch von erschütternder Gewalt, durchdrungen<br />
von der Prophetie des Genius» vorgestellt, war klar, dass mit der Glazialkosmogonie<br />
eine Lehre begründet worden war, die nach «Aposteln» verlangte und nicht<br />
an den theoretisch geschulten «Formellöwen» und «Grüntischmathematiker»<br />
3.2009<br />
7<br />
gerichtet war – denn wer nicht glaubt, «wer den Geist nicht erfasst hat, [wird]<br />
auch von ein paar Dutzend Beweisgründen mehr nicht [...] gefangen». 8<br />
Hörbiger hatte sich von der Buchpublikation nichts weniger als eine wissenschaftliche<br />
Revolution versprochen. Als diese auch nach Ende des Ersten Weltkrieges<br />
nicht in Sicht war, sondern im Gegenteil sich die Angriffe auf die Welteislehre<br />
seitens semiprofessioneller Popularisierer zunehmend verschärften und<br />
man an den Akademien und Universitäten nicht bereit war, die glazialkosmogonischen<br />
Ideen des Wiener Ingenieurs zu diskutieren, schien es an der Zeit, die<br />
Strategie zu wechseln: Hörbiger fand im Leipziger Voigtländer Verlag einen Verbündeten,<br />
mit dem er die Verbreitung seiner Lehre vorantreiben wollte, denn in<br />
Hinkunft sollten nicht die Gelehrten, sondern das interessierte Laienpublikum<br />
überzeugt werden, das dann, so die Vorstellung, einen so großen Druckauf naturwissenschaftliche<br />
Institutionen und deren Personal ausüben sollte, dass die<br />
Welteislehre gleichsam in den wissenschaftlichen Diskurs «gezwungen» würde. 9<br />
Die Popularisierung sollte zentral koordiniert und den ‹Angriffen› auf Hörbigers<br />
Ideen im Rahmen kollektiven Engagements begegnet werden. Zu diesem<br />
Zweckwurde zunächst 1920 in Wien die Kosmotechnische Gesellschaft in Österreich<br />
gegründet, vier Jahre später der Verein für kosmotechnische Forschung in<br />
Berlin. Die Vereine akquirierten Gelder für die weitere Verbreitung der Glazialkosmogonie,<br />
organisierten die Publikation von Welteis-Texten in Zeitungen und<br />
Zeitschriften, machten Reklame für die von Voigtländer publizierte Bücherserie,<br />
die so genannte Welteis-Bücherei – nicht weniger als 21 Titel wie Rhythmus des<br />
kosmischen Lebens, Weltwenden oder Wunder des Welteises wurden alleine in den<br />
Jahren zwischen 1919 und 1928 veröffentlicht – und veranstalteten Vortragsund<br />
Diskussionsabende. «Streng naturwissenschaftliche» Themen wie Gespenster<br />
des Weltraumes: Meteore und Feuerkugeln, Sternschnuppen und Kometen wechselten<br />
dabei mit Referaten über Die Welteislehre im Kulturbild der Gegenwart und zogen<br />
regelmäßig hunderte Besucher an – in großen Städten sollen mit steigendem Bekanntheitsgrad<br />
der Welteislehre bis zu 1200 Hörer einzelnen Vorträgen gefolgt<br />
sein. 10<br />
Spätestens um die Mitte der 1920er Jahre hatten sich die Bestrebungen der<br />
Popularisierer bezahlt gemacht: Die Welteislehre, seitens der Universitäten und<br />
Akademien nicht zuletzt auf Grund deren «bedenkenlose[r] Geschäftsreklame»<br />
zwar heftiger kritisiert denn je, war zum Kern einer populären Bewegung geraten,<br />
deren Mitglieder sich in emphatischen Bekenntnissen zu Hörbigers eisiger<br />
Weltanschauung gegenseitig überboten und die regelmäßig in deutschen und<br />
österreichischen Zeitungen kommentiert wurde. 11 Auch einer der erbittertsten<br />
Gegner der Welteislehre, der Prager Astronomieprofessor Adalbert Prey, musste<br />
schließlich feststellen, dass man «heute, wenn man von kosmogonischen Theorien<br />
spricht, nicht an der Theorie von Hörbiger vorübergehen [kann]. Nicht deshalb,<br />
weil sie etwa besondere Vorzüge hätte, sondern weil sie trotz vieler innerer<br />
Widersprüche einen besonders großen Anhang in Laienkreisen besitzt». 12
Christina Wessely Welteiszeit<br />
II<br />
Eis hatte um 1900 Hochkonjunktur. Die Gründe dafür waren vielfältig: Das in der<br />
Geschichtsphilosophie vorherrschende Dekadenzschema, das den Zivilisationsprozess<br />
als Abkühlungsprozess imaginierte, lieferte die Grundlage für die Vorstellung<br />
einer ‹kalten› Gesellschaft, deren schleichende Vereisung nicht zuletzt<br />
durch das Vordringen des Rationalismus und der mit ihm einhergehenden «Verstandeskälte»<br />
begünstigt zu werden schien. 13 Entscheidend für die Etablierung<br />
des ‹Kälte-Komplexes› des frühen 20. Jahrhunderts waren jedoch zwei bedeutsame<br />
Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften: Die geologische Forschung entdeckte<br />
die Rolle der Eiszeit und die theoretische Physik den zweiten Hauptsatz<br />
der Wärmelehre, der besagte, dass die Entropie der Welt einem Maximum zustrebt<br />
oder, in seiner populären Übersetzung, dass ein Abkühlungsprozess nicht<br />
umkehrbar sei. In Kombination sorgte dieses Wissen dafür, dass sich die Vorstellung,<br />
wonach die Geschichte «im Eise» enden könnte, im Laufe des 19. Jahrhunderts<br />
als Gemeinplatz unter Kulturphilosophen, Geologen und Schriftstellern<br />
durchsetzen konnte (Abb. 1). 14<br />
Am Ende des Jahrhunderts gab es, folgt man Wilhelm Bölsche, kaum ein populäreres<br />
Problem als die Eiszeit: «Nicht nur gibt es eine ganze Bibliothekwissenschaftlicher<br />
Bücher darüber, sondern es arbeitet auch beständig eine Menge<br />
mehr oder minder berufener freiwilliger Helfer aus weitesten Volkskreisen daran<br />
mit.» 15 Ungezählte Manuskripte «in bedenklich umfangreichen Postpaketen mit<br />
1 Surprise par le froid, la dernière<br />
famille humaine a été du doigt de la<br />
mort, et bientôt ses ossements seront<br />
ensevelis sous le suaire des glaces éternelles,<br />
Illustration aus: Camille Flammarion,<br />
Astronomie populaire. Description<br />
générale du ciel, Paris 1897.<br />
79
80 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> und ohne Rückporto von jenen, die behaupten, zur Lösung des Eiszeitproblems<br />
beigetragen zu haben», langten bei dem prominenten Verbreiter naturkundlichen<br />
Wissens wöchentlich ein; schließlich musste «die strenge Forschung selbst<br />
bekennen [...], zu einem so auffälligen, ja einzigartigen Ereignis der Naturgeschichte<br />
immer noch keinen sicheren Grund zu wissen».<br />
3.2009<br />
16 Geologie und der Paläontologie<br />
trugen gleichzeitig nicht dazu bei, der «Eiszeit-Folklore» ihren «magischen<br />
Schrecken» zu nehmen: Die «Wissenschaft [konnte] sich aus der Klammer<br />
der Untergangsphilosophien nicht lösen und produziert[e] selbst neue Varianten<br />
der Untergangs-Prognose» in immer neuen mythischen Bildern. 17<br />
Insofern war die Tatsache, dass gerade dieser Stoff die Grundsubstanz der<br />
neuen Kosmologie bildete, keineswegs so kontingent wie der Wiener Astronom<br />
Edmund Weiß vermutet hatte, indem er polemisch vorbrachte, dass Hörbiger<br />
«nur überall dort festes, flüssiges und sublimatförmiges Olivenöl» einsetzen müsse,<br />
wo «von Eis, Wasser und Eissublimat» die Rede ist, um «zu beweisen, dass das<br />
ganze Weltall aus Olivenöl bestehe». 18 Hörbigers Idee vom universalen Eis, das<br />
die Entwicklung des gesamten Kosmos gleichermaßen bestimmte wie das<br />
menschliche Kulturleben, fügte sich nahtlos in den eisigen Weltanschauungsdiskurs,<br />
der mit der Popularisierung des Entropiesatzes an Dynamik gewonnen hatte.<br />
Es waren weniger Details thermodynamischen Wissens, die einem breiten Publikum<br />
nahe gebracht wurden als vielmehr dessen Einsetzbarkeit im allergrößten<br />
Maßstab. Kulturpessimistisch gestimmt wurden dabei dessen Konsequenzen<br />
auf das Weltall angewandt, um ein universelles Ende aufgrund der Gleichverteilung<br />
von Wärme vorauszusagen – die Welt und mit ihr die gesamte Menschheit<br />
würde, je nach Auslegung, den Wärmetod sterben oder im Eis enden. 19 Damit<br />
war die Endzeitstimmung vor der Jahrhundertwende naturgesetzlich motiviert,<br />
schien der Niedergangsgedanke doch kosmisch abgesichert.<br />
Den Entropiesatz anzuwenden (oder ihn abzulehnen), hieß immer auch, eine<br />
Weltdeutung vorzunehmen. 20 Das Universum und sein Schicksal dienten Naturwissenschaftlern<br />
und «sozialen Propheten» gleichermaßen als Folie für ihre gesellschaftlichen,<br />
kulturellen und politischen Anliegen, die sich in der je unterschiedlichen<br />
Beantwortung der Frage nach Wärmetod und Wiederkehr reflektierten. 21<br />
Als unmittelbare Reaktion auf die Vielzahl entropischer Endzeitvisionen entstand<br />
eine ganze Reihe alternativer Kosmologien, die anstelle der düsteren thermodynamisch<br />
begründeten Prognosen stetige Kreisläufe, die ewige Wiederkehr<br />
und das ritualisierte Werden und Vergehen aller Dinge als Telos des Weltgeschehens<br />
imaginierten. 22 Die Welteislehre war zweifellos eine der populärsten dieser<br />
zyklischen Kosmologien, die den Kälte- oder Wärmetod-Hypothesen entgegengesetzt<br />
wurden – nicht zuletzt deshalb, weil sie die «uralte Volksangst» vor der vernichtenden<br />
Kraft des «Weltwinters», um 1900 positiv ableitete. 23 Das gefürchtete<br />
Eis geriet in Hörbigers Lehre zur Grundsubstanz allen Weltgeschehens, über die<br />
sich im produktiven Zusammenspiel mit der kosmischen Hitze nicht nur die Sonderstellung<br />
des Menschen begründen ließ, sondern die auch eine harmonische<br />
Ordnung des Kosmos garantierte. Nach den Erkenntnissen der Glazialkosmogonie<br />
verursachte das Welteis nämlich nicht den Kältetod, sondern trug als Antagonist<br />
der Wärme zum ewigen Kreislauf eines dynamischen Weltsystems bei.<br />
Die von Hörbiger imaginierte Entstehung unseres Sonnensystems bildete dabei<br />
die Vorlage für die zukünftige Entwicklung des gesamten Kosmos, die als unendlicher<br />
Kreislauf gedacht wurde. 24 Im Sternbild der Taube, so die glazialkos-
Christina Wessely Welteiszeit<br />
2 Illustration aus: Hanns<br />
Fischer, Wunder des Welteises,<br />
Leipzig 1922.<br />
mogonische Anfangserzählung, die kurzerhand auf das gesamte Universum umgelegt<br />
wurde, existierte vor Jahrmillionen ein Riesenstern von ungeheurem Ausmaß:<br />
Ein Durchmesser von etwa 450 Millionen Kilometern, einem Volumen von<br />
dreißig Millionen Tonnen und der etwa zweihundert millionenfachen Masse unserer<br />
heutigen Sonne. In diese «Sternmutter» soll vor Urzeiten ein zwar etwas<br />
kleinerer, aber immer noch enorm großer, hauptsächlich aus Eis bestehender<br />
Planet von etwa vierzigtausendfacher Sonnenmasse gestürzt sein (Abb. 2). Noch<br />
während des Eindringens «bis tief in den Glutleib der Sternenmutter», so will es<br />
das welteisliche Vereinigungsnarrativ, wurde der Eisplanet von einer dicken<br />
Schlackenschicht umzogen, die ein sofortiges Schmelzen des Eiskernes verhinderte.<br />
Im Laufe von zehntausenden Jahren wurde diese Schlackenhülle stetig<br />
dünner; gleichzeitig hatte eine Erhitzung des nunmehr zu Wasser geschmolzenen<br />
Eiskerns des «eingefangenen» Planeten stattgefunden. Schließlich soll es, so<br />
die Folgerung des Kältetechnikers Hörbiger, zum kosmischen Siedeverzug großen<br />
Maßstabs gekommen sein, der sich als universale Befruchtungserzählung<br />
liest. Die Explosion des «Eislings» in der riesigen Sonne führte zu einer gewaltigen<br />
Explosion, in deren Folge riesige Mengen an «Sternenbaustoff» – metallisches,<br />
von der «Sternmutter» losgerissenes Gestein – als auch darin abgelagerter<br />
Sauerstoff weggeschleudert wurden (Abb. 3).<br />
Die Eigendrehung des Riesensterns hatte den von ihm abgeschleuderten Stoffen<br />
selbst wieder ein erhebliches Momentum mitgegeben, das diese dazu brachte, sich<br />
allmählich um einen gemeinsamen Schwerpunkt zu ordnen, in dem die heutigen<br />
Sonne stand. Unentwegt soll dieser – damals noch wesentlich kleinere – «Sonnenkeimling»<br />
weitere tausende in seiner Nähe sich befindliche «Glutlinge» angezogen<br />
und «eingefangen» und so stetig an Masse und Volumen zugenommen haben. Der<br />
81
3 Hanns Hörbiger, Entviertelung des Chaos, um 1920, Zeichung.<br />
gasförmige Sauerstoff hingegen, der ebenfalls bei der Urexplosion frei wurde,<br />
dehnte sich in den Weltraum aus, von wo aus jedoch gleichzeitig das von der Sternenmutter<br />
weggeschleuderte «Glutknäuel» «kreiselpumpenartig» Wasserstoff ansaugte.<br />
Dieser Prozess führt unmittelbar zur Erkenntnis der Existenz eines Äthers:<br />
«Es ist eine zwingende Erkenntnis der Welteislehre, dass der Weltraum nicht völlig<br />
leer ist. Wir haben uns vielmehr vorzustellen, dass er durchgehend mit Wasserstoffgas<br />
in denkbar feinster Verteilung erfüllt ist. Jeder Glutstern haucht ständig<br />
Wasserstoff aus. Dadurch wird ein Verbrauch von Wasserstoff aus dem Weltraum<br />
stets wieder ausgeglichen. Einmal wird Weltraumwasserstoff zur Wasser- bzw. Eisbildung<br />
benötigt und verbraucht, zum andern wird Wasserstoff beim Eintauchen<br />
von Eislingen in Glutgestirne wieder frei und macht den Verbrauch wett», so die Zusammenfassung<br />
der glazialkosmogonischen Äthertheorie in einer der populärsten<br />
Darstellungen zur Welteislehre, publiziert Jahrzehnte nach Hörbigers Visionen. 25<br />
Fasste das von der «Sternenmutter» ausgestoßene «Urknäuel» noch Abermillionen<br />
größerer und kleinerer Himmelskörper, erklärt die Welteislehre die Lichtung<br />
des Sonnensystems durch das Phänomen der «allgemeinen Bahnschrumpfung»: Der<br />
eisige Weltäther setze den Himmelskörpern kontinuierlich Reibungswiderstand<br />
entgegen, diese schrumpften dadurch und gerieten in den Anziehungsbereich des<br />
nächst größeren Körpers. Die Himmelskörper beschreiben daher laut Welteislehre<br />
nie kreisförmige oder elliptische Bahnen, sondern Spiralen, an deren Ende der Sturz<br />
in den Körper steht, auf den sie sich derart zubewegen. Selbstverständlich ist auch<br />
das Schicksal der Erde aus dieser Bewegung nicht ausgenommen, das nach Ansicht<br />
der Welteislehre ebenfalls in periodisch wiederkehrenden Katastrophenzyklen organisiert<br />
ist, an deren Anfang jeweils der «Einfang» eines Mondes steht – sechs<br />
Monde soll die Erde schon besessen haben, inklusive des «Jetztmondes».<br />
82 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Christina Wessely Welteiszeit<br />
4 Grafische und numerische Übersicht der beiläufigen<br />
Mondesflutkräfte auf Erden, Illustration<br />
aus: Hanns Hprbiger; Glazial-Kosmogonie. Eine<br />
neue Entwicklungsgeschichte des Weltalls und des<br />
Sonnensystems, Kaiserslautern 1913.<br />
Verkleinert sich durch die ätherische Abreibung ein erdnaher selbständiger<br />
Himmelskörper so erheblich, dass er in den Anziehungsbereich der Erde gelangt,<br />
«fängt» diese ihn als ihren Mond ein. Die bei diesem Prozess frei werdenden starken<br />
Flutkräfte führten, wie Hörbiger anhand der wasserdurchtränkten, gefrorenen<br />
Oberfläche des heutigen Mondes erklären zu können glaubte, zur deren gegenwärtiger<br />
Form mit Ringgebirgen und Meeresbildungen. Enorme Kräfte wirken<br />
aber nicht nur auf den neuen Trabanten der Erde, sondern auch diese selbst.<br />
Riese Flutberge sammeln sich anziehungsbedingt rings entlang des Äquators an,<br />
begleitet von Erdbeben und Vulkanausbrüchen, die ganze Völkerschaften mit einem<br />
Schlag ausgelöscht haben sollen. Beim Einfang unseres «Jetztmondes» seien<br />
schon ganze Gesellschaften vom Meer überspült worden, so die glazialkosmogonische<br />
Erklärung für das jähe Ende südamerikanischer Hochkulturen ebenso wie<br />
für das dadurch mit einemmal gelöste «Atlantisrätsel».<br />
Die fortschreitende Annäherung des Erdtrabanten setzt schließlich Kräfte von<br />
kaum vorstellbarem Ausmaß frei: Hat der Mond sich der Erde erst «auf 2.8 Erdhalbmesser<br />
genähert» und läuft in dieser Zeit «dreimal schneller um die Erde [...] als sich<br />
diese um ihre Achse dreht», werden nicht nur die Meere zu enormen «äquatorialen<br />
Gürtelhochfluten» zusammengezogen; auch die Lufthülle der Erde unterliegt gleichermaßen<br />
den Anziehungskräften des Mondes, und über dem um die Erdmitte aufgestauten<br />
Wasser türmen sich die Luftmassen, die von den Polgebieten und den gemäßigten<br />
Breiten «abgezogen» wurden. Weite Teile des Planeten sind damit ungeschützt<br />
der Weltraumkälte preisgegeben: «So löst sich zwangsläufig mit einem<br />
Schlage das bislang noch höchst dunkel gebliebene Rätsel einer Eiszeit auf Erden»,<br />
wie Hans Wolfgang Behm, einer der später populärsten Welteis-Autoren, mehr als<br />
drei Jahrzehnte nach Hörbigers dramatischen Visionen lapidar feststellen konnte. 26<br />
83
5 Hanns Hörbiger, Mondauflösung und Sintflut in voller Entwicklung, um 1910, Zeichnung, aus: Hanns Hörbiger,<br />
Die großen Fluten in Sage und Wirklichkeit, Leipzig, 1928.<br />
84 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Schließlich, nach weiteren zehntausenden Jahren, ist die Zeit des «Mondniederbruchs»<br />
gekommen – es naht, wie Hans Wolfgang Behm das Weltendrama beschreibt,<br />
«der große Schlussakt»:<br />
3.2009<br />
27 Der Mond stürzt auf die Erde. 28 Schwärme riesiger<br />
Eistrümmer treffen auf unseren Planeten, Riesenhagelwolken verursachen Wolkenbrüche<br />
von unbeschreiblicher Heftigkeit, kosmische Stürme und Schlammregen<br />
des nun aufgrund der starken Erdanziehungskräfte der Erde berstenden Mondes<br />
peitschen über die Welt, die irdische Gesteinshülle brodelt, Grabeneinbrüche und<br />
Magmaergüsse werden begleitet von einer enormen Sintflut – apokalyptische Zustände,<br />
verursacht durch die alles bestimmende Kraft des Welteises (Abb. 4 und 5).<br />
Ist der Furor erst vorbei, stehen der Erde in «mondloser Zeit» – also bevor ein<br />
neuer Planet als Trabant eingefangen werden kann – paradiesische Zustände bevor:<br />
Aus dem fruchtbaren Schlamm entsteht üppige Vegetation, alle Menschen,<br />
die den katastrophalen Mondniederbruch überstanden haben, finden ideale Bedingungen<br />
vor, um neue Gemeinwesen zu gründen; Pflanzen und Tieren ist eine<br />
Vielzahl neuer Entwicklungsmöglichkeiten gegeben, wobei deren Veränderungen<br />
und Anpassungsleistungen eben nicht zufällig, sondern durch das Einwirken<br />
der zuvor tobenden kosmischen Gewalten erklärt werden. Die Welteislehre lieferte<br />
so gleich auch noch eine antidarwinistische Evolutionstheorie mit: «Ohne<br />
die zeitweise gewaltigen Erschütterungen, die ein sich der Erde nähernder Mond<br />
[...] auslöst, bliebe der wundersame Aufstieg des Lebensganzen, die Spezialisierung<br />
zu unendlich vielseitiger Artenfülle einfach unverständlich», womit die<br />
«heute noch offene Frage der Artenentstehung», so Behm 1926 ebenso knapp wie<br />
dezidiert, «im Sinne der Welteislehre [...] ebenfalls eine gewisse glanzvolle Deutung<br />
findet». 29 Nicht nur die «Rätsel des Himmels» waren damit gelöst, sondern<br />
auch die «Geheimnisse der Erde und des Lebens» gelüftet. 30
Christina Wessely Welteiszeit<br />
Auf den ersten Blickist der glazialkosmogonische Kosmos voll fremder, bis<br />
dato ungekannter und unbenannter Dinge: «Grobeisschläuche», «Glutflusslinsen»,<br />
«Eislichtbänder» und «Riesenringflutwellen» bezeichnen das ganz und gar<br />
Unbekannte rigoros, stellen gleichzeitig jedoch die Zeichen ihrer eigenen Fabrikation<br />
als das inszenierte Fremde so deutlich zur Schau, dass sie sich gleichsam<br />
zu einem Universum des Eigenen versammeln. Das Andere wird so konsequent<br />
überzeichnet, dass es als etwas Gemachtes, Gestaltetes anmutet und sich damit<br />
dem Geltungsbereich der Fiktion und den in ihrem Modus praktizierten Methoden<br />
der Wissensgeneration, der schöpferischen Fantasie und Einbildungskraft<br />
annähert. Was «die Welteislehre anbelangt», bemerkte dementsprechend ein<br />
Welteis-Freund 1928 Hanns Hörbiger gegenüber, «finde ich die Vortragsweise<br />
meiner Fantasie vollkommen angepasst und leicht verständlich». 31 Es ist gerade<br />
diese komplette Harmonisierung von factum und fictio, die glückliche Abgleichung<br />
der objektiven Dingwelt mit den persönlichsten Vorstellungen darüber,<br />
