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Samstag, 1. März 2008 17<br />
Erinnerungen an die Winter-Olympiade 1948 in St. Moritz<br />
«Gold geht an Nino Bibbia»<br />
Diese Worte bei der Preisverteilung<br />
nach dem Skeleton-Wettkampf<br />
um Olympiagold<br />
berühren den St. Moritzer<br />
Nino Bibbia 60 Jahre später<br />
noch. Aber nicht nur die<br />
Erinnerung an das Gold ist<br />
ihm aus dieser Zeit geblieben.<br />
Zusammen mit Marcella<br />
Maier lässt er diesen sportlichen<br />
Höhepunkt nochmals<br />
Revue passieren.<br />
Susanne Bonaca<br />
Ein Sonnenstrahl dringt durch das<br />
Fenster, erhellt die sonst schon vom<br />
lebendigen Gespräch gezeichnete<br />
Szene. «Weisch no...?» heisst die<br />
wohl meist gestellte Frage zwischen<br />
den alteingesessenen und weit übers<br />
Tal bekannten <strong>Engadiner</strong>n Marcella<br />
Maier und Nino Bibbia an diesem<br />
Morgen beim Kaffeeplausch in der<br />
Laudinella. Beide haben Geschichte<br />
geschrieben, beide sind Teil der Geschichte<br />
um den weltbekannten Nobelkurort<br />
St. Moritz.<br />
Sie erzählt lebendig, gestenreich,<br />
ihr jugendliches Lachen erheitert<br />
– und lenkt davon ab, dass sie Ende<br />
Jahr bereits ihren 88. Geburtstag feiert.<br />
Während den Jahren von damals<br />
arbeitete sie auf dem Kurverein, ihre<br />
vielseitigen, engagierten Tätigkeiten<br />
seither machten sie «zum wandelnden<br />
Geschichtsbuch» schlechthin.<br />
Sein Pullover weist auf seinen<br />
Lieblingssport hin, der begnadete<br />
Skeletonfahrer betrachtet lächelnd<br />
seine Goldmedaille in der Hand.<br />
Bekannt war der Draufgänger – der<br />
auch in vielen anderen Sportarten zu<br />
den Besten gehörte – aber nicht nur<br />
durch sein Olympiagold. Vielen im<br />
Dorf sind er und sein alter Lastwagen,<br />
beladen mit Harassen voll Gemüse<br />
und Früchte, in guter Erinnerung.<br />
Er feierte vor einem Jahr seinen<br />
85. Geburtstag, seinen jugendlichen<br />
Charme hat er über all die Jahre nicht<br />
verloren.<br />
Eiskanal und Salonlöwen<br />
Die Vorbereitungen für die ersten<br />
Olympischen Winterspiele nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg –Deutschland<br />
war damals ausgeschlossen – liefen<br />
auf Hochtouren. Im Kurverein<br />
St. Moritz gings zu wie in einem Taubenschlag.<br />
Nach all den Jahren der<br />
Entbehrung und der Angst spürte<br />
man 1948 überall einen Geist des Aufbruches.<br />
Die Dorfbewohner freuten<br />
sich auf den Grossanlass, jedermann<br />
war bereit seinen Teil zum Gelingen<br />
dieser Spiele beizutragen. Zu den<br />
Wettkämpfen gemeldet waren auch<br />
bekannte Gesichter wie Nino Bibbia,<br />
Sohn des dorfansässigen Gemüsehändlers,<br />
und sein Freund Edy Reinalter.<br />
Das Interesse für Sport und<br />
eine grosse Portion Draufgängertum<br />
verband die beiden bereits seit der<br />
Schulzeit. Nun sollte diese Begeisterung<br />
im Februar 1948 in olympische<br />
Ehren umgewandelt werden.<br />
In jenem Winter arbeitet auch Edy<br />
Reinalter für den Kurverein St. Moritz.<br />
«Edy verdiente sich sein Geld im<br />
Winter normalerweise als Skilehrer»,<br />
