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Faust im Visier des Geheimdienstes (PDF) Neufassung

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Hans Andres Jörg Schön<br />

<strong>Faust</strong> – <strong>im</strong> <strong>Visier</strong> <strong>des</strong> Gehe<strong>im</strong>dienstes<br />

Betrachtungen der Quellentexte und Indizien zum historischen <strong>Faust</strong><br />

aus der Sicht <strong>des</strong> 21. Jahrhunderts<br />

Stand: Dez. 2012<br />

Copyright beachten! Die Rechte der Verwertung liegen be<strong>im</strong> Autor!<br />

Weitere Werke <strong>des</strong> Autors <strong>im</strong> Internet unter:<br />

faust <strong>im</strong> narrenschiff


Vorwort<br />

Johann Georg <strong>Faust</strong> wurde um 1480 in Knittlingen geboren, um 1540 starb er bei<br />

Staufen <strong>im</strong> Breisgau eines gewaltsamen To<strong>des</strong>.<br />

Gestützt auf Publikationen von Günther Mahal, Wolfgang Behringer, Heinz Scheible,<br />

Claus Priesner, Hartmut Boockmann, Heinz Schilling, Heinz Scheible, Brian P. Levack<br />

u. v. a. werden die Quellentexte und Indizien zum historischen <strong>Faust</strong> neu betrachtet.<br />

Elf Jahre hindurch – von 2001 bis 2012 – beschäftigte ich mich mit der Person jenes<br />

Johann Georg <strong>Faust</strong>. Das Resultat war eine Reihe erstaunlicher Erkenntnisse; die<br />

Entdeckung, dass es sich bei dem Trithemius-Brief um ein gehe<strong>im</strong>dienstliches<br />

Schreiben handelt, ist eine davon. Nachdem der Trithemius Brief in der <strong>Faust</strong>forschung<br />

von schlechthin zentraler Bedeutung ist, steht die Entschlüsselung <strong>des</strong><br />

Briefes am Anfang meiner Essays rund um den historischen <strong>Faust</strong>.<br />

Die Essay-Sammlung liegt nicht als Buch vor; sie ist als „offenes Projekt“ gedacht.<br />

Zwar habe ich die Thematik intensiv bearbeitet, dennoch betrachte ich den Katalog<br />

von Fragen rund um den historischen <strong>Faust</strong> keineswegs als erledigt.<br />

Bei der Suche nach Antworten auf die Frage „Wer war dieser legendenumwobene<br />

Doktor <strong>Faust</strong>us?“ geht es nicht allein um jenen „Dr. <strong>Faust</strong>us“, es geht auch um die<br />

Welt, in der er lebte. Und Betrachtungen seiner Person sind nur sinnvoll, so das ganze<br />

Spektrum <strong>des</strong> Späten Mittelalters miteinbezogen wird.<br />

Die uns überlieferten Zeugnisse zur Person <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us durch die Brille <strong>des</strong> Heute<br />

betrachtet, liefern nicht nur ein schiefes Bild, aufschlussreiche Informationen bleiben<br />

verborgen.<br />

Die Einbeziehung <strong>des</strong> Späten Mittelalters – oder auch Frühen Neuzeit, entführt den<br />

Leser in eine Welt, die er <strong>im</strong> Allgemeinen so noch nicht kannte. Sie hat wenig mit<br />

stolzen Burgen, machtvollen Kaisern zu tun, und bald gar nichts mit den Ausstellungsstücken<br />

entsprechender Museen; es ist eine Zeit, die sich unserem Verständnis fast<br />

gänzlich entzieht.<br />

Dass man sich bei näherer Betrachtung nicht wenige Male an das Heute erinnert fühlt,<br />

bzw. zeitlose Analogien feststellt, sind kein Widerspruch und auch kein Rätsel, mit dem<br />

der Leser allein gelassen bleibt. Wie schnell der moderne Mensch sich zu einem<br />

mittelalterlichen Menschen wandelt, ist ein Sachverhalt, der in einzelnen Essays direkt<br />

angesprochen wird.<br />

Entsprechend der thematischen Verzahnung kommt es in den Essays zu inhaltlichen<br />

Überschneidungen.<br />

Die Fülle an Material, die allerdings literarisch aufbereitet dem Leser nur so zufliegt,<br />

erweist sich rasch als inhaltsstarke Kost. Von daher ist es ratsam, sich pro Lesesequenz<br />

mit jeweils einem Essay zu begnügen. Und jenen, deren Geschichtskenntnisse<br />

eher dürftig sind, die gleichsam Berührungsängste haben, ihnen sei gesagt,<br />

die Kapitel müssen nicht zwingend nacheinander gelesen werden. Man kann sich aus<br />

dem Inhaltsverzeichnis die kurzen Kapitel picken und sich warmlaufen.<br />

Die Essays sind nicht lektoriert.<br />

*<br />

2


„<strong>Faust</strong> – <strong>im</strong> <strong>Visier</strong> <strong>des</strong> Gehe<strong>im</strong>dienstes“ umfasst folgende Essays:<br />

Neun wissenschaftlich anerkannte Quellentexte* und zwölf Indizien* / 5<br />

* Die Rechte der Verwertung sind frei.<br />

„Objektiv!“ Eine Historikerin hat Bedenken / 11<br />

<strong>Faust</strong> – <strong>im</strong> <strong>Visier</strong> <strong>des</strong> Gehe<strong>im</strong>dienstes / 11<br />

Johannes Virdung – die Spinne <strong>im</strong> Netz / 22<br />

<strong>Faust</strong> in Kreuznach – der Schulmeister am Glockenseil / 29<br />

Medicus <strong>Faust</strong>, in der Blütezeit der Pflanzenheilkunde / 30<br />

Nachhall einer Provokation – die Entwicklung der <strong>Faust</strong>-Literatur / 38<br />

Magdalena Bock, Kräuterweib und Zauberfrau / 40<br />

Melanchthons Bekanntschaften rund um <strong>Faust</strong> / 45<br />

Melanchthon schweigt / 49<br />

Die kleinen Hausfreunde – auf dem Bücherbrett / 59<br />

„Kuntling“ <strong>im</strong> Staatsarchiv / 59<br />

<strong>Faust</strong> tritt auf – <strong>im</strong>mer situationsgerecht / 64<br />

„Tuus <strong>Faust</strong>us“ – <strong>Faust</strong> polarisiert die Oberschicht / 74<br />

S<strong>im</strong>on Magus, „Urfaust“ und „Urketzer“ / 78<br />

„… wer aber weissagt, der erbaut die Gemeinde.“ / 79<br />

Astrologie, die große Hure / 84<br />

Nachtsitzungen – <strong>Faust</strong> in ersten Kreisen der Gesellschaft / 93<br />

„Doctor iuris utriusque“ – die Entwicklung <strong>des</strong> Rechts / 103<br />

Chinthugh bei Bagdad – über den Umgang mit Urkunden / 108<br />

Der Mann aus dem Nebel / 109<br />

Knittlingen verliert die ersten zwei Indizien / 110<br />

Textbausteine für Knittlingen / 115<br />

Vorsicht! <strong>Faust</strong>-Falle! / 118<br />

Geboren, verstorben, verweht / 120<br />

Till kommt nach Knittlingen / 121<br />

„Typisch deutsch!“ / 122<br />

Eine Instrumentalisierung / 124<br />

Geschichtsfälschung auf protestantisch / 133<br />

„Übles Hausen“ / Gehe<strong>im</strong>niskrämerei um Abt Entenfuß / 140<br />

Eine Straße für ein Leben – Knittlingen an der Heerstraße / 140<br />

Bilder aus dem Unterbewusstsein – die Welt <strong>des</strong> Übersinnlichen / 142<br />

„Grüß Gott! Ich bin der Teufel!“ / 147<br />

Kurzinformation zur Luther-Bibel / 149<br />

„Canon Episcopi“ / 150<br />

„Du bist in widerzeme - Hegxe gar ungeneme“ / 151<br />

„Exorzist spricht von Teufelsangriff auf Papst“ / 153<br />

Mit Platon auf dem Kutschbock? / 154<br />

Ein Klosterschüler? / 157<br />

Hexen und Heiler / 161<br />

Gegendarstellung / 163<br />

Schattenboxen – die heile Welt der frühen Humanisten / 168<br />

Der Reuchlin-Streit / 174<br />

Kein vortrefflicher Regent / 177<br />

Skandal in Erfurt / 181<br />

<strong>Faust</strong> auf Reisen / 188<br />

Der Zauberschrank von Knittlingen / 196<br />

Ein Fre<strong>im</strong>aurer „erkennt“ den Schrank <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us / 201<br />

Das <strong>Faust</strong>haus ist kein <strong>Faust</strong>haus / 203<br />

Eilt---Eilt---Eilt--- / 203<br />

Katholisch oder Lutherisch / 204<br />

„… hette befehl getan - das man jn fangen sollte.“ / 205<br />

Etikettenschwindel / 209<br />

3


Narrenfreiheit für <strong>Faust</strong> – Blasphemie bleibt ungestraft / 210<br />

War <strong>Faust</strong> ein Telepath? / 216<br />

Begardi vernichtete <strong>Faust</strong> – Der Mord, der ein Selbstmord war / 228<br />

<strong>Faust</strong> – ein Leben in der Sternenschale 236<br />

Begleittexte<br />

Menschenopfer / 237<br />

Eine Teufelsanbetung / 243<br />

Die Katastrophenhysterie / 244<br />

Juden, Ketzer, Republikaner, Hexen / 245<br />

Eine Spekulation / 258<br />

„Melanchthons Briefwechsel“ – eine Nachlese / 258<br />

Erklärung <strong>des</strong> Autors / 284<br />

Dankworte / 284<br />

Copyright beachten! Die Rechte der Verwertung liegen be<strong>im</strong> Autor!<br />

4


Neun wissenschaftlich anerkannte Quellentexte<br />

Quellentexte erfüllen jene Kriterien, um seitens der Wissenschaft als Zeugnisse dafür<br />

anerkannt zu werden, dass <strong>Faust</strong> tatsächlich gelebt hat.<br />

Brief <strong>des</strong> Johannes Trithemius (Abt bei St.Jakob in Würzburg) an Johann Virdung<br />

(Mathematiker in Hassfurt und Hofastrologe zu Heidelberg), 20. 08. 1507<br />

Jener Mensch, über welchen du mir schreibst, Georg Sabellicus, welcher sich den<br />

Fürst der Nekromanten zu nennen wagte, ist ein Landstreicher, leerer Schwätzer und<br />

betrügerischer Strolch, würdig ausgepeitscht zu werden, damit er nicht ferner mehr<br />

öffentlich verabscheuungswürdige und der heiligen Kirche feindliche Dinge zu lehren<br />

wage. Denn was sind die Titel, welche er sich anmaßt, anders als Anzeichen <strong>des</strong><br />

dümmsten und unsinnigsten Geistes, welcher zeigt, dass er ein Narr und kein<br />

Philosoph ist? So machte er sich folgenden ihm konvenierenden Titel zurecht:<br />

Magister Georg Sabellicus (Nachkomme der Sabiner, italischer Volkstamm, der<br />

Weissagungen gerühmt), <strong>Faust</strong> der Jüngere, Quellbrunn der Nekromanten<br />

(Weissagung mit Hilfe herauf beschworener Toter), Astrolog, Zweiter der Magie,<br />

Chiromant (Handliniendeuter), Aeromant (Wahrsagung mit Hilfe von<br />

Lufterscheinungen), Pyromant (Wahrsagung aus dem Verhalten von (Opfer-) Feuer),<br />

Zweiter in der Hydromantie (Zukunftsdeutung aus Erscheinungen in und auf<br />

glänzendem Wasser). – Siehe die törichte Verwegenheit <strong>des</strong> Menschen; welcher<br />

Wahnsinn gehört dazu, sich die Quelle der Nekromantie zu nennen! Wer in Wahrheit<br />

in allen guten Wissenschaften unwissend ist, hätte sich lieber einen Narren denn einen<br />

Magister nennen sollen. Aber mir ist seine Nichtswürdigkeit nicht unbekannt. Als ich <strong>im</strong><br />

vorigen Jahre aus der Mark Brandenburg zurückkehrte, traf ich diesen Menschen in<br />

der Nähe der Stadt Gelnhausen an, woselbst man mir in der Herberge viele von ihm<br />

mit großer Frechheit ausgeführte Nichtsnutzigkeiten erzählte. Als er von meiner<br />

Anwesenheit hörte, floh er alsbald aus der Herberge und konnte von niemand<br />

überredet werden, sich mir vorzustellen.<br />

Wir erinnern uns auch, dass er uns durch einen Bürger die schriftliche Aufzeichnung<br />

seiner Torheit, welche er dir gab, überschickte.<br />

In jener Stadt erzählten mir Geistliche, er habe in Gegenwart vieler gesagt, dass er ein<br />

so großes Wissen und Gedächtnis aller Weisheit erreicht habe, dass, wenn alle Werke<br />

von Plato und Aristoteles samt all` ihrer Philosophie durchaus aus der Menschen<br />

Gedächtnis verloren gegangen wären, er sie wie ein zweiter Hebräer Esra durch sein<br />

Genie sämtlich und vorzüglicher als vorher wieder herstellen wolle. Als ich mich später<br />

in Speier befand, kam er nach Würzburg und soll sich in gleicher Eitelkeit gerühmt<br />

haben, dass die Wunder unseres Erlösers Christi nicht anstaunenswert seien; er<br />

könne alles tun, was Christus getan habe, so oft und wann er wolle. In den Fasten<br />

diese Jahres kam er nach Kreuznach, wo er sich in gleicher großsprecherischer Weise<br />

ganz gewaltiger Dinge rühmte und sagte, dass er in der Alchemie von allen, die je<br />

gewesen, der Vollkommenste sei und wisse und könne, was nur die Leute wünschten.<br />

Während dieser Zeit war die Schulmeisterstelle in gedachter Stadt unbesetzt, welche<br />

ihm auf Verwendung von Franz von Sickingen, dem Amtmann deines Fürsten, einem<br />

nach mystischen Dingen überaus gierigen Manne, übertragen wurde. Aber bald darauf<br />

begann er mit den Knaben, die schändlichste Unzucht zu treiben und entfloh, als die<br />

Sache ans Licht kam, der ihm drohenden Strafe. Das ist es, was mir nach dem<br />

sichersten Zeugnis von jenem Menschen fest steht, <strong>des</strong>sen Ankunft du mit so großem<br />

Verlangen erwartest.<br />

Am 3. Oktober 1513 schreibt Conradus Mutianus (Humanist und Privatgelehrter zu<br />

Gotha) an Heinrich Urbanus (Hofmeister, d. h. Verwalter, der Besitzungen <strong>des</strong><br />

Klosters Georgenthal in Erfurt):<br />

Vor acht Tagen kam ein Chiromant nach Erfurt, namens Georgius <strong>Faust</strong>us Helmitheus<br />

Hedelbergensis, ein bloßer Prahler und Narr. Seine Kunst, wie die aller Wahrsager, ist<br />

5


eitel und eine solche Physiognomie leichter als eine Wasserspinne. Die Menge staunt.<br />

Gegen ihn sollten sich die Theologen erheben, statt dass sie den Philosophen<br />

Reuchlin wegen seines „Augenspiegel“ (gelehrte Streitschrift gegen die beabsichtigte<br />

Verbrennung rabbinischer Schriften) zu vernichten suchen. Ich hörte ihn <strong>im</strong> Wirtshaus<br />

schwatzen; ich habe seine Anmaßung nicht gestraft; was kümmert mich fremde<br />

Torheit?<br />

Eintrag <strong>des</strong> Kammermeisters Muller <strong>im</strong> Rechnungsbuch <strong>des</strong> Fürstbischofs Georg III.<br />

von Bamberg am 12. 2. 1520<br />

Item X (zehn) Gulden geben vnd geschenckt Doctor <strong>Faust</strong>us ph(ilosoph)o zuvererung<br />

hat m(einem) g(nedigen) herren ein nativitet (Horoskop nach Geburtsstunde) oder<br />

Indicium (Weissagung) gemacht, zalt am Sontag nach stolastice Jussit<br />

R(everendissi)mus.<br />

Ratsprotokoll von Ingolstadt, 17. 6. 1528<br />

Anheut mitwoch nach Viti anno 1528 dem warsager soll befolchen werden, dz er zu<br />

der stat ausziech und seinen pfennig anderswo verzer.<br />

Am mitwoch nach Viti anno 1528. Ist ainem der sich genant Doctor Jörg <strong>Faust</strong>us von<br />

Haidlberg gesagt, dz er seinen pfennig anderswo verzer, und hat angelobt, solche<br />

eruordnung für die obrigkeiht nit zu anthen noch zu äffern.<br />

Eintragung <strong>des</strong> Rebdorfer Priors Kilian Leib in das Wettertagebuch, Juli 1528<br />

Georgius <strong>Faust</strong>us helmstet, sagte am 5. Juni: wann Sonne und Jupiter <strong>im</strong> gleichen<br />

Grad eines Sternzeichen stehen, dann werden Propheten geboren (vielleicht wie<br />

seinesgleichen). Er versicherte, dass er Komtur oder Lehrer eines kleinen<br />

Ordenshauses der Johanniter an der Grenze Kärntens gelegen sei, namens<br />

Hallestein.<br />

„(vielleicht wie seinesgleichen)“ ist Bestandteil der Notiz.<br />

Ratsbeschluss der Stadt Nürnberg, 1532<br />

Doctor <strong>Faust</strong>o, dem grossen Sodomitten und Nigromantico zu furr, glait ablainen.<br />

Burg(ermeister) Ju(ni)or.<br />

(… zu Fürth, Geleit ablehnen.)<br />

Brief <strong>des</strong> Joach<strong>im</strong> Camerarius (Professor in Tübingen, Freund Philipp Melanchthons)<br />

an Daniel Stibarius (Domherr und Richter in Würzburg), 13. 8. 1536<br />

Vor den Nonen (diesen Monat, vor kurzem) habe ich eine sehr traurige Nacht<br />

verbracht, als Luna <strong>im</strong> Sternbild der Fische zu Mars in Opposition stand. Dein <strong>Faust</strong><br />

nämlich veranlasst mich, dass es beliebt, mit dir das zu erörtern; wenn er dich doch<br />

lieber ein bisschen von dieser Kunst gelehrt haben möchte, die er mit etwas Wind <strong>des</strong><br />

nichtigsten Aberglaubens aufgeblasen, oder ich weiß nicht welcher Gaukelei<br />

aufrechterhalten haben möchte. Aber was sagt uns jener endlich?<br />

Und was noch? Ich weiß nämlich, dass du dich sorgfältig nach allem erkundigt hast.<br />

Siegt der Kaiser? So muß es freilich geschehen.<br />

Philipp Begardi (Stadtarzt in Worms) <strong>im</strong> Kapitel über ungelehrte und trughaftige Ärzte<br />

in seinem „Index sanitatis“, dem „Zeyger der gesundtheyt“, Worms 1539<br />

Es wirt noch eyn namhafftiger dappferer mann erfunden: ich wolt aber doch seinen<br />

namen nit genent haben, so will er auch nit verborgen sein, noch vnbekannt. Dann er<br />

ist vor etlichen jaren vast durch alle landtschafft, Fürstenthuomb vnnd Königreich<br />

gezogen, seinen namen jederman selbst bekannt gemacht, vnd seine grosse kunst, nit<br />

alleyn der arztnei, sonder auch Chiromancei, Nigramancei, Visionomei, Visiones <strong>im</strong>m<br />

Christal, vnd dergleichen mer künst, sich höchlich berümpt. Vnd auch nit alleyn<br />

berümpt, sondern sich auch eynen berümpten vnd erfarnen meyster bekant vnnd<br />

geschrieben. Hat auch selbs bekant, vnd nit geleugknet, dass er sei, vnnd heyß<br />

<strong>Faust</strong>us, domit sich geschriben Philosophum Philosophorum etc. Wie vil aber mir<br />

6


geklagt haben, dass sie von jm seind betrogen worden, deren ist eyn grosse zal<br />

gewesen. Nuon sein verheyssen ware auch groß, wie <strong>des</strong> Tessali (großsprecherischer<br />

Wanderarzt <strong>im</strong> alten Griechenland): dergleichen sein rhuom, wie auch <strong>des</strong> Theophrasti<br />

(Paracelsus, 1493 - 1541): aber die that, wie ich noch vern<strong>im</strong>m, vast kleyn vnd<br />

betrüglich erfunden: doch hat er sich <strong>im</strong>m gelt nehmen, oder empfahen – das ich auch<br />

recht red – nit gesaumpt, vnd nachmals auch <strong>im</strong>m abzugk, er hat, wie ich beracht, vil<br />

mit den ferßen gesegnet. Aber was soll man nuon darzuothuon, hin ist hin, ich wil es<br />

jetzt auch do bei lassen, luog du weiter, was du zuschicken hast.<br />

Brief <strong>des</strong> Konquistators Philipp von Hutten an Moritz von Hutten, 15.1.1540<br />

Hie habt ihr von allen Gubernationen ein wenig, damit ihr sehet, dass wir hie in<br />

Venezola nicht allein bißher unglücklich gewest sein, diese alle obgemelte Armata<br />

verdorben seind jnnerhalb 3. Monathe, vor und nach uns zu Sevilla ausgefahren, dass<br />

ich bekennen muß, dass es der Philosophus <strong>Faust</strong>us schier troffen hat (Horoskop für<br />

die Reise), dann wir ein fast bößes Jahr antroffen haben, aber Gott hab Lob ist uns<br />

fast unter allen andern am besten gangen.<br />

(Venezola, Venezuela; Kleinvenedig, bezogen auf von ein indianisches Küstendorf auf<br />

Pfählen)<br />

*<br />

Zwölf Indizien<br />

Indizien sind Berichte aus zweiter Hand, Notizen ohne Datum und Unterschrift,<br />

Gegenstände mit ungeklärten Begleitumständen.<br />

Martin Luther in seinen Reden bei Tisch, nach 1530 bzw. <strong>im</strong> Juni / Juli 1537<br />

Da vber Tisch zu abends eines Schwartzkünstlers <strong>Faust</strong>us genant gedacht ward,<br />

saget Doctor Martinus ernstlich, der Teufel gebraucht der zeuberer dienst wider mich<br />

nicht, hette er mir gekont vnd vermocht schaden zu thun, er hette es lange gethan. Er<br />

hat mich wol offtmals schon bey dem kopff gehabt, aber er hat mich dennoch mussen<br />

gehen lassen. Multa dicebant de <strong>Faust</strong>o, welcher den Teufel seynen schwoger hies,<br />

und hat sich lassen horen, wen ich, Martin Luther, ihm nur die handt gereycht hette,<br />

wolt er mich vorterbet haben; aber ich wolde in nicht geschawet haben.<br />

Johannes Manlius, ein Schüler Philipp Melanchthons in Wittenberg, gibt 1563, drei<br />

Jahre nach Melanchthons Tod, die „Locorum communium Collectanea“ in Druck.<br />

„Schöne ordentliche Aufteilung“ heißt die deutsche Übersetzung, die 1565 auf den<br />

Markt kommt.<br />

In einem Kapitel notiert er, was er als Student in Wittenberg von Melanchthon über<br />

<strong>Faust</strong> erfuhr. „Ich hab einen gekennet / mit nammen <strong>Faust</strong>us von Kundling – ist ein<br />

kleines stettlein / nicht weit von meinem Vatterland, derselbige da er zu Crockaw in die<br />

Schul gieng / da hatte er die Zauberey gelernet / wie man sie dann vor zeiten an dem<br />

ort sehr gebraucht / auch öffentlich solche kunst geleeret hat. Er gieng hin vnd wider<br />

allenthalben / vnd sagte viel verborgene ding. Er wolt eins mals zu Venedig ein<br />

schawspiel anrichten / vnd sagte / er wollte hinauff inn H<strong>im</strong>mel fliegen. Alsbald füret in<br />

der Teuffel hinweg / vnd hat jn dermassen zermartert vnd zerstossen / das er / da er<br />

wider auff die Erden kam / vor todt da lag / Doch ist er das mal nicht gestorben.<br />

Vor wenig jaren ist derselbige Johannes <strong>Faust</strong>us / den tag vor seinem letzten ende / in<br />

einem Dorff in Wirtenberger landt gantz trawrig gesessen. Der Wirt fragt jn / Wie es<br />

keme / das er doch sonsten nicht pflegte – dann er war sonsten gar ein<br />

vnuerschämbter Vnflat / vnnd fürete gar uberauß ein bübisch leben / also / das er<br />

etliche mal schier vmbkommen were von wegen seiner grossen Hurerey. Da hat er<br />

zum Wirt gesagt: So er etwas in der nacht hören würde solt er nicht erschrecken. Vmb<br />

Mitternacht ist <strong>im</strong> Hause ein grosses getümmel worden. Des morgens wolte der <strong>Faust</strong>i<br />

nicht auffstehen. Vnd als es schier auff den Mittag kam / hat der Wirt etliche Menner<br />

zu jm genommen / vnd ist inn die Schlaffkammern gangen / darinn er gelegen ist / da<br />

7


ist er neben dem Bette todt gelegen gefunden / vnd hatte jm der teuffel dz angesicht<br />

auff den Rücken gedrehet / Bey seinem leben hatte er zween Hund mit jhm lauffen /<br />

die waren Teuffelen. Gleich wie der Vnflat / der das Büchlein geschrieben hat von der<br />

vergeblichkeit der künste (Wissenschaften) / der hatte auch allweg einen Hund mit jm<br />

lauffen / der war der Teuffel.<br />

Derselbige <strong>Faust</strong>us ist zu Wittenberg entrunnen / als der fromme vnd löbliche Fürst<br />

Hertzog Johannes hette befehl getan / das man jn fangen sollte. Deßgleichen ist er zu<br />

Nürnberg auch entrunnen. Als er vbers Mittagsmahl saß / ist jm heiß worden / vnd er<br />

ist von stundan auffgestanden / vnd hat den Wirt bezalt / was er jhm schüldig war / vnd<br />

ist daruon gegangen. Vnd als er kaum ist fürs thor kommen / waren Stadtknecht<br />

kommen / vnd hatten nach jhm gefraget.<br />

Derselbige <strong>Faust</strong>us der Zeuberer / vnnd ungeheurig Thier / vnd stinkend he<strong>im</strong>lich<br />

Gemach (Z<strong>im</strong>mer) <strong>des</strong> Teuffels / rhümete vnuerschemet / das alle Siege / die<br />

Keyserlicher Maiestet Kriegsuolck in Welschland (Ausland) gehabt hetten / die ware<br />

durch jhn mit seiner Zauberey zuwegen gebracht worden. Das ist eine erstunckene<br />

lügen / vnd nicht war. Solches sage ich aber von wegen der gemeinen jugent / auff<br />

das sie sich nicht von solchen losen Leuten verfüren vnd vberreden lassen.<br />

(„Gleich wie der Vnflat“, damit ist Agrippa von Netteshe<strong>im</strong> gemeint; er schrieb das<br />

Buch „De incertitudine et vanitate scientiarum“.)<br />

1564-1566 wird die Z<strong>im</strong>merische Chronik niedergeschrieben. Die Verfasser sind die<br />

Grafen Froben Christian und Wilhelm Werner von Z<strong>im</strong>mern, dazu ein Johannes Müller.<br />

„ …Es ist auch umb die zeit (<strong>des</strong> Reichstags zu Regensburg, 1541) der <strong>Faust</strong>us zu<br />

oder doch nit weit von Staufen, dem stettlin <strong>im</strong> Breisgew, gestorben. Der ist bei seiner<br />

zeit ein wunderbarlicher nigromanta gewest, als er bei unsern zeiten hat mögen in<br />

deutschen Landen erfunden werden, der auch sovil seltzamer hendel gehapt hat hin<br />

und wider, das sein in vil jaren nit leuchtlichen wurt vergessen werden. Ist ain alter<br />

mann worden und, wie man sagt, ellengclichen gestorben.<br />

Vil haben allerhandt anzeigungen und vermuetungen noch vermaint, der bös gaist,<br />

den er in seinen lebzeiten nur sein schwager genannt, habe ine umbbracht. Die<br />

büecher, die er verlasen, sein dem herren von Staufen, in <strong>des</strong>sen herrschaft er<br />

abgangen, zu handen worden, darumb doch hernach vil leut haben geworben und<br />

daran meins erachtens ein sorgclichen und unglückhaftigen schatz und gabe begehrt.<br />

Den münchen zu Lüxha<strong>im</strong> (nahe dem Ursprung der Mosel; heute: Luxeuil) <strong>im</strong><br />

Wassichin hat er ain gespenst in das closter verbannet, <strong>des</strong>en sie in vil jahren nit<br />

haben künden abkommen. Vnd sie wunderbarlich hat Molestiert. Allain der Vrsach,<br />

das sie Ine einsmals nit haben wellen vbernacht behalten. Darumb hat Er Inen den<br />

Vnruebigen gast geschafft. Zu gleich wie man sagt, das dem Vorigen Apt Von<br />

S:Diesenberg Auch Ain sollichs gespenst. Von ainem Neidigen Varenden schueler.<br />

Seye Zu gerusst vnnd Angehenckt worden.<br />

Das aber die praktik solcher Kunst nit allain gottlos, sonder zum höchsten sorgclich,<br />

das ist unlaugenbar, dann sich das in der erfarnus beweist, und wissen, wie es dem<br />

weitberüempten schwarzkünstler, dem <strong>Faust</strong>o, ergangen. Derselbig ist nach vilen<br />

wunderbarlichen sachen, die er bei seinem leben geiebt, darvon auch ain besonderer<br />

tractat wer zu machen, letzstlich in der herrschaft Staufen <strong>im</strong> Preisgew in großem alter<br />

vom bösen gaist umbgebracht worden…“<br />

In der Universitäts-Bilbliothek Freiburg befindet sich eine Ausgabe von „DE OCCULTA<br />

PHILOSOPHIA“ von Agrippa von Netteshe<strong>im</strong>, Band 3, aus dem Jahr 1533. Sie trägt<br />

einen handschriftlichen Eintrag: „<strong>Faust</strong>o de Knaitlingen…“<br />

Bei einer Hausrenovierung wird in Staufen ein Buch gefunden – zwei Bücher in einem:<br />

Der „QUADRANS APIANI“ von Ordinarius Petrus Apianus, gedruckt in Ingolstadt,<br />

1532, er behandelt Astronomie und Astrologie in lateinischer Sprache. Das zweite<br />

Buch ist von Sebastian Münster, gedruckt in Basel, 1537, es handelt über Sonne und<br />

Sonnenuhren, geschrieben in deutscher Sprache.<br />

8


Der Exlibris-Vermerk besagt, das Buch wurde 1537 von Nicolai von der Stroß aus<br />

Basel in Freiburg erworben.<br />

Gegenüber der Titelseite <strong>des</strong> „QUADRANS APIANI“ findet sich eine Notiz: „Zwanzig,<br />

zwanzig Jahr nahist wan“ (Zwanzig, zwanzig Jahre sind`s gewesen.) Die Unterschrift<br />

könnte man als „<strong>Faust</strong>“ lesen.<br />

1541 bringt der reformierte Pfarrer Johannes Gast seine Tischgespräche heraus, „die<br />

„SERMONES CONVIVALES“. Dort heißt es <strong>Faust</strong> betreffend unter anderem: „Als ich<br />

zu Basel mit <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Oberen Collegium speiste, gab er dem Koch Vögel<br />

verschiedener Art …“.<br />

(Man n<strong>im</strong>mt an, das könnte <strong>im</strong> Jahr 1525 gewesen sein.)<br />

Ein Verzeichnis der Maulbronner Äbte, zwischen 1680 und 1720 geschrieben:<br />

„Johannes Entenfuß de Elvishe<strong>im</strong>, electus a(nn)o 1521, + d. 4ten Februar. 1525,<br />

„iß Dr. <strong>Faust</strong>en deß Zeuberers Collega gewesen, welcher diesen zu Maulbronn<br />

besucht.“<br />

(Ein Zeitgenosse kritzelte daneben: „Sancta S<strong>im</strong>plicitas!“<br />

Die Jahresangabe 1521 ist ein Zahlendreher, Entenfuß wurde 1512 zum Abt gewählt.)<br />

1837 wird in Knittlingen, in einer Scheune vergraben, ein Hängeschrank entdeckt. Er<br />

ist als Davidstern gearbeitet, 28cm tief und 113cm hoch. Die Scheune gehörte zur<br />

Gerlach`schen Hofstelle, sie stand unmittelbar neben dem Haus der Gerlachs. Heute<br />

steht an dieser Stelle ein Gebäude, es wird als <strong>Faust</strong>s Geburtshaus gehandelt. Der<br />

Schrank wurde anschließend in diesem Haus aufgehangen. Er trägt aufgemalte<br />

alchemistische Symbole sowie als Intarsie aus Metall den Schriftzug „ELOHIM“.<br />

1922 wird in Knittlingen bei Umbauarbeiten in <strong>Faust</strong>s Geburtshaus in einer<br />

Türschwelle <strong>des</strong> ersten Stocks ein Astlochzapfen entdeckt. Als man ihn löst, kommt<br />

ein Lederbeutelchen zum Vorschein, darin ein 3,5cm auf 6cm großer Pergamentzettel.<br />

Darauf ist die bekannte AREPO-Formel notiert sowie eine Reihe von Kürzeln,<br />

vermutlich zwecks Herstellung einer Substanz.<br />

Am 3.3.1934 legt der Knittlinger Lehrer K. Weisert dem Bürgermeister F. Lehner einen<br />

eben aufgefundenen Kaufbrief von 1542 sowie eine Bleistift-Abschrift <strong>des</strong>selben zur<br />

amtlichen Beglaubigung vor. „Wohnbehausung <strong>des</strong> Frühmessers vnd Hofraytin samt<br />

Keller vnd übrig zugehord, alles an vnd beyeinand rechter hand vf dem berg neben der<br />

Cappel, eynseit <strong>des</strong> Jörgen Gerlachen seelig behausung, allwo <strong>Faust</strong>en born, auch<br />

neben der Wagenhüttin vnd beym kleinen gestaffelten Wandelgäßlen … zu einem<br />

vffrechten, steten, vesten vnd ewigen Kaufs verkauft.“<br />

(Frühmesser: dem Titularpfarrer nachgeordneter Pfarrer, zuständig für die Frühmesse)<br />

(Das Original <strong>des</strong> Kaufbriefes wurde durch eine Brandbombe vernichtet. Die Abschrift<br />

ist in einem Punkt umstritten: „<strong>Faust</strong>en“ müsste korrekterweise „<strong>Faust</strong>us“ heißen. Hat<br />

sich einst der Ratsschreiber verschrieben oder Karl Weisert?)<br />

Am 23. Juli 1963 bestätigt eine Frau dem Lehrer K. Weisert eine Geschichte, die zum<br />

Gemeingut Knittlinger Überlieferungen gehört: Sie sei Nachfahrin der Bocke Madel,<br />

deren richtiger Name auf Magdalena Bock lautete und <strong>im</strong> einstigen Hexengässchen<br />

gewohnt habe. Das Bocke Madel sei bei <strong>Faust</strong> lange Jahre in Dienst gestanden,<br />

einmal, als er zu seinen Fahrten aufbrach, habe er sie nicht entlohnen können, ihr<br />

jedoch Rezepte aufgeschrieben, damit sie Kranke heilen und sich Geld verdienen<br />

könne. Das „Rezeptbuch“ sei bis <strong>im</strong> 20 Jhdt. <strong>im</strong> Besitz der Familie gewesen, dann<br />

aber zwei Studenten ausgehändigt worden, das Buch sei nicht zurück gebracht<br />

worden. Das Bocke Madel sei von der Bevölkerung geschnitten worden; Leute, die mit<br />

einem Neugeborenen auf dem Weg zur Taufe waren, hätten einen anderen Weg zur<br />

Kirche eingeschlagen, sobald sie <strong>des</strong> Bocke Madel ansichtig wurden.<br />

9


1979 wird der „behutsame Beweis geführt“, dass <strong>Faust</strong> am 23. April 1478 geboren<br />

wurde.<br />

Man setzte die von <strong>Faust</strong> angegebene Konstellation <strong>im</strong> Wettertagebuch vom Juli 1528<br />

um: „…wann Sonne und Jupiter <strong>im</strong> gleichen Grad eines Sternzeichen stehen, dann<br />

werden Propheten geboren, nämlich seinesgleichen“.<br />

Diese Konstellation trifft auf den 23.April 1478 zu. Es ist der Georgstag.<br />

Mit der Erwähnung dieses charmanten Versuchs, die Person <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s weiter zu<br />

erhellen, sei die Auflistung interessanter Indizien und Halbindizien beendet.<br />

Selbstredend ist das Angebot an sogenannten Indizien weitaus größer, es stellt sich<br />

jedoch die Frage: Wo ist die Grenzlinie zwischen interessant und hilfreich einerseits<br />

und abenteuerlich und phantastisch andererseits.<br />

Man tut gut daran, bei einem Johann Georg <strong>Faust</strong>, 23. April 1478 – 1541 die Liste der<br />

Indizien kurz zu halten, es könnten Töpfe aus Kaminen sausen.<br />

„Wahrhafftig getrewe“ Geschichten, nach 1565 entstanden, sind Mischungen aus<br />

Bekanntem, auch treten verstärkt Spuk- und Schabernackgeschichten auf; sie<br />

mussten wohl den Mangel an neuen Details kaschieren.<br />

Quer durch viele Bücher und Kommentare über den historischen <strong>Faust</strong> finden sich<br />

„<strong>Faust</strong>-Splitter“, kleine Details aus seinem Leben, die weder in den Quellentexten noch<br />

in den voraus aufgeführten Indizien-Texten zu finden sind. Einige dieser Details<br />

scheinen durchaus bedenkenswert, gleiches gilt für gelegentliche Zitate. „Ihr werdet<br />

alles verlieren! Doch ich werde alles gewinnen!“ soll <strong>Faust</strong> aufständischen Bauern<br />

einst zugerufen haben. Das Zitat, es passte in der Tat gut zu <strong>Faust</strong>, eventuell auch zu<br />

gut. Ich habe weder jene interessanten Details noch jene Zitate berücksichtigt; sie<br />

führen in die Irre, sie verleiten dazu, sich ein persönliches <strong>Faust</strong>-Bild zu konstruieren.<br />

Dazu kann ich in der Rückschau festellen, jene „<strong>Faust</strong>-Splitter“ sind nicht sonderlich<br />

bedeutsam. Sie miteinzubeziehen wäre bei der Klärung <strong>des</strong> Phänomens „<strong>Faust</strong>“<br />

keineswegs hilfreich gewesen, <strong>im</strong> Gegenteil, als ungesichertes Material hätten sie die<br />