aus der sich die Dynamikder Welteis-Begeisterung vor allem motivierte.<br />
Die kulturellen Hoffnungen, die mit der hier nur vage skizzierten Deutung<br />
des Weltraumes verbunden waren, hätten größer nicht sein können. Viele Zeitgenossen<br />
betonten den optimistischen Charakter der Welteislehre, die keineswegs<br />
als die katastrophale Untergangslehre rezipiert, als die sie sich mit Blick<br />
auf die fatalen Mondniederbrüche und noch großformatigeren Karambolagen<br />
von Himmelskörpern darstellt. Im Gegensatz zu den thermodynamischen Endzeitvisionen<br />
wurde Hörbigers Glazialkosmogonie als «erlösendes Weltbild» gefeiert,<br />
das die «Abhängigkeit des Lebens und aller Kultur vom Kosmos» begründe. 32<br />
Während die Gelehrten an den Akademien und Universitäten «plan-, ziel- und bewusstlos<br />
im Kosmos herumstochern» würden, 33 vermittelte die Welteislehre<br />
«nicht nur das Fehlende, sondern zeigt uns auch das Leben als einen Teil, einen<br />
vergänglichen, im ewigen Strome des Geschehens». Die Welteis-Anhänger seien,<br />
so Fischer weiter, nichts weniger als «dem Schicksal auf der Spur». 34<br />
1924 brachte einer von ihnen das Movens des glazialkosmogonischen Enthusiasmus<br />
auf den Punkt: Das wahrhaft Große an der Welteislehre sei, «dass sie das<br />
Sternenall [...] als ein unserem Sein nicht drohend Fremdes, sondern unserem Leben<br />
innigst Verbundenes» entstehen lasse. 35 Hörbigers Kosmologie schien damit<br />
das Unmögliche gelungen: Den Kosmos als fernes wissenschaftliches Erkenntnisobjekt<br />
zu konstituieren und ihn gleichzeitig an die privatesten Lebensumstände<br />
anzubinden; das Universum als Inbegriff des Anderen zu beschreiben und es zur<br />
selben Zeit radikal einzugemeinden.<br />
III<br />
Eine Reihe zeitgenössischer Beobachter – Wissenschaftler, Schriftsteller und Philosophen<br />
– kommentierte den Erfolg der Lehre vom Welteis, mit unterschiedlicher<br />
Sympathie: Während Egon Friedell und Hermann Bahr in den Anhängerlisten<br />
des österreichischen Vereins für Kosmotechnische Forschung geführt wurden<br />
und Max Bense sogar als Leiter der Kölner Ortsgruppe der Kosmotechnischen<br />
Gesellschaft gewonnen werden konnte, verarbeiteten Robert Musil und Gottfried<br />
Benn in ihren literarischen Texten Hörbigers Ideen eher aus einem kuriosen Interesse<br />
heraus. Mathematiker und Physiker wie Arnold Sommerfeld und Max<br />
Planckzeigten sich besorgt über die vielfältigen Formen scheinbar anachronistischen<br />
Wunderglaubens, die das Zeitalter hervorgebracht hatte. Als einer der<br />
85
86 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> schärfsten Kritiker der Karriere der «Obskurantisten» der zwanziger und dreißiger<br />
Jahre des 20. Jahrhunderts und deren «okkulte[r] Phantastik» profilierte sich<br />
Ernst Bloch, der von «travestierte[r] ‹Naturwissenschaft›», von «‹Weltenwenden›<br />
für Halbgebildete» sprach, die als «spießig ausgebosselte Phantasterei» nicht zuletzt<br />
dem Faschismus als Stimmung tauglich seien.<br />
3.2009<br />
36 Tatsächlich kann – ganz zu<br />
Blochs Befund passend – die Geschichte der Welteislehre in den 1930er und<br />
1940er Jahren als typisch für die weitere Karriere (und das Ende) dieser kosmologischen<br />
Weltanschauungen gelten, wobei auch hier das Eis und die Umdeutung<br />
seines Potentials eine gewichtige Rolle spielen.<br />
Der zunächst von Untergangsbefürchtungen bestimmte Kältediskurs im Umfeld<br />
der Popularisierung der Thermodynamikwar, wie von Helmuth Lethen beschrieben,<br />
im Laufe der 1920er Jahre von den Avantgardisten einer dialektischen<br />
Wendung unterzogen worden – Abkühlung wurde als Segen der Zivilisation begrüßt,<br />
wobei dem alten Lamento über die «Kälte der Welt eine Haltung [entgegengesetzt<br />
wurde], die sich mimetisch der ‹Kälte› anzugleichen sucht[e]». 37 Marxistische<br />
Konzepte bestimmten die Kälte nicht länger als Indiz einer Unheilsgeschichte<br />
sondern begrüßten eine ‹kalte Haltung› im Gegenteil als dem Fortschritt<br />
dienlich: Nur ein Denken, das sich der Kälte der Welt assimiliert, könne Macht gewinnen.<br />
38 Um 1930 schien der Kältekult Deutschlands künstlerischer und intellektueller<br />
Avantgarden ausgereizt. In einer bemerkenswerten Umdeutung wurde<br />
er jedoch zur gleichen Zeit von Gruppierungen auf der anderen Seite des kulturellen<br />
und politischen Spektrums neu belebt: Reaktionäre Modernisierungskritiker<br />
und die Protagonisten ‹völkisch› eingestellter Weltanschauungen kehrten die Beziehung<br />
zwischen Mensch und Eis ins Pathetische und betonten die ‹nordische›<br />
Dimension der kalten Substanz, die mit einem ‹harten› und ‹kühnen› Menschenbild<br />
in Zusammenhang gebracht wurde.<br />
Diese Wendung vollzogen – insbesondere nach Hanns Hörbigers Tod 1931 –<br />
auch die führenden Welteis-Vertreter. Sie versuchten, nun auch politisches Kapital<br />
aus der Anziehungskraft der Lehre zu schlagen und betrieben seit Mitte der<br />
1930er Jahre deren Eingliederung in die nationalsozialistische Forschungsinstitution<br />
Ahnenerbe, die 1937 schließlich erfolgte. Wenige Jahre lang, bis etwa<br />
1940, wurde die Wissenschaft vom Welteis durch das Ahnenerbe großzügig gefördert.<br />
Sie konnte aufgrund vermeintlich genauer Wettervorhersagen nicht nur<br />
als «kriegswichtige Forschung» umfangreiche Geldmittel an sich ziehen, sondern<br />
lieferte auch eine ideologisch passende «Gedankenschöpfung, die ihrem Ursprung,<br />
ihrem Geist, ihren Schicksalen nach» als «völlig deutsch» galt, 39 «begründet[e]»<br />
sie doch «die Geburt der nordischen Seele aus den ungeheuren Not- und<br />
Kampfzeiten einstiger Katastrophenzeitalter» 40 sowie «die altnordische Erkenntnis<br />
vom ewigen Kampf der polaren Gegensätze, vom Kampf zwischen Glut und<br />
Eis, von Licht und Finsternis, von Gut und Böse», wie Rudolf von Elmayer-Vestenbrugg<br />
im vierten Band der Kampfschriften der obersten SA-Führung festhielt, der<br />
den Soldaten an der Front glazialkosmogonische Erkenntnisse näher bringen<br />
sollte. 41<br />
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges unternommene Versuche von Hörbigers<br />
Nachfolgern, dessen Glazialkosmogonie zu rehabilitieren, schlugen fehl. Anfang<br />
der 1970er Jahre verkündete Radio Österreich 1 für alle, die immer noch daran<br />
zweifelten, im Rahmen des Schulfunks das endgültige Ende der Glazialkosmogonie.<br />
Hörbigers Welteislehre – Von der Raumfahrt widerlegt, lautete der Titel aus der
Christina Wessely Welteiszeit<br />
Reihe Erkenntnis oder Irrtum, der die Mondlandung zum Anlass nahm, um die<br />
Theorie endgültig zu den Akten zu legen. Neil Armstrong hatte seinen Fuß im<br />
Sommer 1969 bekanntlich nicht auf blankes Eis gesetzt, sondern auf einen staubigen,<br />
steinigen Mond. Selbst diejenigen, die sich von der zwingenden Evidenz<br />
der astronomischen Beobachtungstatsachen und theoretischen Vorhersagen bisher<br />
nicht überzeugen hatten lassen, mussten angesichts dieses Ereignisses einsehen,<br />
dass Hörbigers Lehre nicht mehr haltbar war.<br />
«Eine Zeiterscheinung ist immer aus irgendeinem Grunde notwendig und begründet»,<br />
so der Physiker Wilhelm Westphal, am Höhepunkt der Welteis-Begeisterung<br />
den unglaublichen Erfolg der Glazialkosmogonie kommentierend. 42 Tatsächlich<br />
lag deren vielleicht größtes Faszinosum darin, die Sehnsüchte, Ängste<br />
und Hoffnungen ihrer Epoche nicht nur sorgfältig zu registrieren, sondern durch<br />
die Aneignung und Neudeutung unterschiedlichster wissenschaftlicher und<br />
weltanschaulicher Diskurse darauf einzugehen und dazu Antworten zu formulieren,<br />
die von einer breiten Öffentlichkeit für plausibel und ermutigend gehalten<br />
wurden. Dass dem Weltraum als Erkenntnisobjekt immer auch ein kultureller<br />
Überschuss eingeschrieben ist, der strategisch eingesetzt werden kann und jenen<br />
mitunter als ‹Kampfplatz der Weltanschauungen› erscheinen lässt, ist mittlerweile<br />
ein Gemeinplatz der wissenschaftshistorischen und kulturwissenschaftlichen<br />
Forschung. Bemerkenswert an der mehr als fünf Jahrzehnte dauernden<br />
Karriere der Welteislehre ist jedoch, dass dort mit deren ‹pseudowissenschaftlichen›<br />
Protagonisten, den Vertretern der akademischen Naturwissenschaften und<br />
einer breiten Öffentlichkeit Parteien mit- und gegeneinander verhandelten, die<br />
sonst möglich darum bemüht waren, ihre Territorien sorgsam voneinander abzugrenzen.<br />
Der Weltraum war jedoch ein kulturell, sozial und politisch zu bedeutsames<br />
Feld, als dass man die Deutungshoheit darüber kampflos abgeben hätte<br />
können.<br />
87
Anmerkungen<br />
1 Hans Wolfgang Behm, Hörbiger – Ein Schicksal,<br />
Leipzig 1930, S. 107.<br />
2 Ebd., S. 109.<br />
3 Hans Wolfgang Behm, Welteis und Weltentwicklung,<br />
Leipzig 1931, S. 6.<br />
4 Phillip Fauth und Hanns Hörbiger, Glazial-<br />
Kosmogonie. Eine neue Entwicklungsgeschichte<br />
des Weltalls und des Sonnensystems, Kaiserslautern<br />
1913, S. III.<br />
5 Hans Wolfgang Behm, Hörbigers Welteislehre:<br />
Ein wahrhaft revolutionäres Weltbild, Manuskript,<br />
1937, in: Hörbiger-Archiv am Technischen<br />
Museum Wien (HA), S/9/50.<br />
6 Hanns Hörbiger an Ernst Bergmann, 23. Februar<br />
1928 (HA, S/28/29).<br />
7 Hanns Hörbiger an Otto Glöckel, 30. Juni<br />
1919 (HA, S/326/2).<br />
8 Phillip Fauth an Hanns Hörbiger, 23. Januar<br />
1906 (HA, S/131/34).<br />
9 Arthur Gallus an Hanns Hörbiger, 28. September<br />
1921 (HA, S/63/1).<br />
10 Vortragsprogramm der Kosmotechnischen<br />
Gesellschaft im Anatomiesaal der Akademie der<br />
Bildenden Künste/Wien, ohne Datum (HA,<br />
S/147/87).<br />
11 Robert Henseling, Weltentwicklung und<br />
Welteislehre, Potsdam 1925, S. 5.<br />
12 Adalbert Prey, «Welteislehre», in: Hochschulwissen,<br />
1921, Heft 1, S. 9–25, hier S. 24.<br />
13 Vgl. dazu etwa Helmut Lethen, «Eiszeit und<br />
Weltuntergang. Geologie und Literatur im 19.<br />
Jahrhundert», in: Unter Null. Kunsteis, Kälte und<br />
Kultur, hg. v. Centrum Industriekultur, Münchner<br />
Stadtmuseum, München 1991, S. 19–33.<br />
Helmut Lethen, «Das Schicksal eines Kältesatzes»,<br />
in: Der Satz des Philosophen, hg. v. Hugo<br />
Dittberner, Göttingen 1996, S. 165–195.<br />
14 Centrum Industriekultur 1991 (wie Anm.<br />
13), S. 19.<br />
15 Wilhelm Bölsche, Eiszeit und Klimawechsel,<br />
Stuttgart 1919, S. 12.<br />
16 Ebd.<br />
17 Helmut Lethen, «Lob der Kälte. Ein Motiv<br />
der historischen Avantgarden», in: Die unvollendete<br />
Vernunft. Moderne versus Postmoderne, hg.<br />
v. Dietmar Kamper u. Willem van Rijen, Frankfurt<br />
am Main 1987, S. 282–324, hier S. 285.<br />
18 Zit. nach Fauth/Hörbiger 1913 (wie Anm.<br />
4), S. 778.<br />
19 Elizabeth Neswald, Thermodynamik als kultureller<br />
Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte<br />
der Entropie, 1850–1915, Freiburg im Breisgau/<br />
Berlin 2006, S. 33.<br />
20 Ebd., S. 14.<br />
21 Greg Myers, «Nineteenth-Century Popularizations<br />
of Thermodynamics and the Rhetoric of<br />
Social Prophecy», in: Energy and Entropy. Science<br />
and Culture in Victorian Britain. Essays from Victorian<br />
Studies, hg. v. PatrickBrantlinger, Bloo-<br />
mington/Indianapolis 1989, S. 307–338, hier S.<br />
308. Neswald 2006 (wie Anm. 19), S. 294.<br />
22 Vgl. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung<br />
im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche<br />
Bildung und die deutsche Öffentlichkeit<br />
1848–1914, München 1998, S. 315.<br />
23 Bölsche 1919 (wie Anm. 15), S. 13.<br />
24 Zum Inhalt der Welteislehre siehe Fauth/<br />
Hörbiger 1913 (wie Anm. 4). Eine populäre Einführung<br />
in die Welteislehre bietet etwa Behm<br />
1931 (wie Anm. 3).<br />
25 Behm 1931 (wie Anm. 3), S. 12.<br />
26 Ebd., S. 36.<br />
27 Ebd., S. 43.<br />
28 Der ‹Mondniederbruch› wurde zu Beginn<br />
des 20. Jahrhunderts keineswegs nur von Hörbiger<br />
vertreten. So erwähnt etwa Wilhelm Bölsche<br />
in Eiszeit und Klimawechsel die Pendulationstheorie<br />
des Dresdner Ingenieurs Paul Reibisch<br />
und des Leipziger Zoologieprofessors<br />
Heinrich Simroth, der ebenfalls mit dem Sturz<br />
eines früheren Mondes auf die Erde rechnete.<br />
Vgl. Bölsche 1919 (wie Anm. 15), S. 45–55.<br />
29 Behm 1931 (wie Anm. 3), S. 46.<br />
30 HA, S/111/27.<br />
31 [M.] Schuster an Hanns Hörbiger, 3. September<br />
1928 (HA, S/372/8).<br />
32 Hanns Fischer, Weltwenden, Manuskript<br />
zur 2. Auflage, Vorwort (HA, S/9/13).<br />
33 Hanns Hörbiger, Unterlagen zum Tätigkeitsbericht<br />
der Kosmotechnischen Gesellschaft,<br />
12. März 1921 (HA, S/410/49).<br />
34 Hanns Fischer, «Auf den Spuren des Schicksals»,<br />
Zeitungsausschnitt (HA, S/133/43).<br />
35 [F. H.] Hermann, «Hörbigers Welteislehre»,<br />
in: Hannoverscher Anzeiger, 6. Juli 1931, S. 7.<br />
36 Ernst Bloch, «Ungleichzeitigkeit und Berauschung»,<br />
in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, 2.<br />
Teil, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main<br />
1962, S. 186–193.<br />
37 Helmut Lethen, «Wir bedienten die Gefriermaschinen»,<br />
in: Centrum Industriekultur 1991<br />
(wie Anm. 13), S. 217; Helmut Lethen, «Ernst<br />
Jünger, Bertolt Brecht und der ‹Habitus› des<br />
Einverständnisses mit der Modernisierung», in:<br />
Studi germanici 1983–1984, hg. v. Istituto Italiano<br />
di Studi Germanici, Rom 1987, S. 273–289,<br />
hier S. 285.<br />
38 Centrum Industriekultur 1991 (wie Anm.<br />
37), S. 224.<br />
39 Karl Hans Strobl, «Ein deutsches Weltbild»,<br />
Zeitungsausschnitt, ohne Datum (HA, S/150/<br />
33).<br />
40 [W.] Körbel, «Einleitung», in: Rudolf von Elmayer-Vestenbrugg,<br />
Kampfschriften der obersten<br />
SA-Führung, Band 4, Rätsel des Weltgeschehens,<br />
München 1937, S. 7–8, hier S. 8.<br />
41 Elmayer-Vestenbrugg 1937 (wie Anm. 40),<br />
S. 152.<br />
42 Wilhelm Westphal, «Hanns Hörbiger», in:<br />
Frankfurter Zeitung, 21. Oktober 1931, S. 1.<br />
88 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Inke Arns Arctic Perspective<br />
Inke Arns<br />
Arctic Perspective<br />
Planetarische Perspektiven in Zeiten des Klimawandels<br />
The Antarctic and the Arctic are the least explored and most remote<br />
but geographically and geophysically central corners of the<br />
world, where the harsh climate and the razor edge geopolitics are<br />
virtual synonyms.<br />
Janez Potocnik, European Commissioner for Science and Research, anlässlich<br />
von Marko Peljhans Ausstellung Situational Awareness,<br />
Brüssel, Oktober 2007<br />
Im Rahmen des International Polar Year 2007 (IPY) ist die Arktis erst kürzlich wieder<br />
schlagartig in das öffentliche Bewusstsein gerückt: Mit der spektakulären<br />
Platzierung einer russischen Titaniumflagge am Meeresboden des Nordpols wurde<br />
die sich mit der globalen Erwärmung rasant verändernde geopolitische Bedeutung<br />
der Arktis medienwirksam deutlich.<br />
Das von Partnerorganisationen aus fünf Ländern initiierte und von der Europäischen<br />
Kommission geförderte Projekt Arctic Perspective – Third Culture 2010: A Zone<br />
of Conflict and Cooperation richtet den Blick auf die globale kulturelle und ökologische<br />
Bedeutung der Polarregionen. 1 Diese sind in einem buchstäblichen sowie<br />
übertragenen Sinne zugleich aktuelle Zonen geopolitischer Konflikte wie auch potentielle<br />
Räume transnationaler Kooperation und Zusammenarbeit. Mit dem Klimawandel<br />
und dem dadurch hervorgerufenen Abschmelzen der Polkappen rücken<br />
die Pole zunehmend in die öffentliche Wahrnehmung. In Folge der globalen Erwärmung<br />
– und mit dem daraus folgenden Auftauen des Bodens nördlich des Polarkreises<br />
und der im Sommer 2007 zum erstmals zugängliche Nordmeerroute – rückt<br />
die wirtschaftliche Ausbeutung von noch unerschlossenen Energie- und Rohstoffreserven<br />
in den Polarregionen zunehmend in den Bereich des Möglichen.<br />
Arctic Perspective betont dagegen, dass die Polarregionen nicht nur von ökonomischer<br />
Bedeutung sind. Vielmehr sind die bewohnte Arktis und die unbewohnte<br />
Antarktis und die radikalen ökologischen und kulturellen Veränderungen, die<br />
sich an den beiden Polen vollziehen, zentral für ein <strong>kritische</strong>s Verständnis des<br />
komplexen globalen Systems, das aus dynamischen Beziehungen zwischen Kultur,<br />
Ökonomie, Geopolitik und Ökologie besteht. Scheint der Klimawandel zunächst<br />
nur Auswirkungen auf die lokalen Öko- und Gesellschaftssysteme der Polarregionen<br />
zu haben, wird jedoch auf den zweiten Blickklar, dass sich ein Wandel<br />
von viel größerem Ausmaß vollzieht: Dort werden die Folgen globaler Veränderungen<br />
besonders sichtbar und wirken von wiederum global zurück – als eine<br />
Art Verstärker oder Katalysator.<br />
Europa ist durch seine lange Geschichte wissenschaftlicher Expeditionen und<br />
Entdeckungen, aber auch territorialer Ansprüche und ökonomischer Ausbeutung<br />
89
von Bodenschätzen mit der Arktis und den hier lebenden Inuit und ihrer Kultur<br />
verbunden. Es erstreckt sich gewissermaßen bis an den Nordpol, denn große Teile<br />
der Arktis gehören zu Europa (Norwegen, Dänemark, Island) – und zu den USA,<br />
Kanada und Russland.<br />
Die arktischen und zirkumpolaren Kulturen der Inuit sehen sich großen Herausforderungen<br />
gegenüber, die im rasanten Wandel ihrer natürlichen Umgebung<br />
bestehen sowie in dem zunehmenden Druck durch ökonomische Entwicklung,<br />
Kommerzialisierung und Tourismus, einer sich verschlechternden Gesundheitssituation<br />
und dem Verschwinden oder der Ausbeutung traditionellen Wissens. Die<br />
Kulturen der Inuit sind ein Teil Europas, seiner Vergangenheit, Gegenwart und<br />
seiner Zukunft. Sie müssen reflektiert und vorausschauend in den europäischen<br />
Kulturbereich einbezogen werden – durch Vernetzung, Austausch und gegenseitiges<br />
Verständnis. Ziel des Projekts Arctic Perspective ist es, das öffentliche Bewusstsein<br />
für die kulturelle und ökologische Bedeutung der Arktis zu stärken<br />
und einem breiten Publikum die Dringlichkeit der Probleme näher zu bringen, die<br />
sich in der Arktis besonders deutlich zeigen: die sich verändernde kulturelle<br />
Landschaft der Region, das Potential für einen neuen interkulturellen Dialog,<br />
wirtschaftliche und territoriale Interessen, ökologische Probleme, Klimawandel<br />
sowie die Auswirkungen der ökologischen Veränderungen auf das Leben der<br />
Inuit. Das Projekt untersucht mit den Mitteln der Medienkunst und der interdisziplinären<br />
künstlerischen Forschung (third culture) die komplexen globalen kulturellen<br />
und ökologischen Interrelationen in der Arktis, entwickelt Konzepte für<br />
die Konstruktion nachhaltiger taktischer Kommunikationssysteme und Infrastrukturen<br />
und umweltfreundliche art-science-Forschungsstationen, die eine Intensivierung<br />
des interdisziplinären und interkulturellen Dialogs und der Kooperation<br />
befördern sollen. Die gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse werden im Kontext<br />
der internationalen Medienkunstkonferenz ISEA 2010 RUHR vorgestellt. 2<br />
Zentraler Impulsgeber für Arctic Perspective ist die über zehnjährige Aktivität<br />
des Makrolab, einer mobilen und autonomen Forschungsstation an der Schnittstelle<br />
zwischen Kunst, Technologie und Wissenschaft, die von dem slowenischen Medienkünstler<br />
Marko Peljhan entwickelt wurde. Peljhan, 1969 im jugoslawischen Nova<br />
Gorica geboren, ist einer der bedeutendsten Medienkünstler seiner Generation. Seit<br />
Mitte der 1990er Jahre arbeitet er mit verschiedenen Partnern an der Entwicklung<br />
einer ungewöhnlichen Verbindung von Kunst, Technologie und Wissenschaft. Seine<br />
Projekte dienen der Beobachtung und Erfahrbarmachung unserer heutigen, auf<br />