erzählt Marcella Maier. «Der Amateurstatus<br />
für Olympiade wurde in<br />
jenen Jahren allerdings sehr streng<br />
gehandhabt und so musste er vorübergehend<br />
eine andere Tätigkeit<br />
annehmen.» Ein Einsatz, der sich<br />
lohnte und mit einer Goldmedaille<br />
im Slalom belohnt wurde.<br />
Nino Bibbia, italienischer Staatsbürger<br />
mit einer Niederlassungsbewilligung,<br />
startete nicht für die<br />
Schweiz – obwohl dies das Reglement<br />
zugelassen hätte – sondern für<br />
sein Heimatland. Materialschlachten<br />
waren in jenen Jahren ebenfalls noch<br />
kein Thema. Bibbia: «Meinen Schlit-<br />
Darauf ist Nino Bibbia auch 60 Jahre nach den Olympischen Spielen in St. Moritz noch stolz: sein Skeleton-Gold von<br />
den Olympischen Winterspielen 1948 in St. Moritz.<br />
ten bezahlte ich wegen Geldmangel<br />
einfach mit einer Kiste Chianti!».<br />
Skeleton, Bob, Eishockey und Skispringen,<br />
eigentlich wollte er in allen<br />
vier Disziplinen an den Start gehen.<br />
Der Zeitplan aber, der viele Wettkämpfe<br />
nebeneinander stattfinden<br />
liess, verhinderte seinen Traum. Seinen<br />
Start als Aussenseiter in der von<br />
den Engländern und Amerikanern<br />
beherrschten Sportart auf dem Cresta<br />
Run wurde zur Triumphfahrt, er<br />
gewann in sechs Durchgängen mit<br />
einem Vorsprung von über einer<br />
Sekunde. Und holte damit die erste<br />
Goldmedaille für Italien an Winterspielen.<br />
Marcella Maier und Nino Bibbia<br />
lachen bei der Erinnerung an die<br />
geplante Siegerehrung. «Nino war<br />
bereits wieder an den Wettkämpfen<br />
auf der Bobbahn als die Offiziellen<br />
ihm die Goldmedaille überreichen<br />
wollten», erzählt sie schmunzelnd.<br />
«Man war dann so nett und hat die<br />
Preisverteilung verschoben, damit ich<br />
daran teilnehmen konnte», ergänzt<br />
er. Nicht ohne dabei den ihm eigenen<br />
und ehrlichen Stolz, gepaart mit einer<br />
grossen Bescheidenheit, durchblitzen<br />
zu lassen.<br />
Weniger amüsiert war und ist er<br />
auch nach all den Jahren über seine<br />
«Hintermänner» bei den olympischen<br />
Bobfahrten. «Salonlöwen!» erzählt<br />
er. «Die Verantwortlichen setzten<br />
damals auf Männer aus ihren Kreisen<br />
statt auf Sportler.» So reichte es im<br />
Viererbob lediglich für Platz 6, den<br />
Wettbewerb im Zweierbob beendete<br />
er auf dem fünften Platz. Da erinnert<br />
er sich schon lieber an den Moment,<br />
als er für vier Frauen aus verschiedenen<br />
Ländern eine Bobtaxifahrt<br />
wagte. «Die Damen waren so schmal,<br />
die hatten alle zusammen hinter mir<br />
Platz», meint er mit einem jugendlichen<br />
Lächeln im Gesicht. Gelächter<br />
auch bei den Zuschauern, als der<br />
Speaker seine Fahrt mit folgenden<br />
Worten angesagt hat: «Und jetzt startet<br />
Nino Bibbia, auf dem Schlitten<br />
sein internationales Harem...».<br />
Nach der Rangverkündigung auf<br />
dem Weg zum Pressezentrum im<br />
Hotel Du Lac – der Radiomoderator<br />
Vico Rigassi erwartete ihn, Bibbia<br />
sollte über sein Skeleton-Gold und<br />
die Leidenschaft für diese Sportart<br />
Red und Antwort stehen – begegnete<br />
er seinem Freund Edy Reinalter.<br />