Betrachtungen belastet.<br />

Allein der Informationsgehalt der wenigen Quellentexte sowie einiger Indizien ist unter<br />

Einbeziehung <strong>des</strong> seinerzeitigen Umfelds bereits erstaunlich hoch. Freilich bleiben<br />

Leerstellen – von einer Art allerdings, mit der man leben kann.<br />

*<br />

10


„Objektiv!“ Eine Historikerin hat Bedenken<br />

„Interessant, aber dünn!“ meinte sie, schob Quellentexte und Indizienlisten zusammen<br />

und reichte mir die Papiere wieder über den Tisch. „<strong>Faust</strong> hat gelebt!“ fuhr sie fort,<br />

„Keine Frage! Aber Fakten, ich meine objektive Fakten über ihn selbst, gibt es doch<br />

kaum. Es gibt eine Reihe prominenter Personen, die <strong>Faust</strong> persönlich kannten, bzw.<br />

sich über ihn unterhalten haben. Ihre Aussagen zu seiner Person sind aber allesamt<br />

subjektiv. Dieser Abt Trithemius zum Beispiel hat mit <strong>Faust</strong> noch nicht einmal<br />

gesprochen! Luther! Begardi! Genau das gleiche! Objektiv ist dieser Eintrag <strong>des</strong> Priors<br />

in das Wetterbuch! Objektiv ist, dass der Bamberger Bischof am soundsovielten <strong>Faust</strong><br />

zehn Gulden geschenkt hat. Doch warum, das wissen wir schon wieder nicht!“<br />

„Für das Horoskop!“<br />

„Nichts da!“ gibt sie zurück. „<strong>Faust</strong> hat ihm ein Nativität verehrt! „Verehrt“ heißt aber<br />

nicht „verkauft“, und jetzt können wir uns streiten, wie dieses „verehrt“ zu verstehen ist.<br />

War der Bischof gschamig, weil er sich von einem Teufelsbündner ein unchristliches<br />

Horoskop stellen lässt oder geht es bei den zehn Gulden um ein uns unbekanntes<br />

Geschäft? Denn zehn Gulden als Geschenk für ein Horoskop, das ist doch ein stolzer<br />

Preis! Nicht zu vergessen, <strong>im</strong> 15. und 16. Jahrhundert wurden auch Bücher „verehrt“<br />

und diese „Ehre“ wurde dem Verfasser mit schnödem Geld „vergoldet.“<br />

Der Leser merkt, eine Historikerin ist für <strong>Faust</strong> nicht zu haben. Möglicherweise liegt es<br />

auch daran, weil sie eine Frau ist. Das bewegte Leben <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us, Frauen<br />

nehmen es amüsiert zur Kenntnis, aber sich gleich dafür zu begeistern, halten sie<br />

nicht für zwingend.<br />

Ein Blick auf die Autoren der zu diesem Thema angebotenen Bücher bestätigt es:<br />

<strong>Faust</strong>forschung ist Männersache.<br />

(Nativität; lat.: natus, geboren, Lebenshoroskop gemäß der Konstellation in der<br />

Geburtsstunde)<br />

*<br />

<strong>Faust</strong> – <strong>im</strong> <strong>Visier</strong> <strong>des</strong> Gehe<strong>im</strong>dienstes<br />

Beweisstück ist der Brief <strong>des</strong> Johannes Trithemius, Abt bei St.Jakob in Würzburg, vom<br />

20. August 1507 an Johannes Virdung, Hofastrologe in Heidelberg.<br />

Der Brief best<strong>im</strong>mt den Blick auf <strong>Faust</strong>.<br />

Der Trithemius Brief ist der älteste Beweis für die einstige Existenz jenes sagenumwobenen<br />

Johann Georg <strong>Faust</strong>s. Unter den neun so genannten wissenschaftlich<br />

anerkannten Quellentexten ist er dazu der umfangreichste, in seinen Aussagen über<br />

<strong>Faust</strong> lässt er scheinbar keine Fragen offen. Abt Trithemius, der wortgewaltige<br />

Kirchenmann, liefert der Welt einen detaillierten Bericht und einen prachtvollen Verriss;<br />

gradlinig und entschlossen fällt er ein niederschmettern<strong>des</strong> Urteil. Bis zum heutigen<br />

Tag best<strong>im</strong>mt es den Blick auf den historischen <strong>Faust</strong>: „<strong>Faust</strong>, ein titelsüchtiger<br />

Egomane, ein Verrückter, ein Psychopath, ein renommiersüchtiger Prahlhans, …!“<br />

Dabei lässt der Brief durchaus völlig andere Lesarten zu. Sie erschließt sich freilich<br />

erst, sobald man sich mit den historischen Gegebenheiten beschäftigt, in welche das<br />

Schreiben eingebettet ist. Grobianismus, verstiegene Ehrentitel, Provokationen und<br />

marktschreierisches Auftreten waren selbst den Gebildeten jener Zeit nicht fremd. Erst<br />

recht darf das von den Pillenverkäufern, Buckelkrämern, Wahrsagerinnen und<br />

Kristallsehern gesagt werden, wie sonst hätte man sich unter soviel Konkurrenten<br />

bemerkbar machen sollen. <strong>Faust</strong> allerdings führte nicht nur wilde Reden, er hatte sich<br />

obendrein einen Rattenschwanz von Titeln zugelegt. Strotzend vor überlegener<br />

Verachtung macht er sich die Welt zu seinem Popanz.<br />

Das seinerzeitige Umfeld wird bei der Bewertung <strong>des</strong> Briefes wohl weiterhin wenig<br />

beachtet werden, sein Inhalt wird auch künftig das Blut aller <strong>Faust</strong>-Enthusiasten in<br />

Wallung bringen: „Trithemius ist doch in keiner Weise glaubwürdig! Er hat Heiligen-<br />

11


legenden gefälscht, er hat Chroniken gefälscht. Und er hat 1507 <strong>Faust</strong> eingeschwärzt,<br />

um sich selbst als Saubermann zu präsentieren, nachdem er 1505 von seinen<br />

Mönchen bei Praktiken der Schwarzen Magie erwischt und davon gejagt worden war!“<br />

Zweck dieser Polemik ist es, den Brief in seiner Aussagekraft zu entwerten, ihn zu<br />

einem reinen Existenzbeweis jenes Johann Georg <strong>Faust</strong> zu reduzieren.<br />

<strong>Faust</strong>-Freunde sind rückwärtsgewandte Rebellen. Um keine Erklärung verlegen haben<br />

sie dem Gegenstand ihrer Verehrung, dem Teufelskerl zwischen H<strong>im</strong>mel und Hölle,<br />

aus noch jeder Patsche der ihn betreffenden Überlieferungen geholfen; der Vorwurf,<br />

dass <strong>Faust</strong> auch ein Knabenschänder gewesen sein soll, liegt ihnen jedoch schwer <strong>im</strong><br />

Magen.<br />

Der Empfänger <strong>des</strong> Briefes<br />

Johannes Virdung, Mathematiker und Hofastrologe zu Heidelberg, wurde 1463 in<br />

Franken, in Hassfurt, geboren, er starb <strong>im</strong> Jahr 1538(?). Virdung lehrte an der<br />

Heidelberger Universität Mathematik, Astronomie und Medizin, in jener Zeit galt er als<br />

der bedeutendste Astronom Deutschlands. Seine Reisen führten ihn nach Italien,<br />

Frankreich, England und Dänemark, er hinterließ bedeutende Bücher über Astronomie<br />

und Astrologie.<br />

Als Abt Trithemius ihm über <strong>Faust</strong> berichtet, war Johannes Virdung als Astrologe für<br />

den Kurfürsten und Pfalzgrafen Philipp tätig. Neben dem Fürsten und <strong>des</strong>sen<br />

Verwandten weilten an die hundert Vertreter <strong>des</strong> hohen und mittleren Adels am Hof zu<br />

Heidelberg. Die Astrologie stand hoch <strong>im</strong> Ansehen, ohne Prognose wurde keine<br />

wichtige Entscheidung getroffen. Johannes Virdung hatte dabei den Mitgliedern der<br />

Gesellschaft bei Hof kenntnisreich zur Seite zu stehen.<br />

Unter der Maßgabe „<strong>Visier</strong>“ muss man <strong>im</strong> Auge behalten, dass ein Astrologe eine<br />

Vertrauensperson ist; ob Heiratspläne oder Potenzprobleme, er ist über jeden seiner<br />

Kunden <strong>im</strong> Bild.<br />

Virdung besaß Wissen, das für seinen Fürsten von hoher Wichtigkeit war. Nicht allein<br />

die Entrechtung der Bauern und die Zerschlagung <strong>des</strong> Dienstadels, der Ritter, war<br />

beschlossene Sache, die Fürsten betrieben auch die stille Entmachtung <strong>des</strong> ihnen<br />

nachrangigen Adels; also der Gäste an ihren Höfen. Der schrittweise Umbau der<br />

vielschichtigen Feudalgesellschaft zu gleichsam einer Schicht von Untertanen ist in<br />

Gang gekommen.<br />

Ob <strong>Faust</strong> selbst ein guter Astrologe war? Die Quellentexte liefern ein gemischtes Bild.<br />

Die Interpretationen der entsprechenden Textstellen tendieren allerdings dahin, <strong>Faust</strong><br />

muss ein gefragter Astrologe gewesen sein.<br />

Der Schreiber <strong>des</strong> Briefes<br />

Johannes Trithemius, als Johannes Heidenburg <strong>im</strong> Jahr 1462 in Trittenhe<strong>im</strong> an der<br />

Mosel geboren, wird mit einundzwanzig Jahren Abt <strong>des</strong> Benediktinerklosters<br />

Sponhe<strong>im</strong>, in der Gegend westlich von Kreuznach.<br />

Er beseitigt die leichtlebigen Gewohnheiten der Mönche, er ordnet die Verwaltung, er<br />

konsolidiert die Finanzen und wird schließlich zum Visitator jener Benediktinerklöster<br />

ernannt, die sich zur Bursfelder Kongregation zusammengeschlossen haben.<br />

Drei andere Kongregationen gruppierten sich um Kastel, Tegernsee und Melk.<br />

Italienische Benediktiner waren es um 1400 leid geworden, auf Reformen seitens <strong>des</strong><br />

Vatikans zu warten, sie hatten sich zu Kongregationen zusammengeschlossen. 1417<br />

war ihre Idee der Selbstkontrolle von den Benediktinern in Deutschland übernommen<br />

worden.<br />

Als Visitator berichtet Abt Trithemius 1490 aus einem Kloster in Brabant: „Die drei<br />

Gelübde (Keuschheit, Gehorsam, Armut) … werden von diesen Männern so wenig<br />

gehalten, als hätten sie diese nie abgelegt … Den ganzen Tag verbringen sie mit<br />

unflätigen Reden; ihre ganze Zeit füllen sie mit Würfelspiel und Völlerei … sie haben<br />

keinen Gedanken an das ewige Leben, sie ziehen die Lust <strong>des</strong> Fleisches dem Heil<br />

ihrer Seele vor … Ihre Verderbtheit stinkt rundherum zum H<strong>im</strong>mel.“<br />

12


Trithemius liebt Bücher, er erweitert die Sponhe<strong>im</strong>er Bibliothek von dem damals wohl in<br />

einem Kloster üblichen Bestand von etwa 40 Büchern auf über 2000 Bände; vermutlich<br />

die seinerzeit größte Bibliothek in Deutschland. Und er verfasst selbst Bücher; kein<br />

Thema ist vor ihm sicher: Kryptographie, Steganographie, Ordensregeln, Magie,<br />

Astrologie und viele andere Themen mehr, darunter das erste deutsche<br />

Literaturlexikon.<br />

Am Ende seines Lebens werden es 90 Werke sein. Trithemius hatte keine Universität<br />

besucht, gegen den Willen seines Stiefvaters hatte er he<strong>im</strong>lich Latein und Griechisch<br />

gelernt, als Abt lernte er auch Hebräisch; anders als Johannes Reuchlin wird er als<br />

Mitpräsident <strong>des</strong> Generalkapitels wohl kaum den Umgang mit Juden gesucht haben,<br />

unter den Mönchen war wohl auch ein konvertierter Jude.<br />

Der Ruhm der Sponhe<strong>im</strong>er Bibliothek, seine eigenen Bücher, seine Reisen als<br />

Visitator, seine Gelehrsamkeit, führen Sponhe<strong>im</strong> prominente Gäste zu: Johann von<br />

Dalberg, Johannes Reuchlin, Agrippa von Netteshe<strong>im</strong>, Conrad Celtis … Sie sind über<br />

Trithemius <strong>des</strong> Lobes voll. „Ich habe das große, glänzende Licht der Welt gesehen“<br />

schreibt Alexander Hegius. Von „Tritemio… praeceptori ter max<strong>im</strong>o“, von Trithemius,<br />

dem dreifachgroßen Lehrer, schwärmt Rufus Mutianus. Als „Glanz unseres Zeitalters“<br />

und als „Arche der gesamten Weisheit“ bezeichnet ihn sein Schüler und spätere<br />

Kurfürst Joach<strong>im</strong> I. von Brandenburg. „Göttlicher Tritemius“ begeistert sich Cornelius<br />

Aurelius. Unter den vielen, die sich als Schüler <strong>des</strong> Trithemius bezeichneten, finden<br />

sich Persönlichkeiten wie Agrippa von Netteshe<strong>im</strong> und Paracelsus.<br />

Und Trithemius selbst? „Ich bin jener Trithemius, den Gelehrte wie Ungelehrte wie ein<br />

Orakel <strong>des</strong> Apoll ansahen!“<br />

Weniger begeistert sind inzwischen seine Mönche, die viele Prominenz bedeutet<br />

Arbeit. „Nur das Beste für die Gäste“, und Trithemius ist streng. Auch hat das Bild ihres<br />

Abtes einen Riss bekommen. „Märchenerzähler“ titulieren ihn inzwischen seine<br />

Mönche; er hatte 1494 in seinem Buch „Zum Lob der heiligen Anna“ behauptet, Anna<br />

hätte die Mutter Gottes unbefleckt empfangen. Es ist nicht die einzige „Freiheit“, die er<br />

bei der Ausgestaltung seiner Werke für sich in Anspruch nehmen wird.<br />

Man merkt, Trithemius hat an Bodenhaftung verloren. Ruhm ist bekanntlich Gift, und<br />

vom Ruhm hat Trithemius reichlich und auch viel zu früh genossen.<br />

Und er ist eitel, schlicht, weil alle Autoren eitel sind.<br />

Als er 1505 erkrankt, verbrennen die Mönche einen Teil der Bücher seiner geliebten<br />

Klosterbibliothek, und in diesen Abschnitt fällt der „Bericht“, die Mönche hätten ihn bei<br />

Praktiken der Schwarzen Magie überrascht.<br />

Man muss Trithemius, den heiligen Kassenprüfer für Glaubensfragen und christliche<br />

Lebensgestaltung unter verschärften Bedingungen, nicht mögen, es ist aber offenkundig,<br />

die Mönche sind bitter entschlossen, ihn loszuwerden. Sie haben nicht nur<br />

begriffen, dass er nicht mehr jener Mensch ist, den sie einst zu ihrem Abt wählten,<br />

sondern auch, dass sie nur noch die Bühnenarbeiter seiner glanzvollen Auftritte sind.<br />

Sie würden es auch belügen, ihn bei magischen Praktiken ertappt zu haben.<br />

Unabhängig davon, ob die Anschuldigungen nun zutrafen oder frei erfunden waren,<br />

Magie war en vogue, dass Trithemius sich niemals in Schwarzer Magie versuchte, es<br />

wäre eher unwahrscheinlich. Im Übrigen, er ist Visitator, zumin<strong>des</strong>t theoretisch hatte er<br />

in Schwarzer Magie beschlagen zu sein. Er musste schließlich wissen, was die kleinen<br />

Notizen, derer er eventuell nebenbei ansichtig wird, zu bedeuten haben, wenn er sich<br />

in den Zellen der Klöster umsieht.<br />

1506, kaum ein Jahr später, wird er auf Betreiben <strong>des</strong> Bischofs von Bibra zum Abt <strong>des</strong><br />

Schottenkloster Sankt Jacob bei Würzburg gewählt; das Schottenkloster, daher der<br />

Name, gehörte irischen Benediktinern.<br />

Im nämlichen Jahr berät er den Kurfürsten Joach<strong>im</strong> I. von Brandenburg bei der<br />

Gründung der Universität in Frankfurt an der Oder. Der Plan <strong>des</strong> Kurfürsten, den Abt<br />

als Leiter der Universität zu gewinnen, schlägt allerdings fehl. Trithemius reist nach<br />

Süden, und auf dieser Reise kam es dann zu jenem Beinah-Treffen mit <strong>Faust</strong>.<br />

1508 verfasst er auf Bitte <strong>des</strong> Kurfürsten von Brandenburg den „Antipalus<br />

maleficiorum“, seinen Hexenhammer. Anders als der Hexenhammer <strong>des</strong> Institoris<br />

13


(Heinrich Kramer) von 1486, richtet sich sein Werk gegen männliche Schadzauberer,<br />

und es übertrifft den „Malleus maleficarum“ <strong>des</strong> Institoris an Härte.<br />

Abt Trithemius lag damit aktiv auf der Linie der bekannten „Hexenbulle“ von 1484,<br />

freilich auch in voller Übereinst<strong>im</strong>mung mit dem, was das überwältigende Gros seiner<br />

Zeitgenossen über die zauberische Macht der Hexen dachte.<br />

Wenn neben anderen Autoren der anerkannte „Hexenspezialist“ Wolfgang Behringer in<br />

„Hexen und Hexenprozesse in Deutschland“, 5. Auflage, 2001, auf Seite 113 in<br />

„Widerstand gegen den inquisitorischen Hexenwahn“ glauben machen will, dass<br />

Widerstand geleistet wurde oder auch nur ein aufgeklärter Konsens gegenüber der<br />

Hexenbulle existierte, dann ist das falsch. Seine „beweisenden“ Zitate, S. 113 bis S.<br />

129, liefern – so man sie hinterfragt, ein völlig gegenteiliges Bild und bestätigen nur<br />

eines: Vom Bettler bis zu Erasmus von Rotterdam, sie alle hielten ein Bündnis mit<br />

dunklen Mächten für möglich; das war Zeitgeist.<br />

Die Arbeitsweise <strong>des</strong> Autors empfinde ich persönlich als überaus befremdend.<br />

Die „beweisenden“ Zitate werden <strong>im</strong> Essay „Gegendarstellung“ beleuchtet.<br />

1508 gibt Trithemius auch das Buch „De septem secundeis“ in Druck; darin berichtet<br />

er, sieben Planetengeister regierten in Gottes Auftrag die Welt. Das ist Ketzerei! Das<br />

Buch kommt auf den Index. Im nämlichen Jahr fragt ihn Kaiser Max<strong>im</strong>ilian I. nach<br />

seiner Meinung über das Unwesen der Hexen.<br />

Trithemius schreibt:<br />

„Was aber diese schaedliche leut / aller weisester Keyser in deinem reich fuer groß<br />

vnglueck anrichten / kan kein mensch genugsam außsprechen. Dann sie zuforderst<br />

Gott / den Christlichen glauben vnd die Heilige Tauffe verleugnen / sich selbst mit Seel<br />

vnnd Leib den Teufeln auffopfern / menschen vnd vih mit jrer Zauberey laehmen und<br />

beschedigen / Umbbringen … wie dann Gott der schoepffer aller ding solchs befohlen /<br />

da er spricht: Die Zaeuberin soltu nicht Leben lassen.“<br />

Trithemius ist ein geradezu klassisches Beispiel dafür, wie ein intelligenter Mensch –<br />

nicht zuletzt auf Grund seiner Eitelkeit – in jener Zeit, in einem Sumpf von Magie,<br />

Metaphysik und Aberglauben, den Boden unter den Füßen verliert. Ohne es freilich zu<br />

merken, sein „wissenschaftliches Weltbild“ ist schlüssig: Wie die Blätter eines<br />

Kartenspiels passen die Felder aneinander und aufeinander. Es entgeht ihm, dass er<br />

mit Annahmen, mit Variablen hantiert, und dass er selbst es ist, der die variablen<br />

Größen schiebt und drückt, bis sie wieder aneinander und aufeinander liegen.<br />

Kurz, die Sponhe<strong>im</strong>er Vorwürfe haben Trithemius bestenfalls am Rande tangiert. In<br />

diesen Jahren gab wohl keinen Menschen, ob gebildet oder ungebildet, der auf welche<br />

Weise auch <strong>im</strong>mer, noch nicht sein Glück mit Geistern und Teufeln probiert hatte.<br />

Noch fehlte bis zu den Jahrzehnten kollektiven Hexenwahns ein halbes Jahrhundert,<br />

der Vorwurf, man habe schwarze Magie praktiziert, hatte noch den Stellenwert eines<br />

höchst unschönen Kavaliersdelikts.<br />

Was Trithemius wirkliche Schwierigkeiten bereitete, das hatte eine entschieden andere<br />

Qualität. Das waren seine Schriften über Magie, in welchen er laufend aus Werken der<br />

schwarzen Magie zitierte – „als Argumente zur Warnung“, wie er behauptete. Darüber<br />

hinaus hatte er sich laufend in Anspielungen gefallen, sprich, sich wichtig gemacht,<br />

dass er <strong>im</strong> Besitz gehe<strong>im</strong>sten okkulten Wissens wäre. Er berief sich dabei auf einen<br />

ominösen Fernando de Cordoba. Den Ruch der schwarzen Magie wurde er auch nie<br />

mehr los, der Würzburger Weihbischof rief ihm den Grabspruch nach: „Absit suspicio<br />

de Daemonis arte Magia“ (Möge er frei sein vom Verdacht dämonischer Magie).<br />

Doch als Abt und Visitator, abgesehen von seinem Ruhm, war er derart hoch in der<br />

damaligen Feudalgesellschaft angesiedelt, er hätte sich lächerlich gemacht, sich von<br />

den Vorwürfen der schwarzen Magie rein zu waschen, indem er sich herabwürdigte,<br />

einen Wanderarzt und Wahrsager, einen aus dem fahrenden Volk einzuschwärzen.<br />

Zwischen ihm und <strong>Faust</strong>, da lagen Welten. <strong>Faust</strong> galt nicht als ehrlos, rechtlos, doch<br />

war sein Status nicht wesentlich höher als der eines armen Scholaren.<br />

So wenig ein <strong>Faust</strong> einen Trithemius vor Gericht in Schwierigkeiten bringen konnte, so<br />

wenig konnte sich ein Trithemius auf einen kleinen <strong>Faust</strong> berufen. Im übrigen, gerade<br />

14


weil Trithemius unter Beschuss stand, er hätte keinen schl<strong>im</strong>meren Fehler machen<br />

können, als reißerische Lügen über <strong>Faust</strong> zu verbreiten. Für ein derart durchsichtiges<br />

Manöver waren seine Zeitgenossen nicht dumm genug.<br />

Im Vorfeld der Entschlüsselung<br />

Quer durch die <strong>Faust</strong>forschung haben sich alle Autoren mit der Widersprüchlichkeit <strong>des</strong><br />

Trithemius-Briefes gequält: Von Trithemius als unwissend in allen guten Wissenschaften<br />

bezeichnet, wird <strong>Faust</strong> dringlichst vom damals angesehensten Astronomen<br />

erwartet – so der gleichsam aufaddierte Widerspruch, der schlicht nicht zu lösen war.<br />

Der Brief, in herkömmlicher Weise gelesen und verstanden, verstellte nicht nur den<br />

Blick auf <strong>Faust</strong>, bei den Überlegungen zum Motiv <strong>des</strong> Verfassers, provozierte er<br />

geradezu das Undenkbare für denkbar zu halten.<br />

Neben der Annahme, Trithemius wollte sich reinwaschen – was Trithemius selbst<br />

offenbar gar nicht vorhatte, er bezeichnet <strong>Faust</strong> nicht als Schwarzmagier, hielt man es<br />

für möglich, dass Trithemius vermutete, <strong>Faust</strong> hätte sich Zugang zu gehe<strong>im</strong>em Wissen<br />

verschafft, zu jenem Wissen, das der Abt selbst so gern besessen hätte. Als dann auch<br />

noch der angesehene Virdung so dringlich mit <strong>Faust</strong> sprechen will, muss dem Abt die<br />

Galle übergekocht sein; von wildem Neid gepackt, verfasste er einen Brief voll der<br />

Lügen und Ehrabschneidungen.<br />

Dergleichen ist freilich nicht auszuschließen, doch was Trithemius vermutete, ist nicht<br />

weniger gehe<strong>im</strong> wie das gehe<strong>im</strong>e Wissen <strong>des</strong> Doktor <strong>Faust</strong>us, auf das sich in keinem<br />

der Quellentexte ein Hinweis findet.<br />

Trithemius, der Mann mit Karriereknick, der wohl dem jungen, doch scheinbar bereits<br />

recht erfolgreichen <strong>Faust</strong>, bei <strong>des</strong>sen Weg zu Johannes Virdung in der kurfürstlichen<br />

Residenz zu Heidelberg einen Knüppel zwischen die Beine werfen wollte.<br />

Trithemius war eitel, ruhmsüchtig, wichtigtuerisch, und vielleicht war er obendrein auch<br />

noch gehässig, doch wohl intelligent genug, um zu wissen, dass er den Mathematiker<br />

und angesehenen Astronomen mit einem wilden Ausfall böser Worte gewiss nicht<br />

gegen <strong>Faust</strong> einnehmen konnte. Gemäß dem Brief, saß <strong>Faust</strong> wenige Tage später<br />

Virdung gegenüber und der ließ es sich wohl kaum nehmen, sich selbst ein Urteil über<br />

<strong>Faust</strong> zu bilden. Über den Knick selbst lässt sich streiten. Abt Trithemius genoss zwar<br />

nicht mehr das Ansehen der Sponhe<strong>im</strong>er Bibliothek, doch zur selben Zeit als er diesen<br />

Brief verfasste, schrieb er an neuen Büchern, auch wurde er nicht wenig hofiert und<br />

gefordert.<br />

„Trithemius hat Bücher gefälscht, er hatte auch keine Mühe diesen Lügenbrief zu<br />

verfassen!“ Abgesehen davon, dass man auch denunzieren kann, ohne die Inhalte von<br />

Büchern zu fälschen, es ist zu beachten, was Trithemius fälschte. Einige Heiligen- und<br />

Wunderlegenden; sie beflügelten den Glauben <strong>des</strong> Volkes, waren also lässliche, wenn<br />

nicht gar wünschenswerte Fälschungen. Sodann die Anfänge der Chronik <strong>des</strong> Kloster<br />

Sponhe<strong>im</strong> von 1024-1509, die Genealogie der ausgestorbenen Grafen von Spanhe<strong>im</strong><br />

sowie die „Hirsauer Annalen“. Aus diesen Fälschungen erwuchsen keine Rechtsstreitigkeiten,<br />

sie befriedigten seine Eitelkeit als Autor, wenn auch nur vorübergehend.<br />

Die meisten Fälschungen werden noch zu seinen Lebzeiten entdeckt, und sie haben<br />

ihm erneut geschadet: Waren mit dem Verlust der Sponhe<strong>im</strong>er Biblothek als erstes<br />

ehrenvolle Kontakte weggeschlafen, der Verdacht, dass er sich schwarzmagisch<br />

betätige, hatte ihn erneut freundschaftliche Kontakte gekostet, und seine<br />

„schriftstellerischen Freiheiten“ erboste weitere alte Freunde. Sie sprachen von<br />

„Possen“, von „mönchischer Überheblichkeit“. Sein alter Lehrer Conrad Celtis erzürnte<br />

sich über die „Hirsauer Annalen“, als „zusammengelogene Geschichte der alten<br />

Franken“.<br />

Aus diesen Fälschungen nun auch einen lügnerischen Visitator abzuleiten, trägt nicht,<br />

das eine bedeutet nicht zwingend das andere.<br />

Im Generalkapitel der Benediktiner wusste man offensichtlich ohne Mühe zwischen<br />

dem Autor und dem Visitator zu unterscheiden. Geschmunzelt hat man vermutlich<br />

15


auch: „Er sieht den Splitter <strong>im</strong> Auge <strong>des</strong> andern, den Balken <strong>im</strong> eigenen Auge sieht er<br />

nicht!“<br />

Ohne Zweifel muss Abt Trithemius nach Verlassen <strong>des</strong> Kloster Sponhe<strong>im</strong> ein<br />

verwundeter Mensch gewesen sein, nicht unbedingt <strong>des</strong>halb, weil er nach eigenen<br />

Angaben in die Beschaffung der Bücher persönlich 1500 Gulden investiert hatte,<br />

sondern weil der gewaltige Bestand an Büchern ihm in dieser bücherwütigen Zeit<br />

laufend prominente Besucher beschert hatte, also auch Ehren und Schmeicheleien.<br />

Der Verlust der Bücher war eine Zäsur, Abt Trithemius starb 1516 in Verbitterung.<br />

Die Ungere<strong>im</strong>theiten <strong>des</strong> Briefes ließen dann auch übersehen, dass der Abt neben<br />

seinem wüsten Urteil auch eine Menge konkreter Informationen notiert hatte.<br />

Virdung, der Empfänger <strong>des</strong> Briefes, konnte viele der Angaben recht schnell<br />

überprüfen; <strong>Faust</strong>s freche Reden, die Stationen seiner Reisen, wobei der Vorwurf der<br />

Knabenschändung am schnellsten über Franz von Sickingen, den Amtmann seines<br />

Fürsten, geklärt werden konnte.<br />

Und abgesehen von der „bösen“ Beurteilung <strong>Faust</strong>s, die Aussagen <strong>des</strong> Trithemius-<br />

Briefes finden sich in den anderen Quellentexten <strong>im</strong>mer wieder in Teilen bestätigt.<br />

Der Brief<br />

Die erste Auffälligkeit <strong>des</strong> Schreibens, Abt Trithemius liefert uns einen Quellentext, in<br />

dem Eingangs nicht von „Dr. <strong>Faust</strong>us“ die Rede ist, statt<strong>des</strong>sen von „Georg Sabellicus“<br />

und von „<strong>Faust</strong> dem Jüngeren“. Es handelt sich also um einen Brief, bei <strong>des</strong>sen Inhalt<br />

es sich nicht jedem Neugierigen sofort erschließt, dass es sich bei diesem mysteriösen<br />

„<strong>Faust</strong> dem Jüngeren“ um jenen Georg <strong>Faust</strong> handelt, der aktuell mit dreisten Reden<br />

durch Fürstentümer und Landschaften zieht.<br />

Ein Postgehe<strong>im</strong>nis gab es damals nicht. Wer einen Brief auf den Weg brachte, musste<br />

damit rechnen, dass dieser unterwegs gelesen wurde. In der damaligen Zeit wurden<br />

Briefe, eben in Erwartung, dass ein Dritter seine Nase hinein steckte, auch besonders<br />

„gespickt“.<br />

Prominente wie Ulrich v. Hutten oder Luther, um nur einige zu nennen, kalkulierten bei<br />

der Formulierung ihrer Briefe nicht nur, dass sie unterwegs gelesen wurden, sie durften<br />

sogar sicher sein, dass die Inhalte bereits als Flugschriften <strong>im</strong> Handel waren, noch<br />

bevor die Briefe die Adressaten erreichten.<br />

Nur ein Gebildeter wusste, dass „Georg Sabellicus“ ein Verweis auf die Sabiner war,<br />

auf Menschen in einer Bergregion, die seit Urzeiten mit Hexen und dem Satan<br />

umgingen, und für ihre Kunst der Wahrsagung gerühmt wurden.<br />

Und nur einem belesenen Mensch erschloss sich, dass „<strong>Faust</strong> der Jüngere“ in<br />

Verbindung mit „zweiter der Magie“ eine Bezugnahme auf „S<strong>im</strong>on Magus <strong>Faust</strong>us“ war,<br />

die Hauptfigur eines spätantiken Abenteuerromans.<br />

Dem ersten Anschein nach wurde der Brief <strong>des</strong>halb geschrieben, da Johann Virdung<br />

sich nach <strong>Faust</strong> erkundigte und nun erfahren soll, was Trithemius von <strong>Faust</strong> hält: „Das<br />

ist es, was mir nach dem sichersten Zeugnis von jenem Menschen fest steht, <strong>des</strong>sen<br />

Ankunft du mit so großem Verlangen erwartest.“<br />

Der Brief erfüllt diesen Zweck, und er erfüllt ihn dreifach.<br />

Allein die Wiedergabe der Behauptung <strong>Faust</strong>s, „er könne alles tun, was Christus getan<br />

habe, so oft und wann er wolle.“, hätte bereits ausreichen müssen, Johann Virdung,<br />

den Hofastrologen von Heidelberg, zu überzeugen, dass dieser <strong>Faust</strong> „ein Narr und<br />

kein Philosoph ist.“<br />

Trithemius überschüttet Virdung jedoch mit einer Flut von Informationen, gera<strong>des</strong>o als<br />

ob dieser noch rein gar nichts über <strong>Faust</strong> wüsste. Dabei ist Virdung durchaus mit dem<br />

Thema „<strong>Faust</strong>“ vertraut. Trithemius schreibt: „Wir erinnern uns auch, dass er uns durch<br />

einen Bürger die schriftliche Aufzeichnung seiner Torheit, welche er dir gab,<br />

überschickte.“ Offensichtlich handelt es sich um ein Schriftstück <strong>Faust</strong>s, das beiden,<br />

Trithemius als auch Virdung, seit längerer Zeit bekannt ist; anders ist „wir erinnern uns<br />

auch“ wohl kaum zu verstehen. Es liegt nahe, dass sie sich über das Schreiben, also<br />

auch über <strong>Faust</strong>, bereits unterhalten haben.<br />

16


Oder bedeutet der Satz sogar, dass Virdung bereits persönlich mit <strong>Faust</strong> gesprochen<br />

hat? Denn die Formulierung „die schriftliche Aufzeichnung seiner Torheit, welche er dir<br />

gab“, kann auch so verstanden werden, dass <strong>Faust</strong> und Virdung sich unterhielten,<br />

beispielsweise über eine astrologische Ausdeutung, und <strong>Faust</strong> seinen Standpunkt <strong>im</strong><br />

Nachhinein auch noch schriftlich fasste und Virdung zuschickte.<br />

Ganz gleich, wie man diese Textstelle versteht, Virdung ist bereits <strong>im</strong> Besitz einer<br />

Aufzeichnung aus <strong>Faust</strong>s Feder; er weiß also schon einiges über <strong>Faust</strong>. Diese<br />

geradezu aufdringliche Flut an Informationen brauchte es nicht mehr.<br />

Betrachtet man sich den Brief von seinem inhaltlichen Aufbau her, stellt man fest: das<br />

Schreiben ist angenehm übersichtlich, es hat Struktur. Persönliche Einschätzungen<br />

einerseits und Fakten andererseits liegen in Blöcken getrennt. Es herrscht Ordnung.<br />

Allerdings von einer Art, die beunruhigt; der Brief ließe sich auch als Materialsammlung<br />

für eine Anklageschrift verwenden.<br />

Könnte es sein, dass in diesem scheinbar privaten Schreiben die Ermittlungsergebnisse<br />

<strong>des</strong> Visitators Johannes Trithemius enthalten sind?<br />

Trithemius nennt in der ersten Hälfte <strong>des</strong> Schreibens <strong>Faust</strong>s angemaßte Titel:<br />

„Magister Georg Sabellicus, <strong>Faust</strong> der Jüngere, Quellbrunn der Nekromanten, Astrolog,<br />

Zweiter der Magie, Chiromant, Aeromant, Pyromant, Zweiter in der Hydromantie.“<br />

Diesem Block voran- sowie nachgestellt ist die persönliche Einschätzung, dass <strong>Faust</strong><br />

„ein leerer Schwätzer“ und „in Wahrheit in allen guten Wissenschaften unwissend ist.“<br />

Der Titelblock ist also durch identische Einschätzungen gerahmt.<br />

Trithemius, der sonst so akkurat auflistet, hat allerdings vergessen zu notieren, dass<br />

<strong>Faust</strong> auch Arzt war, wie uns Begardi in seinem „Index sanitatis“ berichtet.<br />

Sodann sch<strong>im</strong>pft Trithemius <strong>Faust</strong> als in allen guten Wissenschaften unwissend, listet<br />

jedoch die Astrologie als eine jener „Wissenschaften“ auf, in welchen <strong>Faust</strong> unwissend<br />

sei. <strong>Faust</strong>, es wurde bereits erwähnt, war vermutlich ein beschlagener Astrologe, also<br />

keineswegs generell unwissend, ganz abgesehen davon, dass ihn der Astrologe<br />

Johannes Virdung dringlich erwartet – vielleicht weil er <strong>des</strong>sen astrologischen Rat<br />

braucht.<br />

Das Rätsel, warum Trithemius einen Beruf vergisst, sodann <strong>Faust</strong> in der damals<br />

anerkannten Wissenschaft der Astrologie als unwissend bezeichnet, wird auf den<br />

nächsten Seiten eine Antwort finden.<br />

In der zweiten Hälfte <strong>des</strong> Briefes gibt Trithemius einige Aussagen <strong>Faust</strong>s wieder und<br />

benennt dazu Ort, Zeit und Begleitumstände.<br />

Trithemius berichtet auch, <strong>Faust</strong> habe sich zwe<strong>im</strong>al durch Flucht der Obrigkeit<br />

entzogen. Einmal vor ihm, dem Abt, „floh er alsbald aus der Herberge und konnte von<br />

niemand überredet werden, sich mir vorzustellen.“<br />

Trithemius will damit sagen, dass <strong>Faust</strong> auf Grund „vieler von ihm mit großer Frechheit<br />

ausgeführter Nichtsnutzigkeiten“ befürchtete, in der Herberge festgehalten und der<br />

Policey übergeben zu werden.<br />

In der damals praktizierten Strafverfolgung konnte jedermann und jedefrau, selbst ohne<br />

dass sie unmittelbar eine strafbare Handlung begangen hatten, festgenommen werden.<br />

Auf Grund der sozialen Schieflage war die Kr<strong>im</strong>inalität hoch, eine überregionale Polizei<br />

gab es nicht, also behalf man sich über den Verdacht, dass jemand eine<br />

„landschädliche Person“ sei. Der Argwöhnende musste sechs „Ei<strong>des</strong>helfer“ beibringen,<br />

die ebenfalls der Meinung waren, dass es sich um eine „landschädliche Person“<br />

handele.<br />

Damit war der Betreffende schuldig, er musste nur noch dem Richter überstellt werden.<br />

Sodann wurde er verhört, dabei auch gefoltert, um anhand seiner Geständnisse die<br />

rechte Strafe zu bekommen.<br />

Ein anderes Mal floh <strong>Faust</strong> aus Kreuznach „als die Sache ans Licht kam, der ihm<br />

drohenden Strafe.“ Die „drohende Strafe“ ist wohl so zu verstehen, dass das Strafmaß<br />