technologisch-medialen Strukturen basierenden Welt, die sich zunehmend der kör-<br />
1 Marko Peljhan/Projekt Atol, Ladomir – Antarctic Base, 2007, Leuchtkasten, 100 × 25 cm, gezeigt im Rahmen<br />
der Ausstellung Situational Awareness, Lentos Museum, Linz, Österreich, 2007.<br />
90 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Inke Arns Arctic Perspective<br />
2 Marko Peljhan/Projekt Atol, Ladomir – Antarctic Base, 2007, Leuchtkasten, 100 × 25 cm, gezeigt im Rahmen<br />
der Ausstellung Situational Awareness, Lentos Museum, Linz, Österreich, 2007.<br />
perlich-sinnlichen Wahrnehmung entzieht. 3 Peljhan wurde 2000 mit dem Medienkunstpreis<br />
des Zentrums für Kunst und Medientechnologie, 2001 mit der Goldenen<br />
Nica der Ars Electronica, 2004 mit dem Unesco Digital Media Art Award ausgezeichnet<br />
und erhielt 2006 den Slowenischen Nationalpreis. Zentral für das Verständnis von<br />
Peljhans Arbeiten ist das Makrolab – eines der wichtigsten Projekte, die aus dem<br />
taktischen Medienkunstbereich der 1990er Jahre hervorgegangen sind. 4<br />
Makrolab (1997–2007)<br />
Das Makrolab ist eine mobile Forschungsstation, die mittels diverser Antennen das<br />
elektromagnetische Spektrum über einem spezifischen geografischen Standort<br />
kartografiert. 4 Um einen möglichst störungsfreien Blickauf dieses ‹immaterielle<br />
Territorium› der Signale zu bekommen, wird das Makrolab abseits urbaner Ballungszentren<br />
aufgestellt und dort zum ‹Horchposten› für verschiedene Besatzungen<br />
– interdisziplinäre Gruppen von WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und<br />
TheoretikerInnen, die ihre Projekte ‹an Bord› des Makrolab realisieren können.<br />
Es wurde erstmals 1997 zur documenta X auf dem Lutterberg vor den Toren<br />
Kassels aufgebaut, operierte Anfang 2000 auf Rottnest Island vor der Westküste<br />
Australiens, im Frühsommer 2002 in Schottland und von Juni bis Dezember 2003<br />
auf der Insel Campalto bei Venedig. Beim Makrolab handelt es sich um eine mobile<br />
und autonome Forschungs-, Arbeits- und Wohneinheit, die vom Aussehen her<br />
einer Weltraumstation nicht unähnlich ist. Sie registriert mit Hilfe von technischem<br />
Gerät die «Topografie der Signale» im gesamten elektromagnetischen<br />
Spektrum: Das Labor ist ausgerüstet mit Sende- und Empfangsantennen, die verschiedene<br />
Signalbereiche erfassen und dort zirkulierende Datenströme aufzeichnen<br />
können. 5 Diese Datenströme enthalten Informationen aus den unterschiedlichsten<br />
Quellen: aus privaten Telefongesprächen, satellitengesteuerten Navigationssystemen<br />
und militärischen und wirtschaftlichen Kommunikationen. Neben<br />
der Telekommunikation untersucht das Projekt Wetterentwicklungen und elektromagnetische<br />
Systeme sowie Migration und Navigation.<br />
In Kassel klinkte sich das Makrolab in Telefonate und andere Arten von Kommunikation<br />
ein, die in dieser Zeit über internationale Telekommunikationssatelliten<br />
INMARSAT liefen. Der amerikanische Künstler Brian Springer, der einige<br />
Zeit im Makrolab arbeitete, schrieb später: «Wir näherten uns dem Himmel über<br />
dem Lutterberg als einer lebendigen Bücherei [...], aus deren Regalen uns Stimmen,<br />
Bilder und Datenkommunikation entgegenströmten.» 6 Untersucht wurde<br />
zum Beispiel, wer die INMARSAT-Satelliten zu welchen Zwecken benutzte, «wie<br />
91
estimmte Machtstrukturen [...] sich der Technologie bedienen und was da verborgen<br />
wird», und auch die Anfälligkeit privater Telekommunikation. 7 Ziel des<br />
Makrolabs ist es, so Johannes Birringer, «to transcribe invisible and micro-environmental<br />
activities, to render and document found data which can be sensed in<br />
the abstract areas of the electromagnetic spectrum only via suitable interfaces<br />
and specialized knowledge». 8<br />
Peljhan verfolgt in diesem Projekt eine Strategie, die er «insulation/isolation»<br />
(Isolierung/Isolation) nennt. 9 Es handelt sich dabei um eine Kombination aus vollkommener<br />
physischer Isolation und gleichzeitig totaler medialer Vernetzung mit<br />
der Außenwelt, die wie eine Umsetzung des McLuhanschen Prothesenmodells anmutet<br />
und der Besatzung die Unabhängigkeit von und gleichzeitige Reflexion der<br />
(auch medial vermittelten) gesellschaftlichen Bedingungen ermöglichen soll. 10 Der<br />
Rückzug aus der ‹Gesellschaft des Spektakels› soll einen Raum der Ruhe und der Reflexion<br />
eröffnen, von dem aus eine Art Vogelschau auf die Topografie der Signale<br />
möglich wird, die zwischen den Zentren zirkulieren. Darüber hinaus sollen durch<br />
diese insulation/isolation auch die Voraussetzungen für eine intensivierte Kommunikation<br />
unter den Besatzungsmitgliedern geschaffen werden. Peljhans These ist,<br />
dass wenige Individuen in einer solchen intensiven Isolierung mehr «evolutionären<br />
Code» produzieren können, als große politische Bewegungen. 11<br />
Das hier geschilderte Elitemodell einer isolierten kleinen Forschergruppe<br />
bleibt einerseits durch seine suggerierte Vorbildfunktion für die Gesellschaft als<br />
Ganzes seltsam ambivalent. Andererseits entsteht durch die insulation/isolation<br />
auf dem Mikrolevel des Makrolab eine spezifische Subjektivität, eine «affective<br />
sociality», die das Makrolab, so Kodwo Eshun, von der Sterilität der meisten Projekte<br />
unterscheidet, die Wissenschaft und Kunst miteinander verbinden. 12 Unter<br />
‹evolutionärem Code› versteht Peljhan die experimentelle Erforschung und Entwicklung<br />
von Strategien und Verhaltensweisen in zeitgenössischen und zukünftigen<br />
Gesellschaften, die zunächst in der Laborsituation des Makrolab getestet<br />
werden, um später im alltäglichen Leben eingesetzt werden zu können.<br />
(Ant)arktische Perspektiven<br />
Nach einer zehnjährigen Phase kontinuierlicher Weiterentwicklung sollte das Makrolab<br />
2007 endgültig in der Antarktis – dem sicherlich entferntesten aller bisherigen<br />
Standorte – aufgestellt werden. Dazu wurde 2006 mit Partnern in Kanada und<br />
Südafrika das internationale Konsortium Interpolar Transnational Art Science Constellation<br />
(I-TASC) gegründet. Im Zuge der Vorbereitung des Antarktisprojektes<br />
(das bis heute allerdings nicht abgeschlossen ist) eröffneten sich für Peljhan vollkommen<br />
neue geografische und konzeptuelle Handlungsräume. Die (ant-) arktischen<br />
Regionen als wirtschaftliche und territoriale Konfliktzonen und gleichzeitig<br />
als Zonen der wissenschaftlichen Kooperation und Zusammenarbeit sind hochkomplexe<br />
ökologische und kulturelle Systeme, deren prekäres Gleichgewicht heute<br />
durch verschiedene Faktoren (globale Klimaveränderung, potentielle Ausbeutung<br />
von Bodenschätzen) empfindlich gestört wird. Die Projekte im Rahmen von I-<br />
TASC holen diese Entwicklungen in das öffentliche Bewusstsein und entwickeln<br />
kreative und nachhaltige Lösungsansätze. 2007 wurden diese erstmals im Rahmen<br />
einer Einzelausstellung von Peljhan im Lentos Kunstmuseum während der Ars Electronica<br />
in Linz sowie in der Einzelausstellung Situational Awareness in den Räumen<br />
des European Commissioner for Science and Research in Brüssel gezeigt. 13<br />
92 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Inke Arns Arctic Perspective<br />
3 Marko Peljhan/Projekt Atol, Ladomir – Antarctic Base, 2007, Leuchtkasten, 100 × 25 cm, gezeigt im Rahmen<br />
der Ausstellung Situational Awareness, Lentos Museum, Linz, Österreich, 2007.<br />
Third culture – künstlerische Forschung<br />
Im Zentrum des 2008 entwickelten Projekts Arctic Perspective steht die Methode<br />
der künstlerischen Forschung, die heute ganz wesentlich zur Vermittlung und<br />
Aneignung von innovativer Welterfahrung beiträgt. Klaus Heid und Ruediger<br />
John schreiben zu aktuellen künstlerischen Strategien:<br />
Mit unterschiedlichen interventionistischen Strategien erweitern Künstlerinnen und<br />
Künstler ihren Aktionsraum. Sie fühlen sich nicht länger einem objektzentrierten Kunstmarkt<br />
verpflichtet, sondern finden und erfinden operative, prozesshafte Formen in der<br />
Zusammenarbeit mit Partnern in allen gesellschaftlichen Bereichen. Neben der strategischen<br />
Handlungsoption nimmt dabei die Erforschung und Reflexion systemischer Verhältnisse<br />
einen wichtigen Platz ein. Künstlerische Forschung kann so ganz wesentlich<br />
zur Vermittlung und Aneignung von innovativer Welterfahrung beitragen. 14<br />
Künstlerische Forschung ist, so schreiben Heid und John weiter,<br />
nicht an konventionelle Paradigmen der Wissenschaftlichkeit gebunden, sie kann ohne<br />
dogmatischen Methodenzwang agieren (wobei ein gemeinsames Grundmotiv beider Formen<br />
das Zweifeln-als-Methode ist), kann ohne Rücksicht auf die Definitionsmacht von<br />
Spezialisten in unterschiedlichsten Lebensbereichen erkenntnisfördernd tätig werden,<br />
dabei das Subjekt als Parameter einsetzen und ästhetische Kriterien bei der Konstruktion<br />
von Wirklichkeiten zu Grunde legen 15<br />
Künstlerische Forschung befördert so potentiell die Entstehung einer third culture,<br />
einer dritten Kultur, die zur Brücke zwischen den von C. P. Snow beschriebenen<br />
zwei Kulturen werden könnte – nämlich den sich unversöhnlich gegenüber stehenden<br />
Geistes- und den Natur- und Technikwissenschaften. 16 Snow beklagte in seinem<br />
1959 erschienenen Buch die seit dem 19. Jahrhundert entstandene Kluft, die<br />
zur Verarmung beider Seiten geführt habe. In seiner darauf folgenden Studie The<br />
Two Cultures: A Second Look prophezeite er 1963 optimistisch das Heranwachsen einer<br />
‹dritten Kultur›, einer neuen Generation von Wissenschaftlern, die die Kommunikationslücke<br />
zwischen den zwei traditionellen Kulturen schließen werde.<br />
Diese dritte Kultur stellen dabei jedoch, so der Ansatz des Projektes Arctic Perspective,<br />
nicht diejenigen WissenschaftlerInnen dar, die in ihren populärwissenschaftlichen<br />
Veröffentlichungen versuchen, Antworten auf die so genannten ‹letzten<br />
Fragen› einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. 17 Ebenso wenig findet<br />
sich die dritte Kultur in aktuellen Tendenzen der so genannten biotech art wieder,<br />
die der Faszination heutiger Naturwissenschaften erliegt und sich diesen –<br />
auch in den Laborformaten – andient. Vielmehr findet die dritte Kultur an der<br />
Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft im Bereich der künstlerischen Forschung<br />
93
statt, die im Projekt Arctic Perspective starkgemacht werden soll. Beiden Kulturen,<br />
der Kunst und der Wissenschaft, ist menschliche Neugier, Kreativität und der<br />
Wunsch nach Verständnis und Darstellung des Unbekannten gemeinsam. Die InitiatorInnen<br />
dieses Projektes sind der Auffassung, dass gerade die unterschiedlichen<br />
Formen der Wissensproduktion in der gemeinsamen Arbeit von KünstlerInnen<br />
und WissenschaftlerInnen produktiv gemacht werden können. 18 Arctic Perspective<br />
wird eine interkulturelle Landschaft ästhetischer und ethischer Wissensproduktion<br />
schaffen, die die Bedeutung der Polarregionen, der Veränderungen in diesen<br />
Gegenden und der zukünftigen Auswirkungen dieser Veränderungen in Form<br />
von gemeinsamen art-science-Forschungsprojekten, gegenseitigem Austausch und<br />
öffentlichen Präsentationen der gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse verdeutlicht.<br />
Anmerkungen<br />
1 <strong>Hartware</strong> <strong>MedienKunstVerein</strong> (Dortmund,<br />
Deutschland), The Arts Catalyst (London, Großbritannien),<br />
Projekt Atol (Ljubljana, Slowenien),<br />
Lorna (Reykjavik, Island) und C-TASC (Montréal,<br />
Kanada). Vgl. http://arcticperspective.org.<br />
2 International Symposium of Electronic Arts<br />
(ISEA). Die international bedeutendste Konferenz<br />
im Bereich der elektronischen Kunst findet<br />
seit 1988 alle zwei Jahre auf einem anderen<br />
Kontinent statt und wird im Rahmen der Kulturhauptstadt<br />
Europas Ruhr 2010 zum ersten Mal in<br />
Deutschland stattfinden (vgl. http://www.isea2010ruhr.org).<br />
3 Vgl. Arns, Inke, «Transparent World. Minoritarian<br />
Tactics in the Age of Transparency», in:<br />
Un_imaginable, hg. v. Dennis Del Favero, Ursula<br />
Frohne u. Peter Weibel, Ostfildern 2008, S. 20–35.<br />
4 Vgl. Arns, Inke, Objects in the Mirror May be<br />
Closer Than They Appear! Die Avantgarde im<br />
Rückspiegel. Zum Paradigmenwechsel der künstlerischen<br />
Avantgarderezeption in (Ex-)Jugoslawien<br />
und Russland von den 1980er Jahren bis in<br />
die Gegenwart, Diss. Humboldt-Universität zu<br />
Berlin 2004, http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/arns-inke-2004-02-20/PDF/Arns.pdf.<br />
Dies.,<br />
«Faktur und Interface: Chlebnikov, Tesla und der<br />
himmlische Datenverkehr in Marko Peljhans makrolab<br />
(1997–2007)», in: ‹Ohne Schnur...› Kunst<br />
und drahtlose Kommunikation. Kommunikationskunst<br />
im Spannungsfeld von Kunst, Technologie<br />
und Gesellschaft, hg. v. Katja Kwastek, Frankfurt<br />
am Main 2004, S. 62–79. Brian Holmes, «Coded<br />
Utopia: Makrolab, or the Art of Transition», in:<br />
Continental Drift, 2007, http://brianholmes.wordpress.com/2007/03/27/coded-utopia.<br />
5 Dieter Daniels, in: cITy. Internationaler Medienkunstpreis<br />
2000, Karlsruhe 2000, S. 94–97,<br />
hier: S. 95.<br />
6 Zit. n. Tilman Baumgärtel, «Kunst als<br />
Lauschangriff. Ein Gespräch mit Marko Peljhan<br />
über dessen Projekt Makrolab», in: Telepolis, 6.<br />
Oktober 1998, http://www.heise.de/tp/deutsch/<br />
special/info/6299/1.html.<br />
7 Marko Peljhan, in: Tilman Baumgärtel,<br />
[net.art]. Materialien zur Netzkunst, Nürnberg<br />
1999, S. 136-141, hier: S. 138.<br />
8 Johannes Birringer, «Makrolab: A Heterotopia»,<br />
in: PAJ: A Journal of Performance and Art, 60<br />
(September 1998), S. 66–75, http://muse.jhu.<br />
edu/journals/performing_arts_journal/toc/paj<br />
20.3.html.<br />
9 Marko Peljhan, «makrolab | lecture<br />
310897. The Makrolab Lecture in the 100 Days<br />
Program», Vortrag, documenta X, Kassel 1997,<br />
http://makrolab.ljudmila.org/reports/marko.html.<br />
10 Marshall McLuhan (1911–1980) bezeichnet<br />
‹Medien› als Extensionen des Menschen. Medien<br />
(oder allgemein: Apparate) seien nach außen<br />
gelagerte Sinnesorgane, die der Mensch<br />
von sich abgetrennt hat (‹Selbstamputation›).<br />
Medien werden so gleichsam zu Prothesen des<br />
menschlichen Wahrnehmens und Handelns.<br />
Vgl. Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle.<br />
Understanding Media, Dresden 1994 (Understanding<br />
Media: The Extensions of Man, 1964).<br />
11 Peljhan 1999 (wie Anm. Fehler! Textmarke<br />
nicht definiert.).<br />
12 Kodwo Eshun, «Makrolab’s Twin Imperatives<br />
and Their Children Too», in: makrolab, hg. v.<br />
The Arts Catalyst u. Zavod Projekt Atol, London<br />
2003, S. 6–14, hier: S. 7.<br />
13 Vgl. http://www.lentos.at/de/195_1527.asp<br />
und http://www.lentos.at/de/download/PressetextundBio_dt.pdf.<br />
14 Klaus Heid u. John, Ruediger, TRANSFER:<br />
Kunst Wirtschaft Wissenschaft, Baden-Baden<br />
2003. Vgl. auch http://www.<strong>kritische</strong>-aesthetik.de/transferkunst.html.<br />
15 Ebd.<br />
16 C. P. Snow, The Two Cultures and the Scientific<br />
Revolution, Cambridge 1959.<br />
17 So der Anspruch von John Brockman, The<br />
Third Culture – Beyond the Scientific Revolution,<br />
New York1995, http://www.edge.org/3rd_culture.<br />
18 Auch die Verfasserin dieses Artikels gehört<br />
zu den Initiatoren des Projekts.<br />
94 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Michael Mönninger Das umgedrehte Fernrohr<br />
Michael Mönninger<br />
Das umgedrehte Fernrohr<br />
Die Fernerkundung der Nahwelt – vom Himmelsblick zur Erdbeobachtung<br />
Beim ersten bemannten Orbitalflug der Amerikaner um die Erde 1962 – ein Jahr<br />
nach Juri Gagarins Erdumrundung – bekam der Astronaut John Glenn einen ungewöhnlichen<br />
Willkommensgruß. Als er in der Nacht des 20. Februar in seiner<br />
Raumkapsel Friendship 7 das westliche Australien überquerte, schalteten die Bewohner<br />
der Küstenstadt Perth auf Verabredung alle Lichter ein, um dem einsamen<br />
Astronauten in 260 Kilometern Höhe ein Zeichen zu geben. Glenn sandte<br />
hocherfreut eine Nachricht an sein Kontrollzentrum in Cape Canaveral: «Die Lichter<br />
sind sehr gut zu sehen. Sagt bitte den Leuten dort unten meinen herzlichen<br />
Dank.» 1<br />
Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis nach John Glenns erster Lichtimpression<br />
aus dem All die hier abgebildete populäre Darstellung der Erde bei<br />
Nacht entstand (Abb. 1). Ihre Veröffentlichung datiert von 1986 und damit gleichsam<br />
aus der Steinzeit der Erdbeobachtung, lange vor der totalen Orbitalisierung<br />
der Weltbetrachtung durch die Luft- und Satellitenphotografie heute. Diese Aufnahmen<br />
stammen aus dem Defense Meteorological Satellite Program der United<br />
States Air Force und wurden in achthundert Kilometern Höhe für kurzfristige<br />
1 Earth at Night, Hansen Planetarium, Salt Lake City 1986.<br />
95
Wettervorhersagen gemacht. Die Lichtempfindlichkeit dieser Bilder war so groß,<br />
dass sie selbst noch eine Hundert-Watt-Glühlampe sichtbar machen konnten.<br />
Wegen ihrer Datenfülle wurden diese Aufnahme von der amerikanischen Luftwaffe<br />
regelmäßig vernichtet.<br />
Einer ersten, die diesen Bildervorrat sammelten, war Woodruff L. Sullivan,<br />
Professor für Radioastronomie an der University of Washington in Seattle. Er<br />
setzte in seiner Freizeit ausgewählte Aufnahmen zu einem Mosaikder nächtlichen<br />
Erde zusammen. Wegen der Bewölkung, dem störenden Einfluss des Mondlichtes<br />
und der vielfältigen optischen Verzerrungen musste Sullivan Aufnahmen<br />
aus einem Zeitraum von über zehn Jahren heranziehen, um ein optimales Ergebnis<br />
zu erreichen. Die Bilder wurden digital auf ein einheitliches Format gebracht,<br />
zu einer Mercator-Projektion, ähnlich wie Weltkarten, kompiliert und schließlich<br />
vom ehemaligen Hansen Planetarium, Salt Lake City, als Poster publiziert. 2<br />
Bevor es um die Verzeichnungen dieses konstruierten Bildes geht, das eine indexikalische<br />
Funktion behauptet, aber in Wirklichkeit eine gewaltige ikonische<br />
Illusion erzeugt, stellt sich die Frage: Was war hier damals zum ersten Mal zu sehen?<br />
Jahrhunderte lang war der Blickder Astronomen immer weiter hinaus ins<br />
Universum gegangen. Erst mit dem Aufkommen der Satellitenfotografie geriet<br />
die Erde selber wieder ins Blickfeld. Bei dieser Retrospektive mit Erderkundungssatelliten<br />
fällt eine radikale Veränderung auf. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />
war die Erde ein Planet wie Venus, Mars oder Jupiter und reflektierte nur das<br />
Licht des Zentralgestirns. Seit der Industrialisierung wird die Erde immer mehr<br />
zu einem leuchtenden Ball, der als einziger Himmelskörper in der Umlaufbahn<br />
der Sonne sich aus eigener Kraft illuminiert.<br />
Die Erde ist zu einem Stern geworden, dessen Feuerschein von Häusern, Straßenlaternen,<br />
Autoscheinwerfern, Waldbränden, Brandrodungen und Erdgasabfackelungen<br />
auf Bohrfeldern stammt. Auf den ersten Blick gleicht die Erde bei<br />
Nacht in der Montage von 1986 dem Sternenhimmel selber – einem funkelnden<br />
Flickenteppich, der erst bei längerem Hinsehen seine Konstellationen zeigt. Im<br />
Osten leuchtet Japan wie eine gigantische Neonröhre im Stillen Ozean. China<br />
liegt bis auf die Regionen um Peking und Shanghai noch in vorzeitlicher Dunkelheit.<br />
Westeuropa dagegen ist ein Flammenmeer, das nur von den Küstenrändern<br />
trennscharf konturiert wird. Amerikas taghelle Nacht im Osten verliert sich in<br />