«Lachend umarmten wir uns, freuten<br />
uns riesig über die beiden Goldmedaillen<br />
für St. Moritz», erinnert<br />
sich der Ausnahmesportler. «Die<br />
Nationalität war zweitrangig, wichtig<br />
war unsere Freundschaft!»<br />
1212 Meter Adrenalin pur<br />
Ein Jahr vor den Olympischen<br />
Spielen stand Nino Bibbia voll Interesse<br />
im Schnee und betrachtete das<br />
Treiben auf dem Cresta Run. Gebannt<br />
beobachtete er die Fahrer in<br />
dicken Wollpullovern, nur geschützt<br />
mit Helm, Ellbogen- und Knieschonern.<br />
Noch vor seiner ersten Fahrt<br />
packte ihn diese Faszination aus<br />
einem Gemisch von Mut und Können,<br />
von Konzentration verbunden<br />
mit sportlicher Höchstleistung. Als<br />
er die Strecke erstmals mit dem flachen<br />
Gefährt bewältigte, staunten<br />
Verantwortliche, Sportler und Zuschauer<br />
über die sensationelle Zeit<br />
des charismatischen jungen Mannes.<br />
Sein Hang zum Risiko, seine Waghalsigkeit,<br />
aber auch sein Mut sollten<br />
ihm in den folgenden Jahren noch so<br />
manchen Sieg eintragen.<br />
Ging es darum, eine Bestzeit zu<br />
egalisieren oder einen Bahnrekord<br />
zurück zu holen, war seine Arbeitsschürze<br />
immer schnell ausgezogen<br />
und die paar Meter zwischen Gemüseladen<br />
und Cresta-Start hinter sich<br />
gebracht. Kurvennamen wie Curzon,<br />
Brabazon, Rise, Battledore, Shuttlecock<br />
hatte er verinnerlicht, Stundenkilometer<br />
von Hundert und darüber<br />
im Blut, dabei Nase und Augen immer<br />
ein paar Zentimeter über dem<br />
vorbeiflitzenden Eis. Das erhöhte bei<br />
ihm zwar den Puls und die Atmung<br />
– nie aber auch nur ein Gedanke an<br />
Angst. «War ein Fahrer schneller als<br />
mein Bahnrekord, war diese Neuigkeit<br />
schnell bei mir im Laden.» Etwa<br />
gleich schnell zog er dann die Schürze<br />
aus, überliess das Geschäften seiner<br />
Frau Rösli, um mit einer schnellen<br />
Fahrt den Bahnrekord wieder ins<br />
Dorf zu holen.<br />
Fällt der Name seiner Frau, leuchten<br />
Nino Bibbias Augen. Die hübsche<br />
und fröhliche Walliserin hatte es ihm<br />
sofort angetan. Mit ihr zusammen<br />
hat er vier Kinder, mit ihr zusammen<br />
geniesst er heute seine sechs Enkelkinder.<br />
Nino Bibbia: «Ihr verdanke<br />
ich all die Zeit, die ich dem Sport<br />
widmen konnte. Sie hat mir den Rücken<br />
dafür freigehalten!». Marcella<br />
Maier mischt sich ein und meint mit<br />
einem Augenzwinkern: «Rösli ahnte<br />
In Erinnerungen schwelgen an die Olympiade vor 60 Jahren: Marcella Maier und Nino Bibbia schauen Fotos von früher<br />
an und haben viel zu erzählen. Foto: Susanne Bonaca<br />
wohl schon beim Hochzeitsgeschenk,<br />
eine Fahrt im Bobschlitten von<br />
St. Moritz nach Celerina, worauf sie<br />
sich eingelassen hatte!». Ein Vergnügen,<br />
das das Paar bis zum 50. Hochzeitstag<br />
jährlich wiederholte. Die<br />
beiden Alteingesessenen lachen, die<br />
Erinnerungen verbinden.<br />
Nicht nur die Erinnerungen verbinden:<br />
Marcella Maier feiert immer<br />
dann ihren Geburtstag, wenn<br />
Bibbias – im nächsten Jahr zum 60.<br />
Male – ihren Hochzeitstag begehen.<br />
Schnee, Material und Doping<br />