17


noch nicht festgestellt war, <strong>Faust</strong> also noch vor Inhaftierung und Anklage entwichen<br />

war.<br />

Trithemius gibt damit kund, <strong>Faust</strong> hat sich durch Flucht selbst das Urteil gesprochen.<br />

In der damaligen Rechtspflege wurde Flucht, selbst wenn der Verdächtigte sich <strong>im</strong><br />

Nachhinein eines anderen besonnen und sich gestellt hatte, <strong>im</strong>mer als Schuldeingeständnis<br />

betrachtet. Es wurde ihm unterstellt, er hätte Komplizen gewarnt,<br />

Beweise vernichtet, Diebesgut weg geschafft, Entlastungszeugen gedungen.<br />

Sodann fällt Trithemius sein Urteil, welche Art der Bestrafung er für richtig hält und was<br />

der Zweck der Strafe sei. „Ein Landstreicher, leerer Schwätzer und betrügerischer<br />

Strolch, würdig ausgepeitscht zu werden, damit er nicht ferner mehr öffentlich<br />

verabscheuungswürdige und der heiligen Kirche feindliche Dinge zu lehren wage.“<br />

Das Strafmaß ist korrekt, in jener Zeit wurden Angehörige der unteren Volkschichten<br />

für derart freche Reden mit Auspeitschung bestraft.<br />

Ansonsten muss Trithemius aber Galle in die Feder gelaufen sein, denn der „heiligen<br />

Kirche feindliche Dinge zu lehren“, selbstredend ohne Erlaubnis, das ist die<br />

ursprüngliche Definition für Ketzerei. Trithemius tut <strong>Faust</strong> eine gewaltige „Ehre“ an, wo<br />

es sich doch lediglich um einen „leeren Schwätzer“ handelt.<br />

Man könnte geneigt sein anzunehmen, Trithemius wollte aus dem rollenden<br />

Reisewagen heraus, gleichsam nebenbei, auch mal einen kleinen <strong>Faust</strong> erlegen.<br />

Diese Annahme greift zu kurz.<br />

Trithemius sammelt bereits seit geraumer Zeit Informationen über <strong>Faust</strong>.<br />

Er hat <strong>Faust</strong>s Berufsbezeichnungen, <strong>des</strong>sen phantastische Titel, gesammelt; es sind<br />

ihrer nicht wenige und Trithemius sagt nicht, woher er sie alle kennt.<br />

Er ist über die Ereignisse in Kreuznach informiert, auch über das gute Verhältnis<br />

zwischen <strong>Faust</strong> und Franz von Sickingen, ob er selbst in Kreuznach weilte, wird nicht<br />

deutlich.<br />

Doch auch selbst wo er nicht ist, hat er Augen und Ohren: „Als ich mich später in<br />

Speier befand, kam er nach Würzburg.“<br />

Allein die Kirche besaß ein Flächen decken<strong>des</strong> Netz, Informationen aufzusaugen, sie<br />

zusammenzuführen und auszuwerten. Nicht allein über die Kirchen und Klöster, der<br />

Autor Emil. B. König nennt als Zuträger in jener Zeit, die Wandermönche <strong>des</strong><br />

Franziskanerordens, diese zählten zum fahrenden Volk.<br />

Am interessantesten ist dann jener Satz: “Wir erinnern uns auch, dass er uns durch<br />

einen Bürger die schriftliche Aufzeichnung seiner Torheit, welche er dir gab,<br />

überschickte.“<br />

Man kann Trithemius nicht vorwerfen, dass er sich nicht zu artikulieren wüsste, <strong>im</strong><br />

Gegenteil. Trithemius formuliert geradlinig und entschlossen, gera<strong>des</strong>o wie in seinem<br />

Brief aus Brabant.<br />

Doch dieser Satz ist derart verschwurbelt, man muss ihn dre<strong>im</strong>al lesen und weiß<br />

gleichsam noch <strong>im</strong>mer nicht, um was es geht. Der Satz ist ein bewusst platzierter<br />

Fremdkörper. Trithemius, der erfahrene Schreiber und Autor, hebt damit die Bedeutung<br />

<strong>des</strong> Satzes hervor.<br />

Will er seinem Brieffreund zu verstehen geben, er solle sich ein gewisses Schriftstück<br />

ganz besonders vergegenwärtigen? Offenkundig geht es um ein Schriftstück aus<br />

<strong>Faust</strong>s Feder. Das ist nicht die einzige Frage, die sich hier stellt.<br />

Warum wechselt Trithemius vom durchgehenden freundschaftlichen „Du“ <strong>des</strong> Briefes in<br />

diesem Satz zum „Wir“?<br />

Sodann schreibt Trithemius von „Uns“! Wer ist „Uns“? Arbeiten sie etwa zusammen?<br />

Wie nahe stehen sich Trithemius und Virdung? Sind sie Freunde? Welche Interessen<br />

verbinden sie? Die Kirche ist kein Freund der Astrologie; dass viele Geistliche sich<br />

dennoch mit Astrologie befassten, ist einer der Widersprüche jener Zeit.<br />

Was heißt zudem: „uns…überschickte.“ War „die schriftliche Aufzeichnung seiner<br />

Torheit“ denn sowohl an Virdung wie auch an Trithemius gerichtet? Doch warum<br />

18


flüchtete <strong>Faust</strong> dann aus der Herberge vor dem Freund <strong>des</strong> Virdung, anstatt den<br />

freundlichen Abt nun endlich persönlich kennen zu lernen?<br />

Was oder wer verbirgt sich außerdem hinter diesem Briefboten, diesem anonymen<br />

„Bürger“?<br />

Warum formulierte Trithemius nicht kurz und bündig: „Du erinnerst dich an die<br />

Aufzeichnung seiner Torheit, die <strong>Faust</strong> dir überbringen ließ.“<br />

Warum erwähnt er den Briefboten? Ein Brief hat schließlich <strong>im</strong>mer einen Überbringer.<br />

Oder soll das gar bedeuten, dass mehrere Briefe in Sachen <strong>Faust</strong> bereits Virdung<br />

erreichten, dieser sich jedoch jenen einen Brief vergegenwärtige, der ihn nicht über die<br />

übliche „Kurierpost“ erreichte, sondern durch einen reisenden Bürger überbracht<br />

wurde?<br />

Was ist an diesem <strong>Faust</strong>, dass ein Visitator Daten sammelt? Warum packt man diesen<br />

Frechling nicht und prügelt ihn durch? Man ist doch sonst nicht z<strong>im</strong>perlich. Statt<strong>des</strong>sen<br />

lässt man ihm Leine und kontaktiert ihn aus.<br />

Es hat den Anschein, ein merkwürdiges „Uns“ interessiert sich für <strong>Faust</strong>. Dass ein<br />

Hofastrologe mit von der Partie ist, und ein Visitator neben seiner Aufgabe in den<br />

Klöstern der Benediktiner nach dem Rechten zu sehen, auch noch einem „Uns“<br />

Kärrnerdienste leistet, bei<strong>des</strong> ist nichts Ungewöhnliches.<br />

Was ist an diesem <strong>Faust</strong>, dass man ihn ausspäht?<br />

Sowohl aus den neun Quellentexten als auch aus den Indizien erschließt sich keine<br />

Antwort. <strong>Faust</strong> hat nichts getan, was andere nicht auch getan haben, mit einer<br />

Ausnahme: <strong>im</strong> Kampf um die Gunst <strong>des</strong> Publikums war er knalliger und frecher als<br />

seine Mitkonkurrenten.<br />

Eine Antwort liefern die Zustände jener Zeit. Verschwörungen, Unruhen waren an der<br />

Tagesordnung, selbst Prozessionen endeten gelegentlich in Aufruhr. Dazu gab es, man<br />

darf es wohl so nennen, den „Berufsstand der Rebellen“. Ein Fritz Joß organisierte<br />

1502 den Aufstand von Speyer, 1513 den Aufstand von Lehen bei Freiburg, 1517 den<br />

Aufstand <strong>im</strong> Elsass. Woher das Geld kam, mit dem er auch <strong>im</strong>mer wieder Söldner<br />

anwarb, ist ungeklärt. Gutmöglich kam das Geld aus französischer Kasse, der Aufruhr<br />

in Deutschland war in seinem Ausmaß zu einer Art zweitem Schlachtfeld geworden. Zu<br />

dieser Zeit lag Kaiser Max<strong>im</strong>ilian I. mit dem französischen König <strong>im</strong> Krieg, unter<br />

Max<strong>im</strong>ilians Enkel und Nachfolger Karl V. sollten die Kriege weiter gehen.<br />

18% der Menschen in Deutschland lebten in Städten, 50% lebten in den Dörfern. Die<br />

übrigen Menschen lebten mit Kind und Kegel in steten Wechsel zwischen<br />

vorübergehender Sesshaftigkeit und erneuter Wanderschaft: Saisonarbeiter, Pilger,<br />

Wanderarbeiter, Söldner, Bettler. In diesem Gew<strong>im</strong>mel der He<strong>im</strong>atlosen bewegten sich<br />

die Aufrührer wie Fische <strong>im</strong> Wasser.<br />

Rechnete man damit, dass <strong>Faust</strong> zum Kristallisationskern einer Revolte werden könnte<br />

oder gar selbst eine Revolte lostreten wollte? Oder hatte <strong>Faust</strong> nur irgendwann den<br />

Mund zu voll genommen und Sätze von sich gegeben wie: „Wenn hier einer rebelliert,<br />

dann ich! Ich bin der König der Aufrührer!“<br />

Könnte der Trithemius-Brief ein Entwarnungsschreiben sein? „Jener Mensch, über<br />

welchen du mir schreibst, Georg Sabellicus, welcher sich den Fürst der Nekromanten<br />

zu nennen wagte, ist ein Landstreicher, leerer Schwätzer und betrügerischer Strolch<br />

…“<br />

Im Klartext: Was wir bis dato für möglich hielten, trifft nicht zu … er führt nur dreiste<br />

Reden, doch da er damit das Ansehen der Heiligen Kirche schädigt, sollte man ihn<br />

auspeitschen …<br />

Stellt man in Rechnung, dass Trithemius ein Werk über Steganographie verfasste,<br />

dann klärt sich nicht nur der „Fürst der Nekromanten“, es gerät eine weitere Textstelle<br />

ins <strong>Visier</strong>.<br />

Steganographie setzt Absprachen zwischen Briefpartnern voraus, die vorgeben,<br />

harmlosen Briefkontakt zu pflegen. Um nicht gefälschten Briefen aufzusitzen,<br />

19


vereinbaren sie unauffällige Markierungen <strong>des</strong> Briefpapiers: Wasserzeichen,<br />

Nadeleinstiche, die Art, das Papier zu falten, die Abmessungen <strong>des</strong> Papiers.<br />

Sodann werden Absprachen getroffen, auf welche Weise entscheidende Informationen<br />

in einem offenem Text unauffällig zu markieren sind: „Signalwörter“, best<strong>im</strong>mte<br />

Formulierungen, Veränderungen <strong>des</strong> Wortflusses sowie Codewörter.<br />

Die zweite Hälfte <strong>des</strong> Trithemius-Briefes gehört den harten Fakten, sie ist für die<br />

verdeckte Übermittlung wenig geeignet.<br />

Die erste Hälfte <strong>des</strong> Schreibens enthält persönliche Einschätzungen, hier sind die<br />

Ermittlungsergebnisse eingebaut.<br />

„Jener Mensch, über welchen du mir schreibst, Georg Sabellicus,<br />

welcher sich den Fürst der Nekromanten zu nennen wagte,<br />

ist ein Landstreicher, leerer Schwätzer und betrügerischer Strolch, würdig<br />

ausgepeitscht zu werden, damit er nicht ferner mehr öffentlich verabscheuungswürdige<br />

und der heiligen Kirche feindliche Dinge zu lehren wage. Denn was sind die Titel,<br />

welche er sich anmaßt, anders als Anzeichen <strong>des</strong> dümmsten und unsinnigsten Geistes,<br />

welcher zeigt, dass er ein Narr und kein Philosoph ist?<br />

So machte er sich folgenden ihm konvenierenden Titel zurecht: Magister Georg<br />

Sabellicus, <strong>Faust</strong> der Jüngere, Quellbrunn der Nekromanten, Astrolog, Zweiter der<br />

Magie, Chiromant, Aeromant, Pyromant, Zweiter in der Hydromantie.<br />

– Siehe die törichte Verwegenheit <strong>des</strong> Menschen; welcher Wahnsinn gehört dazu,<br />

sich die Quelle der Nekromantie zu nennen!<br />

Wer in Wahrheit in allen guten Wissenschaften unwissend ist, hätte sich lieber einen<br />

Narren denn einen Magister nennen sollen.“<br />

Die Bezeichnung „Fürst der Nekromanten“ ist voran gestellt. Das bedeutet, es geht um<br />

diesen Begriff <strong>im</strong> Besonderen.<br />

Interessant ist dabei, dass Trithemius sich darüber erregt, dass <strong>Faust</strong> sich so „zu<br />

nennen wagte“. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass <strong>Faust</strong> es selbst gewesen war, der<br />

mit seinem frechen Mundwerk das Augenmerk <strong>des</strong> Gehe<strong>im</strong>dienstes auf sich gelenkt<br />

hatte.<br />

In der nächsten Zeile bezeichnet Trithemius <strong>Faust</strong>, der sich so zu nennen wagte, als<br />

leeren Schwätzer. Heißt: Georg Sabellicus ist kein Fürst der Nekromanten.<br />

Es folgt ein Block von Titeln, „welche er sich anmaßt“, also – und das ist wichtig –<br />

ebenfalls nicht rechtmäßig trage.<br />

Anschließend bestätigt Trithemius seine erste Auffassung durch Wiederholung.<br />

„… welcher Wahnsinn gehört dazu, sich die Quelle der Nekromantie zu nennen! Wer in<br />

Wahrheit … unwissend ist …“ Heißt: Ich bestätige erneut, er ist tatsächlich kein Fürst<br />

der Nekromanten.<br />

Dazwischen eingebettet liegt der bereits erwähnte „angemaßte“ Titelblock:<br />

Magister Georg Sabellicus <strong>Faust</strong> der Jüngere, Quellbrunn der Nekromanten, Astrolog,<br />

Zweiter der Magie, Chiromant, Aeromant, Pyromant, Zweiter in der Hydromantie.<br />

Dass hinter diesen Titeln Codewörter stehen, wird erkennbar, da Trithemius erklärt,<br />

dass <strong>Faust</strong> in allen guten Wissenschaften unwissend sei. Das ist bekanntermaßen<br />

falsch, <strong>Faust</strong> war kein schlechter Astrologe. Trithemius, der sich mit der Astrologie sehr<br />

kritisch auseinandersetzte, weiß das selbstverständlich, doch darum geht es ihm in<br />

diesem Moment nicht, denn es sind Codewörter.<br />

20


Und zwar Co<strong>des</strong> für XYs, die Trithemius als „angemaßt“, als für <strong>Faust</strong> nicht zutreffend<br />

bezeichnet.<br />

Betrachtet man den Block dieser Titel, so stehen einige Titel für sich, andere sind<br />

erweitert.<br />

Die erweiterten Titel geben nicht viel her, sie sind wohl die „Umverpackung“.<br />

Interessant sind die isoliert stehenden Titel: Astrolog, Chiromant, Aeromant, Pyromant.<br />

Unter der Annahme, dass es hier um das Thema „Aufstand“ geht, bieten sich folgende<br />

Entschlüsselungen an:<br />

Fürst der Nekromanten / Rädelsführer<br />

Astrolog / Späher, Spion<br />

Chiromant / Bote, Nachrichtgeber<br />

Aeromant / Aufhetzer, Aufsässiger, Spötter<br />

Pyromant / örtlicher Anführer, Brandstifter<br />

Bei Pyromant ist es interessant zu wissen, dass <strong>im</strong> Vorfeld der jeweiligen Aufstände,<br />

als vorauseilender Indikator, verstärkt Brandstiftungen verübt wurden.<br />

<strong>Faust</strong>s Tätigkeit als Arzt wurde von Trithemius unterschlagen, „Arzt“ gehörte eventuell<br />

nicht zu den Codewörtern.<br />

Es sei festgehalten, <strong>Faust</strong>, von späteren Generationen auch gerne als Revolutionär<br />

gesehen, ist nach dieser Lesart <strong>des</strong> Briefes kein Rebell, kein Teil der revolutionären<br />

Bewegung.<br />

Diese Aufschlüsselung zu Grunde gelegt, erklärt auch warum Trithemius nicht nur in<br />

verstärkter Verneinung auf den „Fürst der Nekromanten“ noch mal eingeht, sondern in<br />

offenkundigem Ärger formuliert: „…welcher Wahnsinn gehört dazu, sich die Quelle der<br />

Nekromantie zu nennen!“<br />

<strong>Faust</strong> muss tatsächlich an irgendeinem schönen Tag, auf irgendeinem belebten<br />

Marktplatz der Teufel geritten haben; Rädelsführern wurden die Gliedmaßen<br />

gebrochen, anschließend wurden sie aufs Rad geflochten.<br />

Ohne Frage ist es makaber, dass als Codewort für Rädelsführer die Bezeichnung<br />

„Fürst der Nekromanten“ verwendet wird, Aufständische als Knochen oder auch als<br />

Tote bezeichnet werden, andererseits ist es symptomatisch für das Wertesystem jener<br />

Feudalgesellschaft; die unteren Schichten der Bevölkerung galten nichts. Selbst die<br />

fünf gewiss nicht armen Bauern, die einem örtlichen Schrannengericht vorsaßen, also<br />

Streitigkeiten um Getreide regelten, wurden als „Bauernfünfer“ tituliert.<br />

Spekulation und Wahrheit. Um die Wahrheit schlechthin geht es hier noch nicht, <strong>im</strong><br />

Moment handelt sich bei der hier vorgetragenen Deutung <strong>des</strong> Trithemius-Briefes um<br />

eine These; <strong>Faust</strong>kämpfer, <strong>Faust</strong>-Spezialisten und Historiker werden sich zu Wort<br />

melden.<br />

Zuvorderst darf es also noch <strong>im</strong>mer um die Lust an der möglichen Wahrheit gehen,<br />

wenngleich bereits eines sicher sein dürfte: der Brief <strong>des</strong> Trithemius ist nicht nur ein<br />

harmloser Brief unter guten Freunden. Man lasse also den „Staatsschutz“ <strong>im</strong> Spiel, die<br />

„Akte <strong>Faust</strong>“ erfährt eine pikante Steigerung.<br />

Johannes Virdung, Funktionsträger <strong>des</strong> Überwachungsapparates, überwacht den der<br />

Rädelsführerei verdächtigen <strong>Faust</strong>, muss ihn gegebenenfalls dem Gericht, der Folter,<br />

dem Rad zuführen, während er in seiner Eigenschaft als Hofastrologe von Heidelberg<br />

den lebenden Astrologen <strong>Faust</strong> eventuell dringlicher brauchte als der „Staatsschutz“<br />

einen weiteren überführten Rebellen.<br />

Diese gehe<strong>im</strong>en Qualen <strong>des</strong> lieben Virdung dürften einem Trithemius wohl kaum<br />

verborgen geblieben sein. Man inhaliere dazu den letzten Satz <strong>des</strong> Trithemius-Briefes:<br />

„Das ist es, was mir nach dem sichersten Zeugnis von jenem Menschen fest steht,<br />

<strong>des</strong>sen Ankunft du mit so großem Verlangen erwartest.“<br />

Um die Schale der Spekulation auch bis zum Rand zu füllen:<br />

21


“Wir erinnern uns auch, dass er uns durch einen Bürger die schriftliche Aufzeichnung<br />

seiner Torheit, welche er dir gab, überschickte.“ Ist „Bürger“ das Codewort für Agent?<br />

Könnte dieser gestelzte Satz bedeuten, dass ein Agent <strong>Faust</strong> ein Schriftstück mopste?<br />

Wenn das zuträfe, dann könnte es auch sein, dass jenes „Wir“ sowie das „Uns“, die<br />

Codewörter für den Gehe<strong>im</strong>dienst selbst sind.<br />

Die Entschlüsselung <strong>des</strong> Trithemius-Briefes wurde <strong>im</strong> Oktober 2009 mit eigenem<br />

Portal ins Internet gestellt; verzeichnet wurden 430 Klicks pro Monat. Meine<br />

Darstellung erfuhr keine Kritik. Nachdem mit August 2010 das Interesse deutlich<br />

abnahm, wurde das Portal aus Kostengründen gelöscht.<br />

*<br />

Johannes Virdung – die Spinne <strong>im</strong> Netz<br />

270 Burgen und Klöster werden 1525 von den Bauern niedergebrannt. An die 100 000<br />

Bauern verlieren be<strong>im</strong> Großen Bauernaufstand ihr Leben, die meisten von ihnen<br />

werden auf der Flucht getötet.<br />

Die diesem Flächenbrand vorangehende Ereigniskette, gegen deren Ende <strong>Faust</strong> zeitweise<br />

<strong>im</strong> Verdacht einer Rädelsführerschaft stand, hatte mehr als hundert Jahre zuvor<br />

ihren Anfang genommen.<br />

Anders als in Frankreich, wo die Herrscher es verstanden hatten sich die Interessen<br />

<strong>des</strong> Adels unterzuordnen, und das um 1500 vom König mit fester Hand regiert wird,<br />

hatte sich <strong>im</strong> Deutschen Reich ein Knäuel großer und kleiner Partikularinteressen<br />

entwickelt. Jahrhunderte hindurch hatten die Fürsten, insbesondere die Kuhhändel um<br />

die Kaiserkrone genutzt, um die Kaiser innenpolitisch zu entmachten.<br />

Spätestens mit dem 20. April 1424 hatte sich das Kaisertum auch sichtbar erledigt.<br />

Ein hohes Gerüst ist in Nürnberg aufgebaut, der Fürstbischof von Bamberg zelebriert<br />

auf dem „Heilstumsstuhl“ die Messe, zeigt die Reichskleinodien, segnet die Gläubigen<br />

und erteilt Ablass für den Besuch der Messe. Die Reichskleinodien sind nun mehr<br />

Gnade spendende Reichsreliquien; das ist freilich eine Sicht von Heute.<br />

Die damaligen Menschen erlebten die Reichskleinodien als Heilswerkzeuge eines<br />

„Heiligen Römischen Reiches“ in Verbindung mit einem großen geistig-geistlichen<br />

Anspruch.<br />

Nachdem sie die harte Hand <strong>des</strong> Kaisers weitgehend abgeschüttelt hatten, begannen<br />

kleine wie große Lan<strong>des</strong>herren, zuvorderst jedoch die Kurfürsten, ab 1400 mit dem<br />

Ausbau ihrer Macht in ihren Fürstentümern; die Anfänge waren mühsam.<br />

Es gibt kein einheitliches Recht, statt<strong>des</strong>sen gehören die Menschen je nach ihrem<br />

Stand in der damaligen feudalen Gesellschaftsordnung sowie unter Berücksichtigung<br />

ihrer Leibeigenschaft und Dienstzugehörigkeit verschiedenen Rechtskreisen an, die<br />

wiederum eigenen Gerichtsbarkeiten unterliegen. Dazu gibt es die stark von einander<br />

abweichenden Rechte und Privilegien <strong>des</strong> Adels sowie der einzelnen Städte und<br />

gewiss nicht zuletzt, die Rechte bäuerlicher Selbstverwaltung. Auch ist ein fürstlicher<br />

Herrschaftsbereich kein geschlossenes Ganzes, meist handelt es sich um Streubesitz,<br />

an welchem benachbarte Territorialherrn wiederum einzelne Rechte haben.<br />

Ein bescheidener Eichenwald führt mühelos fünf Parteien zusammen, bzw. reicht aus,<br />

um sie gegeneinander aufzubringen; Fürst, Nachbarfürst, Domherr, Stadt, Kloster,<br />

Dorfgemeinschaft haben möglicherweise ihre Rechte an diesem Wald. Ob Jagdrecht,<br />

Eichelmast, Holzschlag, Gerichtsbarkeit, Geleit oder das Sammeln von Knüppelholz,<br />

je<strong>des</strong> dieser einzelnen Rechte liegt oft in verschiedenen Händen.<br />

Zwar mangelt es noch an studierten Juristen, an Verwaltungsfachleuten, doch <strong>des</strong>sen<br />

ungeachtet wird nun in verstärktem Maße römisch-kanonisches Recht, wie es bereits<br />

von geistlichen Gerichten angewendet wird, in die noch weitgehend auf germanischem<br />

Recht ruhende Rechtsprechung eingeführt.<br />

Und war es bisher üblich, Verwaltungsaufgaben in Verbindung mit Pfründen an<br />

Angehörige <strong>des</strong> niederen Adels zu vergeben, werden nun auch Fachleute – vorzüglich<br />

Juristen, mit der Stelle betraut; die bisher mit dieser Aufgabe verbundene Pfründe wird<br />

neu definiert.<br />

22


Der Umbau wird nachhaltig vorangetrieben. 1398 melden Abgesandte der Stadt<br />

München vom herzoglichen Hof in Ingolstadt, Herzog Ludwig habe jetzt Juristen bei<br />

sich, die aus Schwarz Weiß zu machen verstünden.<br />

„Werrlichen ssal ich noch eyne cleyne zeit leben, sso wil ich machen, das du mich<br />

herre heissest!“ sagte um 1450 der thüringische Landgraf zum Grafen von Orlamünde-<br />

We<strong>im</strong>ar, nachdem dieser ihn nach alter Sitte mit „Du“ angeredet hatte.<br />

Neben der Missachtung alter Privilegien, erster Beschneidungen ländlicher Selbstverwaltung<br />

und Eingriffen in die Rechte der Stadtreg<strong>im</strong>enter werden auch die Steuern<br />

erhöht.<br />

Man halte dabei die Zeit um 1420 <strong>im</strong> Auge; es laufen erste Bauernunruhen durch die<br />

Landschaften, Städte beginnen die jüdischen Gemeinden aus ihren Mauern zu<br />

weisen, erstmalig sind regionale Hexenverfolgungen belegt.<br />

Mit dem „Wiener Konkordat“ von 1448 setzt sich das Erstarken der Lan<strong>des</strong>fürsten fort.<br />

Dieses Konkordat erlaubte das Einzelkonkordat; anstatt mit dem Kaiser, stellvertretend<br />

für das Reich, traf damit Rom als erste auswärtige Macht in kirchlichen Angelegenheiten<br />

fortan eigene Vereinbarungen mit den einzelnen Lan<strong>des</strong>fürsten.<br />

Damit trug Rom nicht allein den veränderten Machtverhältnissen Rechnung, die Kirche<br />

selbst war in Schwierigkeiten, auch musste sie den Zustrom von Kapital sicherstellen.<br />

Zuvorderst in Frankreich, aber auch in England und in zunehmenden Maße in<br />

Spanien, die Vertreter <strong>des</strong> Königs reden nicht nur verstärkt nur bei der Besetzung<br />

hoher kirchlicher Stellen mit, die Kirche selbst wird zunehmend besteuert, Devisenkontrollen<br />

sorgen dafür, dass nur wenig Geld nach Rom fließt und die kirchlichen<br />

Einnahmen <strong>im</strong> Lande verbleiben.<br />

Folglich richtet der Vatikan sein Auge verstärkt auf Italien und Deutschland.<br />

Ämterkauf, Pfründe, Sinekuren, Ablasshandel, so hässlich diese Geldgeschäfte auch<br />

sind, Rom braucht das Geld. Freilich auch, um <strong>im</strong> weiteren Verlauf jener Jahrzehnte<br />

nicht allein seine eigenen Territorialinteressen in Italien gegen die angestammten<br />

Ansprüchen der deutschen Kaiser zu verfolgen, sondern auch um als wachsende<br />

Territorialmacht gegen Christen in Italien Krieg zu führen, was die Erbitterung der<br />

Gläubigen in Deutschland in den Jahrzehnten vor Luther zusätzlich steigern wird.<br />

Daneben ist dem Vatikan auch an einem guten Einvernehmen mit den deutschen<br />

Kurfürsten gelegen. Irgendwann standen wieder Kaiserwahlen an, und wie deutlich der<br />

Vatikan über die Kurfürsten dabei Einfluss zu nehmen suchte, zeigen später die<br />

geradezu beispielhaften Vorgänge um die Nachfolge Kaiser Max<strong>im</strong>ilians.<br />

Hinzu kommt die Reformbedürftigkeit der Kirche. Die Kirche ist eine Adelskirche, ihre<br />

Repräsentanten kommen aus der privilegierten Oberschicht, sie leisten wenig,<br />

bedienen sich jedoch ungeniert an Steuern, Abgaben, Pfründen, Sinekuren und Titeln.<br />

Die kirchliche Unterschicht – vereinfacht gesagt – sind unterbezahlte Scholaren, die<br />

nicht einmal eine Messe richtig zu lesen verstehen.<br />

Das mittlere Management aber fehlt weitgehend, Priesterseminare in heutigem Sinn<br />

werden erst um 1550 entstehen.<br />

Zuvorderst durch ihren ungenierten Lebensstil, die Würdenträger der Kirche, der<br />

Papst, sie stehen <strong>des</strong>halb nicht nur seit langem in der Kritik, sie sind zum Spott der<br />

Straße geworden. Gleichzeitig ist der Glaube den Menschen wichtig, sie leiden an den<br />

Zuständen der Kirche.<br />

Viele unter den geistlichen Würdenträgern nehmen durchaus wahr, dass<br />

Entscheiden<strong>des</strong> geschehen müsste, doch wie, wenn es be<strong>im</strong> ersten Schritt bereits an<br />

das eigene Vermögen, an die eigenen Vorrechte geht. Auch geht es um tausende<br />

gültiger Urkunden und rechtskräftiger Titel, mit welchen Würden und Ämter<br />

abgesichert sind. Reform an Haupt und Gliedern ist dringend angesagt – man beginnt<br />

zaghaft.<br />

Freie Städte und Fürsten – geistliche wie weltliche, sind be<strong>im</strong> Aufbau der von Juristen<br />

geführten Verwaltungen einigermaßen fortgeschritten, deren Personal, Organisation<br />

und Kenntnisse werden nun für die Umsetzung der ersten Reformen gebraucht.<br />

Die Früchte, die den Lan<strong>des</strong>herren be<strong>im</strong> „Wiener Konkordat“ zufallen, sind erheblich.<br />

Mit den Einzelkonkordaten werden die Territorialfürsten zu Teilhabern an den<br />

23


päpstlichen Finanzgeschäften, be<strong>im</strong> Ablaß erhalten sie bis zu 40% der vereinnahmten<br />

Gelder, <strong>des</strong> weiteren erhalten sie Visitationsrechte in kirchlichen Angelegenheiten vor<br />

Ort. Es beginnt das Lan<strong>des</strong>kirchenreg<strong>im</strong>ent, der Vorläufer der heutigen Lan<strong>des</strong>kirchen.<br />

Ob es um die Neuorganisation eines überalterten Klosters geht, um die Modernisierung<br />

einer alten Stiftung oder um die Verwendung einer neuen großherzigen<br />

Spende, überall beginnen Vertreter der Kirche und reformwillige Christen mit den<br />

Amtmännern der Städte und Fürsten zusammenzuarbeiten.<br />

Neben den kirchlichen Verwaltungsreformern arbeiten auch die Visitatoren der Klöster<br />

Hand in Hand mit weltlichen Institutionen; der Visitator Abt Trithemius trifft nicht <strong>im</strong>mer<br />

auf reformwillige Äbte, gelegentlich braucht es die Policey und die Nacht, um sich<br />

Zutritt in ein Kloster zu verschaffen. Filmreife Szenen spielen sich dann gelegentlich<br />

ab, wenn der Visitator aus den Betten jagt, was nicht hinein gehört, das Silberbesteck<br />

aus den Kästen wirft, die schönen Pelzmäntel aus den Truhen zerrt. Und eine Äbtissin<br />

respektvoll mit „Schwester“ anzureden, bewirkt auch nicht <strong>im</strong>mer Reformwilligkeit.<br />

Zwei hochgezogene Brauen sind die Antwort, und: „Mein Herr Bruder geht in Eisen!<br />

Mein Herr Bruder ist Herr zu Löwenstein! Auch hat meinen Nonnen niemand gesagt,<br />

dass sie hier nach den Regeln alter Mönche von vor tausend Jahren leben werden!“<br />

Der christliche Reformwille kommt den weltlichen Kräften sehr zu pass, kleinweis<br />

sichern sie sich Rechtsansprüche, behutsam schieben sie ihre Amtleute in kirchliches<br />

Terrain hinein.<br />

Dass es Luther nicht gebraucht hätte, wie einige Autoren meinen, da die Reformation<br />

bereits in Gang gekommen war, geht freilich zu weit. Ein Abt Trithemius ist ein hoch<br />

privilegierter Vertreter der Feudalgesellschaft, er will gute alte Ordnung und die klare<br />

Unterscheidung zwischen dem, was unten ist und dem, was oben schw<strong>im</strong>mt. Der<br />

gängigen Kritik am verlotterten Papsttum oder am ungeniert prunkvollen Auftreten der<br />

kirchlichen Würdenträger enthält er sich; Mißstände, die Luther bereits kaum mehr<br />

interessieren, 1517 greift er den Ablasshandel an, 1519 stellt er bei der Leipziger<br />

Disputation die Unfehlbarkeit <strong>des</strong> Papstes und der Konzilien in Frage.<br />

Von den Geschäften der hohen Politik weiß man in der Öffentlickeit so gut wie nichts,<br />

der Zorn der Bevölkerung erwächst aus dem, was sie täglich unmittelbar vor Ort erlebt:<br />

„Der Apt hat uns einen auslendischen, fremden Unmenschen als Kastner, Schultheiß<br />

und Zehntrichter gesetzt, unkundig <strong>des</strong> Landbrauchs und nit sonderlich verwandt.<br />

Selbiger hat die gemeinde beschwert mit schinden, schaben und schatzen und keinen<br />

armen zum verhör kommen lassen, sofort eingesperrt und hohes Kostgeld erpresst.“<br />

„…das Domkapitel und die mönche sind gänzlich ohn nutz! / Täglich mehr überlast<br />

und beschwerung mit wildpret, zinsen, fronen, reis (Wehrsteuer), mehrung der gülten<br />

und steuern samt andern übeln.“<br />

Nicht allein über das römische Recht, das die Menschen nicht kennen und folglich als<br />

Unrecht empfinden, <strong>des</strong>sen zügige Einführung bei gleichzeitigem Mangel an ausgebildeten<br />

Juristen selbstredend auch zu Unrechtsurteilen führt, sondern auch über die<br />

fortgesetzte Beschneidung der Zuständigkeit bäuerlicher Gerichtsbarkeit „unter der<br />

Linde“, zerstören die Fürsten die hergebrachte bäuerliche Selbstverwaltung.<br />

Für Aufregung sorgt auch die Willkür der neuartigen Policey. Und neben anderen<br />

widrigen Neuerungen, steigen die Steuern, dazu werden fortlaufend neue Steuern<br />

erfunden: Türkensteuer, Biersteuer, Ungeld (Mehrwertsteuer), Klauengeld<br />

(Viehsteuer), Weinsteuer, Bodengeld (zur Befreiung der Insel Rhodos von den<br />

Türken), Guldengeld (zum Abbau der angehäuften Schulden der Lan<strong>des</strong>herrn),<br />

Weihsteuer (Kosten der Bischofsweihe), Todfallsteuer (Tod <strong>des</strong> Bauern), Erbteilsteuer,<br />

Kriegssteuer (selbst wenn kein Krieg herrscht), Bethen (aus einmalig erbetenen<br />

Sondersteuern resultierende Dauersteuern) …<br />

Ärger grassiert auch in den Städtchen und Städten.<br />

„Es unterstehen sich die vögte der adeligen in ihren schlössern, häusern und dorfern<br />

mit hantierungen <strong>des</strong> handels, mit brauen, mulzen und schankstatt, wollen kaufen<br />

salz, eisen, butter, wolle und alle hantierungen, wie die namen hat, keine<br />

ausgenommen, davon wir unsere erhaltung und narung in den stätten haben sollen.<br />

Das alles wird uns vom adel und den iren mit gewalt entzogen und genommen.“<br />

24


Die Privilegierten nutzen also ihre Steuerfreiheit, um aus diesem Wettbewerbsvorteil<br />

heraus, Bauern und Bürger aus ihren herkömmlichen Erwerbszweigen zu drängen.<br />

Adel, Amtmänner, Geistliche sind privilegiert, ebenso die Klöster. Diese bunkern und<br />

spekulieren mit Getreide, und betreiben in den Städten Geschäfte und Schenken.<br />

Privilegiert zu sein, bedeutete jedoch mehr als nur Steuerfreiheit:<br />

„Wir haben hir 11 gefreite Häuser, teils dem Bischof, teils der Ritterschaft gehörig,<br />

dazu 8 gefreite Priesterhäuser. Daraus bishero nichts kommt an wache<br />

(Wachbereitschaft), frone, bethe noch ganz kain andere burgerliche mitleidung<br />

(Beteiligung).“<br />

Neben der wachsenden Unruhe unter den Bauern sowie unter der Bevölkerung in den<br />

Städten wächst auch der Unmut unter der Ritterschaft. Zwar sind sie noch <strong>im</strong>mer hoch<br />

angesehen, doch sind viele von ihnen verarmt, und nachdem sie zunehmend bei der<br />

Neuordnung unberücksichtigt bleiben, greifen sie, um ihren Lebensunterhalt zu<br />

bestreiten, verstärkt auf ihre alten Ehrenrechte zurück; Fehde, Straßenzoll – also Raub<br />

sowie Pfandnahme. Vertreter dieser drei Gruppierungen, nämlich Bauern, Städte und<br />

auch einige Ritter, werden sich <strong>im</strong> Großen Bauernkrieg zusammenschließen.<br />

Ein weiteres Problem sind die Scharen arbeitsloser Söldner, sie halten zeitweise<br />

ganze Landstriche besetzt.<br />

Die Unruhe, die Aufgebrachtheit – insbesondere <strong>im</strong> bevölkerungsstarken Südwesten<br />

Deutschlands gemahnt stark an die Zustände um 1200, wie sie damals in Italien, in<br />

Südfrankreich und in den Landschaften auf beiden Seiten <strong>des</strong> Rheins geherrscht<br />

hatten. Damals hatten sich Kaiser und Papst über die Einführung der Folter und <strong>des</strong><br />