der Weite des Westens. Die südliche Halbkugel dagegen liegt bis auf einzelne<br />
Millionenstädte tief im Schatten eines Fortschritts, der in der immer schnelleren<br />
Umwandlung von Rohstoffen in Licht und Müll besteht.<br />
Herkömmliche Luftaufnahmen bei Tage zielen auf eine Ästhetik der Neutralität.<br />
Sie wollen, wie Landkarten, nur natürliche Konturen und Bodenreliefs zeigen,<br />
aber täuschen darüber hinweg, dass sie wie Landkarten von Herrschaftsinteressen<br />
und Ideologie geprägt sind. Der Nachtblickauf die Erde hingegen, der<br />
gleichsam aus dem Abfalleimer der amerikanischen Luftwaffe stammt, bildet den<br />
seltenen Fall einer interesselosen Kartografie im Sinne einer unbewussten Realaufzeichnung.<br />
Es handelt sich um ein Symptom, eine Spur, um ein verstecktes<br />
Zeichen, das im Fortschritt unserer bildlichen Durchdringung der Erd- und Welträume<br />
noch einen kleinen Riss, ein Stück ‹Un-Sinn› trägt. So hat der französische<br />
Kunstwissenschaftler Georges Didi-Huberman die schwierige Grenzziehung zwischen<br />
dem Übermaß an fotografischer Reproduktion und den kleinsten Spuren<br />
96 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Michael Mönninger Das umgedrehte Fernrohr<br />
von Echtheit beschrieben. 3 Er bezog sich dabei auf die Fotografietheorie von<br />
Walter Benjamin, der vom «winzigen Fünkchen Zufall, vom Hier und Jetzt»<br />
sprach und solche Momente als «Loch» bezeichnet, in denen «die Wirklichkeit<br />
den Bildcharakter durchgesengt hat». 4<br />
Dieses Phantom- oder Symptombild der Erde gleicht einem Kupferstich, in den<br />
die Menschheit kollektiv die Spuren ihrer Arbeit eingraviert hat. Jeder nadelspitze<br />
Lichtfleckist ein sichtbares Zeichen für alle Arten von Energieumwandlung. Er<br />
stellt gleichsam ein Loch im Stoffwechsel der Natur dar‚ durch den Energie entweicht.<br />
Man könnte durchaus von einer zunehmenden Perforation der Erdoberfläche<br />
sprechen. In der griechischen Kosmologie gab es einst eine ähnliche Vorstellung,<br />
nur in umgekehrter Richtung. Der Naturphilosoph Anaximander sah Sonne,<br />
Mond und Sterne als Löcher im dunklen Himmelszelt, durch die von außen eine<br />
kosmische Feuerwelt hindurch scheine. Heute gibt es diese Lichtlöcher umgekehrt<br />
in der Erde. Sie sind die Feuerstellen einer Zivilisation, die ihr Erdinneres verheizt.<br />
Die Neuartige an diesen Nachtaufnahmen war damals, dass die Menschheit<br />
zum ersten Mal gemeinsam das Licht ihrer eigenen Welt erblickte. Es war die Geburt<br />
einer Erkenntnis, die die einen ähnlichen Schock auslöste wie zuvor der Anblickder<br />
ersten Aufnahmen der Erde vom Mond aus. Der Philosoph Hans Blumenberg<br />
hatte eindringlich die grandiose Enttäuschung beschrieben, als die Sonde<br />
Lunar Orbiter II im August 1966 erstmals die Bilder einer Mondlandschaft funkte,<br />
über der die Erde leuchtete. Der Anblick, «dass am Himmel des Mondes die Erde<br />
steht», 5 war nur die anschauliche Vollendung der Lehre von Galileo Galilei und<br />
Nicolaus Copernicus: dass die Erde nur ein kleiner Wandelstern unter den unzähligen<br />
Planeten im Kosmos ist.<br />
Doch je weiter die astronomischen Expeditionen in die Wüste des Universums<br />
führten, desto mehr hat sich, wie Blumenberg schreibt, die Erde als «kosmische<br />
Ausnahme» erwiesen: «Der angestrengt in den Weltraum hinausblickende<br />
Mensch bekam nicht das ganz Andere und Fremde zu Gesicht, sondern den kosmischen<br />
Spiegel seiner eigenen Welt» – einfach deshalb, weil ihm in der gigantische<br />
Leere keine andere Wahl als die Erde bleibt. 6<br />
Seitdem ist die Hoffnung weitgehend geschwunden, dass die Menschheit im All<br />
noch eine andere Option als die Erde hat. Als Reaktion darauf sah Blumenberg «das<br />
Erlahmen der kosmischen Neugierde, die Wendung des Interesses von der Fernwelt<br />
auf die Nahwelt, von der zentrifugalen Richtung in die zentripetale». 7 Er nahm zugleich<br />
vorweg, was Astronomen heute als ‹Lichtverschmutzung› beklagen. Denn<br />
Blumenberg schlug vor, nicht von einem Verblendungs-, sondern einem «Abblendungszusammhang»<br />
zu sprechen, und beschrieb dies als «Sezession aus einer der<br />
menschlichsten Möglichkeiten: der interesselosen Neugierde und Schaulust, für<br />
welche der gestirnte Himmel die unüberbietbare Alltagsferne angeboten hatte». 8<br />
Diese Umkehrung der Neugierde und der Blickrichtung steht mit am Anfang<br />
der Raumwende, die heute in den Literatur- und Kulturwissenschaften ‹spatial<br />
turn› genannt wird. Es ist der Versuch, das utopische, das heißt ortlose Verfügbarkeitsideal<br />
von Raum, Zeit, Materie und Menschen wieder in ihrer strukturellen<br />
Interdependenz und Gebundenheit zu begreifen, aber zugleich ihre substantialistischen<br />
Verhärtungen aufzubrechen, indem jede Raumvorstellung als kulturell<br />
konstruiert verstanden wird. Als eines der ersten Embleme, vielleicht sogar<br />
als Leitfossil dieser Raumwende könnte man Woodruf Sullivans Mosaik der Erde<br />
bei Nacht ansehen.<br />
97
Worin unterscheidet sich die Erde bei Nacht von den harmonischen Tageslicht-<br />
Trugbildern des schönen blauen Planeten? Das Lichtermeer bei Nacht ist ein weitgehend<br />
unverstelltes Röntgenbild, ein Funktionsdiagramm der Welt, das mit bloßem<br />
Auge gelesen werden kann. Das ist zugleich eine der avanciertesten Formen von ästhetischer<br />
Totalität der Wahrnehmung, eine Totalität, die paradoxerweise durch Reduktion<br />
entsteht: Schlagartig charakterisiert eine einzige menschliche Tätigkeit –<br />
die Lichterzeugung – die physiognomischen Grundzüge einer ganzen Zivilisation.<br />
Freilich ist das über Jahre hinweg fotografierte und anschließend zusammengesetzte<br />
Lichtermeer nur eine hochartifizielle, synchronische Simulation von diachronen,<br />
zeitlich weit auseinander liegenden Momentaufnahmen. So täuscht<br />
die Faszination dieses Anblicks über die gröbste Irreführung dieser Montage hinweg:<br />
Selbstverständlich kann immer nur über einer Erdhälfte Nacht herrschen.<br />
Doch es fragt sich, ob diese Rekonstruktion eines über zehn Jahre währenden Beobachtungsvorgangs<br />
tatsächlich so unwirklich ist?<br />
Zumindest hat sie den gleichen imaginären Realitätsgehalt wie der umgekehrte<br />
Blick in den nächtlichen Sternenhimmel, wo ebenfalls das Nacheinander<br />
zur Gleichzeitigkeit wird. Denn unzählige der leuchtenden Gaskugeln, deren<br />
Licht heute auf der Erde zu sehen ist, sind verglüht, bevor es überhaupt Menschen<br />
gab. Andere senden seit langem ihr Licht, das jedoch erst ankommen wird,<br />
wenn die Sonne längst erloschen und die Erde verschwunden ist. Der Nachthimmel<br />
ist nicht nur ein Blick in die Unendlichkeit, sondern auch in die Ewigkeit, die<br />
gemeinhin als Gegenwart missverstanden wird.<br />
Im Vergleich dazu ist die Korrektur, die der nächtlichen Weltkarte zugrunde<br />
liegt, winzig. Die Zeitdifferenz zwischen der abendlichen Illumination in Europa<br />
und der Morgendämmerung über China schrumpft selbst im Abstand von zehn<br />
Jahren zum Augenblickzusammen. Durch Montage erfährt die Grammatikdieser<br />
Einzelaufnahmen eine gewaltige rhetorische Aufladung. Zeichentheoretisch gesprochen,<br />
wird hier aus dem Index ein Ikon, indem die Zeigefunktion oder ‹Spur›<br />
durch das Ausblenden des Zeitfaktors dramatisiert und zu einem paradoxen Simultanbild<br />
wird, das auf einem Maximum an Konstruiertheit und Künstlichkeit<br />
beruht, aber zugleich die geografischen, ökonomischen, anthropologischen und<br />
ökologischen Hauptmerkmale der Erde lesbar macht.<br />
Vergleicht man die Montage von 1986 mit heutigen Satellitenbildern der NA-<br />
SA, so fallen einige Unterschiede auf. Im Gegensatz zu den perfektionierten und<br />
ästhetisch geglätteten Schaubildern enthält die fast dilettantisch wirkende Komposition<br />
von 1986 zahlreiche Nebenvalenzen. Dazu zählt etwa die einzige natürliche<br />
Lichtquelle: die sichelförmige Aurora, ein Nordlicht über Grönland, das in<br />
heutigen Aufnahmen nicht mehr vorkommt. Die Aurora ist eigentlich ein Störfaktor<br />
und Fehler, der allerdings mit Benjamins Worten jenes «winzige Fünkchen<br />
Zufall» bildet, das der Aufnahme Authentizität verleiht.<br />
Einen noch befremdlicheren Anblickbei Nacht bietet ein gleißender Fleckim<br />
japanischen Meer, der ebenfalls den Charakter einer visuellen Spur besitzt. Bei<br />
der Auswertung dachten die Astronomen zunächst an gewaltige Gewitterstürme<br />
mit Blitzentladungen. Nachforschungen ergaben jedoch, dass es sich um Fischereiflotten<br />
aus Japan und Korea handelt, die zur Tintenfisch- und Makrelensaison<br />
gemeinsam in See stechen: Über tausend Boote locken mit Scheinwerfern die Fische<br />
an die Wasseroberfläche und entwickeln dabei eine Leuchtkraft von rund<br />
zweihundert Millionen Watt. 9<br />
98 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Michael Mönninger Das umgedrehte Fernrohr<br />
2 Earth at Night, NASA 2001.<br />
Ebenso fallen beim Nachtbild von 1986 gigantische Lichtspuren ins Auge, die<br />
auf heutigen Darstellungen kaum mehr hervortreten. Es handelt sich um Feuerstellen<br />
auf Erdölfeldern, wo natürliches Gas abgefackelt wird. Auf der indonesischen<br />
Insel Sulawesi, im sibirischen Surgut, am Persischen Golf, in Libyen und Algerien,<br />
im Ölgürtel Äquatorialafrikas oder im Norden von Lateinamerika – überall<br />
kommen Öl und Gas zusammen als schaumige Flüssigkeit aus der Erde, deren<br />
Verwertung unrentabel ist. 10 Es stellt sich die Frage, ob diese Lichter mittlerweile<br />
erloschen sind oder auf heutigen Darstellungen wegretuschiert werden. Weitere<br />
Unterschiede betreffen vor allem die extremen Kontrastwirkungen zwischen<br />
urbanisierten und ländlichen Regionen, während auf heutigen Fotos die Spitzenwerte<br />
deutlich harmonisiert erscheinen.<br />
Seit den Anfängen der Weltraumphotografie hat die Fernerkundung der Erde<br />
große Fortschritte gemacht (Abb. 2). Heute umkreisen insgesamt mehr als dreitausend<br />
Satelliten für Kommunikation, Aufklärung, Militär und Astronomie die<br />
Erde. Knapp hundert Satelliten davon dienen der direkten Fernerkundung der Erde.<br />
Beim Vergleich zwischen den popularisierten Versionen von NASA-Bildern<br />
der Erde bei Nacht mit Sullivans Urbild wird die starke Glättung und Beruhigung<br />
des irritierenden nächtlichen Lichtermeeres deutlich. Aus der ruppigen bricolage<br />
von Sullivan ist ein hochauflösendes visuelles Klischee geworden, das spürbar<br />
den Anschluss an die Tageslicht-Trugbilder vom schönen blauen Planeten finden<br />
will. Vergebens sucht man hier die unbeabsichtigten Spuren oder ‹Löcher› wie<br />
das Nordlicht, die Bohrinselfeuer, die japanische Fischereiflotte oder die Fortschrittsnacht<br />
der Dritten Welt. Zugleich sind die neuen Bilder entschärft durch<br />
Überpräzision und Überdetermination. Sie lassen keinen Winkel des Globus unausgeleuchtet<br />
und stellen Präsenz- und Evidenzbehauptungen auf, die imaginations-<br />
und interpretationsfeindlich sind. Denn in diesen Readymades sind keine<br />
Spuren ihrer Hervorbringung mehr auszumachen – und damit sind auch kaum<br />
mehr Empirie und Empathie möglich.<br />
Auf diese ermüdende Perfektion der technischen Bilder folgte 2005 eine weitere<br />
Epochenwende: die von der Fern- zur Naherkundung. Damals brachten Goo-<br />
99
3 Google Maps, Dresdner Frauenkirche 2008.<br />
gle (Abb. 3) und Microsoft eine online Software heraus, die Luftaufnahmen, Satellitenfotos,<br />
Landkarten, Stadtpläne und Geodaten zu einem virtuellen Allraum zusammenfügt.<br />
Der Bochumer Literaturwissenschaftler Manfred Schneider feierte<br />
diese Bilder bereits als «die stärkste public relation der globalisierten Welt» und<br />
als «neues Zeitalter totaler optischer Raumbeherrschung», die den Weg zu «künftigen<br />
Echtzeitvisionen von allem» bahne. 11<br />
In der Tat: Hier geschieht etwas Neues in der Entwicklung der Erdbetrachtung.<br />
Es ist die Subjektivierung des Blicks, die erstaunlicherweise an eine vortechnische<br />
Darstellungskunst anknüpft: an das Landschaftsgemälde. Man kann allgemein<br />
den Fortschritt der Kartografie – und ihrer Perfektionierung durch die Satellitenfotografie<br />
– als Konstruktion einer betrachterunabhängigen Repräsentation<br />
der Erdoberfläche beschreiben, die nicht auf einem Augenpunkt, sondern auf trigonometrischen<br />
Messungen basiert. Dagegen ist es bei den neuen virtuellen<br />
Raumbildern genau umgekehrt: Sie betreiben die Individualisierung des Beobachterstandpunktes<br />
durch Markierungen und overlays und clips und erzeugen eine<br />
neue Vielfalt der Ansichten, die aus physischen geradezu psychisch zu nennende<br />
Karten, mental maps, machen. Diese hybriden Bilder verweisen nicht nur auf die<br />
Außenwelt, sondern auch auf die Position und Befindlichkeit des Betrachters.<br />
Hier lässt sich eine Analogie zur Malerei aufstellen: Die kubistische Simultanperspektive<br />
wurde als Versuch beschrieben, die perspektivische Raumkonstruktion<br />
im Bild aufzulösen, um die Konstruktionsprinzipien von Raum im Bild offenzulegen.<br />
Dagegen gehen diese mentalen Karten einen Schritt weiter, indem sie<br />
auch die Rezeptionsprinzipien von Raum zeigen wollen. Sie zielen nicht mehr<br />
bloß auf Sichtweisen der Dinge, sondern auf von leiblicher Präsenz bestimmte<br />
Empfindungsweisen. Sie überführen den Gegensatz von äußerem Raum und innerem<br />
Selbst durch die Perspektivenvielfalt ihrer simultanen Fernbeobachtung<br />
von oben und der Nahbeobachtung auf Augenhöhe in eine Art Möbius-Band, in<br />
dem Ich und Welt idealiter wie in einem Höhlensystem oder einer Faltung inein-<br />
100 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Michael Mönninger Das umgedrehte Fernrohr<br />
4 Google Maps, Eiffelturm 2008.<br />
ander verschlungen wahrnehmbar sein sollen. Jeder Benutzer trägt sein Raumkompartiment<br />
gleichsam wie ein Schneckenhaus mit sich herum.<br />
Das ist der dritte Perspektivwechsel, der vom vormodernen Himmelsblick<br />
über die satellitengestützte Erdbeobachtung bis zur Individualisierung der Google-Weltsicht<br />
führt (Abb. 4). Die neuen fragmentierten Hybridbilder verwandeln<br />
nicht nur totale in partikulare Raumerlebnisse. Sie gehen vielmehr von der Topografie<br />
zur Topologie über, also von der topografischen Naturraumbeschreibung<br />
zur topologischen Kartierung des Kulturraums – einschließlich seiner Verwertung<br />
zu kommerziellen und Unterhaltungszwecken. Der objektive, absolute System-<br />
oder Containerraum der Kartografie und Satellitenfotografie wird durch<br />
die topologische Perspektivenvielfalt zu einem relativen Anordnungsraum der<br />
insularen Wahrnehmung. Er verspricht phänomenologische Fülle, aber erzeugt<br />
eine Raumauffassung, die eher der kindlichen Weltwahrnehmung entspricht.<br />
Dazu ein kurzer Exkurs in die Entwicklungspsychologie: Laut Jean Piaget beginnt<br />
die kindliche Raumerfahrung im Stadium der topologischen Ortsfixierung.<br />
Kinder nehmen auf voreuklidische und vorperspektivische Weise zunächst einzelne<br />
Raumstellen wahr, zwischen denen viele unverbundene, leere Zwischenräume<br />
liegen, die erst sensomotorisch und intellektuell verknüpft werden müssen. Oben<br />
und unten, links und rechts sind bis zum Alter von acht bis neun Jahren noch keine<br />
absoluten Koordinaten in einem festen Bezugssystem, sondern werden durch topologische<br />
Relationen wie Nachbarschaft, Reihenfolge oder Trennung erfahren<br />
und vorgestellt. Daher rührt auch die besondere Fähigkeit von Kindern, Bilder verkehrt<br />
herum zu betrachten oder spiegelverkehrt zu schreiben.<br />
Dann beginnt der Lernprozess, diese Vielzahl von uneinheitlichen, diskontinuierlichen<br />
und bewegten Orten ohne konstante Dimensionen fortan miteinander<br />
zu einem einheitlichen Systemraum zu verbinden. Dies ist eine fundamentale<br />
geistige Syntheseleistung. Sie besteht darin, aus der topologischen Wahrnehmung<br />
von Teilräumen eine einheitliche, euklidisch-perspektivische Raumvorstel-<br />
101
lung zu machen. Dabei geht es darum, dass die Wahrnehmung sich dem Denken<br />
angleicht und die Auffassungsfähigkeit von Räumen kontinuierlich expandiert.<br />
Die Sozialisationsforschung <strong>berichte</strong>t allerdings davon, dass dies unter den heutigen<br />
Bedingungen einer stadträumlich insularen Sozialisation sowie angesichts<br />
der Ungereimtheiten der virtuellen Räume technischer Medien immer schwieriger<br />
wird. Es treten starke Irritationen auf, aus denen eine «Zerstückelung des<br />
Raumes» (Wilhelm Heitmeyer) resultiert, die zu manifesten Desozialisierungserfahrungen<br />
und Orientierungsverlusten führt.<br />
Diese vereinfachende Gegenüberstellung von topografisch kartiertem System-<br />
oder Containerraum und topologisch konstruierten Relationsraum erlaubt<br />
noch eine weitere Deutung. Eigentlich stammt das Raummodell der Topologie<br />
nicht aus der Entwicklungspsychologie, sondern ist eine weitaus ältere mathematische<br />
Disziplin. Sie geht auf die Algebraisierung der Geometrie zurück, als die<br />
anschauliche Repräsentation von Raum und Körpern in einen unanschaulichen,<br />
weil nur noch gerechneten Raum überführt wurde. Seitdem lassen sich Lagebeziehungen<br />
von Elementen, Netzen und Gruppenbildung auch in gekrümmten, gedehnten<br />
oder gestauchten Räume analysieren. 12 Tatsächlich bewegen und orientieren<br />
wir uns heute mit Hilfe von GPS-Koordinaten und Navigationssystemen<br />
zunehmend in gerechneten Räumen, um den Anschauungs- und Orientierungsverlust<br />
im realen Raum zu kompensieren.<br />
So entspringt aus einem Zuwenig an leiblichem Raumerleben ein Zuviel an<br />
technisch konstruierten, gerechneten Verbundräumen. In der Alltagswahrnehmung<br />
von Raum, der zunehmend mit Hilfe virtueller Hybridbilder, Google-Montagen<br />
und digitalisierten Koordinaten erschlossen wird, die neuerdings mittels<br />
street views auch die horizontale Fußgängerperspektive liefern, steckt demnach<br />
der Versuch, die Unanschaulichkeit und Zerstückelung des Raumes wieder in den<br />
Griff zu bekommen. Man unternimmt, ähnlich wie Kinder, Versuche der Kontingenzbewältigung,<br />
indem man zwischen unverbundenen Raumstellen vielperspektivische<br />
Beziehungsnetze bildet und in technisch generierte kubistische Simultanperspektiven<br />
flüchtet, um anstelle der bis ins Extrem getriebenen Zergliederung<br />
eine elementarästhetische Einheitserfahrung von räumlicher Totalität zu<br />
machen.<br />
Die Dynamisierung der Erdbeobachtung durch technisch generierte Bilder –<br />
von panoramatischen Satellitenaufnahmen bis hin zur Perspektivenexplosion<br />
der street views – erlaubt eine immer größere maßstäblichen Detaillierung und<br />
qualitative Hochauflösung. Die Kehrseite ist, dass die Spuren der Hervorbringung<br />
dieser Bilder getilgt und ihre Verzeichnungen unkenntlich werden. Zudem<br />
steckt in dieser visuellen Verwirbelung das, was Gottfried Benn einst die ‹Elefantenäugigkeit<br />
der Moderne› nannte, nämlich die Unfähigkeit, Ruhe zu sehen. Zwar<br />
ist seit Isaac Newton bekannt, dass Ruhe nur einen Sonderfall in einem vollständig<br />
bewegten Universum darstellt. Trotzdem bleibt weiterhin ein Traum vom<br />
Raum bestehen – eben jener geradezu archaisch anmutende Anblickder Erde bei<br />
Nacht, von dessen Schönheit, Wunschbildlichkeit und erhabener Alltagsferne<br />
uns einst der Astronaut John Glenn und der Astronom Woodruff Sullivan einen<br />
epochalen Eindruckgegeben hatten.<br />
102 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Michael Mönninger Das umgedrehte Fernrohr<br />
Anmerkungen<br />
1 Nigel Henbest, «The DarkSide of the<br />
Earth», in: New Scientist Magazine, 8. April 1989,<br />
Nr. 1659.<br />
2 Alle Angaben aus der Informationsbroschüre<br />
