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10 ULTIMO<br />
SMALLER THAN LIFE<br />
Tom Tykwer über »Cloud Atlas« und warum das Leben größer ist als wir es sind<br />
David Mitchells Roman wurde als<br />
unverfilmbar gesehen…<br />
Wenn man ein Buch so liebt, ist es<br />
nicht einfach, eine filmische Form zu<br />
finden, die eine für das Medium entsprechende,<br />
eigensinnige Ästhetik<br />
entwickelt und trotzdem der Essenz<br />
treu bleibt, die das Buch so aufregend<br />
macht. Wir wollten, dass die Liebhaber<br />
der Vorlage durch den Film neuartig,<br />
aber dennoch befriedigt auf den<br />
Stoff blicken können und eine Form<br />
finden, die auch den Autoren glücklich<br />
macht. Wir haben uns schon früh<br />
geschworen, dass wir unser Drehbuch<br />
zuallererst David Mitchell vorlegen.<br />
Wenn es ihm nicht gefallen hätte,<br />
hätten wir den Film so nicht gemacht.<br />
Der Film hat eine vollkommen andere<br />
Erzählstruktur als der Roman.<br />
Das Buch wandert pyramidisch in elf<br />
Kapiteln durch die sechs Epochen.<br />
Aber so kann man keinen Film aufbau-<br />
Tom Tykwer (re.) mit Andy und Lana<br />
Wachowski<br />
en. Da würde man einen halbstündigen<br />
Block in einer Welt verbringen,<br />
um dann wieder in eine andere wechseln<br />
zu müssen. Das wäre für unsere<br />
Sehgewohnheiten zu anstrengend.<br />
Nach eineinhalb Stunden will man<br />
nicht noch einmal neue Leute kennen<br />
lernen, sondern in die Geschichte verstrickt<br />
sein. Deshalb haben wir die einzelnen<br />
Erzählungen aufgesplittet und<br />
ineinander verzahnt. Als wir begannen,<br />
das Drehbuch zu schreiben, haben<br />
wir erst einmal alle unsere Lieblings-Momente<br />
und -Szenen aus dem<br />
Roman auf Karteikarten geschrieben.<br />
Irgendwann war der ganze Boden damit<br />
übersäht, aber dadurch haben wir<br />
viele Verbindungen zwischen den verschiedenen<br />
Figuren und Zeitebenen<br />
entdeckt und erkannt, wo eine Geschichte<br />
bestimmte Punkte einer anderen<br />
aufnimmt und weitererzählt.<br />
Was steht hinter der Entscheidung<br />
dieselben Schauspieler in unterschiedlichen<br />
Rollen auf<br />
den verschiedenen Zeitebenen<br />
einzusetzen?<br />
Der Schlüssel zu einer kohärenten<br />
Erzählform war, in jeder<br />
Epoche mit demselben Ensemble<br />
zu arbeiten. Dadurch entstand<br />
die Verbindung der Figuren<br />
durch die Jahrhunderte hindurch,<br />
die Mitchell in seinem<br />
Roman andeutet – eine eher sä-<br />
kular zu lesende Art der Reinkarnation<br />
in Form von genetischen Strängen,<br />
die eine Evolution durchmachen. Das<br />
haben wir aufgenommen, und so war<br />
jeder Schauspieler ein genetischer<br />
Strang, der sich durch die evolutionäre<br />
Entwicklung hangelt. Tom Hanks’<br />
Figur etwa fängt als Übeltäter an und<br />
entwickelt sich über einige Um- und<br />
Irrwege zum Helden und Retter der<br />
Menschheit.<br />
Wie würden Sie den gemeinsamen<br />
inhaltlichen Nenner der verschiedenen<br />
Erzählstränge beschreiben?<br />
Der Film ist eine Untersuchung unserer<br />
menschlichen Natur, unserer Neigungen<br />
und der Fallen, in die wir immer<br />
wieder tappen. Es gibt in uns die<br />
Sehnsucht nach einer besseren Welt.<br />