Feuertods auf ein entschiedenes Vorgehen gegen die sogenannten Ketzer verständigt<br />

und hatten damit Erfolg gehabt.<br />

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass Papst Eugen IV. <strong>im</strong> Jahr 1437<br />

sowie <strong>im</strong> Jahr 1445 jeweils eine „Hexenbulle“ erlässt: klare Anweisungen der Unruhe<br />

hart entgegen zu treten. In diesen Jahrzehnten kommt es in Verbindung mit<br />

Missernten zwar in einzelnen Landschaften zur Jagd auf Hexen, doch die<br />

gewünschten umfassenden Hexenverfolgungen unterbleiben.<br />

Obgleich eine Bulle, genauer: „Littera Apostolica sub plombo“, das höchste päpstliche<br />

Sendschreiben, mit Blei feierlich gesiegelt, für jeden Gläubigen bindend ist.<br />

Doch die weltlichen und geistlichen Fürsten in Deutschland sind selbstbewusst<br />

geworden, sie haben über die Jahrhunderte nicht nur die harte Hand <strong>des</strong> Kaisers<br />

abgeschüttelt, sie gestatten auch dem Papst keinen Eingriff in ihre territorialen Rechte<br />

mehr – die Inquisitoren sind unmittelbar dem Papst unterstellt.<br />

Nun ohne die Mitwirkung der päpstlichen Inquisitoren umfassende Hexenverfolgungen<br />

durchzuführen, war in dieser Zeit allerdings nicht möglich, noch fehlte dafür <strong>im</strong><br />

deutschen Reich die breite Rechtsgrundlage. Statt<strong>des</strong>sen unterscheidet man neben<br />

dem straffreien Nutzzauber zwischen Schadzauber und Hexerei. Wobei Hexerei in<br />

kirchliche Zuständigkeit fällt, für die Ahndung von Schadzauber ist dagegen die<br />

weltliche Gerichtsbarkeit zuständig; die entsprechenden Zauber-Paragraphen sind<br />

dabei von Region zu Region stark verschieden.<br />

Wie stark das Interesse <strong>des</strong> Vatikans an den Vorgängen in Deutschland, freilich auch<br />

seine Befürchtungen waren, zeigt der erneute Vorstoß <strong>im</strong> Jahr 1484, die berühmte<br />

„Hexenbulle“ von Papst Innozenz VIII.<br />

Papst Innozenz VIII. war vor seiner Wahl zum Papst als Kardinal Giovanni Battista<br />

Cibo zuständiger Legat <strong>des</strong> Papstes für Deutschland gewesen, der vormalige<br />

Gesandte war also mit den innerdeutschen Zuständen bestens vertraut. Seine<br />

„Hexenbulle“ ist ein nochmaliges energisches Machtwort, wie mit den Unruhen –<br />

freilich auch wie mit dem Spott und der Kritik an der Kirche, umzugehen sei.<br />

In der heutigen Öffentlichkeit ist die Bulle ein schlagen<strong>des</strong> Beispiel für die geradezu<br />

unglaubliche Rückständigkeit der katholischen Kirche.<br />

Die Bulle belegt, dass der Vatikan um seinen Erhalt kämpfte.<br />

Dass der Vatikan von Hexen spricht, jedoch Unruhen meint, das nennt sich Politik.<br />

25


Wenn selbst ein Abt Trithemius und ein Kaiser Max<strong>im</strong>ilian an Zauberei und Hexenflug<br />

glauben, dann lautet das Ettikett eben auf Hexenverfolgung.<br />

Die „Hexenbulle“ ist zwar jedermann zugänglich, doch da die Menschen bis heute<br />

nicht lesen, glauben sie noch <strong>im</strong>mer, dass der Vatikan an reitende Hexen glaubte.<br />

In der Tat – wohl für all die vielen gedacht, die Hexerei für möglich halten, steht bereits<br />

wenige Zeilen nach der Einleitung zu lesen:<br />

„Jüngst ist uns freilich nicht ohne außerordentliche Betrübnis zu Gehör gelangt, dass<br />

in etlichen Gegenden Deutschlands und zwar in … viele Personen beiderlei<br />

Geschlechts, ihr eigenes Heil missachtend … mit Dämonen Unzucht treiben und durch<br />

ihre Zaubersprüche … die Geburten der Frauen … Vieh … Weinberge … Männer an<br />

der Zeugung, Frauen an der Empfängnis … zu hindern …“<br />

Einer umfangreichen Liste von Schadzauber, gleichsam nebenbei angehängt, werden<br />

dann wichtige Tatbestände genannt: “Überdies scheuen sie sich nicht, den Glauben …<br />

mit gotteslästerlichen Reden zu verleugnen … andere Ruchlosigkeiten … zum<br />

Verderben ihrer Seele, zur Beleidigung der göttlichen Majestät wie auch zum<br />

schädlichen Beispiel und Ärgernis vieler zu vollbringen.“<br />

Heißt, Respektlosigkeit gegenüber dem Glauben, der Kirche und ihrer Stellvertreter.<br />

Es folgt die Klage, dass die „geliebten Söhne Hennrici Institoris sowie Jacobus<br />

Sprenger“ (die durch den Papst best<strong>im</strong>mten Inquisitoren) auf Widerstand stoßen: „…<br />

scheuen einige Kleriker und Laien, die mehr verstehen wollen, als nötig ist, nicht davor<br />

zurück … hartnäckig zu versichern … die dortigen Personen wie auch<br />

Ausschreitungen nicht namentlich und speziell best<strong>im</strong>mt worden sind, dass jene ganz<br />

und gar nicht … vorkommen … <strong>des</strong>wegen den Inquisitoren nicht erlaubt sei … ihr Amt<br />

auszuüben … zur Bestrafung, Inhaftierung und Zurechtweisungen dieser Personen<br />

wegen der vorgenannten Ausschreitungen und Verbrechen nicht zugelassen werden<br />

müssen. Deswegen bleiben … Ausschreitungen und Verbrechen, nicht ohne Verlust<br />

… deren ewiges Seelenheils, unbestraft.<br />

Daher wollen wir jegliche Hindernisse, durch welche die Amtshandlungen dieser<br />

Inquisitoren irgendwie behindert werden könnten, aus dem Weg räumen …“<br />

Die dreifache Erwähnung von „Ausschreitungen“ lassen keine Zweifel über den Zweck<br />

der Hexenbulle; dem Vatikan geht es nicht um Hexenkünste, sondern um das<br />

Niederhalten der laufenden Unruhen in Deutschland.<br />

In allen Bevölkerungsschichten war der „Hexenglaube“ verwurzelt; wenngleich die<br />

Annahmen, was es damit auf sich habe, weit auseinander gingen. Neben der breiten<br />

Masse gab es aber auch Einige, die manches von dem, was da geglaubt wurde, als<br />

Einbildung abtaten, und es gab sogar Menschen, die derart vom Verstand beherrscht<br />

waren, sie wussten mit den mystisch-okkulten Vorstellungen ihrer Zeit rein gar nichts<br />

anzufangen; Jacob Fugger der Reiche und Kaiser Karl V. zählen zu ihnen.<br />

Die Absicht <strong>des</strong> Vatikans, unterstützt von Max<strong>im</strong>ilian, Sohn <strong>des</strong> Kaisers und Verwalter<br />

der habsburger Lande am Niederrhein, die Erbitterung, die Diskussionen über die<br />

realen Ursachen und Urheber der sich stetig verschlechternden Lebensbedingungen<br />

auf eine phantastische Welt zu lenken, die Menschen durch furchtbarste Hexennachrichten<br />

zu verwirren, sie wahllos durch ein Inferno von Scheiterhaufen am Leben<br />

zu bedrohen, stößt bei Fürsten und Bischöfen auf Ablehnung. Die Situation ist zu weit<br />

gediehen, sie wissen, welchen Aufruhr Max<strong>im</strong>ilian vier Jahre zuvor <strong>im</strong> Raum Flandern<br />

mit einer breiten Hexenverfolgung losgetreten hatte.<br />

Man hat auch nicht vergessen, dass der erste Inquisitor in Deutschland, Konrad von<br />

Marburg, <strong>im</strong> Jahre 1233 auf der Heide bei Marburg von aufgebrachten Menschen wie<br />

ein Hund erschlagen wurde. Der Vatikan trifft mit seiner Hexenbulle auf energischen<br />

Widerstand – der Eifer der „geliebten Söhne Hennrici Institoris sowie Jacobus<br />

Sprenger“ läuft ins Leere.<br />

Nichts<strong>des</strong>totrotz wird der Vatikan die Vorgänge auch weiterhin scharf beäugt haben.<br />

Arbeiteten der Astronom Johannes Virdung und Abt Johannes Trithemius etwa für<br />

einen Nachrichtendienst der Kirche?<br />

26


1488, vier Jahre später, wird auf dem Reichstag in Esslingen auf Veranlassung Kaiser<br />

Friedrichs III. der „Schwäbische Bund“ als Zusammenschluss der schwäbischen<br />

Reichsstände gegründet.<br />

„Neben Territorialfürsten wie zunächst dem Herzog von Tirol und dem Grafen und<br />

späteren Herzog von Württemberg waren der Hohe Adel wie Werdenberg, Helfenstein,<br />

Montfort und Fürstenberg sowie Ritter und Edelknechte <strong>des</strong> niederen, wenngleich<br />

wohlhabenden Adels vertreten. Neben Äbten und Fürstäbten traten auch Bischöfe<br />

dem Bund bei, wie der Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg und der<br />

Erzbischof Johann von Trier. Auch die 20 schwäbischen Reichstädte konnten<br />

eingebunden werden. Der Bund bewährte sich als wesentliches Instrument der<br />

Reichsreform und <strong>des</strong> Landfriedens, was ihm seine verfassungsgeschichtliche<br />

Bedeutung verleiht.“<br />

Neben anderen Interessen, die mit der Gründung <strong>des</strong> „Schwäbischen Bun<strong>des</strong>“ verfolgt<br />

wurden, wie die Beilegung von ernsten Streitigkeiten unter den Mitgliedern selbst, war<br />

mit dem Bund jene Organisation geschaffen, welche die laufenden Unruhen in der<br />

Bevölkerung <strong>im</strong> Blick hatte und Gegenmaßnahmen ergriff.<br />

Die „Hexenbulle“ hatte sich damit von ihrem gedachten Zweck her erledigt.<br />

Ganz und gar nicht erledigt hatte sich der aus der „Hexenbulle“ resultierende<br />

„Hexenhammer“, eine Prozessordnung, die 1488 vorgelegt wurde und nun darauf<br />

wartete, dass sie in den einzelnen deutschen Fürstentümern die überkommenen<br />

Zauber- und Hexenparagraphen ersetzte, was freilich weit mehr bedeuten würde als<br />

eine Vereinheitlichung der Wahrheitsfindung. Um dem Selbstbewusstsein der<br />

geistlichen und weltlichen Fürsten zu entsprechen, sprich, um den Inquisitoren die<br />

Zuständigkeit in der Sache zu nehmen, musste auch Hexerei als ein Delikt gelten, das<br />

unter die weltliche Gerichtsbarkeit fiel, mit der Folge, dass es keine differenzierte<br />

Strafen mehr geben würde, wie Schadenersatz, Einziehung <strong>des</strong> Vermögens oder<br />

Ausweisung, statt<strong>des</strong>sen nur noch eine Strafe: Tod auf dem Scheiterhaufen.<br />

„1512 nahmen bündische Truppen die Burg Hohenkrähen <strong>im</strong> Hegau ein, um gegen<br />

den landfriedensbrüchigen Niederadel vorzugehen.“<br />

„Von März bis Oktober 1519 ging der Bund militärisch gegen Herzog Ulrich von<br />

Württemberg vor.“<br />

„1523 zog man <strong>im</strong> sogenannten Fränkischen Krieg gegen die fränkischen Ritter um<br />

Hans Thomas von Absberg … 23 Burgen wurden mehrheitlich zerstört: Krögelstein,<br />

Sparneck, Wachbach …“<br />

1523 zerstört der „Schwäbische Bund“ 32 Burgen der an der Sickingischen Fehde<br />

beteiligten Ritter.<br />

Und <strong>im</strong> Jahr 1525 wird er sich mit der Niederschlagung <strong>des</strong> großen Bauernaufstands<br />

in die Geschichtsbücher schreiben.<br />

Wie ausgreifend das Engagement <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong> war, zeigt der Einsatz seiner Söldner<br />

bei der Niederschlagung <strong>des</strong> Bauernaufstands <strong>im</strong> Salzburger Land <strong>im</strong> Jahr 1526.<br />

Genau besehen hätte der Bund gleich nach Ungarn weitermarschieren können. Nicht<br />

zum Kampf mit den Bauern, sondern mit den Türken. Punktgenau mit der Niederschlagung<br />

der Bauernrevolte in Ungarn, deren Grausamkeiten die Vorgänge in<br />

Deutschland weit hinter sich lassen, begann der Angriff und Vormarsch der Osmanen.<br />

<strong>Faust</strong>, <strong>im</strong> Verdacht der Rädelführerschaft, ist eine Angelegenheit, die sowohl weltliche<br />

wie geistliche Mitglieder <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong> interessierte.<br />

Gehörten Trithemius und Virdung etwa zum Nachrichtendienst, der das Einzugsgebiet<br />

<strong>des</strong> Bun<strong>des</strong> kontrollierte?<br />

Dass der Kurfürst und Pfalzgraf zu Heidelberg kein Mitglied <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong> war, trübt<br />

zwar diese Überlegung, doch als „Anlieger“ <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong> und nicht zuletzt selbst<br />

„Betroffener“ waren derartige Erkenntnisse auch für den Pfalzgrafen wichtig.<br />

Doch angenommen, Virdung arbeitete für den Bund, warum berichtete Trithemius ihm<br />

dann direkt, wo doch der Sitz <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong> Ulm war?<br />

27


Eine Überlegung, die freilich auch nicht hilft, denn möglicher weise reichte Virdung die<br />

Nachricht nach Kenntnisnahme weiter.<br />

Gutmöglich verhält es sich auch so, dass der Hof von Heidelberg ein eigenes<br />

Informationsnetz betrieb.<br />

Die Diskussion darüber, wem Virdung und Trithemius zuarbeiteten, scheint müßig.<br />

Neben den handfesten Interessen jeder einzelnen Partei <strong>im</strong> Kreis der Gewinner dieser<br />

fortschreitenden Umwälzung existierte über die „Reorganisationen“, die „Visitationen“<br />

und über den „Schwäbischen Bund“ ein nahezu undurchschaubares Geflecht von<br />

Kooperationen; hier <strong>im</strong> Nachhinein feststellen zu wollen, wer das Netz betrieb, wer an<br />

den Informationen teil hatte, führt vermutlich zu keinen überzeugenden Ergebnissen.<br />

Auch wäre ein Gehe<strong>im</strong>dienst keiner, wenn er nicht gehe<strong>im</strong> wäre.<br />

Nun anzunehmen, weil ein Abt <strong>im</strong> Spiel war, dass es Rom gewesen sein müsse, das<br />

die Fäden zog, ist zu einfach. Abt Trithemius hat nicht allein die obligate Rom-Reise<br />

niemals unternommen, das Schreiben <strong>des</strong> Abts ist bis zur Stunde der einzige Beleg<br />

seiner Bekanntschaft mit dem Hofastrologen. Möglicher weise wurde er von Johannes<br />

Virdung auch nur mit diesem einen <strong>Faust</strong> betreffenden Auftrag betraut, allein <strong>des</strong>halb,<br />

weil <strong>Faust</strong> durch seine Reisefreudigkeit die Gewinnung von Erkenntnissen dermaßen<br />

erschwerte, dass Virdung sich veranlasst sah, sich über Abt Trithemius der kirchlichen<br />

Vernetzung zu bedienen. 1505 weilte Abt Trithemius be<strong>im</strong> Kurfürsten in Heidelberg,<br />

dabei könnte ihn der Astronom Virdung um seine Mitarbeit gebeten haben; der<br />

Zeitraum, den Abt Trithemius in seinem Bericht über <strong>Faust</strong> abgreift, fügte sich gut in<br />

diese Überlegung ein.<br />

Wesentlich ergiebiger scheint wohl eine Würdigung <strong>des</strong> Astronomen Johannes<br />

Virdung in dieser Angelegenheit zu sein. Zunächst einmal darf verwundern, dass er als<br />

Hofastrologe zwar an der Heidelberger Universität verschiedene Fächer lehrte, jedoch<br />

keine Vorlesungen <strong>im</strong> Studienfach Astrologie hielt. Das ist umso erstaunlicher, als er<br />

für Kaiser Max<strong>im</strong>ilian I. sowie <strong>des</strong>sen Enkel und Thronfolger Karl V. wiederholt<br />

„Prognosen“ lieferte, die derart wundersam brauchbar waren, dass er 1522 als Dank<br />

das kaiserliche Generalprivileg erhielt; es untersagte den unbefugten Nachdruck<br />

seiner Schriften.<br />

1524 ist für die Zunft der Astrologen ein schwarzes Jahr. Großes will sich am H<strong>im</strong>mel<br />

ereignen, die Astrologen haben eine „große Konjunktion“ vorausberechnet und in den<br />

Sternen gelesen. Vielleicht, weil Endzeitst<strong>im</strong>mung herrscht, eventuell weil die<br />

Konjunktion mit den „Fischen“ zu tun hat, sie prognostizieren für das Jahr 1524 sintflutartige<br />

Regenfälle. Überall in Europa werden Vorräte auf die Speicher geschafft,<br />

Reisende weigern sich <strong>im</strong> Parterre zu logieren und es werden Archen gebaut.<br />

Doch die Schleusen <strong>des</strong> H<strong>im</strong>mels bleiben zu – die Astrologen sind blamiert.<br />

Ein Astrologe triumphiert allerdings – der Leser kennt ihn bereits.<br />

Es handelt sich dabei nicht um <strong>Faust</strong>, <strong>Faust</strong>s Prognosen für das Jahr 1524 sind uns<br />

nicht überliefert.<br />

„Vnd die geringen menschen, schnö<strong>des</strong> geschlechts werden sich erhöhen wider die<br />

Kunig und grossmächtige, sie vntersteen zu vertreiben aus irem gewalt und<br />

jemmerlich vervolgen.“ 1524 setzen in der Grafschaft Stühlingen <strong>im</strong> Südschwarzwald<br />

Bauernunruhen ein, <strong>im</strong> Februar 1525 bricht der große Bauernkrieg los.<br />

Diese erstaunlich treffsichere Prognose wurde 1522 vom Hofastrologen von<br />

Heidelberg, der Spinne <strong>im</strong> Nachrichtennetz, Johannes Virdung, niedergeschrieben.<br />

Virdungs bemerkenswerte Fähigkeit kommende Ereignisse inklusive Datumsangabe in<br />

den Sternen zu lesen, muss nicht weiter kommentiert werden.<br />

Man unterstellt wohl kaum zuviel, wenn man sagt, Virdung wusste, eine Prognose wird<br />

erst richtig gut, so man die Ausdeutung <strong>des</strong> Sternengesangs mit der Stammwürze<br />

handfester Informationen verrührt.<br />

Und Informationen aus erster Hand wusste Virdung offenbar sehr zu schätzen; das<br />

höchst erstaunlich rasche Ende <strong>des</strong> Feldzugs Franz von Sickingens gegen den<br />

Erzbischof und Kurfürsten von Trier – mehr Details dazu <strong>im</strong> Essay „Astrologie – die<br />

große Hure“, legt den Verdacht nahe, Virdung hat wie von Franz von Sickingen<br />

28


eauftragt den besten Zeitpunkt für den Feldzug in den Sternen gelesen, anschließend<br />

hat er den Feldzugsplan seines Kunden an den „Schwäbischen Bund“ verraten.<br />

*<br />

<strong>Faust</strong> – der Schulmeister am Glockenseil<br />

<strong>Faust</strong> war ein mobiler Mensch, nichts Besonderes in jener Zeit. Dass <strong>Faust</strong> in heutigem<br />

Sinn sesshaft gewesen, einen festen Arbeitsplatz hatte, darauf verweist einzig die bei<br />

Trithemius genannte Schulmeisterstelle. „In den Fasten dieses Jahres kam er nach<br />

Kreuznach.“ schreibt Abt Trithemius am 20. Aug. 1507. Es musste also März gewesen<br />

sein; <strong>Faust</strong> war gerade um die 27 Jahre alt.<br />

„Während dieser Zeit war die Schulmeisterstelle in gedachter Stadt unbesetzt, welche<br />

ihm … übertragen wurde.“<br />

Ein Arbeitsplatz, von dem damals Tausende verlumpter, halbverhungerter Scholaren<br />

nur träumen konnten. Nicht allein wegen <strong>des</strong> kargen Einkommens, endlich hätte man<br />

auch einen Platz zum Schlafen, ein Dach über dem Kopf und <strong>im</strong> Winter einen Ofen.<br />

Die erforderlichen Qualifikationen für einen Schulmeister waren gering, er hatte den<br />

Söhnen besser gestellter Bürger das Schreiben, Lesen, ein wenig Rechnen sowie<br />

Latein beizubringen.<br />

Die Entlohnung war, wie bereits gesagt, allerdings mager, der Jahreslohn betrug<br />

dreieinhalb Gulden. Ein halber Gulden mehr als der Lohn eines Knechts, wobei der<br />

Knecht am Tisch <strong>des</strong> Bauern saß, ein Schulmeister hatte für sich selbst zu sorgen.<br />

Im Allgemeinen war die Stelle mit den Aufgaben eines Mesners oder mit<br />

Schreibarbeiten bei Gericht verbunden.<br />

Nicht auszudenken, was <strong>Faust</strong>, der Einfallsreiche, zum Zeitvertreib so alles in die<br />

Gerichtsakten „hinein und hinaus praktizierte“. Auch amüsant, sich vorzustellen wie er,<br />

seines Zeichens <strong>im</strong>merhin Teufelsbündner, als Mesner am Seil zappelte, wenn er<br />

versuchte, die Glocke in Schwung zu versetzen.<br />

Es stellt sich die Frage, warum ein <strong>Faust</strong>, der uns aus dem Brief <strong>des</strong> Trithemius derart<br />

selbstbewusst und umtriebig entgegentritt, sich auf die Schulmeisterstelle überhaupt<br />

einließ. Hatte er etwa bei einem seiner jüngsten Auftritte einen Dämpfer erhalten,<br />

eventuell sich eine ganz besondere Frechheit geleistet, und war zum Schluss gelangt,<br />

dass es an der Zeit sei, weniger von sich reden zu machen, statt<strong>des</strong>sen mehr<br />

Wohlverhalten an den Tag zu legen? Oder war er in diesem Winter zu Gast auf der<br />

Ebernburg, gleich hinter Kreuznach, gewesen, und hatte sich seinem Gönner verpflichtet<br />

gefühlt? Franz von Sickingen, genauso jung wie <strong>Faust</strong>, hätte ihn weiterhin<br />

gern in seiner Nähe gehabt, und <strong>Faust</strong> tröstete sich eventuell damit, dass er durch<br />

Franz von Sickingen weitere interessante Leute kennen lernte.<br />

Jedenfalls wurde es ihm rasch langweilig, er begann „mit den Knaben die<br />

schändlichste Unzucht zu treiben und entfloh, als die Sache ans Licht kam, der ihm<br />

drohenden Strafe.“<br />

Die spätere Kur- und Nahe-Weinstadt Bad Kreuznach wusste sich bei <strong>Faust</strong> jedenfalls<br />

auf merkwürdige Weise dafür zu bedanken, dass er die Söhne der Stadt geschändet<br />

hatte; fortgerissen von nationaler Erregung um Goethes „<strong>Faust</strong>“ widmete sie ihm ein<br />

„<strong>Faust</strong>haus“. Sie ließ allerdings einen Spruch in die Balken <strong>des</strong> Hauses schlagen:<br />

„Böse ist`s um den gelegen, der sich tut dem Trunk ergeben! Doch dem Braven ist`s<br />

zu gonnen, wenn am Abend sinkt die Sonnen, dass er in sich geht und denkt, wo man<br />

einen Guten schenkt!“<br />

Wunderbar! Kröver Nacktarsch lässt grüßen! Aus Unzucht mit Minderjährigen wird<br />

Weinwerbung. <strong>Faust</strong> wäre begeistert, auch über sein schmuckes Fachwerkhäuschen.<br />

Lieblichst zu bewundern, insbesondere aus der Vogelperspektive, von der Nahebrücke<br />

herab – allerdings mit einem Fehler, dem man ihm freilich nicht ansieht; es wurde 100<br />

Jahre später erbaut. Dass <strong>Faust</strong> hier einst beschwingt beschwipst hinein und hinaus<br />

gehüpft war, man möchte es nur zu gern annehmen.<br />

29


Nehmen wir es doch einfach an! Außerdem ist „<strong>Faust</strong>“ keine Schutzmarke, sondern<br />

ein Synonym, nicht nur für Städtereisen, auch für geleerte Beutel. Von daher sollte<br />

sich heute jede Stadt einfach ein <strong>Faust</strong>haus leisten.<br />

*<br />

Medicus <strong>Faust</strong>, in der Blütezeit der Pflanzenheilkunde<br />

Welch eine Ehre! Abertausende von Ärzten jener Jahrzehnte, ganz gleich ob<br />

selbsternannte Wanderärzte oder studierte Ärzte, sie allesamt sind <strong>im</strong> Orkus der<br />

Geschichte verschwunden; ihre Namen, ihre Schicksale, nichts von ihnen ist uns<br />

überliefert.<br />

<strong>Faust</strong> hingegen, sein Name prunkt <strong>im</strong> „Index Sanitatis“. Ihm zur Seite, kein geringerer,<br />

als der hoch geschätzte Philippus Theophrastus Bombastus von Hohenhe<strong>im</strong>; kurz,<br />

Paracelsus. Auch er Arzt, Alchemist, Astrologe und Philosoph.<br />

Dritter <strong>im</strong> Bunde ist ein gewisser Thessali, ebenfalls Wanderarzt, doch merkwürdiger<br />

weise <strong>des</strong> antiken Griechenland, dazu auch eher umstritten, um nicht zu sagen,<br />

berüchtigt.<br />

Philipp Begardi, Stadtarzt von Worms und Verfasser <strong>des</strong> „Index Sanitatis“, hatte mit<br />

<strong>Faust</strong> und Paracelsus noch ein Hühnchen zu rupfen; in seinem Buch widmete er ihnen<br />

das Kapitel über „ungelehrte und trughaftige Ärzte“.<br />

1539 war es um <strong>Faust</strong> und Paracelsus bereits still geworden und nichts schien<br />

Begardi wohl ungefährlicher, als nun genüsslich zur Feder zu greifen und die beiden<br />

einzuschwärzen. Dass Paracelsus bereits um 1560 eine Kultfigur sein würde,<br />

Apotheker ihre Fenster mit Paracelsusbildern schmückten, Begardi hat sich selbst ins<br />

Zwielicht gestellt. Was <strong>Faust</strong> angeht, Begardi hat uns einen wissenschaftlich<br />

anerkannten Quellentext geliefert.<br />

<strong>Faust</strong> war also Arzt gewesen. Einen weiteren Hinweis auf <strong>Faust</strong>s Tätigkeit als Arzt<br />

liefert das Indiz „Bocke Madel“, eine Kräuterheilkundige, die in Knittlingen über<br />

mehrere Jahre hinweg für <strong>Faust</strong> gearbeitet haben soll.<br />

Die Welt der mittelalterlichen Heilkunde schematisch zu ordnen, sie auf diese Weise<br />

sich zu erschließen, <strong>Faust</strong> darin zu orten, ist schwierig. Nach unserem heutigen<br />

Verständnis gab es bereits die seriösen Ärzte, nicht seriös in dem Sinne, weil sie<br />

studiert hatten, sondern weil die Erfolge ihrer Tätigkeiten messbar waren;<br />

Bruchschneider, Steinschneider, Krebsschneider, Hodenschneider und Starstecher.<br />

Als Starstecher waren insbesondere Frauen tätig.<br />

Aufbauend auf die Kenntnisse der Antike wurde unter Anwendung best<strong>im</strong>mter<br />

Pflanzen schmerzfrei operiert; das <strong>im</strong> 12. Jhdt. in Salerno konzipierte „Antidotarium<br />

Nicolai“ nennt bereits 140 Schmerzpräparate. Die so genannten Hexenflugsalben,<br />

beziehungsweise einzelne Bestandteile derselben, bildeten das Gros der so<br />

angewandten Narkotika.<br />

Ihre Bestandteile, Anwendung und Wirkungsweise waren Gehe<strong>im</strong>wissen.<br />

Nicht ohne Schmunzeln liest man sich durch die Schriften aus den Jahrhunderten vor<br />

und nach <strong>Faust</strong>, worin sich die Gebildeten über den Hexenflug als abscheulichstes<br />

Volksmärchen und Wahngebilde erregen, wogegen andere meinen, dass mit Hilfe <strong>des</strong><br />

Teufels wohl alles möglich sei. Das Wissen über diese Mixturen wurde also innerhalb<br />

der Ärzte und „weisen Frauen“, wie Jacob Gr<strong>im</strong>m sie später nannte, tatsächlich<br />

sorgsam gehütet.<br />

Aus den Protokollen der Hexenverhöre lässt sich dann auch ersehen, dass zwar offenbar<br />

viel über den Hexenflug geredet und phantasiert wurde, doch nur ein<br />

verschwindend geringer Teil der Angeklagten über die pflanzlichen Bestandteile der<br />

verschiedenen Flugsalben Bescheid wusste. Unter den Qualen der Folter „gestanden“<br />

die Angeklagten folglich, „eine Salbe vom Teufel, einem schönen Mann in grünem<br />

Gewand, unter der Linde vor dem Stadttor“ erhalten zu haben. Während reißerische<br />

Flugschriften alle Welt über die grauenhaften Verbrechen geständiger Hexen laufend<br />

informierten und in Aufregung hielten, und die Flugsalben als eine Mixtur aus dem Fett<br />

von Säuglingen, Schlangen, Kröten sowie Ruß und Spinnendreck beschrieben.<br />

30


Den „Ärztinnen und Ärzten“ waren hingegen die halluzinogenen Begleiterscheinungen<br />

der Schmerzmittel bekannt; beginnend mit der ersten großen Welle von Hexenverbrennungen<br />

um 1555 werden diese Präparate nicht mehr in den Aufzeichnungen<br />

genannt und auch nicht mehr angewandt; dem Vorwurf <strong>des</strong> „Teufelswerks“ sich auszusetzen,<br />

dazu waren die Ärzte nicht bereit. Fortan operierten sie ohne Narkose.<br />

Neben den gefährlichen Unterleibsoperationen waren Operationen <strong>im</strong> Bauch- und<br />

Brustraum allerdings nicht möglich. Der Notwendigkeit sterilen Arbeitens war man sich<br />

in keiner Weise bewusst, die Umsetzung wäre angesichts der herrschenden unhygienischen<br />

Verhältnisse auch gar nicht möglich gewesen.<br />

Fast könnte man auch die damals gepflegte Pflanzenheilkunde zum Bereich seriöser<br />

ärztlicher Kunst zählen. 1563 beschreibt P.A. Matteoli die Wirkung und Anwendung<br />

<strong>des</strong> Quendels: „Quendel in wein gesotten / vnd getruncken / bringt den frawen jre<br />

gewöhnliche Zeit / vnd öffnet der mutter thür. Treibt den harn / vnd lendenstein. Stillt<br />

das bauchgr<strong>im</strong>men wunderbarlich. Heylet jnnerliche wunden vnd brüche. Eröffnet die<br />

lung / leber / vnd das miltz. Quendel mit essig vnd honig gekocht / vnd getruncken /<br />

hilfft denen / so blut speyen. Der safft thuet dergleichen. Quendel in der kost vnd<br />

tranck genützt / ist ein Theriack für alle gifft der würm vnd Schlangen. Vnd so man ein<br />

rauch daruon macht / wo der hin kompt / bleibt kein gifftig thier. Quendel mit Süssholtz<br />

oder honig / Anis vnd wein gesotten / reinigt die brust von dem zähen husten / vnd<br />

stillet den kalten seych. Der grün Quendel sterckt <strong>des</strong> essens dewen <strong>im</strong> magen. Der<br />

geruch <strong>des</strong> Quendels thuet dem hirn wol. Quendel in Essig gebeitzt oder geweicht /<br />

darnach gesotten / mit Rosenöl vermischt / vnnd vber die stirn gelegt / ben<strong>im</strong>pt die<br />

wüttende hauptsucht / Phrenitis genandt.“<br />

Die so beschriebene Wirkung wurde durch die moderne Forschung weitgehend<br />

bestätigt, an der Anwendung <strong>des</strong> Quendels hat sich in der Naturheilkunde bis heute<br />

wenig geändert. Andere Heilpflanzen jener Zeit finden keine Anwendung mehr, teils<br />

weil sie keine Wirkung besitzen oder erhebliche Nebenwirkungen haben, bzw. schädlich<br />

sind. Auch die Tabakpflanze aus „Indien“ wurde als Heilpflanze betrachtet, Jahrhunderte<br />

hindurch verstand man den Raucherhusten derart, dass Tabak das Lösen<br />

und Abhusten von Schle<strong>im</strong> fördere; Tabak der Reinigung <strong>des</strong> Körpers dienlich sei.<br />

Bei aller modernen Begeisterung für Naturheilmittel, die Aufzeichnungen <strong>des</strong> 16ten<br />

Jahrhunderts bedürfen also stets einer kritischen Kommentierung.<br />

Wie alt die Überlieferungen von wirkenden Pflanzen sind, beweist sich an „Laudanum“,<br />

das 300 Jahre nach seinem „Erfinder“ Paracelsus als „Godfrey`s Cordial“ dem Dichter<br />

Baudelaire zu den „Blumen <strong>des</strong> Bösen“ verhalf, dazu vornehmlich Arbeiterinnen zu<br />

bescheidenen Fluchten aus ihrem Elend. „Man nehme etwas Mohn …“ schrieb<br />

Paracelsus, und nichts anderes findet sich um ca. 1800 v. Chr. auf einem minoischen<br />

Siegelring dargestellt: Eine „Priesterin“ sitzt unter einem Weinstock, Besucherinnen<br />

überreichen ihr Mohnkapseln. Wobei die Doppelaxt <strong>im</strong> Bild darauf deutet, dass in<br />

diesem Fall keine wohlig-schläfrige Wirkung erwünscht war, sondern – bei veränderter<br />

Aufbereitung, eine Bewusstseins erweiternde Wirkung. Die Doppelaxt, das spätere<br />

römische Liktorenbündel, weist auf das Amt einer Richterin.<br />

Der Beginn der Kenntnis von heilenden Pflanzen liegt in grauer Vorzeit, die Instinkte<br />

waren stark ausgeprägt, der Griff zur richtigen Pflanze erfolgte intuitiv.<br />

Zu dieser Erkenntnis durch Intuition gesellte sich später die Vorstellung, dass Felsen,<br />

Wasser, Bäume, Buschwerk und selbst Kräuter von Göttern, Geistern, Kobolden,<br />

Gnomen, Heinzelmännchen und Heinrichen belebt seien.<br />

Im Mittelalter nahm man vor dem Holunderbaum den Hut ab, der Holunder war einst<br />

Aufenthaltsort der Freya, auch Frigga, und dann in jener Zeit, der Frau Holle. Frau<br />

Holle, die Holde, schützte den Bauern, <strong>des</strong>sen Gesinde sowie <strong>des</strong>sen Vieh vor<br />

Krankheiten und vor Schadenzauber.<br />

Unter den in der Natur behausten Wesen gab es Unholde, aber auch solche, die den<br />

Menschen freundlich gesonnen waren. Ein guter Heinrich hatte sich den essbaren und<br />

als heilkräftig betrachteten wilden Spinat als Sitz erkoren, böse Heinriche hausten in<br />

der Natternwurz und dem Bingelkraut, ein eiserner Heinrich wohnte <strong>im</strong> Vogelknöterich,<br />

ein stolzer Heinrich <strong>im</strong> Weiderich, und ein roter Heinrich lebte <strong>im</strong> Sauerampfer.<br />

31


Die Menschen hielten mit den Pflanzen und deren Wesen Zwiesprache. Was sie<br />

allerdings nicht hinderte, gegebenenfalls einem geliebten Baum die eigene Krankheit<br />

übertragen zu wollen. Die enge persönliche Beziehung zu einem best<strong>im</strong>mten Baum<br />

kann als Hinweis verstanden werden, dass unter den Menschen selbst kein<br />

einfühlsamer Umgang gepflegt wurde.<br />

Die Anwendung einer Pflanze ohne begleitende Segnung, Spruch oder Anrufung <strong>des</strong><br />

dazu gehörenden Wesens, ob guter Geist oder eben auch Unhold, war nicht vorstellbar.<br />

Wer der Spruchformeln nicht mächtig war, konnte die Wesen, welche die<br />

Heilpflanzen bewohnten, nicht aktivieren. Die Forschung nennt das: Heidnische<br />

Naturmystik.<br />

Um die Wirkung der Pflanzen zu steigern, die Kraft der Sprüche zu erhöhen, wurden<br />

zusätzliche Rituale gepflegt. Gewisse Wurzeln, um Mitternacht bei Vollmond unter<br />

einem Galgen mit einem Goldstück ausgegraben, sodann ohne Wissen <strong>des</strong> Pfarrers<br />

unter das Altartuch geschoben, zeigten vergrabene Schätze an, entlarvten Hexen oder<br />

halfen, die Liebe einer Frau zu gewinnen. Falls die Wirkung ausblieb, wurde nicht das<br />

„Ritual“ in Zweifel gezogen, man suchte den Fehler bei sich selbst, man hatte<br />

irgendetwas falsch gemacht.<br />

Ein breit gefächerter pflanzlicher „Nutzenkatalog“: Nahrungsmittel, Gewürz, Arznei,<br />

Zauber für Liebe, reiche Ernte, viel Geld, „Wünschelrute“, Abwehr von Blitz, Feuer,<br />

Hagel, Schutz vor Schadzauber, vor Betrug, vor dem bösen Blick, aber auch als Mittel,<br />

anderen einen Schaden zu zaubern, nicht zu vergessen: Gift.<br />

Eine eigene Verwendung fanden die bereits erwähnten narkotischen Pflanzen wie<br />

Tollkirsche, Bilsenkraut oder Stechapfel. Zu Hexensalben verarbeitet dienten sie dazu,<br />

mit dem Teufel in „leiblichen Kontakt“ zu treten; wohl so zu verstehen, dass einige<br />

unter den Anwendern diese Flugsalben nicht als Narkotika einsetzten, sondern allein<br />

als Mittel betrachteten, um mit dem „Teufel“ in Verbindung zu treten, ihre<br />

Halluzinationen also für bare Münze nahmen.<br />

Heilpflanzen wurden unmittelbar aufgelegt, in Salben eingearbeitet, zu Lösungen aufbereitet,<br />

als Räucherwerk verbrannt und als Tees aufgegossen. Sie wurden neben die<br />

Stalltür gepflanzt, als Trockensträuße in Mauerritzen gesteckt oder auch in die<br />