Earth at Night, Hansen Planetarium, Salt Lake<br />
City, 1986. Ich bitte, die schlechte Reproduktionsqualität<br />
dieses Bildes mitsamt der Knickstellen<br />
zu entschuldigen. Ich besitze das Bild<br />
nur in einer gedruckten Version auf Papier, wie<br />
es 1986 veröffentlich wurde. Eine digitalisierte,<br />
allgemein zugängliche Version gibt es meines<br />
Wissens nicht.<br />
3 Georges Didi-Huberman, «Ästhetikund<br />
Ethik– das Bild brennt», in: Iconic worlds. Neue<br />
Bilderwelten und Wissensräume, hg.v.Christa<br />
Maar u. Hubert Burda, Köln 2006, S. 286–311,<br />
hier S. 300.<br />
4 Walter Benjamin, «Kleine Geschichte der<br />
Photographie», in: ders., Gesammelte Schriften,<br />
Werkausgabe Bd. 4, Frankfurt am Main 1980, S.<br />
371.<br />
5 Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen<br />
Welt, Frankfurt am Main 1981, Teil 6,<br />
Band 4, Reflexive Teleskopie, S. 786–787.<br />
6 Ebd., S. 784.<br />
7 Ebd., S. 786.<br />
8 Blumenberg 1981 (wie Anm. 5), Teil 1, Bd.<br />
8, Anachronismus und lebensweltlicher Bedarf:<br />
Realitäten und Simulationen, S. 138.<br />
9 Diese Energiemenge entsprach damals ungefähr<br />
der Hälfte dessen, was die Vereinigten<br />
Staaten gleichzeitig für elektrische Beleuchtung<br />
verbrauchen. Vgl. Thomas A. Croft,<br />
«Nighttime Images of the Earth from Space», in:<br />
Scientific American, 1978, Bd. 239, S. 68–79,<br />
hier S. 76.<br />
10 Thomas A. Croft hat berechnet, dass die<br />
Energiemenge der Gasabfackelungen etwa drei<br />
Prozent des jährlichen Verbrauchs an fossilen<br />
Brennstoffen beträgt. Ebd.<br />
11 Manfred Schneider, «Den Globus tanzen<br />
lassen», in: Neue Zürcher Zeitung, 14. Dezember<br />
2007.<br />
12 Vgl. Stephan Günzel, «Raum – Topographie<br />
– Topologie», in: Topologie. Zur Raumbeschreibung<br />
in den Kultur- und Medienwissenschaften,<br />
hg. v. dems., Bielefeld 2007, S. 21–22.<br />
103
Rolf F. Nohr<br />
«Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!» –<br />
Astronomy in Action<br />
104 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Sucht man nach Orten und Handlungsformen, die sich mit unserer Vorstellung<br />
vom Weltall beschäftigen, ist der Blickhin zur Astronomie als wissenschaftliche<br />
Disziplin naheliegend. Sowohl in ihrer historischen Entwicklung als auch in ihrer<br />
aktuellen Ausprägung scheint sie ein paradigmatischer Ort zu sein, an dem eine<br />
Gesellschaft ihr Wissen und ihre Sichtweisen auf den Raum jenseits des eigenen<br />
Planeten aushandelt und manifestiert. Die Disziplin der wissenschaftlichen<br />
Astronomie ist der Ort der Herstellung technischer Sichtbarkeit: Hier überformt<br />
sich ‹professionell› das subjektive Sehen zum objektiven Beobachten und Wissen.<br />
Eine Reihe unterschiedlichster wissenschaftstheoretischer und kultur- wie bildtheoretischer<br />
Veröffentlichungen konzentrieren sich daher vorrangig auf die<br />
professionelle Astronomie als Denkraum der Herstellung von Erkenntnis und<br />
Sichtbarkeit.<br />
Zum Verständnis spezifischer Produktionsformen von Wissen und Bildlichkeit<br />
ist die Konzeptualisierung und Evaluation eines solchen ‹Labors› der Astronomie<br />
sehr sinnvoll. Verstehen wir unter einem ‹Labor› einen hochvariablen Denkraum,<br />
der sich um einen Erkenntnisgegenstand bildet, dann ermöglicht die Untersuchung<br />
dieses ‹Labors› Aufschlüsse über Modellbildungsverfahren als Reduktionen,<br />
die in Konsequenz zumeist Stillstellungen sind, sowie Erkenntnisse über<br />
die Herstellung von Repräsentationsordnungen. Diese Repräsentationen entfalten<br />
zumeist «zirkulierende Referenzen» und mäandrieren durch genealogisch<br />
und archäologisch hervorgebrachte Diskursfelder.<br />
3.2009<br />
1 Die Untersuchung solcher<br />
mehr oder weniger abgrenzbarer ‹Labore› lässt also Aufschlüsse über die Integrations-<br />
und Reintegrationsverfahren von Visualisierungen der Erkenntnisgegenstände<br />
und deren Rolle für die Herstellung eines epistemisch wirksamen Sichtbaren<br />
zu. So entsteht im Rekonstruktionsverfahren ein Aufschluss über die «Viskurse»,<br />
die einen Gegenstand umgeben. 2<br />
Wie liest sich eine solche Analyse im Bezug auf die professionelle Astronomie<br />
durch die Brille einschlägiger Theoriebildung zum Thema? Exemplarisch soll an<br />
dieser Stelle die Untersuchung Alex Soojung-Kim Pangs erwähnt werden. 3 Dieser<br />
beschäftigt sich im Kontext der These über eine «Ordnung der Sichtbarkeit» mit<br />
dem Status der Fotografie in der Astronomie. 4 Es sei das Versprechen der Fotografie,<br />
so Pang, sie würde «die astronomische Beobachtung einfacher machen,<br />
die Verlässlichkeit der Daten erhöhen und außerdem lückenlose Aufzeichnungen<br />
des sichtbaren Himmels produzieren». 5 Erst in der Kombination von makroskopischen<br />
Sehen und technischem ‹Aufschreiben› entstünde Astronomie als apparatives<br />
System und nicht zuletzt auch ein Diskurs des technisch-objektiven Beobachtens.<br />
Insofern kulminiere der Stellenwert von Beobachten und Fotografieren<br />
auch in der Symbiose der beiden Praktiken als «fotovisueller Beobachtung». 6
Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />
Amateurastronomie<br />
Antrieb der hier vorgelegten Untersuchung ist die Annahme, dass der Himmel<br />
und das Weltall nicht nur ‹Labore der Professionalität› begründen, sondern auch<br />
und vor allem in breiten Diskursen und populären Aneignungen Wirksamkeit entfalten.<br />
Interessant werden die ‹Bilder› der Astronomie dadurch, dass sich der Erkenntnisgegenstand<br />
nicht nur dem paradigmatisch kontextualisierten Wissenschaftler<br />
darstellt, sondern auf eine sehr unmittelbare Weise auch dem Menschen,<br />
dem ‹populären Subjekt› selbst. Der Blick zum Himmel zählt zu den basalen<br />
Erfahrungen des Menschen; das Erkenntnisinteresse der Astronomie gehört somit<br />
zu einem unmittelbar geteilten Interesse. Am Bilderkanon der Astronomie vermag<br />
sich die menschliche Projektionskraft und Phantasie direkt zu entzünden.<br />
Insofern erscheint es mir sinnvoll, nicht nur das hochprofessionelle Labor der<br />
fachdisziplinären Astronomie zu untersuchen oder die populärkulturellen Aneignungsformen<br />
der ‹Produkte› dieses Labors, sondern auch ein Zwischenstadium<br />
solcher Produktionsformen. Insofern möchte ich die Frage nach der Konstitution<br />
des Objekts der Sichtbarkeit und der Produktion von Visualität an den Amateurastronomen<br />
richten. Getragen ist diese Motivation von der Idee, dass unsere aktuelle<br />
Wissenskultur von Differenzierungsbewegungen gekennzeichnet ist.<br />
Hochspezialisierte Denkräume grenzen sich nicht zuletzt über Fachwissen und<br />
-sprache von ‹Breitenwissen› ab. Diese Abgrenzung wird kompensiert durch Integrationsverfahren,<br />
die jene Bestände dieser Spezialdiskurse in einem abgestuften<br />
Prozess in common sense-Artikulation überführt. 7 Insofern stellt der semiprofessionelle<br />
oder hobbyistisch motivierte Astronom einen herausgehobenen Akteur<br />
in der Zirkulation von Wissen dar. 8<br />
Im Folgenden möchte ich daher anhand der Berichterstattung der für diese<br />
Zielgruppe relevanten Zeitung Sterne und Weltraum über den Mars vor allem auf<br />
die Auseinandersetzung über die Herstellung von Sichtbarkeit, die visuellen<br />
Hilfsmittel zu Beobachtung und zum Status des eigenen Sehens fokussieren. 9 Mit<br />
den Mitteln der Diskursanalyse sollen dabei Artikel über den Mars aus dem Zeitraum<br />
von 1965–2006 untersucht werden. 10 Es sind zwei wesentliche Fokussierungen,<br />
die in dieser Analyse untersucht werden sollen: Zum einen geht es darum<br />
nachzuvollziehen, wie paradigmatische Wissenskonstellationen das Sehen<br />
prägen und zum anderen, wie technisch-apparative Formen dieses Sehen ausformen.<br />
Eine ad hoc Vermutung wäre dabei sicherlich, dass die Einführung apparativer<br />
und hochtechnologischer Praktiken in die professionelle Astronomie die<br />
Amateurastronomie zusehends abkoppelt und zurücklässt. Man erwartet, dass<br />
ein Zitat wie das folgende einen paradigmatischen Punkt innerhalb eines solchen<br />
Diskurses markiert, der den Amateur zur randständigen Figur macht:<br />
Mit der Einführung von Raumsonden und anderen modernen Hilfsmitteln in die astronomische<br />
Forschung geht ein Kapitel klassischer Beobachtungsmethoden zu Ende. Das ‹Experiment›<br />
hat nun auch Einzug in diesen Zweig der Naturwissenschaft gehalten; herkömmliche<br />
visuelle und fotografische Beobachtungsmethoden sind nicht mehr ausschließlich<br />
Grundlagen der Planetografie. Der Amateur bedient sich ihrer noch, weil er<br />
keine anderen Hilfsmittel besitzt. [...] So ist auch die Ära der Marsbeobachtung, wie sie etwa<br />
von Schiaparelli begründet wurde, in unserer Zeit vorüber. 11<br />
Dem gegenüber soll die folgende Analyse zeigen, dass die Produktion eines Diskurses<br />
astronomischen Sehens und der Sichtbarkeit des Mars nicht so linear und<br />
im Sinne eines turns geschrieben werden kann. Mit dem Übergang vom analogen<br />
105
Sehen zum digitalen Messen wird die professionelle Astronomie von einer beobachtenden<br />
Feldwissenschaft zu einer bildprozessierenden Laborwissenschaft<br />
und lässt die ‹analoge› Himmelsbetrachtung zu einer – in den Worten Karin<br />
Knorr-Cetinas – backyard-Disziplin werden. Michael Hagner unterscheidet im<br />
epistemologischen Prozess des Labors (in Anlehnung an den Levi-Strauss’schen<br />
bricoleur) den Typus des Ingenieurs und des Bastlers, um den Begriff einer science<br />
in action, einer ‹Wissenschaft im Machen›, zu etablieren – mithin einen höchst<br />
unscharfen und prozessualen Repräsentationsbegriff. 12 Diese Beschreibung erscheint<br />
mir für das Fortbestehen der ‹analogen› und beobachtungsgestützten<br />
Astronomie neben der digitalen Beobachtung eher angebracht als der leicht normative<br />
Begriff einer ‹Hinterhof›-Astronomie im Zusammenhang mit der Amateurund<br />
semiprofessionellen Himmelsbeobachtung. Gerade aber diese astronomy in<br />
action hat aber epistemologisch mehr zu bieten als eine Geschichte des apparativen<br />
Verlusts oder einer Deklassierung des Nicht-Spezialisierten.<br />
Den Mars ansehen, den Mars zeichnen<br />
Diese Ausgangsposition bestimmt die Analyse des Materials: Auch wenn im untersuchten<br />
Material die Exploration des Mars mit bloßem Auge keine Rolle mehr<br />
spielt, so ist doch die (Amateur-) Astronomie zunächst eine Wissenschaft der Beobachtung<br />
und der zeichnerischen Niederlegung. Alles beginnt mit der Zeichnung,<br />
und die Zeichnung begleitet die Erkundung der Sterne. Die Beobachtung wird nur<br />
durch die Niederlegung und Speicherung intersubjektivierbar. Noch vor dem Fernrohr<br />
ist die Beobachtung mit dem Auge das Instrument der Produktion von Wissen.<br />
Dem Auge beigegeben ist die zeichnende Hand, also die Fixierung des Gesehenen<br />
zur Speicherung, Zirkulation und zur potentiellen Überprüfung und Verifikation<br />
gegenüber Dritten. Gleichzeitig ist die Frage nach der Zeichnung der Astronomie<br />
auch immer eine Verhandlung darüber, ob die Zeichnung eine Stillstellung einer<br />
singulären und subjektiven Beobachtung sein sollte, die naturgemäß dann<br />
auch nicht mehr verifizierbar ist, oder ob es sich bei einer Zeichnung um die Zusammenführung<br />
eines möglichst breiten Samples paralleler Beobachtungen handeln<br />
sollte, die weniger den Anschauungseindruckfesthalten, sondern vielmehr an<br />
der Objektivierung und Verifikation der Beobachtung arbeiten soll. Noch vor der<br />
Frage nach dem Technischen und Apparativen steht also in der Astronomie die Frage<br />
nach dem beobachtenden Subjekt und der Tragfähigkeit des beobachtenden Auges<br />
als Instanz der Wissenschaftlichkeit. Wo die professionelle Astronomie heutzutage<br />
längst auf hochtechnisch erzeugte Daten und Abstrakta zurückgreift, da<br />
zeichnet der Amateur ‹immer noch›. Damit aber ist er keineswegs defizitär, sondern<br />
weitaus stärker in eine permanente Auseinandersetzung um den Status der<br />
Niederlegung von Erkenntnisobjekten eingebunden. Der Amateur muss sich anhand<br />
seiner Zeichnung und später seines Fotos weitaus stärker mit der Fragestellung<br />
nach der Leistungsfähigkeit des Auges und dem interpretatorischen Moment<br />
der stillstellenden Niederlegung auseinandersetzen.<br />
Die Untersuchung des Materials setzt an dieser Stelle ein: Ein erstes Analyseraster<br />
entsteht aus der Annahme, dass mit den frühen Mars-Missionen (den Mariner-<br />
Sonden) eine Verschiebung des Beobachtungsstatus einsetzt, der zu signifikanten<br />
Veränderungen der Diskursformationen über den Status der Beobachtung und des<br />
Sehens führen müsste. Die Frage wäre also auch, ob mit den ‹neuen› Bildformen eine<br />
spezifische Form der Stillstellung auftaucht. Angesichts des in wenigen Monaten<br />
106 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />
1 Normblatt Beobachtung, aus: Sterne und Weltraum, 2003.<br />
erwarteten Ergebnisses der Mariner IV-Mission weist ein ausführlicher Artikel in<br />
der Märzausgabe von 1965 Sterne und Weltraum auf die Relevanz des Mars für die<br />
Amateurbeobachtung hin: Der Mars wird, so die Annahme, durch seine Erdnähe<br />
auch künftig ein ergiebiges Objekt für die erdgebundenen Beobachtung darstellen.<br />
Der Artikel ist aber zugleich als Aufforderung zur Selbstdisziplin in der Beobachtung<br />
zu lesen. Aus diversen Lehrbeispielen der Missinterpretation und Fehlbeobachtung<br />
soll der Amateur die Konsequenz der sorgfältigen Überprüfung der<br />
eigenen Beobachtung ableiten. Es zeichnet sich eine Art der institutionellen Einübung<br />
von Repräsentationsordnungen ab. In einem zweiten Argument des Artikels<br />
werden dann diese Beobachtungen als forschungsrelevant charakterisiert,<br />
welche die astronomische Tätigkeit von zeichnender Beobachtung angesichts<br />
der zu erwartenden Ergebnisse der Sondenerkundung rechtfertigen:<br />
Daneben werden aber die bisherigen Forschungen weiter laufen, auch die gute alte visuelle<br />
Beobachtung mit dem Okular. Und hier bietet sich für den ernsthaften Amateur immer<br />
noch ein lohnendes Betätigungsfeld. Man darf nur nicht erwarten, dass ein paar<br />
Zeichnungen schon sensationelle Ergebnisse liefern. Die visuelle Beobachtung befasst<br />
sich heute vor allem mit den Veränderungen des Marsbildes, und dazu gehören vornehmlich<br />
die atmosphärischen Vorgänge [...]. Notwendig dazu sind vor allem Übung im teleskopischen<br />
Sehen und in der zeichnerischen Darstellung sowie möglichst langjährige<br />
und lückenlose Beobachtungsreihen. 13<br />
Dieser paradigmatische Verweis im Zeichen der Wende in der Mars-Astronomie<br />
angesichts des wenige Monate später erfolgenden ersten Sondenüberflugs über<br />
den roten Planeten markiert eine über Jahre hinweg vertretene Position innerhalb<br />
der Sterne und Weltraum. Der Amateur ist als Beobachtungshelfer der Sondenfernerkundung<br />
mit der Aufgabe betraut, vermittels sorgfältiger und möglichst<br />
objektiver Beobachtung und zeichnerischen Niederlegung vor allem ephemere<br />
Phänomene des Mars zu beobachten und zu sammeln.<br />
Gerade die wiederkehrenden Mars-Oppositionen, in jenen der Mars höchste<br />
Erdnähe erreicht und zur detailreichen Beobachtung einläuft, bieten in den folgenden<br />
Jahren auch immer wieder Anlässe zur Sammlung und Zusammenführung<br />
von Amateurbeobachtungen. Die Institution Sterne und Weltraum zeigt sich<br />
also nicht nur als ein ‹hierarchischer Ort›, in dem die Gültigkeiten von Repräsentationsordnungen<br />
verhandelt werden, sondern auch als ein ‹Labor› im eingeführten<br />
Sinne, als es sich bei dem um und in der Zeitung geführten Diskurs generell<br />
um eine ‹Aushandlung des Wissbaren› handelt. Diese Aushandlung ist eine Ver-<br />
107
108 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> handlung, in der vom Amateurastronomen über die Mitarbeiter, Redakteure und<br />
Gastreferenten der Zeitung bis hin zum ‹Profiastronomen› ein weites Feld von<br />
Stimmen und Aussagepraktiken zusammen finden.<br />
3.2009<br />
14<br />
Damit schreibt sich auch eine ‹Instanzenfolge› fest, die für die nächsten fünfzehn<br />
Jahre der Berichterstattung über die Oppositionen stabil bleibt: Der Amateur<br />
beobachtet sorgfältig und unter beständiger Supervision des ‹Labors› Sterne und<br />
Weltraum. Er sendet seine Zeichnungen und später auch Fotografien an Sterne und<br />
Weltraum, wo Einzelbeobachtungen zusammengeführt und auswertet werden.<br />
Unausgesprochen ist also der Garant einer ‹Objektivität› der Beobachtung, die statistische<br />
Nivellierung (der massenhafte Vergleich der Beobachtungen), die Selektion<br />
durch eine Instanz (der auswertende Autor von Sterne und Weltraum) unddie<br />
Relevanz des Untersuchungsobjekts durch seinen ephemeren Status gegeben.<br />
Erst die Viking I-Mission leitet eine Wende ein, die die Berichterstattung verschiebt.<br />
Am 20. Juli 1976 landet Viking I auf dem Mars, während der zugehörige<br />
Orbiter kontinuierlich Überflugdaten an die Erde sendet. Als am 7. August 1980<br />
der Orbiter abgeschaltet wird, hatte er über 37 000 Fotos des Mars übertragen.<br />
Das Argument der nicht-kontinuierlichen Beobachtung des Mars durch die Sondenmissionen<br />
war aufgehoben. Insofern <strong>berichte</strong>t Sterne und Weltraum in einem<br />
neuen Tenor: Zwar werden weiterhin die eingesandten Zeichnungen und Beobachtungsergebnisse<br />
ausgewertet und verglichen; die Motivation des Amateurastronomen<br />
wird aber hier erstmals nur noch als ‹Vergnügen› charakterisiert:<br />
Wenngleich diese Resultate im Zeitalter der Planetensonden keine wissenschaftliche Effekte<br />
mehr zu erreichen vermögen, so zählt hier in erster Linie die Begeisterung zu einem<br />
interessanten Hobby, die den Sternenfreund an ein kleines Fernrohr führt. 15<br />
Diese Suspendierung des Amateurs bleibt allerdings singulär. Bereits zwei Jahre<br />
später beginnt wiederum eine Neubewertung. 16 Anlässlich eines nochmaligen<br />
Vergleichs von eingereichten Mars-Zeichnungen kehrt die Diskussion um die potenzielle<br />
Normierung der Beobachtungsniederschreibung als Zeichnungen unterschwellig<br />
zurück, legitimiert aber allein schon durch die Wiederaufnahme der<br />
Zeichnungsexegese das Verfahren prinzipiell. Für diese Rücknahme der noch<br />
kurz zuvor ausgerufenen melancholischen Abkehr des wissenschaftlichen Werts<br />
der Amateurbeobachtung sorgen die bei der Mars-Opposition von 1982 entstandenen<br />
ersten Amateurfotografien des Mars, die nun als mögliches Korrektiv der<br />
parallel entstandenen Zeichnung diskutiert werden. 17 Und so ist es auch hier das<br />
Moment der Beobachtung des Ephemeren, das als potenziell nutzbringende Aufgabe<br />
des Amateurs gewertet wird. Die Beobachtung der Mars-Atmosphäre, von<br />
Wolken und Farben, Staubstürmen und Polkappenschmelze, sowie die möglichst<br />
kontinuierliche Auswertung der Dynamik dieser Phänomene in Zeichnungen,<br />
Karten, Diagrammen und ersten Fotos stehen im Zentrum der Diskussion.<br />
Bis 1990 konsolidiert sich somit ein ‹Forschungsauftrag des Amateurastronomen›,<br />
der sich in ein institutionelles ‹Marswatch-Programm› verfestigt, das die<br />
Wichtigkeit der teleskopischen Amateur- und Profibeobachtungen sowie der Kartierung<br />
und Niederlegung des beobachteten Ephemeren betont, solange es noch<br />
keine kontinuierlichen Daten von den Fernerkundungssonden gibt. 18 Es ist hier<br />
immer noch vorrangig die Zeichnung oder Skizze, die als Niederlegung der Beobachtungsleistung<br />
verhandelt wird, da sich die Amateur-Sternenfotografie bis zu<br />
diesem Zeitpunkt noch nicht soweit technisch vervollkommnet hat, dass sie als<br />
ebenbürtig zur Zeichnung gewertet wird.
Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />
Fernrohr als Prothese: Beobachtungsproblematik<br />
Als zweites Analyseraster sollen die Berichterstattungen der ausgewerteten<br />
Quellen nun nach der Wiedergabe klassischer wissenschaftlicher Paradigmen<br />
und Methoden befragt werden, die sich im weitesten Sinne um das Paradigma<br />
der ‹Erkenntnis durch Beobachtung› gruppieren. Dabei soll nun der Schwerpunkt<br />
der Auswertung auf dem Gebrauch des Teleskops liegen. Das Teleskop stellt in<br />
diesem Zusammenhang eine Technikdar, die nützlichen Bilder in den Laboren<br />
herstellt und als ‹Sehhilfe› im Sinne Noëll Carolls zu verstehen wäre. Ebenso wie<br />
das Mikroskop oder das Fernglas sind die apparativen Formen der Astronomie als<br />
»referenzielle Prothesen« zu begreifen. 19 Von entscheidendem Interesse ist im<br />
Falle der Astronomie aber, dass sich hier ab einem bestimmten Punkt unterschiedliche<br />
technische Formen solcher Sehhilfen zu hybridisieren scheinen. Dem<br />
astronomischen Teleskop als Externalisierung des Auges wird im Zuge der sich<br />
weiter entwickelnden Astronomie die Fotografie als Speichertechnologie beigegeben.<br />
20 Zunächst aber soll die Konstellation des ‹Fernrohrs als referentielle Prothese›<br />
als eine Erweiterung des (Amateur-) Sehens im Vordergrund der diskursiven<br />
Spurensuche stehen. Dabei ist es vor allem das Verhältnis des Sehens oder<br />
Blickes und dem Instrument, das hierbei signifikant ist. So wenig wie sich nun<br />
das Paradigma der Erkenntnis durch Beobachtung verändert, so sehr verändert<br />
sich die Technikund apparative Technologie der Astronomie.<br />
Inwieweit spiegelt sich aber der Vorgang des teleskopischen Sehens in Abgrenzung<br />
vom ‹Augensehen› in der Berichterstattung von Sterne und Weltraum?<br />
Zunächst darin, dass dem Vorgang des subjektiven und individuellen Sehens immer<br />
wieder ein objektivierender Zusammenhang des Vergleichs zur Verifikation<br />
an die Seite gestellt wird. Bei der Auswertung der Mars-Opposition von 1967<br />
wird beispielsweise auch von «diversen Zeugenschaften unterschiedlicher Beobachter»<br />
gesprochen und ein großes Ungleichgewicht der Beobachtungen konstatiert.<br />
21 In der Reflexion des Verfahrens der Auswertung gemeinschaftlicher Beobachtungsergebnisse<br />
heißt es dann auch:<br />
Sicher ergibt sich aus derartigen synoptischen Erhebungen erst eine wirkliche Beurteilung<br />
von Gesamtvorgängen auf unserem Nachbarplaneten. Nur in einer ‹Massenverarbeitung›<br />
von Daten kommt eigentlich einer einzelne Marsbeobachtung ihre Bedeutung zu. 22<br />
Signifikanter ist aber eine fast durchgängige diskursive Strategie, die sich schon<br />
in der Auswertung des Diskursstranges des ‹Sehens und Zeichens› angedeutet<br />
hat: die Legitimationsfrage des Amateur-Tuns selber. Kann im Zusammenhang<br />
mit Zeichnung und Beobachtung mit dem wiederholten Verweis auf das Ephemere<br />
noch eine Legitimation des Amateurs gewonnen werden, so ist dies im engen<br />
Bezug auf das Teleskop selbst kaum mehr möglich. Zu übermächtig ist der ‹Sehvorteil›<br />
der Profisternwarten und vor allem der Sonden. Somit ist es auch die Berichterstattung<br />
über diese Beobachtungsergebnisse, die Darlegungen der Sterne<br />
und Weltraum ab Mitte der 1960er Jahre maßgeblich prägen: die Berichterstattung<br />
über das teleskopisch-prothetische Sehen der ‹Anderen› und die Suspension<br />
des eigenen, defizitären prothetischen Sehens – wie es sich auch in dem oben angeführten<br />
und titelgebenden Zitat aus Sterne und Weltraum andeutet. 23<br />
Angesichts der Mariner IV-Bilder konstatiert Sterne und Weltraum bereits<br />
1969 «Oberflächendetails [...], welche vom Erdboden aus auch mit den besten Teleskopen<br />
nicht hätten gefunden werden können». 24 Im selben Artikel findet aber<br />
auch die Radarastronomie im Bezug auf Mars eine ihrer ersten Erwähnungen.<br />
109
110 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> Dies ist der dritte Strang im Diskursmuster des prothetischen Sehens, der vielleicht<br />
am maßgeblichsten zur Suspension des Amateurfernrohrs führt: Die Tatsache,<br />
dass die Astronomie mit Beginn der Fernerkundung auf Messtechniken und<br />
Verfahren jenseits des Optisch-Sichtbaren umschwenkt, die sich nicht zuletzt<br />
aufgrund der wissenschaftliche Komplexität und der hohen Kompetenz in Einsatz<br />
und Auswertung dem Amateur entziehen.<br />
3.2009<br />
25<br />
Mit der Einführung von Raumsonden und anderen modernen Hilfsmitteln in die astronomische<br />
Forschung geht ein Kapitel klassischer Beobachtungsmethoden zu Ende. Das ‹Experiment›<br />
hat nun auch Einzug in diesen Zweig der Naturwissenschaft gehalten; herkömmliche<br />
visuelle und fotografische Beobachtungsmethoden sind nicht mehr ausschließlich<br />
Grundlagen der Planetografie. Der Amateur bedient sich ihrer noch, weil er<br />
keine anderen Hilfsmittel besitzt. Er hat viel durch sie beigetragen und kann es in gewissem<br />
Umfang weiter tun [...] So ist auch die Ära der Marsbeobachtung, wie sie etwa von<br />
Schiaparelli begründet wurde, in unserer Zeit vorüber. 26<br />
Der Sinn und Zweckder «amateurmäßigen Planetenbeobachtung» scheint also<br />
primär motiviert durch «eigene Freude»; die eingeforderte wissenschaftliche Exaktheit<br />
scheint Mitte der 60er Jahre mehr an Selbstdisziplin zu appellieren denn<br />
als Verifikationsstrategien zu fungieren. 27<br />
Eine in dieser Weise nach Möglichkeit lückenlos durchgeführte Beobachtungsreihe stellt<br />
dann nicht nur einen persönlichen ideellen Gewinn und vielleicht auch einen willkommenen<br />
Ausgleich zur oftmals eintönigen beruflichen Tätigkeit dar, sondern kann auch<br />
durchaus einmal als Quellmaterial für eine wissenschaftliche Untersuchung herangezogen<br />
werden. 28<br />
Dementsprechend scheint auch der Punkt erreicht, mit dem das Projekt einer gemeinschaftlichen<br />
Basis der Amateurbeobachtung im Vergleich anlässlich der<br />
massenhaften Beobachtungen bei Oppositionen grundsätzlich zu Ende gehen<br />
müsste: Anlässlich der Auswertung der Opposition von 1971 klingt an, dass dies<br />
die letzte Zusammenfassung der diversen Amateurbeobachtungen sei.<br />
Man könnte an dieser Stelle von einem ‹Mariner IV-Schock› der teleskopischen<br />
Amateurbeobachtung sprechen. Dieser scheint sich erst um 1975 mit den nächsten<br />
Bildern vom Mars, übermittelt durch die folgenden Mariner- und Viking-Missionen<br />
sowie durch die erst zu diesem Zeitpunkt vollständig zugänglichen Ergebnisse der<br />
sowjetischen Mars-Missionen aufzuheben. Zu diesem Zeitpunkt wird klar, dass der<br />
augenscheinliche Eindruck, den die ersten Bilder von Mariner IV–VIII vermitteln,<br />
nämlich den einer verkraterten und mondähnlichen Mars-Oberfläche, trügt. Die ersten<br />
Mariner-Missionen hatten bis dato nur die Südhemisphäre fotografiert, die in<br />
der Tat starkverkratert ist. Mit den folgenden Bildern von Mariner IX wird aber diese<br />
Hypothese grundlegend revidiert. In der Berichterstattung setzt nun die Erkenntnis<br />
ein, dass die Interpretation angesichts der als omnipotent erlebten Sondenerkundung<br />
aus der laborativ selbst intendierten Annahme der Augenscheinlichkeit erwächst.<br />
29 Der Mars ist nicht mondähnlich, weil 22 Bilder dies suggerieren. Die Beobachtung<br />
und Auswertung des Mars mit Sonden scheint den gleichen Problemen ausgesetzt,<br />
mit dem auch der teleskopierende Amateur und sein Fachblatt zu kämpfen<br />
haben. Und insofern rehabilitiert sich die ‹prothetische› Technikdes Amateurs vor<br />
dem Hintergrund der Entzauberung der ‹professionellen› Technologie des Sehens.<br />
Hier sind es nun vor allem zwei weitere Techniken der prothetischen Astronomie,<br />
die dem Amateur zur Verfügung gestellt werden: zunächst die Sternenfotografie –<br />
dazu gleich mehr – und die elektronische Datenauswertung im weiteren Sinne.
Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />
In einem Artikel über neue Karten und Globen des Mars und seines Mondes<br />
Phobos vergleicht die Redaktion einen Mars-Globus von 1928 mit dem aktuellen<br />
teleskopischen Beobachtungsstand:<br />
Es wird dann deutlich, dass mit visuellen und erdgebundenen fotografischen Beobachtungen<br />
seither keine wesentlichen Fortschritte in der Marskartografie zu erzielen waren.<br />
Dieser tote Punkt ist erst durch die Anwendung elektronischer Hilfsmittel, durch Radaruntersuchungen<br />
und Fernsehübertragungen aus dem Weltraum überwunden worden. 30<br />
Auch wenn hier noch einmal paradigmatisch das Ende der teleskopischen Beobachtung<br />
ausgerufen wird, so ist der Artikel insofern von einem gewissen Interesse,<br />
als er in einer großen Ausführlichkeit den komplexen Prozess der Herstellung<br />
von Karten und Globen aus beobachtungsgebundenen, langwierigen Transformationsprozessen<br />
von Messdaten in Karten beschreibt: Störungen beseitigen, Kontrast<br />
verstärken, Umarbeitung in Senkrechtprojektionen, Schattenwurf einarbeiten<br />
etc. Damit läutet der Artikel aber eine Wende oder Renaissance des Amateurs<br />
und seiner Seh-Prothese ein. Denn es ist nun weniger das Teleskop und das teleskopische<br />
Sehen, wodurch der Amateur mit einer professionellen Astronomie<br />
konkurriert, sondern die Ebene der technischen Bildherstellung als Genese. Deutlich<br />
wird dies in einem signifikanten Artikel in Sterne und Weltraum über den Versuch,<br />
eine EDV-unterstützte Oberflächenkarte herzustellen – das Projekt Mars. 31<br />
Digitales Sehen<br />
Ausgangspunkt ist hierbei die Position, dass die technische aufgerüstete und verbesserte<br />
teleskopische Beobachtung nicht nur das Ephemere beobachten, sondern<br />
auch Oberflächenstrukturen wahrnehmen könne. Daher ist es möglich, aus<br />
den Beobachtungen der Opposition in diesem Falle von 1988 eine Oberflächenkarte<br />
zu synthetisieren. Dabei dient aber nun nicht mehr ein ‹Kompositverfahren›<br />
oder eine synoptische Zusammenführung einzelner Beobachtungsblätter als<br />
Verfahren. Vielmehr hilft die Technikder zwischenzeitlich etablierten CCD-Fotografie<br />
und der neuen Bildverarbeitungstechnikam heimischen Computer bei der<br />
Konturierung einer Renaissance der Astronomie des Amateurs. 32 Der Status der<br />
Amateurastronomie tritt hier wieder in ein technisch-prothetisches Feld ein, das<br />
als Kompensation des Verlustes der Legitimation des Tuns jenseits der ‹Freizeitunterhaltung›<br />
genutzt wird. Das ‹Basteln› des Amateurbeobachters schwankt<br />
hier zwischen den Polen des Defizitären des eigenen Sehens und den aneignenden<br />
Formen des Nachvollzugs ‹ernsthafter› Wissenschaften:<br />
Insgesamt wurde das Ziel, die gesamte erreichbare Marsoberfläche zu kartografieren, zufriedenstellend<br />
erreicht. Der Versuch, die beim Zeichnen entstandenen Positionsfehler<br />
auszugleichen, war wenig erfolgreich, da sich der unterschiedliche subjektive Eindruck<br />
von ein und derselben Marsgegend bei unabhängigen visuellen Beobachtungen durch zu<br />
große Unterschiede in den Zeichnungen niederschlägt. 33<br />
Hier deutet sich schon an, dass der Diskurs des Bildes vom Mars für den Amateur<br />
kein in sich geschlossenes Feld bildet, sondern eine weit mäandrierende Form<br />
unterschiedlichster Repräsentationsordnungen, Techniken, Apparate, Sehformen,<br />
Bildgebungen und vor allem immer wieder Verhandlungen der Selbstbeteiligung<br />
an den jeweiligen Diskurs-Partikeln. Der Mars als Objekt des Ansehens<br />
und Erkennens schlägt sich nicht in einem eindeutigen Repräsentationszusammenhang<br />
nieder, sondern vielmehr in einer mäandrierenden Form zirkulierender<br />
Referenz, in der sich zwischen Objekt Mars und betrachtendem Subjekt eine Rei-<br />
111
112 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> he von Techniken, Formen und Handlungen ‹kaskadisch› anordnen – und dabei<br />
ein heterogenes Diskursfeld bilden.<br />
Die Verschiebung wird im zeitlichen Voranschreiten der Berichterstattung<br />
noch deutlicher. Die Beobachtung ist keine unmittelbare Erfahrung mehr, sondern<br />
wird zu einer aufgeschobenen Perzeption, einer Erfahrung des Sichtbaren aus<br />
zweiter Hand. Visualisierung findet für den Amateur in einer ‹externen Instanz›<br />
statt; die Bilder und Daten der Sonden und Orbiter sind es nun, die gespeichert<br />
und konfektioniert das Erleben der Teilhabe am Erkenntnisobjekt darstellen. Angesichts<br />
der Veröffentlichung einer digitale Mars-Karte auf CD-ROM heißt es beispielsweise:<br />
«Dem interessierten Amateur werden die Planeten und ihre Monde<br />
auf eine völlig neue Art zugänglich.»<br />
3.2009<br />
34 Und weiter:<br />
Stellen Sie sich vor, Sie könnten auf Ihrem Computer mühelos Bilder jeder gewünschten<br />
Region des Planeten Mars abrufen! Innerhalb von Sekunden wäre der Blick frei auf die<br />
Gipfelcaldera des Olympus Mons oder die Abgründe des riesenhaften Vallis Marineris [...]<br />
Wunschdenken? Seit kurzer Zeit nicht mehr! [...] Da mittlerweile viele zehntausende von<br />
Einzelaufnahmen der verschiedenen Missionen vorliegen, ist es praktisch undenkbar, sie<br />
in gedruckter Form zu verbreiten. 35<br />
Das teilhabende, prothetische Sehen wird ersetzt durch eine Mittelbarkeit der Erfahrung,<br />
wobei der Tenor des zitierten Artikels darauf abzielt, die Erfahrung der<br />
Bildbetrachtung als ähnlich erlebnisintensiv darzustellen wie die eigene teleskopische<br />
Observation. Nicht also die Funktion der Speicherung oder die Übernahme<br />
eines ‹fremden› Blicks wird thematisiert, sondern die Kompensation des eigenen<br />
Sehens durch die Übernahme eines als ‹analog› suggerierten visuellen Erlebens.<br />
Die anklingende Frage nach der Bearbeitung der Bilddaten also einer potenziellen<br />
‹Referenzstörung› wird an dieser Stelle nur exkursiv angedeutet. Im Vordergrund<br />
steht vielmehr die Herstellung eines möglichst ungebrochenen Wegs der Übermittlung<br />
der Daten von der Quelle zum Amateur, sozusagen direkt ab Viking.<br />
Ganz offensichtlich eröffnen sich dankder Verbreitung leistungsfähiger PCs und MACs<br />
mit CD-ROM-Laufwerkauch für astronomisch Interessierte völlig neue Welten. Bei<br />
schlechtem Wetter machen wir uns auf zur persönlichen Erforschung der Planeten. Als<br />
Grundlage dienen uns dabei nichts weniger als die Originaldaten der Planetensonden! 36<br />
Zur Kompensation des prothetischen Sehens kommt hier also noch die Teilhabe<br />
an der Auswertung und Bearbeitung des nur mittelbar Gesehenen. Der Verlust<br />
der vorgeblichen Unmittelbarkeit des teilhabenden Sehens wird also durch eine<br />
Position des performanten Handelns ausgeglichen.<br />
Ganz ‹zu sich› findet diese Kompensation beispielsweise im Projekt Clickworker,<br />
über das Sterne und Weltraum im Jahr 2001 <strong>berichte</strong>t. Hier wird der Astronomie-Laie<br />
von der NASA zur Bearbeitung und Auswertung von Viking-Bildmaterial<br />
rekrutiert:<br />
Hier markiert der Laienforscher per Mausklick alle erkennbaren Krater – daher die Bezeichnung<br />
clickworker. Fortgeschrittene können sich dann an der Klassifizierung der Einschlagbecken<br />
versuchen. [...] Zur Sicherheit vergeben die NASA-Forscher ein Gebiet an<br />
mehrere clickworker und vergleichen anschließend die Ergebnisse. 37<br />
Wenn also der Status der prothetischen-teleskopischen Beobachtung sich durch<br />
die Suspendierung des Werkzeuges selbst vollzieht, wenn also die Sonde das Teleskop<br />
endgültig zur ‹Freizeitunterhaltung› degradiert, dann reagiert der Diskurs<br />
der Amateurbeobachtung durch die Verlagerung seiner Wissensproduktion an<br />
andere Formen der nachvollziehbaren Bilderherstellung. Ganz im Sinne der von
Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />
2 Screenshot Projekt Clickworker.<br />
Hagner vorgeschlagenen bricolage-Form einer science in action treffen wir hier<br />
auf Formen des Umgangs mit Technik und Prothese, die das Erkenntnisobjekt-Sehen<br />
für den Amateur erhalten und legitimieren. Das ‹bastelnde Labor› produziert<br />
im Bezug auf die Verhandlung der Repräsentationsordnung Formen der Aneignung.<br />
Die aufgeschobene Unmittelbarkeit des Amateur-Sehens wird hier also erkennbar<br />
zu einer variabel produzierbaren Handlungsform.<br />
Fotografie als technische Sichtbarkeitsproblematik<br />
Der Zusammenhang von prothetischem Sehen und einer Suggestion erfahrbarer<br />
Unmittelbarkeit verdichtet sich aber innerhalb der Materialdiskurse deutlich unter<br />
dem Diktum der Einführung der Fotografie in der (Amateur-) Astronomie. Fotografie<br />
muss als eines der technisch-medial-bildgebenden Verfahren gelten, das<br />
über seine kulturelle und technologische Einbindung stark an eine Diskussion<br />
der Unmittelbarkeit und Selbsteinschreibung der Natur gekoppelt ist und andererseits<br />
in Zusammenhang mit ihrer Digitalisierung ebenso sehr für eine Auseinandersetzung<br />
mit der Entreferenzialisierung von Bild- und Erkenntnisobjekt einsteht.<br />
Findet eine solche Wende nun aber auch im Amateurbereich statt? Vorweggenommen<br />
lässt sich konstatieren, dass die Fotografie auch im Amateurdiskurs ihren<br />
Niederschlag findet, allerdings nicht in dem paradigmatischen Maße wie zu<br />
erwarten wäre. Die Fotografie wird hier vorrangig unter zwei Fokussierungen<br />
thematisiert: einerseits als ‹Ersatz› und ‹Verbesserung› des teleskopischen Sehens<br />
und andererseits als Möglichkeit für den Amateur, sich wiederum ‹bastelnd›<br />
seinem Gegenstand zu nähern. Hier geht es in der Tat und fast buchstäblich um<br />
die Problematikder Stillstellung: Wie lässt sich das beobachtete Objekt technisch<br />
so fixieren, dass die Stillstellung einen signifikanten Mehrwert der Erkenntnis im<br />
Vergleich zu Skizze oder Auge erwirtschaftet? Hier ist es aber vor allem die digitale<br />
Fotografie, die diese Thematisierungen anregt. Die analoge, emulsionsge-<br />
113
114 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> stützte Fotografie bleibt in Sterne und Weltraum vermutlich nicht zuletzt aufgrund<br />
der kostenintensiven und schwierig zu beherrschenden Umsetzung und<br />
Anwendung vergleichsweise unterrepräsentiert.<br />
Weitaus stärker wird die Fotografie jedoch als bildgebendes und technisches<br />
Verfahren der Herstellung einer entreferenzialisierten Bilderschrift fokussiert.<br />
Hier ist es der Umweg über die intensive Beschäftigung mit den bildgebenden<br />
Verfahren der Sondenfernerkundung, die das Feld bereitet für einen überraschend<br />
abgeklärten Umgang mit technisch-digitalen Verfahren astronomischer<br />
Bildgenerierung auch im eigenen Handeln.<br />
Im untersuchten Amateurdiskurs hält die Sternenfotografie um 1970 herum<br />
ihren Einzug: Sterne und Weltraum <strong>berichte</strong>t beispielsweise in einer kurzen Notiz,<br />
dass die fotografische Beobachtung für Amateure jetzt auf der Basis technischer<br />
Verbesserungen und verbilligter Materialien an die professionelle Astronomie<br />
heranreicht.<br />
3.2009<br />
38 Eine Steigerung in der Lichtempfindlichkeit und Körnung der verwandten<br />
Emulsionen führt dann anlässlich der Auswertung der Mars-Opposition<br />
1971, bei der erstmals nicht nur Beobachtungszeichnungen sondern auch Fotografien<br />
eingesandt werden, in Sterne und Weltraum zu dem bereits zitierten Fazit:<br />
«Wer so fotografieren kann braucht nicht mehr zu beobachten!» 39<br />
Aber wie oben ausgeführt, wendet sich die Thematisierung nach dem ‹Schock›<br />
der 1970er Jahre zu einem moderateren Umgang mit den neuen Bedingungen<br />
und Formen des Amateursehens. Hier ist es vermutlich vor allem das Ausbleiben<br />
spektakulärer Amateurfotografien, die den Diskurs zurückkehren lassen. Der<br />
Amateur beobachtet und zeichnet weiter und beschäftigt sich dabei in der Exegese<br />
der Sondenbilder und der unterstützenden Beobachtung des Ephemeren. Dabei<br />
blendet sich aber das Argumentationsmuster der ‹Selbsteinschreibung der<br />
Natur› aus, nicht zuletzt, da dies auf der Basis der Qualität und erkennbaren technischen<br />
Genese der Sonden-‹Fotos› obsolet zu sein scheint.<br />
So ist die Berichterstattung von Sterne und Weltraum von Mitte der 1970er<br />
Jahre bis Anfang der 1990er Jahre geprägt durch ein wiederholtes Diskutieren<br />
der Möglichkeiten des Emulsionsfotos im Vergleich zur Beobachtungszeichnung<br />
und der Diskussion der technisch-bildgebenden Verfahren. Erst zu dem Zeitpunkt,<br />
an dem die digitale Fotografie des consumer-Bereichs einen für Astronomiefotografie<br />
‹brauchbaren› Status im Bezug auf Kosten, Lichtstärke, und Auflösung<br />
erreicht, beginnt ein Äußerungsdiskurs, der die digitale Fotografie als Alternative<br />
zur Emulsionsfotografie oder der Beobachtung diskutiert.<br />
Sterne und Weltraum postuliert 1994 paradigmatisch die der digitalen Bildgebung<br />
innewohnenden Vorteile. Schnellere Belichtungszeit, die Möglichkeit digitaler<br />
Nachbearbeitung oder die Rauschunterdrückung als Mittel der Bildverbesserung<br />
werden hier als Fortschritt gewürdigt. Gleichzeitig stellt der kurze Artikel<br />
jedoch heraus, dass «die gute alte Zeichnung» in der Beobachtung nicht ausgedient<br />
hat, aber «gewaltige Konkurrenz» bekommen habe. 40<br />
Anlässlich der Opposition von 1988 subsumiert Sterne und Weltraum die Möglichkeiten<br />
und Grenzen der Beobachtung:<br />
Während also visuelle Beobachter die Positionstreue von fotografien nie erreichen können,<br />
sind sie jedoch fähig, feinste Strukturen wahrzunehmen, die keine fotografie zeigen<br />
kann [...]. Die optimale Beobachtungsmethode ist die Kombination der Vorteile der fotografischen<br />
und der visuellen Methode. Amerikanische Sternenfreunde prägten hierfür<br />
den Begriff der ‹fotovisuellen Beobachtung›. 41
Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />
Sowohl die analoge als auch die digitale Fotografie führen sich im Berichterstattungskorpus<br />
von Sterne und Weltraum eher weniger als Formen der ‹Selbstaufzeichnung›<br />
ein. Vielmehr dienen sie als Kontrastfolie zur Beobachtung mittels<br />
Auge und Teleskop. Die analoge wie digitale Fotografie werden als arbitrarisierende<br />
Technologien eingeführt. Im Bezug auf die beginnende Digitalfotografie<br />
wird dies an zwei Punkten besonders deutlich. Zum einen in der parallel stattfindenden<br />
Diskussion der Möglichkeiten der digitalen Speicherung und zum anderen<br />
in der ausführlichen Diskussion der Verfahren und Funktionen ‹professioneller›,<br />
also hochtechnischer Systeme der astronomischen Spitzenforschung.<br />