Wir streben nach einem wissenschaftlichen,<br />
moralischen oder auch emotionalen<br />
Fortschritt und arbeiten gleichzeitig<br />
daran, dass wir durch das, was<br />
wir erreicht haben, wieder zurückgebombt<br />
werden. Dennoch glaube ich,<br />
dass wir in diesem Wiederholungsmantra<br />
auch immer ein kleines<br />
bisschen vorwärts kommen.<br />
Im Film durchdringen sich Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft unaufhörlich<br />
und ein Kernsatz lautet<br />
„Unser Leben gehört nicht uns<br />
allein“.<br />
Die Welt entwickelt sich eigentlich immer<br />
mehr hin zu einer teilenden, ge-<br />
Szenenwechsel als Erzählprinzip: „Cloud Atlas“<br />
meinschaftlichen Lebensform. Natürlich<br />
gibt es immer noch krasse Diskrepanzen,<br />
aber auch deutliche Tendenzen,<br />
die darauf hinweisen, dass wir in<br />
Zukunft bezogener und vernetzter miteinander<br />
agieren werden. Cloud Atlas<br />
ist in jeder Beziehung ein Prototyp für<br />
diese Haltung, weil hier permanent<br />
unterschiedliche Perspektiven, Epochen<br />
und Ästhetiken zusammengefügt<br />
werden. Das gilt auch für den Herstellungsprozess<br />
des Filmes, den wir<br />
ja mit drei Regisseuren kollaborativ<br />
realisiert haben. Das Ego, das immer<br />
so stark mit künstlerischer Produktion<br />
verbunden wird, ist gerade in der<br />
Filmkunst eine überholte Vorstellung.<br />
Natürlich ist es wichtig individuelle<br />
Akzente zu setzen, aber heute<br />
entsteht Kunst vor allem aus dem<br />
Diskurs und der Auseinandersetzung<br />
mit Anderen.<br />
Der Film beweist Mut zum Pathos.<br />
Pathos ist natürlich ein etwas suspekter<br />
Begriff, aber eine bestimmte Geste<br />
der Hingabe, Leidenschaftlichkeit<br />
und Inbrunst gehört für mich zwingend<br />
zum Kino dazu. Durch solche Momente,<br />
in denen Filme eine Überhöhung<br />
wagen, die aberwitzig und trotzdem<br />
gelungen erscheint, habe ich das<br />
Kino für mich entdeckt. Wenn man genug<br />
Ernsthaftigkeit vorbaut, kann<br />
man es an bestimmten Stellen riskieren,<br />
eine große emotionale Intensität<br />
zu erzeugen, wie wir sie nun einmal<br />
im Kino suchen. Wir wollen dort ja auf<br />
eine Art mitgerissen werden, die uns<br />
im wirklichen Leben fehlt.<br />
Interview: Martin Schwickert<br />
CLOUD ATLAS<br />
<strong>Schmetterlings</strong><strong>effekt</strong><br />
Ein ambitionierter Fantasy-Film<br />
über Musik, Seele, Verantwortung<br />
und den Sinn des Lebens<br />
D<br />
er fast 700 Seiten starke Kultroman<br />
Wolkenatlas von David Mitchell<br />
gehörte in die Kategorie<br />
„besonders unverfilmbar“.Die Leinwandversion<br />
von Tom Tykwer und<br />
den Wachowski-Geschwistern präsentiert<br />
sich mit 172 Filmminuten<br />
als komplexes Kinoepos, das mit einer<br />
hochkarätigen Besetzung von<br />
Tom Hanks über Halle Berry bis zu<br />
Hugh Grant und Susan Sarandon<br />
nach dem ganz großen Weltkinopublikum<br />
schielt. Bis zu sechs Rollen<br />
musste jeder Hauptdarsteller spielen,<br />
denn das Erzählkonzept ist hier<br />
auf sechs verschiedenen Zeitebenen<br />
angesiedelt, die parallel geführt und<br />
eng miteinander verwoben werden.<br />
Auf einem Segelschiff im Pazifik<br />
kreuzen sich 1849 die Wege eines bri-