Kleidung genäht.<br />

Dazu wurden Wundermixturen hergestellt. Um Runzeln zu vertreiben, um die Jungfräulichkeit<br />

wieder herzustellen, und auch als Mittel gegen Pest, Cholera, Syphilis und<br />

Schanker.<br />

Zum universellen Gebrauch der „Heilpflanzen“ gesellten sich Tätowierungen sowie<br />

Amulette aus Stein, Metall und Knochen. Dazu gab es einen Verhaltenskatalog: Eine<br />

Frau darf niemals einen Besen verbrennen, das schützt sie vor Rotlauf. Ein Pferd, das<br />

an einer Kolik leidet, muss man aufjagen und mit einer Peitsche, die mit Hufnägeln<br />

eines Rappen bestückt ist, <strong>im</strong> Kreis herum hetzen. Bei quälendem Husten sind die<br />

Fensterläden zu schließen, das hält die Geister fern. … (B. Emil König hat in seiner<br />

„Geschichte der Hexenprozesse“ <strong>im</strong> Kapitel „Verschiedene Arten <strong>des</strong> Teufels-,<br />

Zauberei-, und Spukglaubens und Überbleibsel derselben“ eine Menge an lesenswertem<br />

Stoff dazu zusammengetragen.)<br />

Ein eigenes Feld sind die makabren Spielarten angewandten „Wissens“; die<br />

mitternächtliche „Verarbeitung“ von Gehenkten, das Kochen von Zaubersuden unter<br />

Verwendung von Wolfsmilch, Wolfsaugen und Eisenkraut, das Besprechen von<br />

Kröten, die dazu eigens in einen Ameisenhaufen gesetzt wurden, die Verwendung von<br />

Monatsblut, von Jungfrauenblut.<br />

Mag sein, dass bei allen diesen „Gehe<strong>im</strong>nissen“ ein gutes Stück Wichtigtuerei <strong>im</strong> Spiel<br />

war, andererseits verschaffte dieses gehe<strong>im</strong>e Wissen den Menschen eine gewisse<br />

Gelassenheit in einer dramatisch unsicheren Welt. Das Bewusstsein, notfalls über<br />

einen Zauber zu verfügen, machte selbstsicher, und der Glaube an die Wirkung eines<br />

angewandten Zaubers machte keck. Anders gesagt, die reale Welt bot nahezu keinen<br />

Halt, man war weniger in ein Schicksal geworfen, man war ausgeliefert. Durch die<br />

Schaffung einer phantastischen zweiten Welt knüpfte man sich etwas, das es in der<br />

realen Welt nicht gab, ein tragfähiges Netz.<br />

32


Es sei hier an ein Rübezahl-Märchen erinnert. Es erzählt, dass ein Mann derart<br />

verzweifelt war, dass er sich keinen anderen Rat mehr wusste, als in den Wald zu<br />

gehen und den schrecklichen Berggeist um Hilfe anzurufen. Als ein jäher Windstoß<br />

Laub aufwirbelte, wusste er, Rübezahl hatte ihm geantwortet. Im Vertrauen auf diesen<br />

Beistand ging er he<strong>im</strong> und bewältigte alle ihn bedrückenden Schwierigkeiten.<br />

Auch dieser Glaube ist ein Stück Realität, in die Johann Georg <strong>Faust</strong> hinein geboren<br />

wurde.<br />

Es war eine Welt, in der alle „Dinge“, in Verbindung mit Ort, Umständen und Zeit mit<br />

einer zusätzlichen Bedeutung aufgerüstet waren; das Schlagen einer Tür bei einem<br />

best<strong>im</strong>mten Satz während eines Gesprächs, oder ein Gedanke und <strong>im</strong> selben Moment<br />

der Schrei eines Käuzchens. Das Leben war versponnen mit tausend gehe<strong>im</strong>nisvollen<br />

Hinweisen und Zeichen, man tat klug, sie wahrzunehmen und zu deuten. Einen<br />

Zauber, einen Fluch, ein phantastisches Märlein, was auch <strong>im</strong>mer, nicht ernst zu<br />

nehmen, nicht für denkbar zu halten, war nichts weniger als tollkühn. Denkbar war<br />

allein, dass der Gegenüber ein Aufschneider war, dass er gar nicht die Kenntnisse<br />

hatte, Gold zu machen, einen Hagel zu zaubern, die Kopfschmerzen zu heilen.<br />

Und mühelos fügten sich Wahrsagung, Traumdeutung, Alchemie, Astrologie an das<br />

dergestalt umfangreich gewordene Feld der Kräuteranwendung.<br />

Der Mensch <strong>des</strong> Mittelalters erfuhr Krankheit nicht als Ausnahme, sondern als<br />

Dauerzustand. Die unhygienischen Zustände führten zu verschiedenen Hauterkrankungen,<br />

die einseitige Kost zog Diarrhöe nach sich, da nur die Häuser der<br />

Wohlhabenden über Kamine verfügten, grassierten Augenerkrankungen, wegen der<br />

fehlenden Kamine wurde nachts nicht geheizt, Erkältungen, Katarrhe und Lungenerkrankungen<br />

waren die Folgen. Die Kleidung war vielfach ungenügend, sie war<br />

fadenscheinig, oft bestand sie aus Lumpen, Schuhwerk war nicht die Regel. Der<br />

Genuss von verunreinigtem Wasser ließ Cholera und Typhus ausbrechen, eingeschleppte<br />

Seuchen rafften binnen weniger Wochen in ganzen Landstrichen die<br />

Hälfte der Bevölkerung dahin. Gelbsucht, Schwindsucht, Verwachsungen, Epilepsie,<br />

Rheumatismus, Gicht galten als gewöhnliche Krankheiten. Die durchschnittliche<br />

Lebenserwartung lag bei etwa vierzig Jahren.<br />

<strong>Faust</strong>s Leben fällt in eine Übergangszeit. Es existieren bereits jene Ärzte mit der<br />

seinerzeit gängigen scholastischen Universitätsausbildung. Mit dem Begriff<br />

„Scholastik“ nehmen Historiker eine Abgrenzung zur heutigen Universitätsausbildung<br />

vor. Die Scholastik war stark von der Metaphysik durchdrungen, der Rahmen, in dem<br />

gedacht und „geforscht“ wurde, war zudem begrenzt von den medizinischphilosophischen<br />

Schriften der Antike sowie der Glaubenslehre.<br />

Begardi, der Stadtarzt von Worms, ist ein Arzt der Scholastik, auch Bucharzt genannt.<br />

Er ist ein teuerer Arzt. Die Stelle hat er auf Grund von Protektion bekommen, sie ist mit<br />

einer Pfründe, einer zusätzlichen festen Einnahmequelle verbunden; das könnte zum<br />

Beispiel die Betreuung <strong>des</strong> städtischen Spitals gewesen sein.<br />

Den „Buchärzten“ stehen als Konkurrenten die Wanderärztinnen und Wanderärzte<br />

gegenüber. Diese haben nicht studiert; „Empiricus“, „Chirurgus“, „Practicus“, werden<br />

sie genannt und nennen sich auch selbst so.<br />

Weniger angesehen waren „Wurtzengraber, Landstreicher, Zahnbrecher, Theriakskrämer<br />

(Theriak, eine Mixtur, als Allheilmittel angeboten), alte Weiber und Hencker“.<br />

Henker waren hoch bezahlt, aber einsame Menschen, sie wurden gemieden.<br />

Andererseits holte man sie nachts, um einem Tier die Gliedmaßen einzurenken, <strong>des</strong><br />

Weiteren galten sie als „heilkundig“, sie stellten aus zerriebenen Leichenteilen<br />

Wundermittel her.<br />

Abgesehen davon, dass Studium und Quacksalberei sich bis auf den heutigen Tag<br />

nicht ausschließen, der damalige Heilungserfolg eines Bucharztes lag durchaus auf<br />

einer Ebene mit dem eines „alten Weibes“ oder eines „Empiricus“.<br />

Es herrscht ein wilder Konkurrenzkampf um die Patienten, <strong>des</strong>gleichen be<strong>im</strong> Verkauf<br />

von „Präparaten“. Und die Syphilis, die den leidenschaftlichen Lutheraner ebenso wie<br />

den Verteidiger der Kirche schlägt, einen Ulrich von Hutten wie den päpstlichen<br />

Legaten Hieronymus Alexander, lässt abenteuerliche Mixturen gedeihen. Doch nicht<br />

33


nur die Buchärzte und Apotheker schlagen auf die mobile Konkurrenz ein, auch die<br />

mobile Konkurrenz neidet sich untereinander das Brot.<br />

Wie bunt es damals zuging, Texte und Briefe lassen keine Fragen offen.<br />

Renward Cysat, Apotheker und Diplomat in Luzern, beklagt „den kläglichen missbruch,<br />

das man die frömbden Scharlatanen, Gütterlinschryer (Gutta, lat.: der Tropfen) und<br />

Triaxkrämer das fromm einfelltig Völcklin betriegen lasst.“ Ein Ärgernis auch, „die<br />

unerfarenen Schärer oder Bader oder Balbierer, verloffne Studenten und Bueben,<br />

farende Schuoler, Nachrichter, sectische Predicanten (Sekten-Prediger).“<br />

In verschiedenen anderen Quellen heißt es weiter:<br />

„Vertraue deinen Leib nicht jedem Quacksalber, Winkelschlupper, Hausierer, Krämer,<br />

herumlaufenden Streifer, Oelträgern und dergleichen Weibern die sich für<br />

geschworene Feldhebammen ausgeben, die ihre Apothecken zu allen Kranken in 2<br />

Pfennigslädchen herumtragen.“<br />

„Es n<strong>im</strong>mt mich wunder, wannen (woher) den weibern und schlechten laien ihre kunst<br />

komme.“<br />

„Ein … tyriacks- oder wurtzelkrämer, der sehr wenig materialia außer grind, filtzleussalb,<br />

wurmkraut, nießwurtz etc. verkaufte, Georg von Hartz genannt, der alle jarmarck<br />

zu Cassel mit seiner wahr ankame.“<br />

„…ein zanbrecher, triackers mann mit wurmsamen, pillulen, pulver fürs zanweh,<br />

purgatzen (purgare,lat.: reinigen), entzian, reubarbern etc. unnd anderm vil<br />

geschmeiß.“<br />

„… landbescheisser, brillenreißer, störger, ein frembder chirurgus. … es seind ietz der<br />

leut bescheißer / Kälberärzt und der brillenreißer / Das land und alle winckel voll.“<br />

Und trotz aller Verordnungen seit etwa 1500 klagt noch 1589 der steirische Landprofos:<br />

„…vil Tyriackskhrämer <strong>im</strong> Land, die nirgends angesessen sein… Oculisten,<br />

Stein-, Pruch-, Schnitt-, Leib- und Wundärzt …sich grosser khunst berümen…“ Er sagt<br />

weiter, dass die meisten nur Badersknechte wären.<br />

Beginnend mit der Würzburger Medizinalordnung <strong>im</strong> Jahr 1502, versuchen die<br />

Behörden den Wildwuchs erstmalig einzudämmen: Der Verkauf von Heilmitteln durch<br />

„Landfahrer und Triger“ wird verboten. Dahinter steht die wohlmeinende Fürsorge für<br />

den gemeinen Mann, und trefflich verbindet sich die Fürsorge nicht allein mit den<br />

Interessen der Apotheker, der Stadtärzte und der städtischen Kaufleute, sondern auch<br />

mit dem Ziel, ein größtmögliches Steueraufkommen zu erwirtschaften.<br />

Wie soll man auch einen Buckelkrämer oder eine Wanderärztin steuerlich erfassen?<br />

Der Tenor wird sich 1548, also in der Zeit nach <strong>Faust</strong>, mit der Reichspolizeiverordnung<br />

weiter verschärfen. Als „Rufärzte“, also Marktschreier, werden dann die Wanderärzte<br />

bezeichnet und in einem Atemzug mit „Zahnbrechern und Murmelthierschmelzern“<br />

genannt. Selbstverständlich sind auch Kr<strong>im</strong>inelle unterwegs, und es werden auch<br />

abenteuerliche „Artzeneien“ verhökert.<br />

Doch was soll man von den Apotheken halten, wenn man liest, dass Landsknechte<br />

den Gefallenen das Fett „usgehuwen und daz dan nach Meilland getragen und daz da<br />

in die appenteg (Apotheke) verkauften.“<br />

Doch nicht allein Menschenfett, das in der Regel vom Henker geliefert wurde, neben<br />

Heilpflanzen war das gesamte Spektrum volksmagischer Heil- und Wundermittel fester<br />

Bestand der Arzne<strong>im</strong>ittelherstellung in einer Apotheke; Arzne<strong>im</strong>ittel, die wiederum von<br />

den Ärzten verschrieben worden waren.<br />

Bizarre Wurzeln wurden zu Zauberdrogen verarbeitet, man hielt Steine von auffälliger<br />

Form und Farbe oder ungewöhnlicher Herkunft als Amulette bereit, getrocknetes<br />

Schlangenfleisch war ebenso Bestandteil der Präparate, wie Zähne, Krallen oder<br />

gedörrte Rehaugen. Auch Fäkalien, Spinnweben und Ruß wurden eingearbeitet;<br />

„profecto mich wundert, dass Gott so hohe Artzney in den Dreck gestecket hat“<br />

spottete Luther.<br />

Und so wie eine Kräuterfrau neben anderem auch Sonne und Mond beachtete, ließ<br />

ein Apotheker seine soweit vorhandenen Kenntnisse der Astronomie und Astrologie in<br />

den Herstellungsprozess vieler Medikamente mit einfließen. Hundekot durfte nur <strong>im</strong><br />

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Juli nach Untergang <strong>des</strong> Hundsterns, Skorpione in den Hundstagen, Kröten <strong>im</strong> Juni,<br />

Ameisen und Regenwürmer <strong>im</strong> Mai gesammelt werden… Menschenblut <strong>im</strong> Frühjahr…<br />

Apotheker handelten mit Papier, Pelzen, Zuckerwaren, Schreibmaterialien; Apotheken<br />

waren Krämerläden und „Saufbuden“, in Hessen versuchte man das Ärgernis der<br />

„Folsaufferey“ über Verordnungen <strong>im</strong> Jahr 1526 und 1537 zu beseitigen.<br />

Detailliert nachzulesen in „Die alte Apotheke“, Werner Gaude, Deutscher Apotheker-<br />

Verlag Stuttgart.<br />

Der behördlich erkannte Wildwuchs „ärztlicher Betreuung“ war eine natürlich<br />

gewachsene Schicht von Dienstleistern in einer Szenerie größter sozialer und struktureller<br />

Unterschiede.<br />

Verordnungen ebnen keine Unterschiede. Sie verschärften die Gegensätze und<br />

zwangen „Ärzte und Patienten“ in die He<strong>im</strong>lichkeit.<br />

Der Geldbeutel entscheidet über die Wahl <strong>des</strong> Arztes und <strong>des</strong> Heilmittels. Wer kann<br />

schon den teuren Stadtarzt, die teuren Kuren und Pillen bezahlen?<br />

Zunächst versucht man sich selbst zu kurieren, dann hört man sich bei Bekannten um,<br />

als nächstes sucht man eine Person von entsprechendem Ruf auf, und wenn alle<br />

Ratschläge, Gebete, Heilsprüche und Wundersalben keine Heilung bringen, wird man<br />

– vorausgesetzt, man hat das Geld – einen Bucharzt aufsuchen.<br />

Doch der Krankheiten, denen auch die Buchärzte ratlos gegenüber stehen, sind zu<br />

viele. Noch fünfzig Jahre nach <strong>Faust</strong>s Tod, wieder einmal tobt eine Epidemie, wird ein<br />

Markus Welser notieren: „Am besten ist es, gar keinen Arzt an sich heran zu lassen!“<br />

Tröstung findet man <strong>im</strong> Gebet, und nicht zuletzt wendet man sich auch an Menschen,<br />

die sich auf Heilzauber und Heilsegen verstehen.<br />

Verständlich, dass vor diesem Hintergrund die Verordnungen sich nur mühsam<br />

umsetzen ließen.<br />

Wer will außerdem das Fahrende Volk, das zur Stadt hinein drängt, kontrollieren? Soll<br />

man die „Hubbaperer“ ihre Kiepen am Stadttor ausleeren lassen? Wer will verhindern,<br />

dass die Frau, die mit ihren Kräutern von Tür zu Tür geht, auch um ärztlichen Rat<br />

gefragt wird? Als Astrologe betritt <strong>Faust</strong> die Stadt, er wird bei seinem Kunden<br />

gegebenenfalls auch als Chirurgus tätig. Und wer versorgt die Menschen auf dem<br />

Land mit Büchern, Stockfisch, Tuchen, Borten und Stinkesalbe? Wer versorgt dort die<br />

Kranken? Ein niedergelassener Arzt, ein sesshafter Apotheker, sie würden dort<br />

draußen schlicht verhungern. Erst <strong>im</strong> 19.Jahrhundert werden die Landphysikate<br />

geschaffen, und bis dahin wird der studierte Arzt nicht Teil der ländlichen Welt sein –<br />

bei schwerer Krankheit fährt man in die Stadt zum Doktor. Und bis zur Schaffung der<br />

Landphysikate werden Beschwörungen, Zauberformeln und sympathetischer<br />

Aberglaube Bestandteile der ländlichen Hausmedizin bleiben.<br />

Den weit erfahrenen Practicus wird es dann allerdings längst nicht mehr geben, an<br />

seine Stelle ist der regionale Medicaster getreten. Ebenso wird es keine Ärztinnen<br />

mehr geben. Nach <strong>Faust</strong> werden die „freien Empirici“ durch die geschulten Buchärzte<br />

ersetzt, Frauen aber bleiben bis zum 20ten Jh. vom Besuch der Universitäten ausgeschlossen.<br />

Als „Kräuterweiblein“ führten sie bis in die fünfziger Jahre <strong>des</strong> letzten<br />

Jhdts. ein Nischendasein, inzwischen wird es sie wohl nicht mehr geben.<br />

Unangefochten blieben die Frauen einzig als Hebammen, die Kenntnisse der eigenen<br />

Körperlichkeit waren durch ein Studium nicht zu ersetzen.<br />

„Fahren<strong>des</strong> Volk“, das heutige Bewusstsein verbindet den Begriff nur noch mit jenen<br />

Künstlern, wie sie in einer modernen Zirkusshow auftreten: Illusionskünstler, Artisten,<br />

Dompteure; <strong>im</strong> Mittelalter waren sie Gaukler, Seiltänzer und Bärenführer. Die heutige<br />

Vorstellung greift damit also viel zu kurz. An manchen alten Haustüren findet sich noch<br />

gelegentlich das Emailschild „Betteln und Hausieren verboten“ – letzte Zeugnisse<br />

einer vielschichtigen Kultur wandernder Menschen; an die tausend Jahre war sie<br />

fester Bestandteil der Gesellschaft.<br />

„Es wirt noch eyn namhafftiger dappferer mann erfunden: ich wolt aber doch seinen<br />

namen nit genent haben, so will er auch nit verborgen sein, noch vnbekannt. Dann er<br />

ist vor etlichen jaren vast durch alle landtschafft, Fürstenthuomb vnnd Königreich<br />

gezogen, seinen namen jederman selbst bekannt gemacht, vnd seine grosse kunst, nit<br />

35


alleyn der arztnei, sonder auch Chiromancei, Nigramancei, Visionomei, Visiones <strong>im</strong>m<br />

Christal, vnd dergleichen mer künst, sich höchlich berümpt. Vnd auch nit alleyn<br />

berümpt, sondern sich auch eynen berümpten vnd erfarnen meyster bekant vnnd<br />

geschrieben. Hat auch selbs bekant, vnd nit geleugknet, dass er<br />

sei, vnnd heyß <strong>Faust</strong>us, domit sich geschriben Philosophum Philosophorum etc. Wie<br />

vil aber mir geklagt haben, dass sie von jm seind betrogen worden, deren ist eyn<br />

grosse zal gewesen. Nuon sein verheyssen ware auch groß, wie <strong>des</strong> Tessali:<br />

dergleichen sein rhuom, wie auch <strong>des</strong> Theophrasti: aber die that, wie ich noch<br />

vern<strong>im</strong>m, vast kleyn vnd<br />

betrüglich erfunden: doch hat er sich <strong>im</strong>m gelt nehmen, oder empfahen – das ich auch<br />

recht red – nit gesaumpt, vnd nachmals auch <strong>im</strong>m abzugk, er hat, wie ich beracht, vil<br />

mit den ferßen gesegnet. Aber was soll man nuon darzuothuon, hin ist hin, ich wil es<br />

jetzt auch do bei lassen, luog du weiter, was du zuschicken hast.“ (sieh du zu, wie du<br />

dich anschickst / wie du dich anstellst dein Leben zu gestalten.)<br />

Soweit Philipp Begardi in seinem Kapitel über ungelehrte und trughaftige Ärzte; mehr<br />

als eine Abrechnung mit den Wanderärzten, die so schamlos in den Städten<br />

„wilderten“. Begardi verrührt die Überlieferung von Tessali, einem großsprecherischen<br />

Wanderarzt <strong>im</strong> alten Griechenland, mit <strong>Faust</strong>s großspuriger Selbstdarstellung sowie<br />

<strong>des</strong>sen Betrügereien, um mit diesem wilden Gemenge, gleichsam nebenbei, auch<br />

Paracelsus zu diffamieren.<br />

Begardi ist Arzt, doch ein Beispiel für ärztliches Versagen bietet er weder für <strong>Faust</strong><br />

noch für Paracelsus an. Grundsätzlich geht es Begardi aber um <strong>Faust</strong>, und er lässt<br />

keine Missverständnisse darüber aufkommen.<br />

„Hat auch selbs bekant, vnd nit geleugknet, dass er sei, vnnd heyß <strong>Faust</strong>us, domit sich<br />

geschriben Philosophum Philosophorum etc.“<br />

So dann stellt er <strong>Faust</strong>s Arzne<strong>im</strong>ittel in eine Reihe mit <strong>des</strong>sen behaupteten Fähigkeiten<br />

<strong>im</strong> Parabereich: „nit alleyn der arztnei, sonder auch Chiromancei, Nigramancei,<br />

Visiones <strong>im</strong>m Christal“<br />

Das ist mehr als infam. In dieser Zeit gab es durchaus bereits Fahndungslisten, auf<br />

denen beispielsweise ein Buckelkrämer gesucht wurde, der „Arsenik“ als<br />

Mückenpulver verkauft hatte. Und „Visiones <strong>im</strong>m Christal“ sind um 1539 der Spott der<br />

Straße schlechthin.<br />

1543 wird der Spott zum Gesetz, Landgraf Phillipp von Hessen verfügt:<br />

„Der Kristallenseher und Weissager halben ist unser Befehl, dass man derselben<br />

Personen ganz und gar keine in unseren Landen leiden, sondern, wo die mögen<br />

angetroffen werden, dass man sie an Leib und Gut ohne Barmherzigkeit strafen soll.“<br />

Auch wenn das Apothekenwesen seit 1240 vom Arztberuf getrennt ist, noch schreiben<br />

die Ärzte die Rezepte, nach denen die Arzneien hergestellt werden müssen. Ein Arzt<br />

kann also durchaus beurteilen, was <strong>Faust</strong> hier und dort verabreicht hatte. Hätte <strong>Faust</strong><br />

„Mondscheinsalben“ angewendet, hätten wiederholt <strong>Faust</strong>s Patienten <strong>im</strong> Nachhinein<br />

bei Begardi um Behandlung nachgesucht, Begardi hätte es – wer wollte zweifeln,<br />

genüsslich in seinem „Index sanitatis“ notiert. Begardi hat nichts dergleichen zu<br />

vermelden. Offenkundig hat er nichts weiter gegen den Arzt <strong>Faust</strong> vorzubringen, als<br />

dass dieser kein Bucharzt ist.<br />

Unbestritten macht <strong>Faust</strong> keine gute Figur, er ist nicht nur Arzt, so sich die<br />

Gelegenheit bietet, begeht er Betrügereien. Diese Widersprüchlichkeit wird jedoch von<br />

Begardi nicht thematisiert, ihm geht es darum, den Medicus <strong>Faust</strong> durch den Betrüger<br />

<strong>Faust</strong> zu Fall bringen.<br />

Es gibt keine Hinweise, mit wie viel Erfolg <strong>Faust</strong> als Arzt wirkte, da Begardi bei seinem<br />

Angriff jegliche Substanz schuldig bleibt, darf man annehmen, <strong>Faust</strong> arbeitete gewiss<br />

nicht unter dem Niveau Begardis; gutmöglich hat er sogar ein wenig mehr als Begardi<br />

von der Heilkunde verstanden. Eventuell sogar erheblich mehr. Es erschließt sich aus<br />

Begardis Unredlichkeit und aus dem Umstand, dass der „Index Sanitatis“ zu einer Zeit<br />

veröffentlicht wurde, als Begardi berücksichtigen musste, dass es noch genügend<br />

36


Menschen gab, die <strong>Faust</strong> persönlich als Arzt kennen und vielleicht auch schätzen<br />

gelernt hatten. Gleiches gilt selbstredend auch für Paracelsus.<br />

Mit größtem Behagen müssen Begardis Kollegen den flotten Seitenhieb auf<br />

Paracelsus zur Kenntnis genommen haben, kein Konkurrent war ihnen derart verhasst<br />

wie Paracelsus. Paracelsus hatte sowohl sie, als auch die Apotheker, wiederholt und<br />

in aller Öffentlichkeit als unwissende, geldgierige Scharlatane bezeichnet.<br />

Paracelsus war kein einsamer Rufer in der Wüste. Nicht das Streben nach Wirtschaftlichkeit,<br />

sondern die sorgsame Anfertigungen „guter, preisgerechter Arzneien auch für<br />

die armen Kranken“ hatte bereits H. Brunschwig <strong>im</strong> Jahr 1512 in seinem „Thesaurus<br />

pauperum“ gefordert.<br />

Und Euricius Cordus schrieb 1535 <strong>im</strong> Vorwort seines Büchleins über den Theriak:<br />

„Kaum der vierte Teil der hergestellten Mixturen ist zu gebrauchen“.<br />

Die Auseinandersetzungen um Paracelsus gipfelten in offenen Morddrohungen, 1528<br />

musste Paracelsus bei Nacht und Nebel aus Basel fliehen.<br />

Mit gewiss nicht wenig Selbstbewusstsein, aber auch als Programm, hatte<br />

Theophrastus Bombastus von Hohenhe<strong>im</strong> sich als „über Celsus“, dem Arzt der Antike,<br />

stehend tituliert, als „Paracelsus“. Von daher ist es ein doppelter Seitenhieb, Begardi<br />

verweigert Paracelsus den selbst gewählten akademischen Namen, er nennt ihn<br />

„Theophrasti“.<br />

Dabei hat Begardi zumin<strong>des</strong>t in seinem ethischen Anspruch mehr mit Paracelsus<br />

gemein als ihm selbst bewusst ist. Auch Begardi bezeichnet den Arzt als Diener der<br />

Natur. Gottesfurcht und ein untadeliger Lebenswandel seien die Voraussetzung für<br />

das unabdingbare Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient.<br />

Mehr verbindet ihn allerdings nicht mit Paracelsus. Paracelsus hatte auch als Chirurg<br />

gearbeitet; keine Kunst aus der Sicht der Buchärzte, sondern ehrloses Handwerk, das<br />

damals in Deutschland den Scherern, Barbieren und Feldschern vorbehalten blieb.<br />

Den Umgang mit dem Skalpell musste Paracelsus in jener Zeit in Italien erlernen, eine<br />

Alternative wäre auch Frankreich gewesen, in Deutschland sollte das Aderlassen und<br />

selbst die Chirurgie erst <strong>im</strong> Jahr 1548 für „ehrenhaft“ erklärt werden.<br />

Des weiteren hatte Paracelsus nicht zuletzt in seinem Werk „Irrgang der Ärzte“ die<br />

Buchstabengläubigkeit der Ärzte beklagt.<br />

Nicht anders als <strong>Faust</strong>, auch Paracelsus hatte entschiedene Feinde, aber auch<br />

Menschen, die ihm blind vertrauten; unter ihnen kein geringerer als Erasmus von<br />

Rotterdam.<br />

Nichts deutet darauf hin, dass <strong>Faust</strong> dem Universalgelehrten und Genie Paracelsus in<br />

irgendeiner Weise gleich kam, das Staubaufwirbeln und Provozieren allerdings, verstand<br />

einer besser als der andere.<br />

Gemeinsam waren ihnen auch die Wanderlust sowie ihr ungefähres To<strong>des</strong>jahr und<br />

ebenso die Legenden, die sich um sie rankten. Auch die Sch<strong>im</strong>pfwörter, die Verdächtigungen,<br />

die man ihnen nachrief, waren identisch. Selbst heute noch hält man sie<br />

gelegentlich für ein und dieselbe Person.<br />

Dass Begardi bei seiner Attacke ihnen den Arzt der Antike, Thessalos von Tralles, zur<br />

Seite stellte, macht Sinn. Zur Zeit Neros war dieser in Rom aufgetreten, mit Diagnosen<br />

und Versprechungen schnell zur Hand, erfuhr er wütende Proteste der traditionellen<br />

Ärzte. Der Zorn seiner damaligen Kollegen fand seinen Niederschlag in den Schriften<br />

<strong>des</strong> Galenus (129 – 199) und später in denen <strong>des</strong> Avicenna (Ibn Sina, 980 – 1037);<br />

jene Ärzte, die für den Bucharzt Begardi und seine Kollegen die Vorbilder waren.<br />

Es bleibt die Frage, in welchen Bereichen <strong>Faust</strong> als fahrender Arzt tätig war. Anders<br />

als Paracelsus hinterließ er weder medizinische noch theosophisch-religiöse Schriften.<br />

Ob er sich an riskante Unterleibsoperationen wagte? Dass er sich auch darüber<br />

irgendwann Kenntnisse angeeignet hatte, nichts spricht dagegen, aber auch nichts<br />

dafür. Andererseits darf man diese Art der ärztlichen Kunst wohl als eine sehr konkrete<br />

Kunst bezeichnen; sie entspricht wenig <strong>Faust</strong>s marktschreierischer Umtriebigkeit.<br />

Von Begardi erfahren wir nur, dass <strong>Faust</strong> sich großer Arzneikunst rühmte; das deckt<br />

sich mit dem Indiz „Bocke Madel“. <strong>Faust</strong> hat in Knittlingen wahrscheinlich pflanzliche<br />

Arzneien hergestellt. Von daher wird <strong>Faust</strong> ein Arzt der Kräuterheilkunde, ein<br />

37


Allgemeinmediziner gewesen sein, zuständig für Hautkrankheiten, Magen- und<br />

Darmbeschwerden, Erkältung und Fieber. Gutmöglich hat er auch als Wundarzt<br />

gearbeitet; anders als heute dürfte es sich wohl dabei meistens um Schnitt- und Stichwunden<br />

gehandelt haben; jedermann war bewaffnet, dazu wurde über die Maßen<br />

getrunken – Raufhändel gehörten zum Alltag.<br />

Die ärztliche Kunst hat wahrscheinlich auch <strong>Faust</strong> nicht reich gemacht, gemäß seiner<br />

Zeit hat er sie wohl als zusätzliche Verdienstmöglichkeit betrieben. <strong>Faust</strong>, also nur ein<br />

Kräuterarzt? Aus heutiger Sicht gilt seine Zeit als die Blüte der Pflanzenheilkunde.<br />

*<br />

Nachhall einer Provokation – die Entwicklung der <strong>Faust</strong>-Literatur<br />

Wahrnehmung und Betrachtung <strong>des</strong> historischen Johann Georg <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Wandel der<br />

Zeiten, sein Weg in der Literatur – ein Überblick.<br />

„…die Stuben voller Blut gesprützet, das Hirn klebte an der Wand, weil ihn der Teufel<br />

von einer Wand zur anderen geschlagen hatte. Es lagen auch seine Augen und etliche<br />

Zähne allda, ein gräulich und erschrecklich Spektakel. Da huben die Studenten an, ihn<br />

zu beklagen und zu beweinen, und suchten ihn allenthalben. Letztlich funden sie<br />

seinen Leib heraußen bei dem Miste liegen, welcher gräulich anzusehen war, dann<br />

ihme der Kopf und alle Glieder schlockerten…“<br />

So die Schilderung von <strong>Faust</strong>s gewaltsamen Tod, in der „Historia von D. Johann<br />

<strong>Faust</strong>en dem weitbeschreytem Zauberer und Schwartzkünstler“, gedruckt bei Johann<br />

Spiess zu Frankfurt am Main <strong>im</strong> Jahre 1587.<br />

Die „Historia“, das erste der „Volksbücher vom Doctor <strong>Faust</strong>“, wird zum Bestseller –<br />

mehr als zwanzig Mal wird nachgedruckt, und wie zuvor „Der Ulenspiegel“ und „Das<br />

Narrenschiff“, wird auch dieses Werk begeistert <strong>im</strong> Ausland aufgenommen. In London<br />

schreibt Christopher Marlowe das Theaterstück „The Tragicall History of the Life and<br />

Death of Doctor <strong>Faust</strong>us“; ein Werk, das zweihundert Jahre später den Rahmen für den<br />

Goetheschen <strong>Faust</strong> liefern wird.<br />

Zwischen <strong>Faust</strong>s Tod und der „Historia“ liegt ein halbes Jahrhundert. Zeit genug, wie<br />

man annehmen möchte, dass sich sein selbst gestrickter Mythos verflüchtigt hätte.<br />

Doch die gruselig wundersamen Geschichten seines ungewöhnlichen Lebens waren<br />

nicht nur weiter gereicht und fortlaufend mit schaurigen Zutaten angereichert worden,<br />

seit etwa 1560 waren erste bescheidene, schriftliche Erzählungen <strong>im</strong> Umlauf.<br />

Mehr als zu seinen Lebzeiten war <strong>Faust</strong> Teil <strong>des</strong> allgemeinen Bewusstseins geworden.<br />

Schauermärlein allein hätten das nicht bewirkt, unsterblich machte ihn erst sein<br />

spektakulärer Tod. Denn dass der Teufel ihn tatsächlich an die Wand geschlagen und<br />

sich die Seele geholt hatte, das erhob alle phantastischen Geschichten, die ihn bereits<br />

zu Lebzeiten umgaben, zu „Tatsachen“. Sein „elendiglicher Tod“ war „Beweis“, dass es<br />

tatsächlich einem Menschen gelungen war, die Grenzen menschlicher Existenz zu<br />

sprengen und sich den H<strong>im</strong>mel auf Erden zu bereiten. Doch um welchen Preis?<br />

Willentlich wie wissentlich hatte er sein ewiges Seelenheil gegen eine kurze Spanne<br />

irdischer Genüsse verkauft. Ein Vorgang, der für die Menschen der Frühen Neuzeit<br />

schlicht unfasslich war, wenngleich er auch etwas Faszinieren<strong>des</strong> an sich hatte, sie<br />

jedoch tief bewegt und verwirrt haben muss. Dem Schrecken mischte sich<br />

Bewunderung bei. <strong>Faust</strong> hatte ein Leben nach seinen Vorstellungen gelebt, sich wenig<br />

um die Grenzlinien mittelalterlicher Hierarchie und Bildung geschert, hatte Umgang mit<br />

Bischöfen wie mit dem Volk gepflegt, kleinen Leuten – so wurde zumin<strong>des</strong>t später<br />

erzählt – oft geholfen, den Herren dagegen eine lange Nase gezeigt.<br />

Die seinerzeit posthum gepflegte Wahrnehmung seiner Person <strong>im</strong> Volk ist mit<br />

Schabernak-Geschichten dokumentiert: in einer Zeit zunehmender Entrechtung nahezu<br />

aller Volkschichten, beginnt sich das Bild <strong>des</strong> Teufelsbündners zu einem „Robin Hood“<br />

zu veredeln.<br />

Es wird Mode, bei allen sich bietenden Festen, sich als Teufel, Engel oder Zauberer zu<br />

verkleiden. Offenkundig ist der Schrecken dem Spaß und der Bejahung gewichen. Die<br />

38


Verharmlosung <strong>des</strong> Teufels, die Bewunderung für <strong>Faust</strong>, das muntere Treiben behagt<br />

der Lutherischen Kirche überhaupt nicht.<br />

Die Lutherische Kirche ist inzwischen in einigen Fürstentümern etabliert, sie ist Teil der<br />

Fürstlichen Macht und als solche führt sie nun einen Schlag. Sie gibt die „Historia“ in<br />

Auftrag. Ein Autor wird <strong>im</strong> Buch nicht genannt; es wird angenommen, es wirkte eine<br />

Autorengruppe.<br />

Mündliche und schriftliche Aufzeichnungen einzelner <strong>Faust</strong>-Abenteuer werden<br />

gesammelt, sortiert und aussortiert. Auf stattlichen 226 Seiten, unter Einarbeitung von<br />

Teilen der „Schedel´schen Weltchronik“, alttestamentarischen Psalmen, naturwissenschaftlicher<br />

sowie theologischer Schriften werden die unglaublichen Begebenheiten,<br />

dazu <strong>Faust</strong>s Lust am Allwissen, zur Beweiskette hartnäckigen Unglaubens und der<br />

Gottlosigkeit zu einem scharfen Schwert <strong>im</strong> Glaubenskampf geschmiedet.<br />

„… dem Teuffel auff eine benandte zeit verschrieben … biß er endtlich seinen wol<br />

verdienten Lohn empfangen… allen hochtragenden / fürwitzigen und Gottlosen<br />

Menschen zum schrecklichen Beyspiel / abscheuwlichem Exempel / und treuwherziger<br />

Warnung.“<br />

Endlich konnten die Menschen es schwarz auf Weiß lesen, oder es sich vorlesen<br />

lassen, was der Teufel mit den „Fürwitzigen“ anstellte. Die „Historia“ und die<br />

flammenden Scheiterhaufen setzten der Ausgelassenheit ein jähes Ende. Es war auch<br />

ein Wink für die Gebildeten, für die Studenten, sich bei ihren Studien an den<br />

vorgegeben Rahmen zu halten, nicht zuletzt wird mit dem Werk der Gegenreformation<br />

entgegen getreten.<br />

Die Katholische Kirche trägt inzwischen dem Lebensgefühl der Renaissance, der Lust<br />

am Wissen Rechnung, sie fördert die Wissenschaften. Gern sieht sie auch protestantische<br />