Mitte der 1990er Jahre finden sich in Sterne und Weltraum mehrere Artikel, die<br />
sich paradigmatisch mit einerseits den Schwierigkeiten des Hubble-Projekts beschäftigen,<br />
andererseits mit der Technikder Digitalkameras in den Sonden. Anlass<br />
für die gesteigerte Beschäftigung mit der Kameratechnikder Sonden ist die<br />
zeitgleich stattfindende Entwicklung von Sondenkameras für Mars-Missionen<br />
durch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Neukum. Im Jahr<br />
1995 <strong>berichte</strong>t Sterne und Weltraum beispielsweise von einem Kameratest und<br />
stellt ausführlich dar, wie der CCD-Zeilenscanner funktioniert. 42 Wiederholt wird<br />
aber über Themenkomplexe wie ‹Zeilenabtastung› und ‹Datenkompression› auch<br />
der Produktionszusammenhang digitaler Bildgebung thematisiert und als technisch-progressive<br />
Leistung positiv konnotiert. Forciert könnte gefolgert werden,<br />
dass die Stillstellung des Beobachtungsobjekts über die Zeit eine im ‹Labor› Sterne<br />
und Weltraum herausgearbeitete Kontur erfährt, die sich dadurch charakterisieren<br />
lässt, das ein ‹Vor-Apparatives› in eine apparative mediale Form umwandelt<br />
wird. Die Material-Sematikdieser Inskription ist aber als eine Form der Kodierung<br />
zu begreifen, insofern die Repräsentationen als arbiträr verstanden werden;<br />
‹arbiträr› zumindest in dem Sinne, als dem handelnden Amateur deutlich ist,<br />
dass diese kontinuierliche Spur der Mars-Fotografie eine Niederlegung ist, die<br />
nicht dem subjektiven oder intersubjektiven direkten Kommunikationsakt entspringt,<br />
sondern einem nur mittelbaren Interagieren mit einem technisch-appartiven<br />
System des prothetischen Benennens.<br />
Die Sondenfotos verweisen zunächst unmittelbar auf die Sonde, dann nur<br />
mittelbar auf den Amateur, sein Handeln und Kommunizieren in einer laborativdiskursiven<br />
Eingebundenheit – sie verweisen jedoch nicht auf die Konzeption des<br />
Erkenntnisobjekts Mars in ontologischer Form. Somit entsteht hier eine Form der<br />
zirkulierenden Referenz, die sich der Ontologie entsagt und dennoch für eine bestimmte<br />
Form der Unmittelbarkeit der Erfahrung sorgt. Zu spekulieren wäre, ob<br />
und wieweit eine solche ‹Entontologisierung› professioneller digitaler Bilddatengenerierung<br />
ein Rückübertrag auf bildgebenden Verfahren für den Alltag jenseits<br />
des Labors vorgenommen wird.<br />
Fazit<br />
Wenn also ein ‹entreferenzialisierender› Entstehungszusammenhang der Bilder<br />
der Astronomie im Zusammenhang mit der Berichterstattung von Sterne und<br />
Weltraum kontinuierlich und signifikant thematisiert wird, wäre in einem letzten<br />
Schritt also nun zu reflektieren, welche Konsequenz der Amateur aus diesem<br />
Wissen ableitet. Folgt der Amateur dem Ideal der ‹Selbstelimination aus dem<br />
Bild›? Leitet er aus der Datengestütztheit und technisch-apparativen Herstellungslogik<br />
der Bilder ein Verdikt der ‹mechanischen Objektivität› bei gleichzeiti-<br />
115
ger Aufgabe des subjektiven Erkenntnisgewinns ab? Inwieweit ist ein Autor oder<br />
Enunziator in den technisch-apparativen Sehhilfen der Beobachtung des prothetischen<br />
Auges mit eingeschrieben?<br />
Um es vorwegzunehmen: Die Auswertung der Amateurzeitung Sterne und<br />
Weltraum ergibt ein signifikant anderes Bild. Der Amateur wendet sich nicht dem<br />
‹Ästhetisch-Schönen› zu, wie es die ‹professionelle› Astronomie tut – zumindest<br />
im Zuge eines wissenschaftspolitischen Gestus der Kommunikation nach außen.<br />
Ebenso wenig eliminiert der Amateur sich selbst aus dem Bild; im Gegenteil; er<br />
scheint danach zu streben, in einer Geste der appropriation ‹bastelnd› und die Innovationsdiskurse<br />
sorgfältig beobachtend und nachvollziehend sich selbst sein<br />
Labor, seine Sehnsucht ins Bild einzuschreiben. Ebenso wenig erliegt der Amateur<br />
der Versuchung einer Re-Ontologisierung der Bilder des Mars oder der Konstruktion<br />
einer visuellen Referenz der Verwechslung oder Naturalisierung der<br />
technischen Bildgebungsverfahren. Das Diktum des Amateurs ist das fast unveränderte<br />
Festhalten an der Herrschaft des beobachtenden Auges. Die Prothese des<br />
Teleskops ist das Diskursmuster, an dem sich die gesamte Reflexion der Mars-Observation<br />
nachzuvollziehen scheint.<br />
So verzeichnet der Amateurdiskurs sehr wohl den Moment, an dem sich die Beobachtungsleistung<br />
des Amateurs nicht mehr mit der ‹professionellen› und laborativen<br />
Astronomie vergleichen kann; er entdeckt aber immer neue Aufgaben und<br />
Aufträge, die eine Legitimation des eigenen Tuns sicherstellen. Der Amateur versichert<br />
sich also – prothetisch-sehend – seiner selbst. Das Erkenntnisobjekt Mars ist<br />
dabei, so könnte man forciert formulieren, nachgeordnet: Ich sehe – also bin ich.<br />
Der Amateur schreibt sich ins Bild ein, um im Bild zu sein. Der Mars als Erkenntnisobjekt<br />
liefert das Bild, wobei dem Amateur die Abbildung des Erkenntnisobjekts<br />
nur als Selbstbestätigung gilt. Woran aber liegt diese Abgeklärtheit des<br />
Amateurs? Die Zeitung Sterne und Weltraum selbst ist es, die das isolierte Amateursubjekt<br />
an den Vergleich des Gesehenen und visuell Niedergelegten adaptiert. Sie<br />
ist es aber auch, die das Subjekt des Amateurs immer wieder konstituiert. Die Geschichte<br />
des Amateurs, der den Mars beobachtet ist – durch die Brille von Sterne<br />
und Weltraum gelesen – auch eine Geschichte der Selbsteinschätzung.<br />
Die Abgeklärtheit kann aber weder aus dem Selbstbezug des Untersuchungsmaterials<br />
noch ausschließlich aus einem Muster der Selbstbestätigung und damit<br />
auch der selbstreferenziellen Funktion der Mars-Bilder für den Amateur erklärt<br />
werden. Es sind noch weitere Signifikanten zu benennen, die erklären helfen,<br />
warum der Amateur die technischen Visualisierungen unter Vorbehalt liest, also<br />
nicht dem Diktum einer Objektivierungsleistung verfällt, wie sie einerseits innerhalb<br />
der Astronomiegeschichte häufig anzutreffen sind (Galilei, Lowell) und andererseits<br />
wissenschaftshistorisch als epistemologische Figuren postuliert worden<br />
sind. 43 Viel konkreter rückt im Amateur-Diskurs immer wieder die Verhandlung<br />
einer Distanzierung zum Bildobjekt ins Zentrum. Dem Amateur scheint das<br />
Problem der ‹voreingenommene Betrachtung› und Analogisierung insofern bekannt,<br />
als es für ihn wesentlich stärker als für den ‹professionellen› Astronomen<br />
kein und nur schwach ausgeprägte Instanzen und Handlungsformen der mittelbar<br />
vergleichenden Verifikation oder Falsifikation des Gesehen gibt. Also muss<br />
sich der Amateur in einem sehr viel stärkeren Maße mit der Selbstkritik des Gesehenen<br />
auseinandersetzen, da ihm die enge und zeit<strong>kritische</strong> community des Labors<br />
abgeht und da ihm die technischen Verifikationsverfahren im Sinne einer<br />
116 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />
zeitlich der Beobachtung nahen Diskussion fehlen. Professionelle Interpretationsfehler<br />
aufgrund der Bildauswertung sind ihm Lehrstücke für das eigene Tun.<br />
Die Fehlinterpretationen beispielsweise angesichts der Mariner IV- Bilder zeigen<br />
dem Amateur nicht nur sinnfällig, dass die professionelle Beobachtung nicht in<br />
dem Maße omnipotent ist, wie es das technische Projekt Mars-Exploration suggeriert,<br />
sondern es ist ihm auch vor Augen geführt, dass das Evidente der Bilder<br />
nicht nur ihn selbst, sondern auch den Fachdiskurs zu verunsichern vermag.<br />
Subsumierend könnte sich also der Durchlauf durch die Berichterstattung aus<br />
und über die Amateurastronomie des Mars als ein zwar mäandrierendes und vielschichtiges,<br />
aber dennoch überraschend stabiles Argumentieren über einen entreferenzialisierten<br />
und ‹nicht-fotografischen/ontologischen› Diskurs zusammenfassen<br />
lassen, der zwar die Handlungen und Wirkungen einer Unmittelbarkeitserfahrung<br />
verhandelt, dabei aber die referenziell-repräsentativen bildlichen<br />
Objekte selbst ausklammert. Das Sehen und die Prothese rücken als Auseinandersetzungsobjekte<br />
an die Stelle des Fotos und der Beobachtung. Die Fragestellung,<br />
wie also wissenschaftliche Visualisierungsformen innerhalb eines Labors einen<br />
Gestus mechanischer und nicht intervenierender Objektivität im Bezug auf die<br />
Visualisierungstechnikgenerieren, kann am gewählte Beispiel zunächst nicht<br />
nachvollzogen werden. Nachvollziehbar wird hingegen, wie eine Verschiebung<br />
von Diskurstypen vonstatten geht, die den Amateur und seine Sehweisen selbst<br />
rechtfertigen.<br />
117
Anmerkungen<br />
1 Bruno Latour, «Zirkulierende Referenzen,<br />
Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas»,<br />
in: ders., Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen<br />
zur Wirklichkeit der Wissenschaft,<br />
Frankfurt am Main 2006, S. 36–96.<br />
2 Karin Knorr-Cetina, «‹Viskurse› der Physik:<br />
Konsensbildung und visuelle Darstellung«, in:<br />
Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung<br />
in wissenschaftlichen und virtuellen Welten,<br />
hg. v. Bettina Heintz u. Jörg Huber, Zürich<br />
2001, S. 305–320.<br />
3 Alex Soojung-Kim Pang, «Technologie und<br />
Ästhetikder Astrofotografie», in: Ordnungen der<br />
Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst<br />
und Technologie, hg. v. Peter Geimer, Frankfurt<br />
am Main 2006, S. 100–141.<br />
4 Lorraine Daston u. Peter Galison, «Das Bild<br />
der Objektivität», in: Ordnungen der Sichtbarkeit.<br />
Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie,<br />
hg. v. Peter Geimer, Frankfurt am Main<br />
2005, S. 29–99.<br />
5 Pang 2006 (wie Anm. 3), S. 100.<br />
6 Ebd.<br />
7 Diese theoretische Setzung geht von der<br />
Beobachtung aus, dass verschiedene Faktoren<br />
der Differenzierung unterschiedliche ‹Sprachformen›,<br />
Aussageformen und Wissenskomplexe<br />
prägen, bilden und stabilisieren. Eine solche<br />
Differenzierung setzt an einer Überzeugung an,<br />
moderne Gesellschaften durch funktionale Ausdifferenzierung<br />
charakterisiert zu betrachten,<br />
das heißt durch die Entwicklung abgrenzbarer<br />
und spezieller Praxis- und Wissensbereiche, die<br />
ihre jeweilig eigenen Aussagestrukturen in<br />
Form spezifischer Wissensdiskurse ausbilden,<br />
die dann durch Interdiskurse aneinander gekoppelt<br />
werden. «Die wichtigste Funktion solcher<br />
kulturellen Interdiskurse ist die Produktion und<br />
Bereitstellung von diskursverbindenden Elementen<br />
und mit deren Applikation die Produktion<br />
und Reproduktion kollektiver und individueller<br />
Subjektivität, die in hochgradig arbeitsteiligen<br />
und ausdifferenzierten Gesellschaften<br />
leben können, ohne ständig in verschiedenste<br />
Spezialisierungen und Professionalisierungen<br />
auseinander gerissen zu werden.» Rolf Parr u.<br />
Matthias Thiele, «Eine ‹vielgestalte Menge von<br />
Praktiken und Diskursen›. Zur Interdiskursivität<br />
und Televisualität von Paratexten des Fernsehens»,<br />
in: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen,<br />
hg. v. Klaus Kreimeier u. Georg Stanitzek,<br />
Berlin 2004, S. 261–282, hier S. 265.<br />
8 Der Begriff des ‹Amateurs› wird im Folgenden<br />
als relativer ad hoc Begriff Verwendung finden.<br />
Aus Platzgründen kann nicht die Geschichte<br />
der Amateure und Dilettanten entwickelt<br />
werden, die vor allem im 18. bis 20. Jahrhundert<br />
eine Konturierung epistemologischer Praktiken<br />
einleitet, die zum Verständnis des Diskur-<br />
ses sinnvoll wären. Vgl. Ulrike Bergermann,<br />
«Durchmusterung. Wieners Himmel», in: Archiv<br />
für Mediengeschichte, ‹Wolken›, hg. v. Lorenz Engell,<br />
Bernhardt Siegert u. Joseph Vogl, Weimar<br />
2005, Bd. 5, S. 81–92. Genauso wenig können<br />
Effekte und Praktiken einer aktuellen do it yourself-Kultur<br />
vertiefend reflektiert werden.<br />
9 «Zielgruppe: Sterne und Weltraum richtet<br />
sich an alle, die sich beruflich, während des<br />
Studiums oder als Hobby mit der astronomischen<br />
Forschung, dem Instrumentenbau und<br />
der Himmelsbeobachtung beschäftigen – gleich<br />
ob angehender Sternfreund, langjähriger Amateurastronom<br />
oder promovierter Wissenschaftler.»http://www.suw-online.de/statisch/mediadaten_suw.pdf,<br />
letzter Abruf 1. September<br />
2007. Den Mars als Beispiel für eine solche Untersuchung<br />
zu wählen, ist dabei dadurch motiviert,<br />
dass er sich als erdnaher Planet zur Beobachtung<br />
auch mit erschwinglichen Untersuchungstechniken<br />
anbietet und daher für den<br />
Amateur einen lohnenden Gegenstand darstellt.<br />
Ebenso ist der Mars als Untersuchungsgegenstand<br />
astronomiegeschichtlich starkaufgeladen.<br />
Vgl. William Sheehan, The Planet Mars<br />
– A History of Observation and Discovery, Tucson<br />
1996.<br />
10 Der Untersuchungszeitraum, innerhalb<br />
dessen alle Artikel, die den Mars unmittelbar<br />
oder mittelbar thematisieren ausgewertet wurden,<br />
markiert dabei den zweiten und dritten<br />
‹Schub› der Mars-Exploration. Geht man davon<br />
aus, dass die moderne Beschäftigung mit dem<br />
Mars in drei großen Wellen oder Schüben erfolgt<br />
– die teleskopische Beobachtung, die ersten<br />
Sondenvorbeiflüge (Mariner bis Viking)<br />
und schlussendlich die Phase der Erkundungsmissionen<br />
(Pathfinder, Mars Express) –, so<br />
deckt der Untersuchungszeitraum dabei die<br />
letzten beiden Phasen und vor allem den Moment<br />
innerhalb der Wissenschaftsgeschichte,<br />
an dem in der ‹Laborform› der Wissenschaft eine<br />
letzte große Paradigmenwende weg vom Sehen<br />
einsetzt: mit der Sondenfernerkundung<br />
und der Abwende von teleskopischen Beobachten<br />
hin zur Messwert-Auswertung und in Konsequenz<br />
zur theoretischen Astronomie. Als<br />
Kontrollpanel der Berichterstattung wurde eine<br />
Auswertung aller Berichte der professionellen<br />
Wissenschaftszeitung Nature vorgenommen,<br />
um im Vergleich zur Diskursproduktion des<br />
Amateurs auch eine Diskursproduktion des Profis<br />
rekonstruieren zu können – dieser Vergleich<br />
soll aber im vorliegenden Artikel nicht berücksichtigt<br />
werden.<br />
11 Sterne und Weltraum, 1972, Nr. 5, S. 133.<br />
12 Michael Hagner, «Zwei Anmerkungen zur<br />
Repräsentation in der Wissenschaftsgeschichte»,<br />
in: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung,<br />
Spur, hg. v. Hans-Jörg Rheinberger,<br />
Berlin 1997, S. 339–355, hier S. 341.<br />
118 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Rolf F. Nohr «Wer so fotografieren kann, braucht nicht mehr zu beobachten!»<br />
13 Sterne und Weltraum, 1965, Nr. 3, S. 59.<br />
14 Sterne und Weltraum versammelt in den<br />
Ausgaben 8 und 9 aus dem Jahr 1968 900 Marszeichnungen<br />
und Photografien aus dem Jahre<br />
1901-1967 die mit «hoher Beobachtungssorgfalt»<br />
erstellt wurden (ebd., S. 231), um statistische<br />
Auswertungen der wechselnden Verschleierung<br />
oder Vereisung der Polkappen aufzuarbeiten.<br />
Ausgabe 4 aus dem Jahr 1969 ruft,<br />
angesichts der Auswertung und Interpretation<br />
der Mariner IV-Fotos, nochmals im Bezug auf<br />
mögliche Kanalstrukturen zur Beobachtung<br />
und «Überwachung» (ebd., S. 90) dieser Strukturen<br />
bei der nächster Opposition auf. In der Berichterstattung<br />
über die Beobachtungsergebnisse<br />
der Opposition legt Ausgabe 6 aus dem<br />
Jahr 1969 den Schwerpunkt der Beobachtung<br />
auf meteorologische Vorkommnisse.<br />
15 Sterne und Weltraum 1980, Nr. 11, S. 392.<br />
16 Vgl. Sterne und Weltraum, 1982, Nr. 3.<br />
17 Vgl. Sterne und Weltraum 1982, Nr. 7–8.<br />
18 Sterne und Weltraum 1990, Nr. 6.<br />
19 Noël Carroll, «Auf dem Weg zu einer Ontologie<br />
des bewegten Bildes», in: Philosophie des<br />
Films. Grundlagentexte, hg. v. Dimitri Liebsch,<br />
Paderborn 2005, S. 155–174, hier S. 157.<br />
20 Eine solche Darstellung suggeriert eine Position<br />
des Glaubens an ein Augensehen, die das<br />
Instrument als Technologie suspendiert und<br />
zum reinen Hilfsmittel macht. Auch hier reicht<br />
der Platz nicht hin, eine differenziertere Rekonstruktion<br />
der historischen (Vor-)Bedingungen<br />
des Teleskops als Prothese vorzunehmen. Es<br />
muss genügen hier anzudeuten, dass die Externalisierung<br />
des Teleskops hier als eine bereits<br />
‹naturalisierte› und transparente Technologie<br />
gedacht werden muss.<br />
21 Vgl. Sterne und Weltraum, 1968, Nr. 4.<br />
22 Sterne und Weltraum, 1968, Nr. 4, S. 99.<br />
23 Sterne und Weltraum, 1972, Nr. 5.<br />
24 Sterne und Weltraum, 1969, Nr. 3, S. 65.<br />
25 Interessant wird es an dem Punkt, an dem<br />
die Trennung von Auge/Linse und digitaler<br />
Bildgebung im Amateurdiskurs zu verschwimmen<br />
beginnt. Die Rekonstruktion dieser Bewegung<br />
kann hier aber nicht mehr vorgenommen<br />
werden.<br />
26 Sterne und Weltraum, 1972, Nr. 5, S. 133.<br />
27 Ebd.<br />
28 Sterne und Weltraum, 1969. Nr. 3, S. 65.<br />
29 Vgl. Sterne und Weltraum, 1975, Nr. 1.<br />
30 Sterne und Weltraum, 1978, Nr. 3, S. 81.<br />
31 Sterne und Weltraum, 1992, Nr. 8–9.<br />
32 Der Übergang von ‹analog› zu ‹digital› findet<br />
im Amateurdiskurs nicht als deutlich markierter<br />
turn statt. Vielmehr gleiten digitale Devices<br />
eher sukzessive in den Alltag des Amateurs<br />
hinein; nach den ersten Sondenbildern<br />
und -datensätzen sind es im eigenen Handeln<br />
eher die Möglichkeiten der digitalen Fotografie,<br />
die der Bildver- und -nacharbeitung, die Archi-<br />
vierung und der Zugriff auf professionelles Material,<br />
die Digitale Technologien in den Diskurs<br />
einschleusen.<br />
33 Sterne und Weltraum, 1992, Nr. 8–9.<br />
34 Sterne und Weltraum, 1994, Nr. 5, S. 394.<br />
35 Ebd.<br />
36 Ebd., S. 397.<br />
37 Sterne und Weltraum, 2001, Nr. 7, S. 524. Eine<br />
Projektdokumentation ist unter http://clickworkers.arc.nasa.gov/top<br />
(zuletzt eingesehen<br />
23. August 2007) aufzufinden. Bei Projektabschluss<br />
(Januar 2002) haben über 100 000 clickworker<br />
in mehr als einer halben Million sessions<br />
2.3 Millionen Krater klassifiziert und markiert.<br />
38 Sterne und Weltraum, 1971, Nr. 12.<br />
39 Sterne und Weltraum, 1972, Nr. 5, S. 135.<br />
40 Vgl. Sterne und Weltraum, 1994, Nr. 11, S.<br />
824.<br />
41 Sterne und Weltraum, 1990, Nr. 5, S. 311.<br />
42 Sterne und Weltraum, 1995, Nr. 10.<br />
43 Vgl. Daston/Galison 2005 (wie Anm. 4); Mit<br />
dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung<br />
in wissenschaftlichen und virtuellen<br />
Welten, hg. v. Bettina Heintz u. Jörg Huber, Zürich<br />
2001.<br />
119
Alexandra Gerbaulet und Karen Winzer<br />
Vom Top of Europe in den Himmel<br />
Karen Winzer ist bis zum Jungfraujoch in den Berner Alpen gefahren und hat vom<br />
Top of Europe ihre Blicke schweifen lassen. Auf der Spitze der Felskuppe Sphinx liegt<br />
in 3571 Metern Höhe nicht nur das Sphinx-Observatorium, von dem aus man mit einem<br />
76 cm-Teleskop in den Weltraum gucken kann, sondern hier befindet sich auch<br />
der höchste Bahnhof Europas. Nebst Ausflugslokal Bollywood mit Aussichtsterrasse –<br />
einer Perspektiverweiterung angesichts der Berge, Gletscher und Täler der Berner Alpen.<br />
«Weil Kaschmir zu unsicher ist, ist das Jungfraujoch zu einem beliebten Drehort<br />
für indische Filme geworden.» So steht es im Prospekt. Für die Dreharbeiten ist gutes<br />
Wetter wichtig, ebenso für die weite Sicht der Touristen, aber auch der Bauer plant<br />
mit dem Wetter, während man oben auf der Wetterstation Prognosen erstellt. Ob mit<br />
bloßem Auge, mit dem Objektiv, Fernglas oder Laser: Alle sehen in den Himmel.<br />
Bereits die mittelalterlichen Kunstbetrachter konnten sich in die Position des<br />
Sonnenauges oder des Auges Gottes versetzen, waren es doch die Maler, die das alles<br />
überschauende Auge, das Überfliegen vorweggenommen haben. Bis heute wird<br />
diese Perspektive durch immer neue technische Errungenschaften weiterentwikkelt<br />
und provoziert trotz dieser fortschreitenden Erschließung aber nicht weniger,<br />
sondern eher mehr Geschichten und Mythen als jemals zuvor. Technologien aller<br />
Art bringen auf dem oft langen Weg ihrer Erforschung und Weiterentwicklung<br />
nicht nur Werte und Erkenntnisse hervor, sondern auch Abfälle, Unordnung, Unstimmigkeiten<br />
und in deren Folge immer neue Fragen. Das Wissen schaut zurück.<br />
Winzer geht horizontal vor – nicht vertikal. Wenn sie das Jungfraujoch und die<br />
Menschen dort fotografiert, ist sie nicht am Überblickinteressiert, sondern lässt sich<br />
zwischen verschiedenen Perspektiven treiben. Sie kommentiert ihre Beobachtungen<br />
und weist uns in ihren Bildunterschriften auf bestimmte Details hin. Sie zeigt uns<br />
ein Labor im Sphinx-Observatorium, doch wir müssen nicht die exakte Messung der<br />
wissenschaftlichen Apparaturen nachvollziehen. Stattdessen weist uns die Künstlerin<br />
darauf hin, wer die Gardinen und Abdeckstoffe mit floralen Mustern genäht hat,<br />
die zwischen dem Hightech hängen und die Geräte ansatzweise verhüllen. Oder wir<br />
erfahren, dass bei der Ausrichtung eines Lasers eine Holzschachtel oder ein weißes<br />
Blatt Papier eine große Rolle spielen kann. High and low. Winzer zeigt uns einen heterogenen<br />
Ort, eine Heterotopie und zerstreut unsere Aufmerksamkeit, indem sie sie<br />
zugleich auf viele unscheinbare Begebenheiten im Aufeinandertreffen von Technik<br />
und Textilkunst, von Bollywood-Romantik und Berner Landwirtschaft lenkt. Ihre Beobachtungen<br />
machen aus diesem exklusiven Ort der Wissenschaft und Forschung eine<br />
Passage, die offen wird für Alltagserfahrungen und somit für eine andere Kunst<br />
der Wahrnehmung. Sie geht nicht nach einer Methode, einem festgelegten Programm<br />
vor, sondern lässt sich ablenken von dem, was ihren Weg quert, und erklärt<br />
somit das, was andere Ablenkung nennen, zu ihrer Forschung.<br />
120 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Alexandra Gerbaulet und Karen Winzer Vom Top of Europe in den Himmel<br />
1 Morgens um 8:27 Uhr kommt der erste Zug auf dem Jungfraujoch an.<br />
121
2 Gertrud Hemund putzt das<br />
Badezimmer im Gästehaus der<br />
Forschungsstation.<br />
Das Holztürchen über der Badewanne<br />
ist der Notausgang.<br />
122 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009<br />
3 In Pyramiden verlässt die<br />
Seele über den Grabgang das Grab<br />
und gelangt in einem Winkel von<br />
31° zielgerichtet zum Nordpol.