Geblieben ist der ehemaligen<br />
Mitarbeiterin des Kurvereins von<br />
der Olympiade nicht nur die grosse<br />
Arbeitsbelastung, sondern auch Geschichten<br />
am Rande. Geschichten,<br />
die neben dem sportlichen Geschehen<br />
einen solchen Grossanlass unvergesslich<br />
machen. Der damalige<br />
Kurdirektor Peter Kasper schickte<br />
sie aus dem Büro, um den Einzug der<br />
Olympiadelegationen mitzuerleben.<br />
Zuvorderst der einheimische Fahnenträger<br />
Murezzan Andreossi, von<br />
allen nur Mezzi gerufen. Hinter ihm<br />
die Delegation aus Griechenland, bestehend<br />
aus zwei Alpinen. Auffallend<br />
gross die Beteiligung der Amerikaner<br />
in ihren schicken Uniformen und<br />
mit dem neusten Material. Daneben<br />
wirkten die krieggeschüttelten Österreicher<br />
und Finnen ärmlich. Vor<br />
allem an die nicht unbedingt wintertaugliche<br />
Bekleidung der östlichen<br />
Nachbarn kann sie sich gut erinnern:<br />
«Die armen Athleten froren darin<br />
dermassen erbärmlich», erinnert sie<br />
sich, «dass wir vom Kurverein ihnen<br />
jeweils von unserem auch nicht gerade<br />
grossen Salär einen warmen<br />
Kaffee bezahlten.»<br />
Das Olympiafieber machte auch<br />
vor ihrem Privathaushalt nicht<br />
Halt. Nach grossen Schneefällen<br />
läutet nachts um zwei Uhr das Telefon.<br />
«Mein Mann Duri war im SAC,<br />
die Organisatoren brauchten jeden<br />
verfügbaren Mann, um die Strecke<br />
für den Patrouillenlauf zu spuren.»<br />
Keine Angst vor der Lawinengefahr?<br />
Versonnen lächelt sie: «Nein.<br />
Mein Mann konnte den Schnee riechen.»<br />
Zu erzählen hatte er dann<br />
beim Heimkommen doch noch eine<br />
Geschichte: Das Ziel des Patrouillenlaufs<br />
war auf dem Julierpass. Da<br />
angekommen, erblickte die SAC-<br />
Truppe unter den Schneemassen<br />
ein fast eingeschneites Auto, Marke<br />
Topolino. Darin ein frierendes Paar,<br />
das unbedingt an die Wettkämpfe<br />
in St. Moritz wollte. Um sie nicht<br />
der Gefährdung des morgendlichen<br />
Pfadschlittens auszusetzen, schaufelten<br />
die Männer das kleine Gefährt<br />
aus. Mit aufmunternden Worten über<br />
ihre baldige Rettung durch den Strassendienst<br />
liessen sie die Gestrandeten<br />
danach mit gutem Gewissen in<br />
der verschneiten Landschaft zurück.<br />
Neben dem spürbaren Gefühl der<br />
Lebensfreude für jene Zeit nach dem<br />
Krieg hört man bei beiden Erzählern<br />
auch viel über dieses einmalige<br />
Gefühl der Zusammengehörigkeit<br />
heraus. Grenzüberschreitend. «Waren<br />
wir während dem Wettkampf<br />
auch Konkurrenten, im Anschluss<br />
herrschte wieder das grosse Gefühl<br />
der Kameradschaft», bestätigt der<br />
Olympiasieger den Eindruck. Dass<br />
das Ende dieser farbigen, fröhlichen<br />
und lebensbejahenden Zeit auch<br />
Wehmut hinterliess versteht sich von<br />
selbst.<br />
War in jenen Jahren Doping auch<br />
schon ein Thema? Marcella Maier<br />
und Nino Bibbia schauen sich verschwörerisch<br />
an. «Rasümada», platzen<br />
sie lachend heraus. Wie bitte?<br />
Das Rezept dafür ist schnell aufgezählt:<br />
«Man nehme ein verquirltes Ei<br />
und gebe einen guten Schluck Rotwein<br />
dazu...!».