Studenten unter den Studierenden und sie gewinnt beachtliche Landstriche für<br />

den Katholischen Glauben zurück.<br />

Die „Historia“ liefert den Beweis, die breite Förderung der Wissenschaften ist ein<br />

neuerlicher Römischer Sündenfall; Wissenschaften verführen den Menschen zu<br />

Hochmut und zur Selbsterhebung.<br />

430 <strong>Faust</strong>bearbeitungen werden in den nachfolgenden 150 Jahren geschrieben, sie<br />

sind geprägt von der „Historia“; das Dämonische, das Menschenfeindliche steht <strong>im</strong><br />

Vordergrund.<br />

Eine Änderung erfolgt erst mit der Aufklärung, als man versuchte, die sagenhaften<br />

Begebenheiten rational zu erklären. Diskussionen, die wiederum dazu führen, dass<br />

Autoren sich unter neuen Gesichtspunkten <strong>des</strong> Themas annehmen. Doch erst Goethe<br />

gelingt es, die literarische Figur <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s aus der überkommenen moralischen<br />

Bewertung zu lösen.<br />

Er formt in seiner Bearbeitung eine <strong>Faust</strong>-Figur, die ihren Weg durch die Welt geht, frei<br />

von Bedenken und Skrupeln, und nicht zur Rechenschaft gezogen wird. In sprachlicher<br />

Brillanz ausgeführt, und 1790 als „<strong>Faust</strong>. Ein Fragment“ veröffentlicht, wird der junge<br />

Goethe „unsterblich“ und <strong>Faust</strong> zu einer so genannten poeto-mythologischen Figur.<br />

Heißt: Ungeachtet der Tatsache, dass <strong>im</strong> späten Mittelalter tatsächlich ein Johann<br />

Georg <strong>Faust</strong> lebte, wird <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Bewusstsein der Öffentlichkeit zu einer Gestalt aus<br />

Goethes Feder.<br />

Die „Historia“ ist damit gleichsam gelöscht, „<strong>Faust</strong>. Ein Fragment“, später „Urfaust“<br />

genannt, best<strong>im</strong>mt fortan die Sichtweise auf das Thema. An die hundert geflügelte<br />

Worte gehen aus dem Urfaust in den allgemeinen Sprachgebrauch über.<br />

Einzig <strong>im</strong> Raum <strong>des</strong> heutigen Baden-Württemberg bleibt der Blick auf den historischen<br />

<strong>Faust</strong> nicht nur erhalten, ein Dutzend Orte streiten sich fortan um die Ehre, dem<br />

Schwarzkünstler posthum Geburtsschein bzw. Sterbeurkunde auszustellen.<br />

Nach 1790 hatte man in Deutschland 150 Jahre hindurch „seinen <strong>Faust</strong>“ parat zu<br />

haben, <strong>Faust</strong> war Bildungsbeweis, <strong>Faust</strong> nährte deutsches Nationalgefühl, mit <strong>Faust</strong> <strong>im</strong><br />

Tornister zog man in den Krieg; Deutschland war derart von <strong>Faust</strong> durchdrungen, der<br />

„S<strong>im</strong>pliziss<strong>im</strong>us“ wusste <strong>im</strong> Jahre 1913 nur noch zwei Sorten von Menschen zu<br />

unterscheiden: jene, die über Politik reden und jene, die über <strong>Faust</strong> reden.<br />

39


Gegen Goethe fühlten sich selbst anerkannte Wissenschaftler und Ärzte bedeutungslos.<br />

Wer etwas auf sich hielt, arbeitete an einer <strong>Faust</strong>version. Allein <strong>im</strong> 19. Jahrhundert<br />

entstanden mehr als 1500 <strong>Faust</strong>bearbeitungen. Sie sind weitgehend unbekannt<br />

geblieben, und einzig „Don Juan und <strong>Faust</strong>“ aus der Feder von Ch. D. Grabbe wird<br />

heute noch auf Bühnen gespielt.<br />

Es ist eine Besonderheit der <strong>Faust</strong>thematik, dass niemals eine Fortsetzung<br />

geschrieben wurde, sondern stets nur Variationen <strong>des</strong> Themas. <strong>Faust</strong> und Mephisto,<br />

der Strebende und der Zerstörer, ihre Charaktere sind absolut, beide sind nicht<br />

einsichtsfähig, beide können sich nicht mäßigen. So sie aufeinander treffen, spielen sie<br />

nur das eine Spiel.<br />

Der N<strong>im</strong>bus der Literatur setzte sich nahtlos <strong>im</strong> Nationalsozialismus fort, Dichter<br />

wurden gleichsam „Reichseigentum“, sie waren Teil der Legende von der rassischen<br />

Überlegenheit. Der historische <strong>Faust</strong> wurde als später Wotansjünger eingeordnet.<br />

Das hohe Ansehen der Literatur bewegte auch die Führung der DDR. Man erkannte in<br />

Goethes Werken sozialistische Züge, der historische <strong>Faust</strong> wurde als Revolutionär<br />

interpretiert.<br />

Aktuell liegen europaweit etwa 2000 <strong>Faust</strong>bearbeitungen vor, und die Summe derzeit<br />

bekannter Schriften, Bücher, Kommentare, Dokumentationen, die sich mit seinem<br />

Leben, beziehungsweise mit der daraus resultierenden Literatur beschäftigen, liegt <strong>im</strong><br />

Bereich von zehntausend.<br />

Kein Zweifel: „Sein Blut war ein besonderer Saft!“<br />

*<br />

Magdalena Bock, Kräuterweib und Zauberfrau<br />

Am 23. Juli 1963 bestätigt eine Frau dem Lehrer Karl Weisert eine Geschichte, die<br />

zum Gemeingut Knittlinger Überlieferungen gehört: Sie sei Nachfahrin <strong>des</strong> Bocke<br />

Madel, deren richtiger Name auf Magdalena Bock lautete, und die <strong>im</strong> einstigen Hexengässchen<br />

gewohnt habe. Das Bocke Madel sei bei <strong>Faust</strong> lange Jahre in Dienst<br />

gestanden, einmal, als er zu seinen Fahrten aufbrach, habe er...<br />

Eine Überlieferung, die recht dünn ist und dennoch einen Kern von Wahrheit in sich zu<br />

tragen scheint<br />

Ein „Hexengässchen“ gibt es heute in Knittlingen nicht mehr, es lässt sich auch nicht<br />

belegen, dass es jemals eine Gasse mit einem solchen Namen gab, Knittlingen wurde<br />

zwe<strong>im</strong>al (1632 und 1692) niedergebrannt. Gutmöglich dass es einst eine Gasse gab,<br />

die vom Volksmund praktischer Weise kurzerhand „Hexengässchen“ getauft wurde<br />

und uns allein über die Sage vom Bocke Madel zu Kenntnis gebracht wird. Ob nun das<br />

Bocke Madel bei der Namensgebung Patin stand, oder eine andere Frau, das muss<br />

offen bleiben.<br />

Das Bocke Madel hat wohl ein erhebliches Wissen über Heilpflanzen besessen,<br />

<strong>im</strong>merhin war es <strong>Faust</strong>, der ihre Dienste über mehrere Jahre in Anspruch nahm; dabei<br />

war sie gewiss nicht die einzige Knittlingerin, die sich mit Kräutern beschäftigte.<br />

Für den Fall, man siedelt die Jahre der Zusammenarbeit zwischen 1500 und 1510 an,<br />

jene Jahre, wo <strong>Faust</strong> eventuell noch nicht derart beschlagen war, dann könnte sie<br />

auch seine Lehrmeisterin gewesen sein. Zunächst aber gilt, <strong>Faust</strong> war nicht nur der<br />

Auftraggeber, als weit gereister Practicus und Astrologe besaß er auch ein breiteres<br />

Wissen. Im Übrigen sei an den Trithemiusbrief erinnert. Wie <strong>Faust</strong> in demselben<br />

geschildert wird, ist er doch sehr von sich überzeugt, sehr dominant. Er ist nicht<br />

unbedingt der Mensch, der auf Augenhöhe mit jemand zusammenarbeitet.<br />

Dennoch darf man annehmen, dass es eine gedeihliche Zusammenarbeit war; sie ging<br />

über einige Jahre. <strong>Faust</strong> und das Bocke Madel, sie haben wahrscheinlich viel von einander<br />

gelernt. In wie weit er dabei seine „höheren Kenntnisse“ der Astrologie und<br />

eventuell auch der Alchemie einbrachte oder ob er das Bocke Madel nach ihren<br />

Vorstellungen gewähren ließ, es muss offen bleiben.<br />

40


Dass <strong>Faust</strong> aber Winter um Winter nur einige Arzneien herstellte, <strong>im</strong> übrigen sich aber<br />

Winter um Winter und das jeweils vier Monate hindurch von Bratäpfeln und vom Blick<br />

auf treibende Schneeflocken beglücken ließ, ist schwer vorstellbar.<br />

Drei Wochen Knittlingen, aber keinen Tag länger. Insbesondere wo wieder Uranus und<br />

Pluto in Konjunktion … und außerdem die zunehmende Mondphase … er muss zu<br />

seinem Alchemisten-Freund nach … Heidelberg. Er will dabei sein wenn unter der<br />

anstehenden Konjunktion sich Zinn und Ant<strong>im</strong>on und Blei in der Matrix vereinen.<br />

Sollten sich die drei Kilo getrockneter Kräuter doch selbst <strong>im</strong> Mörser zerstoßen, das<br />

Dutzend Tinkturen und Lösungen sich selbst herstellen! Essig, Wein und Alkohol<br />

erledigten das doch von allein. Sollte sich halt das Bocke Madel drum kümmern.<br />

„In <strong>Faust</strong>s Diensten“ heißt, das Bocke Madel half <strong>Faust</strong> nicht allein <strong>im</strong> Winter bei der<br />

Herstellung der Mixturen, sondern sie war nahezu das gesamte Jahr für ihn tätig. Mit<br />

Fortschreiten der Vegetationsperiode mussten die jeweiligen Pflanzen „geerntet“<br />

werden. Unter Beachtung <strong>des</strong> Mon<strong>des</strong> oder dem Stand der Sonne galt es Blüten zu<br />

zupfen, Wurzeln auszugraben, bei anderen Pflanzen wurden die Blätter oder gar nur<br />

die Früchte gesammelt. Das Erntegut musste getrocknet und bis zur Verarbeitung<br />

sachgemäß gelagert, also vor Luftfeuchtigkeit, Sch<strong>im</strong>mel oder gar Insektenfraß<br />

geschützt werden.<br />

Ob das Bocke Madel lesen konnte? Das darf bezweifelt werden. Generationen später<br />

mag dann ein Buch in die Familie geraten sein, mit Rezepten, „wie sie damals von<br />

<strong>Faust</strong> und unserer Ahnin verwendet wurden.“ Derartige Büchlein mit Notizen zur<br />

Behandlung von Krankheiten wurden hundert Jahre nach <strong>Faust</strong> bis in die ersten Jahrzehnte<br />

<strong>des</strong> 20. Jhdts. in bald jeder Familie geführt. Im Lauf der Zeit hat sich das „wie“<br />

vermutlich zum „das sind die Rezepte <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s“ fortgeadelt.<br />

Dass die Knittlinger das Bocke Madel gelegentlich schnitten, man darf es gelassen<br />

betrachten. Sicherlich hat ihr Außenseiterstatus durch ihren Umgang mit <strong>Faust</strong> eine<br />

eigene Ausprägung erfahren, eine „Kräuterärztin“ hatte jedoch grundsätzlich einen<br />

besonderen Status. Zu ihrem „Handwerkszeug“ gehörten nicht nur Arzneien, sondern<br />

auch Heilsegen, magische Sprüche und Rituale, um die Heilmittel zu aktivieren.<br />

Und sie verbreitete zwangsläufig, ob sie es nun wollte oder nicht, Furcht; sie war jener<br />

Beschwörungen und Zauber mächtig, um Geistern zu befehlen.<br />

Sie war eine Respektperson, der man sich <strong>im</strong> Krankheitsfall wiederum gerne anvertraute.<br />

Für den Fall, dass sie das richtige Mittel anwandte, möchte man fast von einer<br />

opt<strong>im</strong>alen Wirkstoffkombination sprechen. Zum einen wirkte das Mittel, sodann<br />

aktivierte der Glaube an die Wirkung der begleitenden Sprüche die dem Patienten<br />

innewohnenden selbstheilenden Kräfte.<br />

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, von pflanzlichen Wirkstoffen nach<br />

heutigem Verständnis war damals nichts bekannt. Über die Verwendung diverser<br />

Pflanzen in Verbindung mit spezifischen Spruchformeln glaubte man die<br />

verschiedenen Geister zu aktivieren. Krankheit war das Werk überirdischer Mächte,<br />

sie war eine Strafe Gottes, war angehext, von Geistern bewirkt oder der „Influenza“,<br />

dem Einfluss der Sterne, zu zuschreiben. Je nach vermuteter Ursache kamen <strong>des</strong>halb<br />

gleichberechtigt neben Pflanzen auch Gebete, Reliquien, Amulette und Talismane<br />

zum Einsatz.<br />

Ein kranker Mensch durfte sich be<strong>im</strong> Bocke Madel aufgehoben fühlen. Wenn er<br />

beobachtete, wie die Heilerin mit kundiger Hand „schädliche Gegenstände“ aus dem<br />

Z<strong>im</strong>mer räumte, in die Ecken <strong>des</strong> Z<strong>im</strong>mers Weihwasser spritzte, unter gemurmelten<br />

Sprüchen einen magischen Kreis um sein Krankenlager abschritt, unter auf- und<br />

abschwellendem Summen mit den Fingerspitzen über seine Unterarme strich, um<br />

dann endlich die Hand auf seine Stirn zu legen …<br />

Bewegungen, Schritte, die sie bewusst und in sich selbst versunken ausführte, das<br />

Fluidum <strong>des</strong> Raumes, die Persönlichkeiten der anwesenden Geister zu erfühlen, aber<br />

auch sich ihrer selbst in diesem Raum zu vergewissern. Um alle Gedanken und<br />

Gefühle, die jetzt hier nicht hergehörten, abzustreifen, um allein den Kranken und die<br />

Geister, die ihn bedrückten, wahrzunehmen.<br />

41


Aber auch um zu wittern, in den Ausdünstungen <strong>des</strong> Kranken die Krankheit zu<br />

erschnuppern, um zu erspüren, welche Kräuter hier verbrannt werden mussten,<br />

welche Salbenwickel anzulegen waren.<br />

Ihre Erfahrung und Intuition musste das Fehlen moderner ärztlicher Analysen und<br />

pharmakologischer Kenntnisse wettmachen. Das erwähnte „auf- und abschwellende<br />

Summen“ und anderes mehr, ist wohl innerhalb sympathetischer Heilungsriten bei<br />

allen Völkern angewendet worden. Man denke auch an „Amen“ oder das „Om“, das<br />

römische „Omen“ oder das „Amne, Amne …“ der Innuits. Es deutet auf urzeitliches<br />

Schamanentum bei allen Völkern.<br />

Der Kranke wusste sich jedenfalls umsorgt. In einer Welt rauen Umgangs wendete<br />

jemand alle Aufmerksamkeit und Fürsorge auf ihn. Nicht ausgeschlossen, dass das<br />

Bocke Madel auch manchem etwas Hexensalbe aufstrich, den Körper in einen<br />

Tiefschlaf zu senken, die an Sorgen und Armut leidende Seele auf einen<br />

Erholungsflug zu schicken, damit sie sich, zumin<strong>des</strong>t in ihrer Phantasie, all jenes<br />

Glück erfüllte, das ihr in diesem Leben nicht gegönnt war.<br />

Anders stellte sich die Situation für den Gesunden dar, ihm muss be<strong>im</strong> Umgang mit<br />

der „Hexe“ ein wenig gruselig gewesen sein. Eine Frau, die mit Geistern und Dämonen<br />

per du ist, sie zu zitieren versteht, geheuer war das auf keinen Fall; das Bocke Madel<br />

mochte <strong>im</strong> Stande sein, einem die gesamte Geisterhorde an den Hals zu hetzen.<br />

Im weitesten Sinne war auch sie eine Teufelsbündnerin, selbst wenn sie sich nicht als<br />

solche bezeichnete. Denn da sie zu heilen verstand, musste sie zwangsläufig Kenntnisse<br />

besitzen, um mit verschiedenen Teufeln umzugehen, diese dort hin zu jagen, wo<br />

Teufel nun mal hin gehören. Was freilich <strong>im</strong> Umkehrschluß beinhaltete, dass sie die<br />

Teufel auch zu rufen verstand.<br />

Was nicht weniger bedeutete, als dass eine Heilerin oder auch Kräuterfrau oder Hexe<br />

sich in einer gefährlichen Grauzone bewegte. Ohne Umstände schlug der Dank der<br />

vormaligen Patienten <strong>im</strong> Falle eines verheerenden Hagelschlags in die Vermutung um,<br />

das Bocke Madel habe Schadzauber geübt.<br />

Man darf sich heute über den Undank der Menschen gegen ihre Heilerinnen erregen,<br />

man sollte darüber nicht vergessen, wie tief die Menschen jener Zeit in den<br />

„Geisterglauben“ eingesponnen waren. Nicht zuletzt darf man außer Acht lassen, dass<br />

die Ernteerträge sehr bescheiden waren, die Furcht vor dem Hungertod war stets<br />

gegenwärtig; diese Furcht verwandelte sich <strong>im</strong> Hand-um-drehen in Hysterie.<br />

Auf jeden Fall war es ratsam, ein Neugeborenes, das noch nicht mit der Taufe gegen<br />

das Böse „fest gemacht“ war, nicht dem Blick <strong>des</strong> Bocke Madel auszusetzen.<br />

Be<strong>im</strong> Bocke Madel wurden die Männer reihenweise schwach – in die Hosen rutschten<br />

ihnen die Herzen. Das war keine Frau, die man frech antatschte, bei ihrem Anblick<br />

wurde es selbst den Landsknechten flau; diesen eingebildeten Burschen in ihren<br />

teuren, geschlitzten, knallfarben unterfütterten Pluderhosen, mit ihren selbst gebastelten<br />

Namen – ihren Visitenkarten: Schlagindieweit, Saufaus, Eisenbeiss, Slagetot,<br />

Kornhass, Buseschnapp. Nach dem Busen <strong>des</strong> Bocke Madel grapschte nicht nur<br />

keiner, es will sie auch niemand als Hausfrau, auch nicht als Magd. So verrückt kann<br />

man gar nicht sein, sich Geister und Dämonen rudelweise ins Haus zu holen.<br />

Und <strong>Faust</strong>, der gelegentlich in Knittlingen auftauchte, war für die Knittlinger wohl eine<br />

Art „gedoppeltes Bocke Madel“. Ob <strong>Faust</strong> und die Knittlinger viel miteinander zu<br />

schaffen hatten, es spricht nichts dafür. Für ihn, den Weitgereisten, war Knittlingen zu<br />

klein geworden. Den Knittlingern, die bereits <strong>im</strong> Umgang mit dem Bocke Madel<br />

befangen waren, bei seiner Person schien ihnen erhöhte Vorsicht geboten; seine<br />

Fähigkeiten und Möglichkeiten konnten sie nun gar nicht mehr abschätzen.<br />

Selbstredend konnte es nicht verborgen bleiben, dass das Bocke Madel und <strong>Faust</strong><br />

gemeinsam hantierten, und es versteht sich von selbst, dass entsprechend dem Geist<br />

der Zeit, selbst die gewöhnlichsten Vorgänge nun eine ganz eigene Bedeutung für die<br />

Nachbarn bekamen: Die schwarze Katze, die in der Wintersonne den Schönheitssitz<br />

auf der Treppe probte, die drei Krähen, die sich genau in dem Moment auf der<br />

Scheune niederließen, als erneut Rauch aus einem Fenster quoll, dazu – man stelle<br />

42


sich das vor – mitten in der Nacht hatte das Bocke Madel Holz aus der Scheune<br />

geholt.<br />

Die Knittlinger selbst, und auch die Einwohner der umliegenden Dörfer, deckten<br />

offenbar <strong>Faust</strong>s „Hexenküche“. Angenommen – nichts spricht dagegen – das Bocke<br />

Madel war eine erfolgreiche „Ärztin, Heilerin, oder auch Hexe“, die Begriffe verschw<strong>im</strong>men<br />

hier zwangsläufig, da sie für <strong>Faust</strong> arbeitete, musste <strong>Faust</strong> noch viel mehr<br />

von diesen Künsten verstehen.<br />

Man sah es auch gleich, <strong>Faust</strong> trug feste Stiefel, einen schönen Mantel; kein Zweifel er<br />

war ein Mann, der seine „Kunst“ verstand, den man besser mit Respekt behandelte.<br />

Zu seiner Kunst gehörte es insbesondere – die Quellentexte erzählen nichts anderes –<br />

stets zu wissen, was er sich in der jeweiligen Situation herausnehmen durfte.<br />

Hatte er Bauern vor sich, lärmte er ungeniert, hatte er mit dem Bischof von Bamberg<br />

zu tun, wusste er sich offenbar zu benehmen.<br />

Von daher darf man ihm unterstellen, dass er genau wusste, warum er das Bocke<br />

Madel engagierte. Das Bocke Madel schützte ihn. Sie hatte <strong>im</strong> Lauf der Jahre viele<br />

Krankheitsfälle behandelt, und es gab wohl nur wenige in Knittlingen, die sie noch<br />

nicht behandelt hatte. Falls jemand die Lust ankommen sollte, ihn zu verleumden, gar<br />

einen Hexerprozess loszutreten, indem er so Sachen behauptete, sein Pferd sei<br />

gestürzt, <strong>Faust</strong> habe ihn am Tag zuvor so „merkwürdig angesehen“ oder ihn auch<br />

„scharf angeblasen“, <strong>Faust</strong> habe wahrscheinlich Schadzauber geübt, derjenige<br />

unterdrückte besser seinen Drang, sich wichtig zu machen, nicht dass er selbst am<br />

Ende auf der Streckbank lag und wegen Hexerei „befragt“ wurde. So „eindeutig“ eine<br />

allgemeine Klageerhebung nach einem Hagelschlag war, die Anzeige eines Einzelnen<br />

konnte, abhängig vom Richter, den Kläger selbst in die Bredouille bringen. Und wer<br />

<strong>Faust</strong> beschuldigte, lenkte zwangsläufig das Interesse auf das Bocke Madel, und über<br />

das Bocke Madel führte die Spur in viele Häuser. Gar nicht auszudenken, was das<br />

Bocke Madel alles gestehen würde, was sie in den einzelnen Häusern angestellt hatte.<br />

Gar nicht einzuschätzen, wie der Richter auf das Gehörte reagierte und erst, wie das<br />

so wäre, wenn man dann selbst befragt wurde. Wenn man bei manchen Fragen rein<br />

gar nicht mehr wusste, wie man antworten sollte.<br />

Zur Abwehr <strong>des</strong> Bösen trug man ein Beutelchen mit Kräutern, ein Amulett auf der<br />

Brust. In jeder Behausung gab es Ritzen, in denen Zettel steckten, mit Sprüchen zur<br />

Abwehr von Unwetter, von Feuer, gegen den Schadzauber böser Mitmenschen. Auch<br />

wenn das alles gang und gäbe war und obendrein erlaubt, doch allein sich die Fragen<br />

auszumalen, welche Art von Kräuter man <strong>im</strong> Brustbeutelchen trage und warum denn<br />

ausgerechnet diese, es konnte einen schon ziemlich nervös machen. Erst recht wenn<br />

der gestrenge Herr vielleicht wissen wollte, warum man sich vor Schadzauber fürchte,<br />

hoffentlich doch nicht <strong>des</strong>halb, weil man selbst bereits Schadzauber geübt habe.<br />

Und wer hatte noch nicht herum gezaubert? Dem Nachbarn noch keine Friedhofserde<br />

vor die Tür gestreut, noch keinen Ruß gegen <strong>des</strong>sen Haus geworfen. Einmal hatte<br />

man sogar versucht, den Viehhändler zu bannen: Mit einem bösen Blick zwischen<br />

<strong>des</strong>sen Augen, ganz fest auf die Nasenwurzel.<br />

Der Bruder <strong>des</strong> Humanisten Philipp Melanchthon, Georg Schwarzerd, ein schreibfreudiger<br />

Mensch und gleichsam unbestellter Chronist, hinterließ eine Aufzeichnung<br />

über die örtlichen Vorgänge be<strong>im</strong> Bauernaufstand von 1525 sowie eine Re<strong>im</strong>chronik<br />

von 1560. Ein anderer Bericht aus seiner Feder lässt zum Thema Hexenverfolgung<br />

interessante Schlussfolgerungen zu. Er beschreibt, wie Herzog Ulrich von Württenberg<br />

1504 den Ort Bretten belagert und dabei sein Heerlager bei Knittlingen am Steger See<br />

aufschlägt:<br />

„…begab es sich uff einen tag, dass ein solch ungestumb wint und wetter kame, dass<br />

meniglich erschrockens hette, dan der windt zerriß die sail, warff die zelten umb,<br />

pracht alle ding in uhnordnung, dass irer viel sich unglücks erwegen hetten. – Nuhn<br />

het man aber unlang davor etlich unhollen (Hexen, Unholde / Frau Holle, die Holde) zu<br />

Pretten verprant, dardurch ein erdicht geschrey endstundt, es weren viel unholden in<br />

der Statt, deßhalb die Wurttembergischen gemeinlich vermeinten, es hetten die<br />

unholden solch wetter uber sie zugericht, dass aber nitt wahr.“<br />

43


Es gab also um das Jahr 1500 Hexenverbrennungen in <strong>Faust</strong>s He<strong>im</strong>at – hiermit ist es<br />

verbürgt.<br />

Der Autor, Georg Schwarzerd, hat offenbar an Hexenverbrennungen prinzipiell nichts<br />

auszusetzen – jeder weiß, dass es Hexen gibt, schließlich treibt der Teufel sein<br />

Unwesen auf der Erde. Dass jedoch die ganze „Statt“ unter Generalverdacht gestellt<br />

wird, „es weren viel unholden in der Statt“, das macht dem Autor Angst. Er wehrt sich,<br />

kurz und knapp: „…dass aber nit wahr!“ Warum er sich wehrt, ist nicht ganz schlüssig,<br />

Hexen müssen doch vernichtet werden. Und als Mann hat er in dieser Zeit noch nicht<br />

viel um seine Person zu fürchten; die Zielpersonen jener Jahrzehnte entsprechen<br />

unserer heutigen Vorstellung vom Bild der Hexen: Frauen über fünfzig, arm, alleinstehend,<br />

ausgegrenzt, schrullig, verbittert.<br />

Was macht dem Chronisten also Angst? Fürchtet er, dass Frauen aus der Verwandtschaft<br />

der Hexerei überführt werden, ihr unseliges Treiben ihm die Ehre abschneidet?<br />

Diffuse Zweifel am Wert der durch Tortur gewonnen Geständnisse treiben ihn auch<br />

nicht um.<br />

In Verbindung mit einzelnen Missernten war es zwischen 1420 und 1480 vereinzelt zu<br />

weiträumigen Hexenprozessen <strong>im</strong> Breisgau, Elsaß und Württemberg gekommen;<br />

zahllose Frauen wurden von den Richtern eingezogen, gefoltert und verbrannt. Die<br />

Empörung über die Jagden unter dem späteren Kaiser Max<strong>im</strong>ilian I. um 1480 hatte die<br />

„Hexenbulle“ von 1484 zur Folge.<br />

Wir haben keine Kenntnis darüber, was über diese breit angelegten Verfolgungen in<br />

den betroffenen Dörfern <strong>im</strong> Nachhinein geredet wurde, es lässt sich jedoch<br />

erschließen. Wir wissen aus der Zeit nach <strong>Faust</strong>, dass die Menschen das Entsetzen<br />

packte, als in einzelnen Dörfern die „Geständnisse“ nahezu alle Frauen auf die<br />

Scheiterhaufen brachten.<br />

Zu <strong>Faust</strong>s Lebzeiten gab es zwar keine großen Hexenjagden, dennoch war <strong>Faust</strong> mit<br />

den „alten Geschichten der Hexenjagden“ vertraut, damit war er groß geworden. Er<br />

weiß, dass seine Zeitgenossen rein gar nichts gegen die Verbrennung einzelner<br />

auffälliger Personen einzuwenden haben, so es sich um Weiber handelt, bei denen sie<br />

sich auch ohne Richter bereits darüber einig sind, dass die betreffende Person eine<br />

Zauberin ist.<br />

Doch das kalte System eines alles verschlingenden Mechanismus, das ist es, was sie<br />

erschreckt.<br />

Und genau darum geht es <strong>Faust</strong>. Über das Bocke Madel hat er die Knittlinger in der<br />

Hand, und über deren Verwandtschaftsbande die umliegenden Ortschaften.<br />

Man kann der Beziehung <strong>Faust</strong>-Bocke Madel nicht genug Beachtung schenken. <strong>Faust</strong>,<br />

wie er sich aus den Quellentexten erschließt, war kein sozial verträglicher Mensch.<br />

Das Indiz „Bocke Madel“ liefert uns den einzigen Menschen, mit dem <strong>Faust</strong> über<br />

mehrere Jahre hinweg eng zusammen arbeitete.<br />

Sicherlich gab es dafür äußerst praktische Gründe.<br />

Und dennoch hatten sich hier wohl zwei Außenseiter, zwei verwandte Seelen<br />

gefunden.<br />

Gutmöglich hatte sich das Bocke Madel gar nicht für den Beruf einer Medica frei<br />

entschieden, sie war dafür disponiert gewesen, hatte eventuell bereits als Kind eine<br />

Ausgrenzung erfahren, sich tief in die Welt der Geister eingesponnen, war eventuell<br />

durch mediale Fähigkeiten darin befestigt worden.<br />

Und für den Fall, dass sie durch eine Verwandte auf die Welt einer Medica hingelenkt<br />

worden war, die Handhabung von Ritualen, die Zwiesprache mit Kobolden und<br />

Holden, nicht zuletzt die Reaktion ihrer Mitmenschen, die Entwicklung zur Außenseiterin<br />

war eine zwangsläufige.<br />

Doch gesetzt den Fall, dass das Bocke Madel deutlicher älter als <strong>Faust</strong> war, <strong>Faust</strong><br />

bereits als Hemdenmatz der Zwanzigjährigen hinterher gesprungen war und sie es<br />

gewesen war, die ihn mit Kobolden und Geistern vertraut gemacht hatte, dann wäre<br />

sie nicht nur seine erste Unterweiserin gewesen, dann bestand ein altes Vertrauensverhältnis.<br />

Und damit wäre auch die ungewöhnlich „lange“ Zusammenarbeit erklärbar,<br />

denn <strong>Faust</strong>, in seinem überspannten Ego, war gewiss nicht leicht einzubremsen.<br />

44


Nun anzunehmen, das Bocke Madel sei kein Christenmensch gewesen, ist vermutlich<br />

nur falsch. In ihrer Vorstellung waren Christus und seine h<strong>im</strong>mlischen Heerscharen ein<br />

majestätischer Überbau, der die Erde mit ihren Menschen, Dämonen und Geistern auf<br />

ewig überwölbte.<br />

1534 wurde auch Knittlingen zwangsreformiert. Spätestens ab diesem Jahr dürfte die<br />

Zusammenarbeit zwischen <strong>Faust</strong> und dem Bocke Madel beendet gewesen sein.<br />

Lutheraner unterschieden nicht zwischen nützlichem oder schädlichem Zauber, für sie<br />

war Zauber <strong>im</strong>mer Teufelswerk; allein bei Gott habe der Mensch sein Heil zu suchen.<br />

In katholischen Gebieten herrschte dagegen weiterhin eine lässige Duldsamkeit, mit<br />

der es in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts allerdings auch vorbei sein sollte.<br />

Grundsätzlich bestand jedoch in diesen Jahren in ganz Deutschland bereits die<br />

Möglichkeit <strong>des</strong> Zugriffs, seit 1532 war die erste allgemein gültige Prozessordnung, die<br />

„Constitutio Cr<strong>im</strong>inalis Carolina“, in Kraft. Auch die „Carolina“ akzeptierte unter §109<br />

die traditionelle Unterscheidung zwischen Schad- und Nutz-, also Heilzauber, doch um<br />

festzustellen, um welchen Art von Zauber es sich handelte, kam zunächst der weit<br />

gefasste Zauberparagraph 44 zur Geltung; dabei wurde auf Grundlage <strong>des</strong><br />

„Hexenhammers“ verhandelt und gefoltert.<br />

<strong>Faust</strong>, dem gewieften Lebenstechniker, bedeutete die Zwangslutherisierung seiner<br />

He<strong>im</strong>at wenig, er war beweglich. Das Schicksal <strong>des</strong> Bocke Madel können wir nur<br />

erahnen.<br />

(Magdalena: Magda, Mädchen, Magd)<br />

*<br />

„MBW“<br />

In den nachfolgenden Essays wird verschiedentlich auf den Briefverkehr Philipp<br />

Melanchthons Bezug genommen. Heinz Scheible und seine Mitarbeiter haben <strong>im</strong><br />

Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften den Briefwechsel<br />

Melanchthons erfasst sowie zeitlich zugeordnet; für den Zeitraum von 1514 bis 1560<br />

ergaben sich 9301 Dokumente. Um auch den Zugang zum Inhalt der Briefe zu<br />

erleichtern, wurde von jedem Schriftstück eine kurze Inhaltsangabe angefertigt. Derart<br />

kompr<strong>im</strong>iert füllt der Briefverkehr acht Bände; ein Itinerar wurde in einem eigenen<br />

Band angelegt.<br />

Heinz Scheibles Arbeit wurde unter „Melanchthons Briefwechsel“ bekannt, in den<br />

nachfolgenden Essays kurz mit „MBW“ bezeichnet.<br />

Melanchthons Bekanntschaften rund um <strong>Faust</strong><br />

Im Jahr 1560 verstirbt Philipp Melanchthon <strong>im</strong> Alter von 63 Jahren. Drei Jahre darauf<br />

gibt Johannes Manlius sein Werk „Locorum communium Collectanea“ in Druck. Das<br />

<strong>Faust</strong> betreffende Kapitel, von der <strong>Faust</strong>-Forschung schlicht als „bei Manlius“ oder als<br />

„Manlius-Text“ bezeichnet, will eine Wiedergabe <strong>des</strong>sen sein, was Johannes Manlius<br />

in seiner Zeit an der Universität Wittenberg von seinem Lehrer Phillip Melanchthon<br />

über <strong>Faust</strong> erfahren hat.<br />

Letzteres bezweifeln einige <strong>Faust</strong>forscher nicht nur, sie verweisen den Text <strong>des</strong><br />

Fel<strong>des</strong>: Ein Sensations heischender Plappertext, der wohl der Phantasie <strong>des</strong> Manlius<br />

entsprungen sei. Ein Text, ohne jede Substanz, der nur die eine bocksfüßige Ehre<br />

habe, das Konzept für die spätere „Historia“ zu liefern. Der behauptete Bezug auf den<br />

in der lutherischen Welt so hoch angesehenen Melanchthon sei eine Werbemasche,<br />

Manlius wollte wohl auf billige Weise damit renommieren, dass er ein Schüler<br />

Melanchthons war, Schüler jenes Mannes, der in der Schlosskirche von Wittenberg<br />

neben dem hoch verehrten Martin Luther beigesetzt worden war.<br />

Andere <strong>Faust</strong>forscher akzeptieren zwar den Anfang <strong>des</strong> Textes, da er den Ruch von<br />

Authentizität habe, den übrigen Text ignorieren sie ebenfalls, er enthalte keinerlei<br />

45


verwertbaren Aussagen, das Leben <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us zu erhellen, zudem handele es<br />

sich nur um einen Indizien-Text.<br />

In der Tat, Manlius eröffnet verheißungsvoll: „Ich hab einen gekennet / mit nammen<br />

<strong>Faust</strong>us von Kundling – ist ein kleines stettlein / nicht weit von meinem Vatterland...“<br />

Manlius liefert <strong>im</strong> Jahre 1563 mit der Nennung von Kundling, 23 Jahre nach <strong>Faust</strong>s<br />

Tod, den allerersten Hinweis auf Knittlingen als <strong>Faust</strong>s Geburtsort.<br />

Günther Mahal hat 45 verschiedenen Schreibweisen für Knittlingen zusammengetragen,<br />

ob Knuttelingen, Cunchelinge oder Kütlingen, es handelt sich dabei stets um<br />

Knittlingen. Und dennoch, die Verballhornung von Knittlingen zu Kundling erzeugt<br />

nicht nur Verwunderung, sie verstärkt den Zweifel, dass der Text tatsächlich Aussagen<br />

Melanchthons über <strong>Faust</strong> wiedergibt.<br />

Zu diesem Zweifel passt es gut, dass der Manlius-Text über das Leben <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>us,<br />

<strong>im</strong>merhin währte es an die sechzig Jahre, wenig an harten Fakten zu bieten hat,<br />

obgleich der Gewährsmann gleichsam <strong>Faust</strong>s Nachbar war.<br />

Denn Melanchthons „Vatterland“, das ist Bretten, ein Nachbarort von Knittlingen.<br />

Und „Ich hab einen gekennet“, besagt klar, Melanchthon kannte <strong>Faust</strong> persönlich.<br />

Ungeachtet <strong>des</strong>sen unterstellen nicht wenige <strong>Faust</strong>forscher, dass Melanchthon über<br />

<strong>Faust</strong> nur gerüchteweise informiert gewesen sei, dass er den Satz „Ich hab einen<br />

gekennet“ nur so dahin gesagt, ihn als unbedeutende Floskel gebraucht hätte.<br />

<strong>Faust</strong> war etwa siebzehn Jahre, als Melanchthon geboren wurde. Selbst wenn sie nie<br />

mit einander gesprochen hätten, Melanchthon <strong>Faust</strong> selbst nie gesehen hätte,<br />

Melanchthon war von Jugend an mit der Person „<strong>Faust</strong>“, <strong>des</strong>sen Herkunft und<br />

Lebensumständen bestens vertraut. Das ist zwar in keiner Weise belegt, doch nur der<br />

Stadtmensch von heute ist geneigt zu zweifeln. Wer dagegen auf dem Land lebt, mit<br />

den ländlichen Interaktionen vertraut ist, der weiß, dass man von Dorf zu Dorf sich<br />

kennt, dass die tollen Geschichten von Dorf zu Dorf zu jedermanns Ergötzen begierig<br />

durchgehechelt werden. Noch heute werden nächtliche Überfälle geübt: Es wird der<br />

Maibaum gestohlen, den feindlichen Schweinen Weinhefe in die Tröge gekippt, dem<br />