Alexandra Gerbaulet und Karen Winzer Vom Top of Europe in den Himmel<br />
4 Die Felsspitze, auf die das Observatorium der Forschungsstation gebaut wurde, heißt Sphinx. Die ägyptische<br />
‹Sphinx› bewacht den Tempeleingang. Zum Beweis ihrer Ähnlichkeit beide Sphingen gleichzeitig.<br />
5 Wenn man durch das Holztürchen über eine Metallleiter aus dem Gästehaus steigt, kommt man zwischen<br />
Haus und Berg. Man kann auch die Hintertür, links im Bild, nehmen.<br />
123
6 Je weiter oben man ist, desto deutlicher sieht man das Wetter. Deshalb hat Meteo Schweiz die Hausmeister<br />
der Hochalpinen Forschungsstation Jungfraujoch beauftragt, jeden Tag fünfmal auf die Sphinx zu fahren<br />
und in den Himmel zu gucken.<br />
7 In dieser Höhle neben dem Gästehaus hat früher ein Schafstall gestanden. An den Schafen ist die Wirkung<br />
der Höhe untersucht worden. Seitdem der Stall verfault ist, sind sie wieder unten.<br />
124 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Alexandra Gerbaulet und Karen Winzer Vom Top of Europe in den Himmel<br />
8 Das Herzstück des Labors, in dem Dr. Christian Servais arbeitet, ist die Sonne. Ihre Strahlen werden mit<br />
Hilfe einer Apparatur aus dem Weltall direkt in die Sphinx gelenkt. Sie fallen in diesen Schrank.<br />
9 Dr. Servais wartet auf gutes Wetter, das heißt darauf, dass die Sonne nicht von Wolken verdeckt ist. Nur<br />
dann sind Ergebnisse aussagekräftig, und er vermag zu sagen, wie es um die Zusammensetzung der Erdatmosphäre<br />
steht.<br />
125
10 Ein indisches Haar im Schnee.<br />
11 Das Teleskop ist in den Farben Rot, Grün und Blau abgedeckt.<br />
126 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009
Alexandra Gerbaulet und Karen Winzer Vom Top of Europe in den Himmel<br />
12 Todor Dinoev und Marcel Bartolome sind tagsüber mit der Einrichtung der Geräte beschäftigt.<br />
13 In der Nacht ragt der Laser aus dem obersten Raum der Forschungsstation 4000 Meter in die Höhe.<br />
127
AutorInnen dieses Heftes<br />
Inke Arns (*1968) ist künstlerische Leiterin<br />
des <strong>Hartware</strong> <strong>MedienKunstVerein</strong> Dortmund<br />
(http://www.hmkv.de). Studium in Berlin und<br />
Amsterdam. 2004 Promotion an der Humboldt-<br />
Universität zu Berlin. Seit Anfang der 1990er<br />
Jahre freie Kuratorin und Autorin mit den<br />
Schwerpunkten Medienkunst und -theorie,<br />
Netzkulturen, Osteuropa. Sie kuratierte unter<br />
anderem Irwin: Retroprincip 1983–2003 (2003),<br />
History Will Repeat Itself (2007), Anna Kournikova<br />
... Kunst im Zeitalter des Geistigen Eigentums<br />
(2008) und Wach sind nur die Geister – Über Gespenster<br />
und ihre Medien (2009). Seit 2000 Lehrtätigkeit<br />
an Universitäten und Kunstakademien<br />
in Berlin, Leipzig, Rotterdam und Zürich.<br />
http://www.inkearns.de.<br />
Christoph Asendorf (*1955) ist Professor für<br />
Kulturwissenschaften an der Europa-Universität<br />
Viadrina in Frankfurt an der Oder. Studium<br />
an der Universität Heidelberg und der Freien<br />
Universität Berlin. 1984 Promotion zum Thema<br />
Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge<br />
und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert,<br />
danach als freier Autor und Kurator tätig. 1988–<br />
1990 Lehrbeauftragter an der Hochschule der<br />
Künste Berlin. 1990–1995 Wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter an der Bergischen Universität/Gesamthochschule<br />
Wuppertal. 1997 Veröffentlichung<br />
der Habilitationsschrift Super Constellation.<br />
Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung<br />
der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne.<br />
2004/5 Visiting Fellow am Internationalen Forschungszentrum<br />
Kulturwissenschaften in Wien.<br />
Ulrike Bergermann (*1964) ist Professorin<br />
für Medienwissenschaft an der Hochschule der<br />
Bildenden Künste Braunschweig. 2007/08 war<br />
sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich<br />
Medien und kulturelle Kommunikation<br />
mit dem Projekt Das Planetarische<br />
(http://www.dasplanetarische.de) und bis 2006<br />
Lise-Meitner-Habilitationsstipendiatin (Wissensprojekte.<br />
Kybernetik und Medienwissenschaft).<br />
2003/04 hat sie eine Vertretungsprofessur<br />
an der Ruhr-Universität Bochum wahrgenommen.<br />
Sie hat an der Universität Hamburg<br />
zur disziplinären Verortung von Gebärdensprachnotation<br />
promoviert. Sie ist Vorstandsmitglied<br />
der Gesellschaft für Medienwissenschaft<br />
sowie Gründungs- und Redaktionsmitglied<br />
der Zeitschrift für Medienwissenschaft.<br />
Joachim Block (*1953) absolvierte ein Studium<br />
der Physikan der Technischen Universität<br />
Braunschweig und war anschließend als wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter am Deutschen Zentrum<br />
für Luft- und Raumfahrt (DLR) tätig. For-<br />
schungsarbeiten zu Messverfahren an Leichtbaustrukturen<br />
der Raumfahrt. 1988 Promotion<br />
an der Universität Kassel. Seit 1994 Leitung verschiedener<br />
Raumfahrtprojekte am DLR-Institut<br />
für Faserverbundleichtbau und Adaptronikin<br />
Braunschweig, insbesondere im Zusammenhang<br />
mit der Entwicklung der Struktur des Kometenlanders<br />
Philae für die europäische Kometenmission<br />
Rosetta. Seit 2009 Schwerpunktleiter<br />
Raumfahrt am DLR. Lehrtätigkeit und seit<br />
2008 Honorarprofessur an der Technischen<br />
Universität Braunschweig.<br />
Robert Bramkamp (*1961) ist Professor für<br />
Experimentalfilm an der Hochschule für bildende<br />
Künste Hamburg (HfbK). Nach einem Studium<br />
der Germanistikund Kunst (Filmklasse) in Münster<br />
arbeitet er seit 1983 als Filmemacher, Autor<br />
und Dozent. 1995 Lehrauftrag am Pasadena Art<br />
Center. 1998–2005 Regiedozent an der Hochschule<br />
für Film und Fernsehen Konrad Wolf, Babelsberg.<br />
2004 Werkschau im Filmmuseum München,<br />
Filmclub Köln und Berliner Filmkunstkino<br />
Babylon. Seit 2004 Kollektives Erzählprojekt Enki100.net<br />
(Kulturstiftung des Bundes). 2009<br />
Gründung des IFF Hamburg Institut Forschender<br />
Film. Siehe http://www.bramkamp.info.<br />
Dunja Evers (*1963) ist Künstlerin und lebt<br />
in Düsseldorf. Studium der Malerei an der Akademie<br />
für bildende Künste Wien, Meisterklasse<br />
Arnulf Rainer. Seit 1984 Arbeiten mit Film und<br />
Performance, seit 1985 fotografische Arbeiten.<br />
1996–2001 und 2005 Lehrauftrag für Fotografie<br />
am Institut für Kunst und ihre Didaktik an der<br />
Universität Dortmund. 1997 Gastprofessur für<br />
Fotografie an der University of California Santa<br />
Barbara. 2004 Guest Lectures am Rochester Institute<br />
of Technology, New York. Einzelausstellungen<br />
unter anderem in der Städtischen Galerie<br />
Wolfsburg (2009) und im Fotomuseum Winterthur<br />
(2002).<br />
Alexandra Gerbaulet (*1977) ist Filmemacherin,<br />
Künstlerin und Kuratorin. Ihre Themen:<br />
Migration, Rassismus und der alltäglichen Umgang<br />
hiermit in Deutschland. Ihre Filme, unter<br />
anderem: Über Land (2002), Datterode (2005) und<br />
Gefangenenbilder (2007). Nach einem Studium<br />
der Philosophie und Medienwissenschaften in<br />
Braunschweig und Wien Studium der freien<br />
Kunst an der Hochschule für Bildende Künste<br />
Braunschweig (Filmklasse, Birgit Hein); 2007<br />
Meisterschüler-Stipendium der Hans-Böckler-<br />
Stiftung. Seit 2006 Lehraufträge, derzeit künstlerische<br />
Mitarbeiterin an der HBK Braunschweig.<br />
128 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009<br />
Marie-Luise Heuser hat Philosophie, Geschichte,<br />
Physikund Mathematikstudiert. Nach<br />
dem Staatsexamen folgte die Promotion mit einer<br />
Arbeit zu Schelling und die Selbstorganisa-
AutorInnen<br />
tion. Sie war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
an der Universität Stuttgart sowie an der<br />
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf tätig<br />
und ist seit 2007 Wissenschaftliche Angestellte<br />
an der Technischen Universität Braunschweig.<br />
Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen in der Naturphilosophie,<br />
der Wissenschafts- und Technikphilosophie.<br />
Seit 2005 leitet sie das transdisziplinäre<br />
Projekt Kultur und Raumfahrt (siehe<br />
http://www.kultur-raumfahrt.de). In diesem<br />
Zusammenhang erscheint in Kürze von ihr herausgegeben:<br />
Kultur und Raumfahrt. Vorträge aus<br />
dem Naturwissenschaftlich-Philosophischen Kolloquium<br />
der TU Braunschweig 2005–2009.<br />
Michael Mönninger (*1958) studierte Literaturwissenschaft,<br />
Philosophie, Kunstgeschichte<br />
und Musikin Frankfurt am Main und arbeitete<br />
als Architekturkritiker für die Frankfurter Allgemeine,denSpiegel,dieZeit<br />
sowie andere deutsche<br />
Tages- und Wochenzeitungen. Promoviert<br />
wurde er bei Heinrich Klotz in Karlsruhe mit einer<br />
Arbeit über Kunst- und Städtebautheorien<br />
im 19. Jahrhundert. Seit 2003 gibt er in Zusammenarbeit<br />
mit der TU Wien die auf sechs Bände<br />
angelegte Gesamtausgabe der Schriften und<br />
Entwürfe Camillo Sittes heraus. Seit 2007 ist er<br />
Professor für Geschichte und Theorie der Bauund<br />
Raumkunst an der Hochschule für Bildende<br />
Künste Braunschweig.<br />
Rolf F. Nohr (*1968) ist Professor für Medienästhetikund<br />
Medienkultur an der Hochschule<br />
der Bildenden Künste Braunschweig. Arbeitsschwerpunkte<br />
sind mediale Evidenzverfahren,<br />
Game Studies und instantane Bilder. Er<br />
leitet das Forschungsprojekt Strategie Spielen.<br />
Er ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für<br />
Medienwissenschaften sowie Herausgeber der<br />
Reihe Medien’Welten (Münster: Lit). Letzte Veröffentlichungen:<br />
Mitherausgeber von Shooter.<br />
Eine multidisziplinäre Einführung (Münster<br />
2009). Monografie: Die Natürlichen des Spielens.<br />
Vom Verschwinden des Gemachten im Computerspiel<br />
(Münster 2008). http://www.nuetzlichebilder.de<br />
Annette Tietenberg (*1964) ist Professorin<br />
für Kunstwissenschaft mit dem Schwerpunkt<br />
Kunst der Gegenwart an der Hochschule für Bildende<br />
Künste Braunschweig, wo sie die Tagungen<br />
Planetarische Perspektiven (2008) und Raumschiff<br />
(im Rahmen der Phaenomenale Wolfsburg<br />
2009) konzipierte sowie die Ausstellung ZERO G.<br />
Der Artronaut Charles Wilp mitkuratierte. Forschungsschwerpunkt:<br />
das Verhältnis von Kunst<br />
und Design seit den 1960er Jahren. 1996-2001<br />
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule<br />
der Künste Berlin (UdK). Promotion an<br />
der TU Berlin zum Thema Konstruktionen des<br />
Weiblichen. Eva Hesse: ein Künstlerinnenmythos<br />
des 20. Jahrhunderts (Berlin 2005). Kuratorin<br />
zahlreicher Ausstellungen, darunter Joan Jonas.<br />
Performance – Video – Installation, NGBK Berlin<br />
(2001) und Frankfurter Kreuz, Schirn Kunsthalle,<br />
Frankfurt am Main (2001).<br />
Tristan Weddigen (*1969) ist Ordinarius für<br />
Kunstgeschichte der Neuzeit an der Universität<br />
Zürich. Er hat über die Kunst und Kunsttheorie<br />
der frühen Neuzeit, über Sammlungsgeschichte<br />
des 18. und 19. Jahrhunderts und über Methodenfragen<br />
publiziert, so Raffaels Papageienzimmer<br />
– Ritual, Raumfunktion und Dekoration im<br />
Vatikanpalast der Renaissance (Berlin 2006). Zurzeit<br />
leitet er das Forschungsprojekt des Schweizerischen<br />
Nationalfonds und des European Research<br />
Council Eine Ikonologie des Textilen in<br />
Kunst und Architektur.<br />
Christina Wessely (*1976) ist postdoctoral research<br />
fellow am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte<br />
in Berlin. Sie wurde 2004<br />
mit einer Studie zur Kulturgeschichte zoologischer<br />
Gärten promoviert und forschte anschließend<br />
in Wien und Cambridge/MA. Derzeit arbeitet<br />
sie über kosmologische Weltanschauungen<br />
um 1900. Zuletzt sind erschienen Künstliche<br />
Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne<br />
(Berlin 2008) und Pseudowissenschaft – Konzeptionen<br />
von Nicht/Wissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte<br />
(Frankfurt am Main 2008).<br />
Karen Winzer (*1976) ist Künstlerin und lebt<br />
in Berlin. Studium der freien Kunst an der Hochschule<br />
für Bildende Künste Braunschweig; 2004<br />
Diplom. Seit 2001 Künstlerische Kunstvermittlung<br />
für Ausstellungsinstitutionen wie Kunstmuseum<br />
Wolfsburg, Kunstverein Wolfsburg,<br />
Hamburger Bahnhof/Museum für Gegenwart<br />
Berlin, Deutsche Guggenheim Berlin. 2006<br />
kurzfristige Mitarbeit in der Hochalpinen Forschungsstation<br />
Jungfraujoch, Schweiz. Künstlerischer<br />
Beitrag im Labor; fotografische Dokumentation.<br />
2007 Mineralientausch mit Annette<br />
Richter, Oberkustodin des Niedersächsischen<br />
Landesmuseums, Hannover. 2009 Top of Europe<br />
– in den Himmel kommen. Eine Vortragsveranstaltung<br />
mit Blickauf das Rütli, Berlin-Neukölln.<br />
Jasmine Wohlwend (*1983) hat von 2002<br />
bis 2009 an der Universität Bern, der Università<br />
degli Studi La Sapienza in Rom und an der Universität<br />
Zürich Kunst- und Architekturgeschichte<br />
sowie Neueste Geschichte studiert. Ihr Studium<br />
hat sie mit der Arbeit Bauen im Space Age.<br />
Astrofantastische Architektur 1956–1972 an der<br />
Universität Bern abgeschlossen.<br />
129
Bildnachweise<br />
Editorial<br />
1 Tristan Weddigen, Moskau, 2009.<br />
Arns<br />
1–3 Copyright: Marko Peljhan/Projekt Atol.<br />
Asendorf<br />
1 A volo d’uccello. Jacopo de’ Barbari e le rappresentazioni<br />
di città nell’Europa del Rinascimento,<br />
hg. v. Stefano Grandi, Venedig 1999, S.<br />
135.<br />
2 Christopher Wood, Albrecht Altdorfer and<br />
the Origins of Landscape, London 1993, S. 20.<br />
3 Philippe u. François Roberts-Jones, Pierre<br />
Bruegel l’ancien, Paris 1997, S. 288/9.<br />
4 Matthäus Merian, Topographia, Neue Ausgabe,<br />
hg. v. Lucas Heinrich Wüthrich, Kassel/Basel<br />
1961, S. 94.<br />
5 Interieur/Exterieur, Wohnen in der Kunst,<br />
Ausst-Kat. Kunstmuseum Wolfsburg, Ostfildern<br />
2008, S. 46.<br />
6 Herbert Bayer, Visuelle Kommunikation, Architektur,<br />
Malerei. Das Werk des Künstlers in Europa<br />
und USA, Ravensburg 1967, S. 32.<br />
Bergermann<br />
1 Ernst Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen,<br />
Jena 1886, S. 14.<br />
2 NASA/public domain, http://history.nasa.gov<br />
/ap08fj/photos/a/as08-16-2593hr.jpg.<br />
3 Johnson Space Center of the United States<br />
National Aeronautics and Space Administration<br />
(NASA), Photo ID: AS17-148-22727, http://nssdc.<br />
gsfc.nasa.gov/imgcat/html/object_page/a17_<br />
h_148_22727.html.<br />
4, 5NASA/public domain, NASA Headquarters<br />
of the United States National Aeronautics and<br />
Space Administration (NASA). Photo ID: GPN-<br />
2001-000013. Alternate ID: AS11-40-5903.<br />
Block<br />
1 Autor.<br />
2 Bundesarchiv.<br />
3 Smithsonian National Air and Space Museum.<br />
4 Chesley Bonestell Estate.<br />
5 Collier’s Magazine, März 1952.<br />
6 Chesley Bonestell Estate.<br />
7 NASA.<br />
8 Autor.<br />
Bramkamp<br />
1 Copyright: Robert Bramkamp.<br />
Evers<br />
1–3 Copyright: Dunja Evers.<br />
Heuser<br />
1 http://de.wikipedia.org/wiki/Sergei_Pawlowitsch_Koroljow.<br />
2 Ziolkowski 1990 (wie Anm. 8), S. 112.<br />
3 Ziolkowski 1990 (wie Anm. 8), S. 110.<br />
4 Ziolkowski 1983 (wie Anm. 3), S. 10.<br />
5 Andréi Nakov, Kazimir Malewicz. Le peintre<br />
absolu, Paris 2007, Bd. 2, S. 311.<br />
6 http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Schwarze_Quadrat.<br />
7 Malewitsch. Künstler und Theoretiker, hg.v.<br />
Gerhard Glier, Weingarten 1991, S. 17.<br />
8 Malewitsch 1927 (wie Anm. 38), S. 99, Abb.<br />
91.<br />
Mönninger<br />
1 Poster, Hansen Planetarium, Salt Lake City,<br />
1986.<br />
2 NASA, http://www.nasaimages.org, 2001.<br />
3 Google Earth, 2009.<br />
4 Google Earth, 2009.<br />
Nohr<br />
1 Sterne und Weltraum, 2003, Heft 6, S. 65.<br />
2 http://clickworkers.arc.nasa.gov/landforms?<br />
camera=hirise; letzter Abruf 16. Mai 2009.<br />
Wessely<br />
1 Camille Flammarion, Astronomie populaire.<br />
Description générale du ciel, Paris [1879] 1920, S.<br />
101.<br />
2 Hanns Fischer, Wunder des Welteises, Leipzig<br />
[1922] 1927, S. 65.<br />
3 HA, S/476/157 (wie Anm. 5).<br />
4 Hörbiger 1913 (wie Anm. 4), S. 332.<br />
5 Hanns Fischer, Die großen Fluten in Sage und<br />
Wirklichkeit, Leipzig, 1928, Tafel 7.<br />
Winzer<br />
S. ...Copyright: Karen Winzer.<br />
Wohlwend<br />
1 van den Heuvel/Risselada 2004 (wie Anm.<br />
4), S. 95.<br />
2 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/<br />
commons/f/f8/Early_photo_of_seattle_space_needle.jpg,<br />
Zugriff am 6. Mai 2009.<br />
3 Fred M. Wilcox, Forbidden Planet, USA, Film/<br />
DVD-ROM, 95:00, 2006 (1956), Filmstill.<br />
4 Home 2003 (wie Anm. 14), S. 98.<br />
5 Elke Genzel u. Pamela Voigt, Kunststoffbauten.<br />
Die Pioniere, Weimar 2005, S. 13.<br />
130 <strong>kritische</strong> <strong>berichte</strong> 3.2009