Bürgermeister die Haustür vermauert. Man hasst sich, man liebt sich und gelegentlich<br />

heiratet man sich auch.<br />

Knittlingen war Bezugspunkt für die umliegenden Dörfer und Flecken: In Knittlingen<br />

war ein Rueg- sowie ein Vogtgericht. (Rueggericht: Außergerichtliches Verfahren<br />

meist wegen Verstoß gegen Verhaltensnormen; Strafen: öffentl. Verspottung,<br />

Kahlscheren, in Wasser untertauchen. Vogtgericht, althdt. niedere Gerichtsbarkeit,<br />

auch Voigt-, Fauth-, (s. Woi-wode), abgeleitet von lat. Advocatus;)<br />

Nach Knittlingen wurden auch die Verhandlungen schwerer Straftaten, der Malefizhändel,<br />

abgegeben; in Knittlingen befand sich eine Hochgerichts- und Halsgerichtsbarkeit.<br />

Jede Hinrichtung war ein Volksfest, die Menschen aus den umliegenden Dörfern<br />

strömten herbei, auf die Anwesenheit der Kinder wurde dabei hoher Wert gelegt, man<br />

versprach sich hohe pädagogische Wirkung; die grausigen Hinrichtungen sollten eine<br />

Warnung sein.<br />

Knittlingen war auch Poststation; am Gasthaus „Löwen“ wechselten die Reiter die<br />

Pferde.<br />

Die Familie Schwarzerd, daher der graecisierte Name Melanchthon, hatte außerdem<br />

Besitz bei Knittlingen. Es handelte sich um den Steger See. 1531 wird er an das<br />

Kloster Maulbronn für 590 Gulden verkauft. Die Verkaufsurkunde blieb erhalten, darin<br />

heißt es: „…für uns und den wolgedachten meister Philips Melanchthon zu Wittenberg<br />

unsern lieben swager, bruder und guten fründ…den Steger see, zwischen Brethe<strong>im</strong>er<br />

und Knüthlinger marken obeder Strassen gelegen mitt vischen, bösserungen, wissen,<br />

weid, wasser in und ußfliessen auch allen zugehörden und gerechtigkeiten.“<br />

Melanchthon war also nicht nur vom Nachbarort Bretten, er war auch von Kin<strong>des</strong>beinen<br />

an mit Knittlingen vertraut. Nun mag man einwenden, dass er bereits mit zwölf<br />

Jahren Bretten verließ – mit Ende seines Besuchs der Brettener Lateinschule wurde er<br />

der Obhut seines Großonkels Johannes Reuchlin in Pforzhe<strong>im</strong> anvertraut, doch<br />

Bretten liegt von Pforzhe<strong>im</strong> keine vier Wegstunden entfernt.<br />

46


In „MBW, Band 10 / Orte A – Z und Itinerar“ ist mit Beginn <strong>des</strong> Briefwechsels<br />

Melanchthons Aufenthalt an jedem einzelnen Tag seines Lebens festgehalten. Gemäß<br />

„Band 10“ stellen sich Melanchthons Besuche in Bretten wie folgt dar:<br />

1518 Jul. Ende / M. kommt von Pforzhe<strong>im</strong> nach Bretten, Abschied von der Mutter.<br />

1524 Mai 03. Di. / M. kommt von Wiesloch? nach Bretten, wohnt be<strong>im</strong> Stiefvater<br />

Johannes Hechel <strong>im</strong> Gasthaus zur Krone. Camerarius, Burchard und Silberborner<br />

reiten alsbald weiter zu Erasmus nach Basel. M. erhält am 06. den Besuch der<br />

Heidelberger Professoren Martin Frecht, Hermann von Busche und S<strong>im</strong>on Grynaeus.<br />

Am 10. folgt der Besuch <strong>des</strong> Friedrich Nausea <strong>im</strong> Auftrag <strong>des</strong> Kardinals Lorenzo.<br />

Am 26. Abreise mit Camerarius und Burchard von Bretten nach Heidelberg.<br />

1529 Apr. 14.? 15. Do. 16.? / M. weilt Mär. u. Apr. in Speyer, Tagesbesuch in Bretten.<br />

1536 Sep. 17. So. – 23. Sa. / Ms. letzter Besuch in Bretten, Gespräch mit Nikolaus<br />

Müller und Georg Schwarzerd.<br />

Dass Melanchthon, der ohnehin gern plauderte, und seine Bekannten aus Kindertagen<br />

sich nicht auch über <strong>Faust</strong> unterhalten hätten, ist schwer vorstellbar. Und geradezu<br />

verwegen ist es anzunehmen, Melanchthon wäre den vollen Wonnemonat Mai <strong>des</strong><br />

Jahres 1524 nur auf der Ofenbank gesessen; gewiss hat er auch Bekannte in den<br />

umliegenden Ortschaften, also auch in Knittlingen besucht.<br />

Man darf wohl ohne Einschränkung sagen, Melanchthon war von Jugend an mit <strong>Faust</strong><br />

bzw. mit dem Thema „<strong>Faust</strong>“ gut vertraut.<br />

Und selbst nachdem er Bretten längst hinter sich gelassen und zu Luthers wichtigstem<br />

Mitarbeiter aufgestiegen war, <strong>Faust</strong>, soweit er in Knittlingen wieder für Gesprächsstoff<br />

gesorgt hatte, Melanchthon sollte darüber zumin<strong>des</strong>t in Umrissen informiert gewesen<br />

sein, sein Bruder Georg war ein schreibfreudiger Mensch. Zwar blieb gemäß „MBW“<br />

vom Briefwechsel der Brüder kein Brief Georg Schwarzerds erhalten und von den<br />

Briefen Melanchthons an seinen Bruder finden sich nur noch zwei, doch quer durch<br />

„MBW“ verstreut finden sich etwa 40 Hinweise auf diesen Briefwechsel. Melanchthon<br />

berichtet seinen Briefpartnern über jüngst Verstorbene seiner Brettener Verwandtschaft,<br />

er gibt weiter, dass der Kaiser in Bretten speiste, er erwähnt in einem<br />

Schreiben, dass er beiliegend einen Brief seines Bruders übersendet, damit der<br />

Empfänger sich selbst ein Bild mache, wie Spanier und Italiener – die kaiserliche<br />

Soldateska, in Württemberg hausen (nach dem Schmalkaldischen Krieg und der<br />

befohlenen Re-Katholisierung Württembergs <strong>im</strong> Jahr 1548). Und als Melanchthon<br />

seinen Kurfürst am 17.Juli 1536 um Urlaub bittet, nennt er neben anderen Gründen<br />

auch Erbschaftsangelegenheiten, die er mit seinem Bruder, Georg Schwarzerd, klären<br />

müsse.<br />

Zudem war Melanchthon, so gelehrt er auch war, für interessante Begebenheiten<br />

<strong>im</strong>mer gern zu haben. In einem Brief an Camerarius erwähnt er einen „märkischen<br />

Mönch, der geboren hat“, an anderes Mal gibt er weiter, dass „ein Blitz einen<br />

Schlossturm traf und einen alten Mann tötete“, er berichtet vom Tod einer Frau, die <strong>im</strong><br />

Lauf ihres Lebens 18 Kinder gebar, und dass ein „Hans Kohlhase ein Dorf bei<br />

Schlieben geplündert hat“, erzählt ihm ein Schreiben Luthers.<br />

Ein durchlaufen<strong>des</strong> Band schreiender Schlagzeilen, in das auch <strong>Faust</strong>, der Mann mit<br />

Nachrichtenwert und Tratschpotential, gut hinein passte. Mit Blick auf Knittlingen darf<br />

man sagen: So die Briefe Georg Schwarzerds noch existierten, wir wüssten etwas<br />

über „<strong>Faust</strong> in Knittlingen“.<br />

Gewiss nicht zuletzt <strong>des</strong>halb, weil Melanchthon gemäß „MBW“ sich zeitlebens für<br />

„Übernatürliches“ in hohem Maß interessierte. Wobei Melanchthons Interesse an<br />

Paraphänomen keineswegs die Lust eines Voyers war; er war mit der Ausdeutung von<br />

Wunderzeichen befasst, er unterschied dabei zwischen göttlichem und teuflischem<br />

Ursprung. Am 1.Sept. 1551 schreibt er an Hubert Languet über teuflische<br />

47


Besessenheiten. Als Beispiele nennt er die Glossolalie einer Frau vor 12 Jahren über<br />

den Schmalkaldischen Krieg, sodann die Verwandlung von Fäden in echte Münzen<br />

durch das märkische Mädchen Gertrud Fischer aus Lebus vor 16 Jahren, und das<br />

Aufsagen eines Vergilverses durch eine italienische Analphabetin.<br />

(Glossolalie: Zungenrede, Redefluß aus sich selbst heraus, wohl ähnlich dem<br />

Channeling. Xenoglossalie: Zungenrede in fremder Sprache, obwohl man derer nicht<br />

mächtig ist; „Pfingstwunder“ in der Apostelgeschichte.)<br />

Auch von daher scheint es als wenig vorstellbar, dass er sich für <strong>Faust</strong>, über den er<br />

gemäß Manlius äußerte, dass dieser „viel verborgen Ding sagte“, sich ein Leben lang<br />

nicht interessiert hätte. Im Gegenteil, <strong>Faust</strong> muss ihn überaus interessiert haben.<br />

Neben den Gerüchten und Geschichten über <strong>Faust</strong>, die Melanchthon wohl in seinem<br />

Leben auf verschiedensten Wegen erreichten, stand er selbst mit zahlreichen<br />

Personen in Kontakt, die über <strong>Faust</strong> gut informiert waren. Am 19. Juli 1525 hatte er<br />

Daniel Stibar in Wittenberg kennengelernt, jenen Stibar, mit dem auch sein Freund,<br />

der Professor Joach<strong>im</strong> Camerarius bekannt ist. Stibar pflegte direkten Umgang mit<br />

<strong>Faust</strong> – der Zeitraum seiner Bekanntschaft mit <strong>Faust</strong> ist durch ein Schreiben <strong>des</strong><br />

Camerarius für das Jahr 1536 gesichert. Ohne hier dem Essay „Nachtsitzungen“<br />

vorzugreifen, so beeindruckend der Umfang von „MBW“ auch ist, er ist nur ein<br />

kläglicher Rest <strong>des</strong>sen, was einst an Briefen existiert haben muss. Dennoch findet sich<br />

Stibar ab 1536 etwa 25 Mal in den Briefen <strong>des</strong> Camerarius an Melanchthon erwähnt,<br />

<strong>des</strong> weiteren existieren noch zwei Briefe Melanchthons an Stibar. Es wäre nicht<br />

einsichtig, warum Stibar seine gute Bekanntschaft mit dem Astrologen <strong>Faust</strong> vor<br />

Melanchthon hätte verschweigen sollen, wo Melanchthon sich nicht weniger für<br />

Horoskope begeisterte als er selbst. Das gleiche gilt in noch höherem Maße für<br />

Camerarius: Er will von Stibar wissen, was <strong>Faust</strong> über den Sieg <strong>des</strong> Kaiser in den<br />

Sternen liest, denn auch er begeisterte sich für die Sprache der Sterne und nahezu<br />

täglich schrieb er an Melanchthon: sein Briefwechsel mit Melanchthon erfuhr keine<br />

Unterbrechungen und endete erst mit Melanchthons Tod.<br />

Am 22. Okt. 1522 traf sich Melanchthon in Erfurt <strong>im</strong> Haus <strong>des</strong> Heinrich Urban mit<br />

Petrus Mosellanus; Urban war einst als Bote <strong>des</strong> Conradus Mutianus in Sachen<br />

„<strong>Faust</strong>“ unterwegs gewesen. In „MBW“, Dok. 240 vom 3.Nov.1522, bezeichnet<br />

Melanchthon Urban als die wertvollste neue Bekanntschaft.<br />

Und <strong>im</strong> Juni 1526 übernachtete Melanchthon dann bei Heinrich Urban; in Dok. 472<br />

vom 1.Juli 1526 schreibt Melanchthon, er habe sich mit Urban erholsam unterhalten.<br />

Welcher Qualität dieses Gespräch unter Männern war, wird in etwa fassbar, wenn man<br />

weiß, dass Urban mit bürgerlichem Namen Fastnacht hieß und er bereits in seiner Zeit<br />

als Mönch mehr dem Nomen est Omen lebte denn seinen Gelübden. Dass bei dieser<br />

erholsamen Unterhaltung das Thema „<strong>Faust</strong>“ nicht berührt wurde, ist wenig vorstellbar.<br />

In „MBW“ tritt offen zu Tage, Melanchthon tauschte sich nicht nur liebend gern über<br />

Irrelevanta aus, er redete überhaupt viel. Um es in seiner Wiegensprache zu sagen, er<br />

„schwätzte“ gern.<br />

Und auch mit Johannes Virdung, der einst so dringend <strong>Faust</strong> sprechen wollte, war<br />

Melanchthon gut bekannt; Virdung hatte ihm einst, als er noch in den Windeln lag und<br />

Philipp Schwarzerd hieß, auf Bitten <strong>des</strong> Vaters das Lebenshoroskop gestellt. Wie<br />

„MBW“ zeigt, blieb Virdung bis zu seinem Tod <strong>im</strong> Jahr 1538 (?) für Melanchthon ein<br />

kompetenter Astrologe. In einem Brief vom 1.1.1531 an Georg Spalatin erwähnt<br />

Melanchthon, dass er <strong>im</strong> vergangenen Jahr dem Landgraf Philipp von Hessen geraten<br />

hätte, sich von Virdung das Horoskop stellen zu lassen, und <strong>im</strong> Schreiben vom<br />

30.9.1531 bittet er Johannes Brenz, dass dieser ihm über Camerarius die Prognostik<br />

für das Jahr 1532 <strong>des</strong> Schwäbisch Haller Astrologen Anton Brellochs und <strong>des</strong><br />

Johannes Virdung in Hassfurt sowie deren Deutungen <strong>des</strong> Halley`schen Kometen<br />

besorgen möchte.<br />

Nicht zuletzt saß Melanchthon oft genug mit Luther zu Tisch, und dort wurde derart<br />

viel über <strong>Faust</strong> geredet, dass Johannes Aurifaber es gar nicht mehr wiedergab, er<br />

notierte lapidar: „Multa dicebant de <strong>Faust</strong>o“, sie redeten viel über <strong>Faust</strong>.<br />

Melanchthon hätte seinen Schülern also richtig viel über <strong>Faust</strong> erzählen können.<br />

48


Das Melanchthon-Zitat: „Ich hab einen gekennet / mit nammen <strong>Faust</strong>us von Kundling –<br />

ist ein kleines stettlein / nicht weit von meinem Vatterland…“, klingt allesamt<br />

betrachtet, dann doch recht unterkühlt.<br />

*<br />

Melanchthon schweigt<br />

Man darf sicher sein, dass der verblichene <strong>Faust</strong> nicht nur unter der „gemeinen<br />

jugent“, wie Melanchthon laut Manlius klagte, ein Thema war, sondern auch unter den<br />

Studenten für Gesprächsstoff sorgte. Hätte Manlius, der einst selbst als Student mitten<br />

drin gesessen war, nicht wenigstens die wilden Vermutungen, die allgemeinen<br />

Diskussionen seiner Kommilitonen über <strong>Faust</strong> wiedergeben können, oder besser<br />

noch, was diese von Augen- und Ohrenzeugen über <strong>Faust</strong> gehört hatten.<br />

Denn die Art und Weise wie Melanchthon als Lehrer – nicht als Privatmann<br />

wohlgemerkt, über <strong>Faust</strong> redete, das große Gehe<strong>im</strong>nis, die Faszination <strong>des</strong> Dr.<br />

<strong>Faust</strong>us, erschließt sich aus dem Manlius-Text nicht.<br />

Nicht nur das, Melanchthon schickt Manlius geradezu in die Wüste. Der gewählte<br />

Ausdruck „nicht weit von meinem Vatterland“ lässt keine unmittelbare Nachbarschaft<br />

zu „Kundling“ vermuten, er lässt an eine Entfernung von vielleicht drei Tagereisen<br />

denken.<br />

Und dieses „Kundling“, man muss es nicht auf die Goldwaage legen, doch eventuell<br />

diente es gleichfalls als Kamel. Gemäß den noch existierenden Urkunden wurde der<br />

Name Knittlingen in dieser Zeit wie folgt geschrieben: 1501: Knutlingen, 1504:<br />

Knitlingen, 1504: Knittlinger ..., 1507: Knittlingen, 1519: Knittlingen, 1523: Knütlinger<br />

…, 1531: Knüthlinger …, 1532: Knüttlingen, 1535: Knittlingen, 1540: Knittlingen, 1555:<br />

Knittlingen, 1556: Knittlingen. Die den Steger See betreffende Verkaufsurkunde spricht<br />

von der „Knüthlinger marken“.<br />

Man kann es drehen wie man will, Kundling passt nicht in die Reihe der aus dieser Zeit<br />

bekannten Schreibweisen für Knittlingen.<br />

Es fragt sich, warum Melanchthon überhaupt preisgab, dass <strong>Faust</strong>us nicht weit von<br />

seinem „Vatterland“ dahe<strong>im</strong> war, während er gleichzeitig auf Abstand zu Knittlingen<br />

ging. Warum vollführte er diesen Spreizgang halber Wahrheiten?<br />

Wollte er nur vorbauen und jenem Moment allgemeiner Verblüffung die peinliche<br />

Spitze nehmen, sollte mal tatsächlich ein Tolpatsch in den Kreis treten und sagen: „Ich<br />

weiß, Ihr seid aus Bretten! Und stellt Euch vor, letztes Jahr reiste ich durch Knittlingen,<br />

wo dieser <strong>Faust</strong>us herstammte; das ist bei Euch zu Hause gleich um die Ecke!“<br />

Oder geschah es aus elitärem Dünkel heraus? Fürchtete er um sein Ansehen, so sich<br />

herausstellte, dass er einst <strong>im</strong> selben Dreck wie dieser <strong>Faust</strong>us gespielt hatte? Oder<br />

war Melanchthon als hoch gebildeter Mensch, über das Schmuddelkind der<br />

„Wissenschaften“ oder eben als Protestant über den Teufelsbündner nur schlicht und<br />

ehrlich empört, dass er sich folglich nur in halber Kenntnisnahme übte?<br />

Oder verhält es sich tatsächlich so, dass der Text ein Produkt toller Phantastereien ist<br />

und rein gar nichts mit Melanchthon zu tun hat, alle Fragen und Überlegungen dazu<br />

folglich unsinnig sind?<br />

Um diese Fragen zu klären und den Wert <strong>des</strong> Manlius Textes festzustellen, gilt es die<br />

Entstehung sowie das seinerzeitge Umfeld <strong>des</strong> Textes zu erkunden.<br />

Philipp Melanchthon ist der Gewährsmann, auf ihn beruft sich Manlius.<br />

Philipp Melanchthon, Sohn <strong>des</strong> Waffenschmieds von Bretten, war <strong>im</strong> August 1518 an<br />

der Universität von Wittenberg als Professor für Griechisch tätig geworden.<br />

In Kursachsen gab es zwei Universitäten: die <strong>im</strong> Jahr 1409 gegründete Universität von<br />

Leipzig, sodann jene in Wittenberg. Die Universität von Wittenberg, 1502 gegründet,<br />

war die erste Universität <strong>im</strong> damaligen Deutschen Reich, deren Gründung nicht von<br />

der Kirche ausging, sondern von einem weltlichen Lan<strong>des</strong>herrn.<br />

Melanchthon hatte sich rasch mit Martin Luther angefreundet und sich intensiv mit der<br />

neuen Wittenberger Theologie beschäftigt. Unter „Loci communes“, 1521 gedruckt,<br />

49


stellte er sie systematisiert dar. Im Oktober 1523, wird Melanchthon <strong>im</strong> Alter von 26<br />

Jahren Rektor der Universität, mit dem Jahr 1525 durfte er uneingeschränkt sowohl an<br />

der Artistischen, als auch an der Theologischen Fakultät lehren, <strong>des</strong> weiteren durfte er<br />

seine Themen frei wählen, quer durch den Kanon der Fächer. Als Luther 1546 stirbt,<br />

tritt Melanchthon <strong>des</strong>sen Nachfolge an. Soweit zu Philipp Melanchthon, ein Mensch<br />

mit geradezu enzyklopädischem Wissen und der bedeutenste Intellektuelle seiner Zeit.<br />

Johannes Manlius (1535? – 1602?) stammte aus Ansbach, er <strong>im</strong>matrikulierte sich in<br />

Wittenberg <strong>im</strong> Januar 1548, am 4. August 1558 erhielt er die Magisterwürde.<br />

Mit dem Jahr 1547, also nach Luthers Tod und in den Wirren und Schrecken <strong>des</strong><br />

Schmalkaldischen Krieges, bot Melanchthon auch Unterweisungen durch seine<br />

sogenannten Sonntagspostillen an. Die Postillen, ein Angebot zunächst für die<br />

ungarischen Studenten gedacht, nahmen ihren Anfang in Melanchthons Wohnz<strong>im</strong>mer,<br />

mussten jedoch rasch in einen Hörsaal verlegt werden; dort drängten sich gelegentlich<br />

an die vierhundert Zuhörer. Diese sonntäglichen Belehrungen sind die Wiege <strong>des</strong><br />

Manlius-Textes, denn Melanchthon wies bei seinen Vorträgen gelegentlich auf den<br />

verblichenen <strong>Faust</strong> als lehrhaftes Beispiel eines verworfenen Lebens.<br />

Stefan Rhein, tätig an der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, berührt in<br />

seinem Aufsatz „Philipp Melanchthon als Hausarzt“ auch Melanchthons Unterrichtsmethode,<br />

seine Postillen zu beleben sowie als Dozent seine Schüler <strong>im</strong> geschickten<br />

Wechsel zwischen Lehrsatz und Beispiel zu fesseln. Stefan Rhein schreibt: „Seine<br />

Beispiele stammten aus dem Mythos, aus antiken Schriften, aber auch aus der<br />

ferneren und näheren Vergangenheit, ja auch aus der unmittelbaren Gegenwart … ist<br />

eng mit Melanchthons Hochachtung vor der Geschichte als „magistra vitae“ …<br />

verknüpft.“ Damit pflegte Melanchthon eine Unterweisungsmethode gemäß antiker<br />

Rhetorik: das Exempel dient dabei zur Unterstützung und Verdeutlichung <strong>des</strong> vorausgegangenen<br />

Lehrinhalts.<br />

(„Philipp Melanchthon als Hausarzt“, ein Beitrag in „Pharmazie in Geschichte und<br />

Gegenwart – Festgabe für Wolf-Dieter Müller-Jahnke“; 2009 Wissenschaftliche<br />

Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart.)<br />

Was den Manlius-Text direkt angeht, so ist von der Manlius-Forschung zu hören, dass<br />

der Text aus vier oder fünf Exempla besteht, die Manlius untereinander setzte.<br />

„Keineswegs“ bekräftigte Alexander Bartmuß auf Nachfrage, „besteht der Text aus<br />

einem dutzend Exempla und keineswegs, auch wenn es heute den Anschein hat,<br />

versuchte Manlius einen geschlossenen Bericht oder eine Art <strong>Faust</strong>-Biographie zu<br />

fertigen.“<br />

Damit erklärt sich die merkwürdig zerrissen anmutende Struktur <strong>des</strong> Manlius-Textes.<br />

Melanchthon würzte seine Belehrungen nur gelegentlich mit einer Prise „<strong>Faust</strong>“ und<br />

Manlius gibt diese als einen geschlossenen Block wieder.<br />

Je<strong>des</strong> einzelne Exempel besteht aus einer Summe von Informationen.<br />

Der Manlius-Text bedarf der Aufschlüsselung; es gilt die ursprünglichen Textbausteine<br />

zu finden und jeden Stein für sich zu bewerten:<br />

„derselbige da er zu Crockaw in die Schul gieng / da hatte er die Zauberey gelernet /<br />

wie man sie dann vor zeiten an dem ort sehr gebraucht / auch öffentlich solche kunst<br />

geleeret hat. Er gieng hin vnd wider allenthalben /“<br />

<strong>Faust</strong> hätte in Krakau studiert, auch wäre er derart verböst und begierig nach der<br />

Zauberkunst gewesen, dass er sogar mehrmals in Krakau gewesen sei.<br />

„vnd sagte viel verborgene ding.“ Diese Aussage bezieht sich offenbar auf die Kunst,<br />

die <strong>Faust</strong> in Krakau gelernt hätte, sie verweist auf <strong>Faust</strong> als Wahrsager.<br />

„Er wolt eins mals zu Venedig ein schawspiel anrichten / vnd sagte / er wollte hinauff<br />

inn H<strong>im</strong>mel fliegen.“ Das ist vermutlich einer von <strong>Faust</strong>s dreisten Sprüchen.<br />

„Alsbald füret in der Teuffel hinweg / vnd hat jn dermassen zermartert vnd zerstossen /<br />

das er / da er wider auff die Erden kam / vor todt da lag / Doch ist er das mal nicht<br />

gestorben.“ Eine merkwürdig phantastische Geschichte, die <strong>Faust</strong> da einst<br />

50


widerfahren sein soll. Sie wurzelt einmal in der Ankündigung <strong>Faust</strong>s, über Venedig in<br />

den H<strong>im</strong>mel zu fliegen, sodann in der christlichen Ausdeutung eines Ereignisses, das<br />

sich einst <strong>im</strong> Alten Rom zugetragen haben soll. Zur Zeit Neros hätte ein S<strong>im</strong>on Magus<br />

vor den Augen <strong>des</strong> Petrus einen Flugversuch über dem Marsfeld unternommen und<br />

wäre – die gerechte Strafe für seine Vermessenheit – in den Tod gestürzt. Die<br />

Verquickung von „<strong>Faust</strong>“ mit „S<strong>im</strong>on Magus“ bedeutet nicht weniger, als dass man bei<br />

<strong>Faust</strong> sicher war, dass er seine Ankündigung wahrgemacht hatte und losgeflogen war.<br />

Auf diese Vermessenheit folgte, analog S<strong>im</strong>on Magus, der Absturz, den freilich der<br />

Teufel zu bewerkstelligen hatte; er darf zwar mit Gottes Erlaubnis alles auf der Erde<br />

treiben, auch <strong>Faust</strong> zum Flug verhelfen, das letzte Wort liegt allerdings bei Gott. Da<br />

<strong>Faust</strong> aber weiterhin sein Unwesen trieb, war mit dem Absturz selbst nur die halbe<br />

Strafe vollzogen worden, folglich war er noch in der Luft von teuflischen „Turbulenzen“<br />

zermartert und zerstossen worden.<br />

Manlius erzählt dann erstaunlich detailliert was sich zutrug, als <strong>Faust</strong> „in einem Dorff<br />

in Wirtenberger landt“ ums Leben kam. Diesem Abschnitt selbst ist eine Erklärung<br />

<strong>im</strong>plantiert: „dann er war sonsten gar ein vnuerschämbter Vnflat / vnnd fürete gar<br />

uberauß ein bübisch leben / also / das er etliche mal schier vmbkommen were von<br />

wegen seiner grossen Hurerey.“<br />

<strong>Faust</strong> sei also ein unverschämter Mensch gewesen, er hätte es derart frech getrieben,<br />

dass er einige Male beinahe ums Leben gekommen wäre. Die „Information“ endet mit:<br />

„wegen seiner grossen Hurerey.“ Hier handelt es sich um die Erklärung, hinter allem<br />

was <strong>Faust</strong> getrieben hatte, wäre der Teufel gestanden, <strong>Faust</strong> hätte mit ihm gehurt.<br />

(verhur / verkaufen, also Geschäfte mit dem Teufel haben)<br />

Geradezu zwangsläufig folgt der Hinweis, zwei Teufel in Gestalt von Hunden hätten<br />

<strong>Faust</strong> begleitet.<br />

Ein anderer „Vnflat / der das Büchlein geschrieben…“ wäre allerdings nur mit normaler<br />

Höllenkraft, nämlich einem Hund, unterwegs gewesen.<br />

Man ist sich einig, damit ist Agrippa von Netteshe<strong>im</strong> gemeint. 1527 publizierte er sein<br />

Werk „De incertitudine et vanitate scientiarum“ (Über die Unsicherheit und Nichtigkeit<br />

der Wissenschaften). Zeit seines Lebens hatte er einen Hund um sich, er schrieb<br />

Epigramme über Hunde, sein letzter Hund soll in die Sâone gesprungen sein.<br />

Sodann werden zwei Versuche erwähnt, <strong>Faust</strong> festzunehmen, anschließend gibt<br />

Manlius eine Behauptung <strong>Faust</strong>s wieder: „ / das alle Siege / die Keyserlicher Maiestet<br />

Kriegsuolck in Welschland gehabt hetten / die ware durch jhn mit seiner Zauberey<br />

zuwegen gebracht worden.“<br />

Das Zitat scheint glaubhaft; einer von <strong>Faust</strong>s dreisten Sprüchen, jenen recht ähnlich,<br />

die bereits Abt Trithemius notierte.<br />

Der Text schließt: „Solches sage ich aber von wegen der gemeinen jugent / auff das<br />

sie sich nicht von solchen losen Leuten verfüren vnd vberreden lassen.“<br />

Melanchthon wollte also die Jugend vor Leuten wie <strong>Faust</strong> warnen. Wir wissen, dass<br />

zur Zeit der Drucklegung <strong>des</strong> Textes die tollen Abenteuer <strong>des</strong> verblichenen <strong>Faust</strong>us in<br />

aller Munde waren. Zum äußersten Missfallen jener Lutheraner freilich, die sich für das<br />

Seelenheil der ihnen anvertrauten Glaubenskinder zuständig fühlten. Für sie war<br />

<strong>Faust</strong>s Vita weit mehr als ein warnen<strong>des</strong> Paradebeispiel sündhaften Lebens.<br />

Geharnischter Zorn und speiende Abscheu über <strong>Faust</strong>s Hurerei mit dem Teufel<br />

schreien aus dem Manlius-Text: „Derselbige <strong>Faust</strong>us der Zeuberer / vnnd ungeheurig<br />

Thier / vnd stinkend he<strong>im</strong>lich Gemach <strong>des</strong> Teuffels …“<br />

Letzteres lautet in der lateinischen Erstausgabe, „cloaca multorum diabolorum“, „ein<br />

Scheißhaus vieler Teufel“. Hierzu muss man wissen, dass dem Teufel, so er sich in<br />

einem Menschen behaust, der Enddarm als Behausung zugedacht ist.<br />

Drei hintereinander geschaltete Beleidigungen schl<strong>im</strong>mster Art, Vorwürfe schwerster<br />

Sünde. Flankiert von zwei in etwa gleichbedeutenden Begriffen, „Zeuberer“ und<br />

„Gemach <strong>des</strong> Teuffels“, steht der zentrale Vorwurf „ungeheurig Thier“.<br />

Was auch <strong>im</strong>mer unter „ungeheurig Thier“ zu verstehen sein mag, es geht in Richtung<br />

<strong>des</strong> Wortlauts <strong>des</strong> Ratsbeschlusses der Stadt Nürnberg von 1532: „Doctor <strong>Faust</strong>o,<br />

dem grossen Sodomitten …“<br />

51


Und <strong>im</strong> Brief <strong>des</strong> Trithemius von 1507 ist festgehalten: „begann er mit den Knaben, die<br />

schändlichste Unzucht zu treiben …“<br />

Bedeuten diese Aussagen tatsächlich das Nämliche?<br />

Nicht unbedingt, doch Homosexualität, Sex mit Tieren und das „Huren“ mit dem<br />

Teufel, je<strong>des</strong> für sich genommen, ist bereits eine schwere Sünde; miteinander verrührt<br />

bilden sie eine Form von Verworfenheit, für die es wohl einen neuen Begriff brauchte:<br />

„ungeheurig Thier“.<br />

Soweit der Versuch, den Text – ein wil<strong>des</strong> Amalgam von Fakten, Annahmen sowie<br />

Kommentaren aus einer Zeit verrückter Teufelsglauberei, als eine Sammlung loser<br />

Bausteine zu behandeln. Ob diese Herangehensweise die Zweifler und Kritiker <strong>des</strong><br />

Manlius-Textes zu einem Umdenken veranlasst?<br />

Die erste Schwierigkeit liegt darin, nachzuvollziehen wie Philipp Melanchthon, ein<br />

hochgelehrter Mensch, sich in derart zumeist unglaubwürdigen und phantastischen<br />

Aussagen über <strong>Faust</strong> äußern konnte. Und warum gerade über <strong>Faust</strong>?<br />

Wie in „Eine Instrumentalisierung“ dargestellt, war <strong>Faust</strong> für die Lutheraner ein einzigartiges<br />

Beispiel für einen sündigen Menschen; in Hurerei ausweglos verstrickt, war ihm<br />

zuletzt der einzig gerechte Tod widerfahren, der Teufel hatte ihm das Genick<br />

gebrochen. Dazu war <strong>Faust</strong> eine zeitnahe Person. Mit dem Namen <strong>Faust</strong> verband sich<br />

alles, was ein Theologe sich an einem Negativbeispiel wünschte.<br />

Doch anders als die einer biblischen Person, eigneten sich die Details seines Lebens<br />

nicht für eine ordentliche theologische Unterweisung, sondern bestenfalls als eine<br />

drastische Ergänzung derselben. <strong>Faust</strong> war und blieb selbst für seine Zeitgenossen<br />

ein Rätsel. Sie waren Zeugen seiner frechen Sprüche, hatten ihn angemessen<br />

gekleidet <strong>im</strong> Gespräch mit wichtigen Personen gesehen, doch seine Kunst, die ihn<br />

offenbar vorzüglich ernährte, hatten sie nicht verstanden; sie wird auch weder in den<br />

Quellentexten, noch in den Indizientexten fassbar; von Astrologe und Wahrsager ist<br />

zumeist die Rede.<br />

Ganz <strong>im</strong> Geist der Zeit war bei seiner Kunst der Teufel <strong>im</strong> Spiel.<br />

<strong>Faust</strong> und der Teufel bildeten bereits zu seinen Lebzeiten eine Personalunion. Es fiel<br />

der Begriff „<strong>Faust</strong>“ und jeder wusste was gemeint war. „<strong>Faust</strong>“ war zum Schlagwort<br />

geworden; Kurzformel für einen Menschen, der geschafft hatte, wovon alle, gewiss<br />

nicht zuletzt auch die gebildeten Menschen insgehe<strong>im</strong> träumten, sich uneingeschränkt<br />

dunkler Mächte zu bedienen.<br />

Als Melanchthon begann <strong>Faust</strong> als gelegentliches Dekor bei seinen sonntäglichen<br />

Postillen zu verwenden, war <strong>Faust</strong>s Verruchtheit längst ein Begriff, sein Leben zu einer<br />

Sammlung grellbunter Tüchlein geworden. Je nachdem, ob Melanchthon eine<br />

Aussage unterstreichen, eine Darstellung ausgestalten, oder sich die Aufmerksamkeit<br />

seiner Zuhörer erhalten wollte, konnte er bei seinen Erläuterungen mal auf die eine,<br />

dann auf die andere Farbe zugreifen und sie mit beredter Gestik wieder in seinem<br />

Ärmel verschwinden lassen.<br />

Was keineswegs heißen muss, dass Melanchthon sich der Übertreibungen bediente.<br />

Be<strong>im</strong> Thema <strong>Faust</strong> brauchte es zum einen keine weiteren Phantastereien, auch gab es<br />

Zuhörer, sie schrieben die Postillen eifrig mit und Melanchthon wusste selbstredend<br />

was das bedeutete. Die Notizen wurden weitergereicht, über die Inhalte wurde geredet,<br />

es verbot sich von selbst über <strong>Faust</strong> Sachen zu erzählen, die abseits der ohnehin<br />

bereits reichlich phantastischen <strong>Faust</strong>-Vita lagen. Obendrein saßen <strong>im</strong> Publikum genug<br />

Menschen, die <strong>Faust</strong> persönlich gekannt oder ihn zumin<strong>des</strong>t bei einem seiner Auftritte<br />

erlebt hatten.<br />

Betrachtet man sich allerdings die Fülle von lehrhaften Beispielen, die Melanchthon in<br />

den regulären Studienfächer der Anschaulichkeit halber einbrachte und die nach<br />

seinem Tod in Büchern publiziert wurden, dann hat sich Melanchthon selten genug<br />

eines Bausteins der <strong>Faust</strong>-Vita bedient. Manlius hat sich an die zehn Jahre in<br />

Wittenberg aufgehalten. Abgesehen von möglichen Unterbrechungen, doch rechnet<br />

man die Anzahl der Exempel <strong>im</strong> Manlius-Text auf diese zehn Jahre um, dann hat sich<br />

Melanchthon alle zwei Jahre einen Fingerzeig auf <strong>Faust</strong> gestattet. Dass er dabei<br />

52


evorzugt zu zauberischen und phantastischen Details der <strong>Faust</strong>-Vita greift, hat nicht<br />

allein moraltheologische Gründe.<br />

<strong>Faust</strong> war ein Mensch, <strong>des</strong>sen biograpfische Details <strong>im</strong> wissenschaftlichen Betrieb<br />

einer Universität streng genommen überhaupt nichts zu suchen hatten. <strong>Faust</strong> war<br />

schlicht degoutant, zuvorderst als sündigster Teufelshurer, doch nicht allein <strong>des</strong>halb.<br />

Bereits <strong>im</strong> Sachsenspiegel, um 1224/27 niedergeschrieben und <strong>im</strong> gesamten<br />

mitteldeutschen Raum angewendet, wurden Zauberei und Hexerei, also schädigende<br />

Magie, als Straftaten betrachtet. 1520 waren in Kur-Sachsen auch nichtschädigende<br />

Magie, Wahrsagen und Segensprechen miteinbezogen worden.<br />

Damit nicht genug, die Max<strong>im</strong>e der neuen Elite, der Frühen Humanisten, lautete:<br />

Wissen ist die Grundlage richtigen Handelns. In diesem Sinne geht Melanchthon<br />

gegen die Heilerinnen und Wanderärzte vor; deren Erfahrung zählt für ihn nicht,<br />

schulisches Wissen ist die Grundlage, Erfahrung darf sich hinzu gesellen.<br />

Melanchthon als öffentliche Person durfte sich nur noch der phantastisch-sündhaften,<br />

gleichsam unappetitlichen und verächtlichen Details aus <strong>Faust</strong>s Leben bedienen. Das<br />

Thema „<strong>Faust</strong>“ sachlich anzugehen – falls das in jener Zeit überhaupt möglich<br />

gewesen wäre, es hätte bedeutet, einen Teufelshurer und Wahrsager und Kr<strong>im</strong>inellen,<br />

einen Ungebildeten von der Straße, ernst zu nehmen und folglich aufzuwerten.<br />

Dass Melanchthon freilich mehr wusste, das erschließt sich nicht allein aus der Nähe<br />

Brettens zu Kundling sowie aus Melanchthons Bekanntenkreis und aus dem Hinweis<br />

„multa dicebant de <strong>Faust</strong>o“ an Luthers Tafel, sondern auch durch die gar nicht<br />

fantastische Schilderung der Vorgänge bei <strong>Faust</strong>s Tod <strong>im</strong> Manlius-Text. In Sachen<br />

„<strong>Faust</strong>s Tod“ durfte und musste Melanchthon konkret werden, es galt zu zeigen, wie<br />

es be<strong>im</strong> Sterben eines großen Sünders zugeht.<br />

So sich in jenen Jahren <strong>im</strong> unmittelbaren Universitätsbetrieb eine breite Erörterung der<br />

<strong>Faust</strong>-Vita verbot, es muss neben dem Universitätsbetrieb mit seinen geschriebenen<br />

und ungeschriebenen Regeln, ein kursieren<strong>des</strong> Gebräu aus Fakten, freilich auch aus<br />

wilden Vermutungen über <strong>Faust</strong> existiert haben. Lerche<strong>im</strong>er, ebenfalls ein Schüler<br />

Melanchthons, wird Jahrzehnte später nicht von „Kundling“ schreiben, sondern<br />

umstandslos von „Knütlingen“.<br />

Wenn auch der offizielle Universitätsbetrieb das Treiben <strong>des</strong> verflossenen Dr. <strong>Faust</strong>us<br />

nur peripher behandelte, es blieb nicht den Studenten und dem „gemeinen“ Volk<br />

vorbehalten, wilde Phantasien daran zu entzünden, Gebildete tauschten sich über<br />

<strong>Faust</strong> jedoch bei einem Wein aus, wenn sie mit guten Bekannten zu Tische saßen.<br />

Ohne Zweifel ist es mehr als ambivalent, sich einerseits öffentlich in wilden Worten<br />

über das Treiben dieses „ungeheurig Thier“ und „Scheißhaus vieler Teufel“ zu<br />

erregen, andererseits in vertrauter Runde an Luthers Mittagstisch sich weiträumig über<br />

diesen Zauberer zu unterhalten, wo einem vor lauter Abscheu der Wein nicht mehr<br />

schmecken dürfte. Nicht anders Melanchthons Freund, der angesehene Camerarius,<br />

der am 13. 8. 1536 bei seinem Freund Stibar anfragt, was <strong>Faust</strong> über den Sieg <strong>des</strong><br />

Kaisers in den Sternen liest. Um sich höchst ungeniert der Künste <strong>des</strong> verruchten<br />

Teufelshurers zu bedienen, hat er die Visitenkarte <strong>des</strong> bösen Zauberers umgedreht<br />

und auf den Astrologen zugegriffen.<br />

Es sind namentlich neun Personen bekannt, die Mitschriften der Postillen anfertigten.<br />

Melanchthons Hinweise auf <strong>Faust</strong> notierte lediglich Manlius, den anderen waren die<br />

Hinweise möglicher weise zu dürftig bzw. als unbedeutend erschienen, weil ohnehin<br />

bekannt. Später verwendeten sie die Ausführungen <strong>des</strong> großen Lehrers um ihre<br />

Predigten und Aufsätze zu schmücken. Der pommersche Theologe Johannes Cogeler<br />

edierte seine Aufzeichnungen unter dem Titel „Imagines“.<br />

Auch Manlius seine gibt Teile seiner Aufzeichnungen zum Druck.<br />

Er beginnt mit der Edition einer vierteiligen Sammlung von Exempeln, jener lehrhafter<br />

Begebenheiten, die Melanchthons bei seinen Vorlesungen in den verschiedenen<br />

Studienfächern zur Untermauerung <strong>des</strong> Lehrstoffs benutzt hatte.<br />

Wenig akademisch, aber zielsicher, serviert Manlius mit der Exempelsammlung dem<br />

lesenden Volk Ergötzliches. Er gibt zum Besten, dass Dürer über Kaiser Max<strong>im</strong>ilian I.<br />

53


einst Melanchthon berichtete, der Kaiser habe Oberarme von der Stärke eines<br />

Oberschenkels besessen … bei einem Turnier …<br />

In einem anderen Kapitelchen erzählt er, dass ein Pastor bei Luther und Melanchthon<br />

am Tisch gesessen sei, der fre<strong>im</strong>ütig bekannte, dass er zu Hause keinen Kalender an<br />

der Wand hätte und auch keinen brauche, es reiche ihm zu wissen, dass seine Bauern<br />

wissen, wann Winter und wann Sommer sei.<br />

Das war es, was die Leute lesen wollten, über eine nivauvolle Mischung von<br />

Staunenswertem und Schwank hineinzuhören, worüber prominente Leute miteinander<br />

redeten, wie es in deren Kreisen zuging.<br />

Manlius begleitet die Drucklegung persönlich, zu diesem Zweck weilt er um 1562 /<br />

1563 einige Monate in Basel be<strong>im</strong> Buchdrucker Johannes Oporin. Wie in „Begardi<br />

ermordete <strong>Faust</strong>“ erläutert, ist es kaum denkbar, dass Manlius während seines<br />

monatelangen Aufenthalts am Oberrhein nicht zu Ohren kam, dass <strong>Faust</strong> in Staufen<br />

starb; Basel und Staufen liegen 40 Kilometer auseinander. <strong>Faust</strong> und sein dramatisches<br />

Ende bewegte die Gemüter der Menschen auf das heftigste; die Zeit der<br />

großen Hexenverbrennungen hat begonnen, Hysterie hat die Menschen erfasst, <strong>Faust</strong>s<br />

Tod war noch <strong>im</strong>mer das Ereignis schlechthin. Zwar sind mehr als zwanzig Jahre<br />

vergangen, sein grässliches Sterben ist wie der Nachhall eines Donners, <strong>des</strong>sen<br />

dumpfes Grollen nicht verebben will. Man studiere dazu den Text der Z<strong>im</strong>merischen<br />

Chronik, 1564 – 1566, also eben in dieser Zeit entstanden, Betroffenheit spricht aus<br />

den Zeilen.<br />

Manlius hätte also Melanchthons Angabe über <strong>Faust</strong>s Sterbeort posthum korrigieren<br />

können. Gutmöglich wusste Manlius <strong>des</strong> Weiteren, dass dieses „Kundling“ auch<br />

„Knütlingen“ genannt wird.<br />

Doch Melanchthon hatte in Wittenberg bei seinen Postillen von „Kundling“, sodann von<br />

einem Tod in „einem Dorff in Wirtenberger landt“ gesprochen, und Manlius rüttelt<br />

daran nicht. Das ist auch gut so. Manlius ist ein ehrgeiziger Herausgeber und das<br />

hohe Ansehen <strong>des</strong> verstorbenen Philipp Melanchthon ist seine Zugmaschine. Die<br />

Sammlung lehrhafter Anekdoten ist ein gewaltiger Verkaufserfolg und mit „Locorum<br />

communium Collectanea“, die jenes <strong>Faust</strong> betreffende Kapitel enthält, legt Manlius<br />

Monate später nach.<br />

Sein Erfolg ruft Kritiker und Neider auf den Plan, darunter Melanchthons Schwiegersohn<br />

Caspar Peucer, der ihn heftig attackiert:<br />

„Auch wenn die Durchsicht der früheren Anekdoten den Leuten, die Melanchthon<br />

gehört haben und sich an das Meiste erinnern, wie es von ihm vorgetragen, erläutert<br />

und eingepasst wurde, vielleicht nicht unangenehm ist: Mit welchem Eindruck und mit<br />

welchem Urteil über den Autor (Melanchthon) aber wird die Nachwelt sie lesen, da sie<br />

doch auf das törichste zusammengeflickt, an den meisten Stellen verstümmelt …“<br />

Dabei könnte man es belassen! Peucer bestätigt, dass viele Leute, <strong>im</strong>merhin aus dem<br />

Umfeld der Universität, sich an das meiste erinnern könnten, dass die Zitate dem<br />

entsprechen, was Melanchthon ausführte.<br />

Dieses Urteil ist ungemein wichtig, nicht allein da es die Richtigkeit der Wiedergaben<br />

bestätigt, es zeigt auch, Manlius operierte nicht <strong>im</strong> freien Raum, er wurde von anderen<br />

kritisch gelesen, er musste sich an die Wahrheit halten.<br />

Andererseits bequengelt Peucer, es wäre „an den meisten Stellen verstümmelt und<br />

zusammengeflickt“.<br />

Eine Kritik, die hellhörig macht, die zum Telefon greifen lässt, um sich erneut <strong>im</strong> Kreis<br />

der Melanchthon- und Manlius-Forschung umzuhören.<br />

„Manlius hat Melanchthon in den anekdotischen Schmutz gezerrt!“ erklärt Stefan Rhein.<br />

„Caspar Peucer, selbst hoch gebildet, Traum von einem Schwiegersohn für<br />

Melanchthon, wollte der Nachwelt das Bild eines gelehrten Philipp Melanchthons<br />

erhalten wissen. Dieses Bild hat Manlius gestört, da er die untermauernden Anekdoten<br />

von den entsprechenden Lehrinhalten abtrennte und damit Melanchthon quasi zum<br />

54


Erzähler munterer Schwänke machte. Woran sich damals übrigens auch der<br />

hochgelehrte Joach<strong>im</strong> Camerarius störte.“<br />

(Schwank, mhd.: swanc, lustiger „Einfall“, volksnahe Erzählweise oft trivialen Inhalts in<br />

gradlinigem Erzählstil. Begebenheiten in Zusammenhang mit bekannten Personen oder<br />

auch Personen verschiedener Schichten: Herr und Knecht, Bettler und Fürst.)<br />

Und Alexander Bartmuß: „Wie Vergleiche mit den Mitschriften anderer Schüler zeigen,<br />

hat Manlius die Exempel Melanchthons korrekt wiedergegeben. Er hat den Exempeln<br />

bei der Übersetzung vom Lateinischen ins Deutsche auch keinen literarischen Anschliff<br />

zum Schwankhaftem gegeben, … er verfälschte weder den Stil, noch griff er in die<br />

Textgestalt ein. Manlius hat eines gemacht, er hat zum Teil Namen weggelassen.“<br />

(Lesenwert dazu auch der Aufsatz „Melanchthon erzählt. Ein Beitrag zu den Dicta und<br />

Exempla Melanchthons“ von Alexander Bartmuß in „Luther“, Zeitschrift der Luther-<br />

Gesellschaft, Heft 1 / 2008)<br />

Leider ist Manlius der einzige geblieben, der uns Melanchthons <strong>Faust</strong>-Exempel<br />

überlieferte. Anders als bei den Exempeln der Studienfächer existiert also keine<br />

Gegenprobe. Handelt es sich bei jenem „<strong>Faust</strong>-Kapitel“ zumin<strong>des</strong>tens in Teilen also<br />

doch um die ganz persönliche Qualmerei <strong>des</strong> Manlius?<br />

Dass er offenbar der einzige unter den Zuhörern war, der auch Melanchthons <strong>Faust</strong>-<br />

Exempel notierte, wusste Manlius <strong>im</strong> Moment der Niederschrift nicht. Später, als seine<br />

Kollegen ihre Mitschriften zum Druck gaben, konnte er davon ausgehen, dass andere<br />

ebenfalls einige <strong>Faust</strong>-Exempel mitgeschrieben hatten und sie nun demnächst<br />

gleichfalls drucken ließen. Die Situation, dass man Vergleiche anstellen würde, war<br />

evident, er musste sich folglich an seine Notizen halten. Auch <strong>des</strong>halb, weil er just <strong>im</strong><br />

Moment der Druckvorbereitung wegen jener vorausgegangenen vierteiligen Exempelsammlung<br />

von Caspar Peucer böse gescholten wurde, es also unmittelbar erlebte, wie<br />

überaus argwöhnisch man seinen Ehrgeiz belurte.<br />

Dementsprechend ist uns keine Kritik, weder durch Peucer, noch durch Camerarius,<br />

am Manliustext überliefert. Vielmehr findet sich Melanchthons Vorstellungswelt, wie sie<br />

sich <strong>im</strong> Bezug auf das „Teuflische“ durch jene <strong>Faust</strong>-Exempel präsentiert, quer durch<br />

„MBW“ <strong>im</strong>mer wieder bestätigt. Die Inhalte <strong>des</strong> Manliustextes gehen nur konform mit<br />

den verrückten Vorstellungen jener Zeit. Manlius musste nichts erfinden und hat auch<br />

nichts erfunden, seine editorische Erfolgsformel lautete: Melanchthon!<br />

Manlius verzichtete darauf seine Zeitgenossen mit eigenständigem zu behelligen, hatte<br />

dergleichen eventuell auch nicht zu bieten, sondern beschränkte sich konsequent auf<br />

die Verarbeitung Melanchthons; eine kluge Einschätzung seiner selbst sowie <strong>des</strong><br />

Marktes, für die er bis heute „Parasit“ gescholten wird.<br />

Die Melanchthon-Forschung hat <strong>im</strong> Lauf der Zeit nicht wenige jener Melanchthon-<br />

Briefe, die nur noch als Abschriften vorlagen, als Fälschungen entlarvt; auf Grund<br />

falscher Ortsangaben, inhaltlicher Widersprüche und nicht zuletzt an Hand sprachlicher<br />

Eigenheiten.<br />

Die <strong>Faust</strong>-Exempel <strong>des</strong> Manlius werden jedoch nicht angefochten. Die Melanchthon-<br />

Forschung hat <strong>im</strong> Manlius-Text also die sprachlichen Eigenheiten Melanchthons, wie<br />

sie sich auch in <strong>des</strong>sen Briefen finden, bestätigt gefunden.<br />

Man könnte geneigt sein, dem Manliustext als Sammlung einzelner Aussagen den Wert<br />

eines Quellentextes zu attestieren. Dass die „Ursprungszeugnisse“, wo und wann<br />

selbst gesehen und gehört, oder wer es Melanchthon erzählt hatte, allesamt fehlen ist<br />

unerheblich, Melanchthon ist Zeitzeuge und Manlius hat Melanchthon wahrheitsgetreu<br />

zitiert. Was allerdings nichts daran ändert, der Schreiber Manlius ist kein Zeitzeuge, er<br />

ist und bleibt ein Zeuge aus der zweiten Reihe.<br />

Es sei an dieser Stelle nochmal dem Missmut darüber Raum gegeben, dass<br />

Melanchthon – wenngleich nachvollziehbar, sich ganz in die Schale einer öffentlichen<br />

Person zurückzog, dass er seiner Aussage „Ich hab einen gekennet / mit nammen<br />

<strong>Faust</strong>us“, keine Schilderung folgen ließ, was sich zutrug, als er das eine oder andere<br />

Mal mit <strong>Faust</strong> zusammen getroffen war, beziehungsweise darüber, was ihm <strong>im</strong><br />

einzelnen von seinem Bruder Georg in Bretten, von Heinrich Urban, Daniel Stibar,<br />

Johannes Virdung oder gar von Joach<strong>im</strong> Camerarius über <strong>Faust</strong> berichtet worden war.<br />

55


Ohne Zweifel liessen sich Melanchthons <strong>Faust</strong>-Exempla besser auswerten, hätte<br />

Manlius die dazugehörigen Belehrungen ebenfalls überliefert; die kalte Abfolge der<br />

Exempel schadet bald mehr, als sie nützt. Die Textstruktur musste zwangsläufig<br />

Zweifel schüren; ein Abt Trithemius wäre eventuell sogar ausfallend geworden:<br />

„Battologus!“ (Schwätzer)<br />

Doch wo der Abt bei seinen Werken die eigene Gelehrsamkeit nach vorne rückte, hat<br />

Manlius allein das lesende Publikum <strong>im</strong> <strong>Visier</strong>. Wohl intuitiv erfühlt er, der Wind hat<br />

sich gedreht, die lesenden Menschen sind der klugen und der frommen Büchlein <strong>im</strong><br />

Moment leid geworden. Wo die Elterngeneration noch gierig drängte, die Bibel <strong>des</strong><br />

gelehrten Martinus Luther zu lesen, die gegenwärtige Generation hat fürs Erste genug<br />

vom vielen Frommsein, sie hat wieder Spaß an Deftigem - an tollen <strong>Faust</strong>geschichten.<br />

Damit könnte man die Erkundung schließen. Doch abgesehen von den teuflischen<br />

Zeitgeistereien, der Text enthält auch Informationen, die hinterfragt werden müssen.<br />

Melanchthons Auskunft, wo <strong>Faust</strong> vom Teufel das Genick gebrochen wurde, nämlich<br />

in „einem Dorff in Wirtenberger landt“, ist offenbar ein falscher Textbaustein.<br />

Die Auskunft über den To<strong>des</strong>ort sowie die Schilderung der Vorgänge bei <strong>Faust</strong>s Tod<br />

gehören zum gleichen Exempel; es ist nicht recht einsichtig, warum Melanchthon über<br />

die Vorgänge der letzten vierundzwanzig Stunden <strong>im</strong> Leben <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us detailliert<br />

Bescheid weiß, den To<strong>des</strong>ort dagegen nicht kennt, beziehungsweise ihn weiträumig<br />

„in Wirtenberger landt“, ansiedelt, als wüsste er selbst es nicht so genau.<br />

<strong>Faust</strong> war spätestens mit seinem Aufsehen erregenden Tod ein hoch wirksames<br />

Beispiel innerhalb der protestantischen Moraltheologie. Melanchthons bedeutende<br />

Stellung als Mann neben Luther ließ gar nichts anderes zu, als aus erster Hand<br />

informiert zu sein, er wusste, <strong>Faust</strong> starb in Staufen.<br />

Und wie aus „MBW“ ersichtlich, war das obere Rheintal für Wittenberg keineswegs<br />

irgendwo und informationsfern hinter den sieben Bergen gelegen.<br />

Da gab es Studenten, die sowohl in Basel als auch in Wittenberg studierten, es<br />

studierten in Wittenberg Stipendiaten aus Bern.<br />

In Basel und Straßburg waren zudem Buchdrucker wie Johannes Oporin, Krafft Müller<br />

und Johannes Herwagen ansässig; die Drucker trafen sie sich mit ihren Autoren, den<br />

Professoren der verschiedenen Universitäten, also auch mit den Gelehrten von<br />

Wittenberg, auf den Messen von Frankfurt, Nürnberg und Leipzig. Melanchthon selbst<br />

n<strong>im</strong>mt in seinen Briefen wiederholt Bezug auf das Messegeschehen. Er schreibt, dass<br />

er bis zur Messe ein Manuskript fertigstellen will, er verspricht, dass man sich auf der<br />

Messe treffen wird, auf der Rückreise von einer Messe schreibt er witzelnd über<br />

Oporin, dass jener ein Manuskript Melanchthons hintenan stellte, statt<strong>des</strong>sen den<br />

Koran druckte und nun <strong>des</strong>halb nur allzu gerechter weise eine Strafe zahlen muss.<br />

Zudem betätigten sich sowohl Johannes Oporin als auch Krafft Müller auf ihren<br />

Geschäftsreisen als Briefboten für Melanchthon.<br />

Des Weiteren existierte zwischen Wittenberg und den Reformatoren in Straßburg ein<br />

reger Gedankenaustauch; in „MBW“ finden sich Briefe von Martin Bucer, Wolfgang<br />

Capito und Martin Schalling. Noch intensiver war der Briefverkehr mit den Schweizern,<br />

man suchte zu einer Konkordie bei den strittigen Fragen der Glaubensauffassung zu<br />

gelangen; Johannes Calvin in Genf, Heinrich Bullinger in Zürich, Joach<strong>im</strong> Vadian in St.<br />

Gallen. Und auch die Stadtreg<strong>im</strong>enter von Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen, St.<br />

Gallen, Mülhausen und Biel fragten in Wittenberg um Lehrmeinungen nach. Wie gut<br />

man sich in Wittenberg zu informieren verstand, zeigt der Fall „Zwingli“. Am<br />

24.10.1531 sandte Martin Bucer an Melanchthon einen umfassenden Bericht über die<br />

Hintergründe, die zu den zwei Kappler Kriegen und zu Zwinglis Tod führten, am<br />

31.8.1538 übersandte Heinrich Bullinger die Akten, die Zwinglis Unschuld an den<br />

Kappler Kriegen bewiesen.<br />

Und auch mit Jacob Milichius in Freiburg und mit Johannes Zwick in Konstanz stand<br />

Melanchthon in Briefverkehr.<br />

Dass Melanchthon dennoch – entgegen bester Nachrichtenverbindungen, <strong>Faust</strong>s<br />

schreckliches Ende von habsburger und somit katholischen Boden in eine reformierte<br />

Landschaft verlegt, hat wohl moraltheologisch-propagandistische Gründe.<br />

56


In Einklang mit Melanchthons Ordnungsbestrebungen, wenn er beispielsweise gegen<br />

die Volksmedizin wettert: „Schaut euch nun diese Ungebildeten an. Sie besitzen ein<br />

Sammelsurium von Rezepten, von Hebammen, Barbieren, Zauberern und Juden<br />

abgeschrieben.“, darf man bezüglich <strong>Faust</strong>s Tod in „Wirtenberger landt“ frei<br />

formulieren: „Leute wie <strong>Faust</strong> treiben sich nur in papistischen Landen herum, in<br />

reformierten Landschaften werden sie ordnungsgemäß vom Teufel geholt.“<br />

Der nämliche Ordnungsgedanke liegt vermutlich zu Grunde, als Melanchthon seinen<br />

Zuhörern erzählt, zwei Versuche <strong>Faust</strong> festzunehmen, seien gescheitert; beide<br />

Versuche ereigneten sich gemäß seinen Worten auf protestantischem Boden.<br />

Um dem Essay „… hette befehl getan - das man jn fangen sollte“ nicht vorzugreifen,<br />

sei nur soviel dazu gesagt: Dass <strong>Faust</strong> sich groß auf lutherischem Gebiet bewegte,<br />

nichts spricht dafür, jedoch alles dagegen. Melanchthons Darstellungen tragen die<br />

Botschaft: Auf reformiertem Boden hat man sich <strong>im</strong>merhin zwe<strong>im</strong>al redlich bemüht,<br />

den <strong>Faust</strong>us zu fangen.<br />

Andererseits stellt sich die Frage, wie konnte Melanchthon dem Publikum gefärbte<br />

Details reichen, bzw. von versuchten Festnahmen sprechen, da <strong>im</strong> Publikum Leute<br />

saßen, die es eventuell anders wussten?<br />

Wenn auch viele der älteren Zuhörer <strong>Faust</strong> persönlich erlebt hatten, bedeutet das nicht,<br />

dass sie mit <strong>Faust</strong>s Leben umfassend vertraut waren. Wie auch, da <strong>Faust</strong> zum einen<br />

„vast durch alle landtschafft, Fürstenthuomb vnnd Königreich gezogen“, sie ihn<br />

vielleicht nur einmal zu Gesicht bekommen, zum andern sie auch seine Kunst nicht<br />

verstanden hatten und von daher alles für möglich hielten. Nicht zu vergessen, so<br />

kritisch und distanziert einige gewesen sein mochten, selten genug in dieser<br />

abergläuberischen Zeit, die umlaufenden Phantastereien hatten die eigene Wahrnehmung<br />

längst überlagert.<br />

Im Übrigen muss das Gewicht der gefärbten Bausteine sowie der eventuell freien<br />

Behauptungen berücksichtigt werden. Die Information von „einem Dorff in Wirtenberger<br />

landt“ gehört zu einem Exempel, in dem es zuvorderst um die unmittelbaren Umstände<br />

geht, als <strong>Faust</strong> starb; eine Ereigniskette, die mit „<strong>Faust</strong>, der ganz traurig gesessen“,<br />

beginnt und damit endet, dass „jm der teuffel dz angesicht auff den Rücken gedrehet“.<br />

Eine spannend faszinierende Geschichte, die Melanchthon da zum Besten gab, der<br />

falsche Baustein „Wirtenberger landt“ hatte dabei bestenfalls den Stellenwert eines<br />

Versprecher. Die Richtung, von Wittenberg aus gesehen, st<strong>im</strong>mte ungefähr: „Irgendwo<br />

da drüben.“<br />

Und zu erfahren, dass es einst in Wittenberg und Nürnberg Versuche gegeben hatte,<br />

<strong>Faust</strong> habhaft zu werden, erzeugte nicht zwingend Zweifel. Vielmehr wäre es den<br />

Zuhörern höchst verwunderlich vorgekommen, so es anders gewesen wäre. Schade<br />

genug, dass dieser Verbrecher nie hinter Gittern gelandet und peinlich befragt worden<br />

war, dann hätte man endlich erfahren, was das für Hurengeschäfte gewesen waren.<br />

Dazu waren sowohl Wittenberg als auch Nürnberg seit bald dreißig Jahren lutherisch,<br />

dass man nicht alles mitbekommen hatte, was in Sachen <strong>Faust</strong> vor zehn oder fünfzehn<br />

Jahren unternommen worden war, es erzeugte keine Skepsis, sondern eher den<br />

Gedanken: „Interessant! Das wusste ich noch nicht!“<br />

Auch ist nicht auszuschließen, dass jene Inhaftierungsversuche tatsächlich gefabelt<br />

wurden, es sich also keineswegs um freie Behauptungen Melanchthons handelt.<br />

Die Zweifel, dass Melanchthon hinter dem Manlius-Text steht, sollten ausgeräumt sein.<br />

Folglich sollte auch die gern geübte Vorgehensweise vom Tisch sein, sich die Auskunft<br />

über <strong>Faust</strong>s Geburtsort: „Ich hab einen gekennet / mit nammen <strong>Faust</strong>us von Kundling –<br />

ist ein kleines stettlein / nicht weit von meinem Vatterland...“, als Rosine zu picken, die<br />

übrigen Aussagen <strong>des</strong> Textes jedoch als persönliche Qualmerei <strong>des</strong> Manlius zu<br />

betrachten, bzw. schlicht zu unterschlagen.<br />

Da Manlius seinen Lehrer getreu zitierte, lässt sich endlich auch die Frage beantworten,<br />

ob <strong>Faust</strong> eine jedermann bekannte Person gewesen war; <strong>Faust</strong>forscher, die<br />

sich strikt an die Quellentexte halten, bezweifeln, dass er derart weitbeschreit war.<br />

Melanchthon eröffnet drei seiner Exempel mit „Derselbige <strong>Faust</strong>us“. Das bedeutet nicht<br />

weniger, als dass <strong>Faust</strong> keine märchenferne Sagengestalt war, sondern eine jeder-<br />

57


mann bekannte Person, auf die der Redner übergangslos zugreifen konnte, von der<br />

zudem jedermann wusste, was er von ihr zu halten hatte. Anders gesagt, <strong>Faust</strong> war<br />

nicht allein bekannt wie der besagte „bunte Hund“, <strong>Faust</strong> war ein Begriff.<br />

Johannes Manlius ist der einzige Wittenberger, der uns über den Gewährsmann<br />

Melanchthon das seinerzeitige Gerede über <strong>Faust</strong> übermittelt. Manlius liefert mit den<br />

<strong>Faust</strong>-Exempeln das Bindeglied zwischen den Quellentexten und den lächerlich<br />

phantastischen Inhalten der „Historia“. Manlius lässt uns eine Entwicklung<br />

nachvollziehen.<br />

Dennoch bleibt der Manlius-Text für den heutigen Menschen ein schwieriger Erbfall.<br />

Nicht unbedingt wegen <strong>des</strong> Schwarzphantastischen, Manlius zitiert jedoch<br />

Melanchthon.<br />

Und Melanchthon war nicht nur ein gebildeter Kopf, gelegentlich wird er auch als<br />

„erster Kultusminister Deutschlands“ bezeichnet. Auf ihn gründet die Ausbildung an<br />

Gymnasien wie sie bis heute gepflegt wird.<br />

Unser Verstand weigert sich es zu begreifen: Wie ist es möglich, Latein und<br />

Griechisch perfekt zu beherrschen, Gymnasien einzurichten und gleichzeitig in Wort<br />

und Schrift die Teufelsglauberei zu nähren und die Hexenfeuer zu schüren?<br />

1585 wird Hermann Witekind zu Heidelberg die lange praktizierten katholischen Messrituale<br />

dafür verantwortlich machen, dass (trotz der breiten Hexenverfolgungen) das<br />

heidnische Brauchtum noch <strong>im</strong>mer so stark in den evangelischen Landstrichen sei; die<br />

Zauberei und die verschiedenen Segnungen der „pfaffen“ hätten viel gemeinsam<br />

gehabt.<br />

Was Witekind dabei übersah und sich auch heute in keinem Schulbuch mehr findet, ist<br />

der geradezu hinterhältig zu nennende Umstand, dass die bildungsstolzen Frühen<br />

Humanisten sich in ihrer Verehrung antiker Bildung auch mit neuem Aberglauben<br />

beladen hatten. In „Die Religion der Griechen“, 1895 abgedruckt in den Bayreuther<br />

Blättern, schreibt Rhode: „Plato zuerst, als Vorgänger vieler anderer (Heraklit,<br />

Xenophanes, Sokrates, Aristoteles), redet von einem ganzen Zwischenreich von<br />

Dämonen, denen alles zugetraut wird, was an Wirkungen unsichtbarer Mächte der<br />

hohen Götter unwürdig erscheint. So wird die Gottheit selbst alles Bösen und<br />

Niederziehenden entlastet.“<br />

Bildung allein schützt also weder vor alten Irrtümern, noch vor negativem Zeitgeist!<br />

Eine Delikatesse für sich ist die enge Verbindung zwischen Melanchthon und Luther.<br />

Dass Melanchthon in Bretten gebürtig war, es war Luther bekannt. Und wenn auch alle<br />

Welt nur noch von <strong>Faust</strong> als eben jenem <strong>Faust</strong> redete, es viele gar nicht mehr<br />

interessierte, wo <strong>Faust</strong> zu Hause war, letztlich wussten nicht wenige, selbst wenn es<br />

ohne Bedeutung war, <strong>Faust</strong> war ein Knittlinger. Nicht anders als heute, ein<br />

Illusionskünstler wie Uri Geller ist jedermann bekannt, seine Herkunft ist allerdings<br />

hinter den Namen zurückgetreten, und dennoch wissen genug Leute, aus welchem Ort<br />

er kommt.<br />

Man darf Luther wohl unterstellen, dass auch er von Knittlingen wusste, genauso wie<br />

er vermutlich wusste, dass es zu Bretten benachbart lag. Es muss einem Psychologen<br />

vorbehalten bleiben, der feinen Spannung nachzuspüren, die zwischen Luther und<br />

Melanchthon gelegentlich geknistert haben mag; Luther, Erzfeind aller Teufelsbündler,<br />

ihm zur Seite Melanchthon, eingeduftet mit dem Walle-Ruch von <strong>Faust</strong>s Knittlinger<br />

Hexenküche. So witzig und quellfrisch konnten <strong>Faust</strong>histörchen gar nicht sein, Luther,<br />

von Haus aus grob und mit zunehmenden Jahren <strong>im</strong>mer launischer, <strong>im</strong>mer schwerer<br />

zu haben, verstand in derartigen Angelegenheiten keinen Spaß. Die enge Zusammenarbeit<br />

mit Luther könnte für Melanchthon manchmal eine Art von Besenreiten gewesen<br />

sein und das über Jahrzehnte hinweg. Doch grundsätzlich wusste er sich mit Luther<br />

einig, nicht nur in der Ablehnung Roms, sondern auch über das Wirken <strong>des</strong> Teufels<br />

auf Erden. Das geistige Kl<strong>im</strong>a in Luthers Umgebung war eindeutig, es schlägt sich <strong>im</strong><br />

Manlius-Text nieder.<br />

Sodann in Martin Luthers Reden bei Tisch, nach 1530 bzw. <strong>im</strong> Juni / Juli 1537, einer<br />

der Indizientexte zum historischen <strong>Faust</strong>.<br />

58


Und an nochmal anderer Stelle heißt es in Martin Luthers Reden bei Tisch:<br />

„Doctor Martin sagte viel von Zäuberei, vom Herzgespann (Herzschmerzen) und<br />

Alpen, wie seine Mutter sehr / geplaget wäre worden von ihrer Nachbarin, einer<br />

Zäuberin, die sie aufs aller freundlichste / und herrlichste hat müssen halten und<br />

versöhnen. Denn sie schoss ihr die Kinder, dass sie sich zu Tode schrien.“<br />

Und vielleicht war Melanchthon auch unter den Zuhörern, als Luther 1526 in<br />

Wittenberg über die Zauberinnen predigte:<br />

„Es ist ein überaus gerechtes Gesetz, dass die Zauberinnen getötet werden, denn sie<br />

richten viel Schaden an, was bisweilen ignoriert wird, sie können nämlich Milch, Butter<br />

und alles aus einem Haus stehlen, indem sie es aus einem Handtuch, einem Tisch,<br />

einem Griff melken, dabei das eine oder andere gute Wort sprechen und an eine Kuh<br />

denken. Und der Teufel bringt Milch und Butter zum gemolkenen Instrument. Sie<br />

können ein Kind verzaubern, dass es ständig schreit und nicht isst und nicht schläft.<br />

Auch können sie gehe<strong>im</strong>nisvolle Krankheiten <strong>im</strong> menschlichen Knie erzeugen, dass<br />

der Körper verzehrt wird. Wenn du solche Frauen siehst, sie haben teuflische<br />

Gestalten, ich habe einige gesehen. Deshalb sind sie zu töten.“<br />

Luther berief sich dabei auf das Alte Testament, Exodus 22,17. Wobei aber die<br />

Textstelle bei Leviticus 20,27 auch die To<strong>des</strong>strafe für Wahrsager und Totenbeschwörer<br />

vorschreibt, womit die sich stetig verschärfende Gesetzgebung, die<br />

zuvorderst in den reformierten mitteldeutschen Fürstentümern um sich griff, auch<br />

theologisch begründet war.<br />

Die Beschwörung von Toten, die Nigromancei, damit man Auskunft über Vergangenheit<br />

und Zukunft erhalte, wurde in jener Zeit nicht mehr praktiziert; Nigromant war zu<br />

einem weitgefassten Begriff geworden, der selbst auf jene angewandt wurden, die<br />

gewagte Kunststücke vorführten, also echte Teufelskerle waren.<br />

*<br />

Die kleinen Hausfreunde – auf dem Bücherbrett<br />

Der Sauff Teuffel (1551), Der Hosen Teuffel (1555), Der Ehe Teuffel (1556), Der Fluch<br />

Teuffel (1556), Der Spiel Teuffel (1557), Der Jag Teuffel (1560), Der Zauber Teuffel<br />

(1553), Der Hurn Teuffel (1565), Der Hoffarts Teuffel (1565), Der Tanz Teuffel (1567),<br />

Der Pestilenz Teuffel (1569), Der Sabbaths Teuffel (1572), Der Eyd Teuffel (1574),<br />

Kleider-, Pluder-, Paus- und Krausenteufel (1581), Lügen- und Lästerteufel (1581),<br />

Neidteufel (1582). Die Bücher stammen von verschiedenen Autoren.<br />

Aus „<strong>Faust</strong> – Die Spuren eines gehe<strong>im</strong>nisvollen Lebens“, von Günther Mahal<br />

*<br />

„Kuntling“ <strong>im</strong> Staatsarchiv<br />

Dieses merkwürdige „Kundling“; Melanchthon hatte es besser gewusst, er hätte auch<br />

von „Knüthlingen“ sprechen können. Wenn er gleichzeitig fre<strong>im</strong>ütig vor den Studenten<br />

äußert: „Ich hab einen gekennet“, dann kann das nur so interpretiert werden, dass er<br />

die Ernsthaftigkeit seiner Belehrung unterstreichen wollte, da er gleichsam wisse, von<br />

was er rede. Eines konnte allerdings nicht in seinem Interesse sein, die Gedanken<br />

seiner Zuhörer auf Knittlingen zu lenken, es wäre nicht <strong>im</strong> Sinn einer allgemeinen<br />

Belehrung gewesen. Auch war Knittlingen, abgesehen von der Zeit zwischen 1548 und<br />

1552, seit 1534 ebenfalls lutherisch, dass es nun als <strong>Faust</strong>s Geburtsort – noch dazu in<br />

Nachbarschaft zu Bretten, zum Teufelsnest werden sollte, das musste nicht sein.<br />

Folglich präsentierte Melanchthon wohl ein „Pseudonym“.<br />

Zu diesem Zweck könnte er zur Liste der Namen für Knittlingen aus älterer Zeit<br />

gegriffen haben. Zur Auswahl standen gemäß den heute noch erhaltenen Urkunden:<br />

1275: Knutelingen, 1280: Knuttlingen, 1290: Knutelingen, 1291: Kuntlingen, 1311:<br />

Knùtelingen, 1336 Knutelingen, 1339 Knudtlichen, 1351: Knutlingen, 1367:<br />

Knuttelingen, 1409: Knuttelingen, 1433: Knitlingen, 1443 Knùttlingen, 1450: Knutling,<br />

1501: Knutlingen.<br />

59


Der Autor Manlius ist in Franken, in Ansbach, zur Welt gekommen, später wirkte er<br />

dort als Pastor. Es liegt auf der Hand, die Ortsbezeichnung „Kundling“ stammt von<br />

Melanchthon, ihm muss das wilde Gemenge der Schreibweisen für Knittlingen geläufig<br />

gewesen sein.<br />

Selbstredend ist nicht auszuschließen, dass Knittlingen zur Zeit Melanchthons<br />

gelegentlich auch als „Kundling“ gehandelt wurde, was uns nicht überliefert ist; die<br />

Reihe der Urkunden ist lückenhaft.<br />

Und weil nicht alle Urkunden und Nachweise unsere Zeit erreichten, und wegen <strong>des</strong><br />

bereits mehrfach erwähnten Gewusels der Schreibweisen, verbietet es sich, feststellen<br />

zu wollen, wo Melanchthon sich mit diesem „Kundling“ bewaffnet haben könnte.<br />

Nicht zuletzt, Manlius notierte nach Gehör, sprach Melanchthon gar von „Kuntling“?<br />

Doch eben dieser mögliche Hörfehler lenkt das Augenmerk auf das „Kuntlingen“ jener<br />

Urkunde aus dem Jahr 1291. Die Urkunde liegt heute <strong>im</strong> Hauptstaatsarchiv Stuttgart<br />

unter der Signatur A 502 U 936. Der beurkundete Sachverhalt ist nicht unbedingt<br />

ungewöhnlich und doch überrascht er: „Papst Nikolaus IV bestätigt … (am 23. März<br />

1291) dem Kloster die Inkorporation der Kirche in Knittlingen (ecclesia de Kuntlingen).“<br />

Jedem, der sich ein wenig mit Literatur über den historischen <strong>Faust</strong> und das geschichtliche<br />

Umfeld beschäftigt, wird irgendwann zur Kenntnis gebracht, dass das Kloster<br />

Maulbronn sich entschieden gegen die Reformierung wehrte.<br />

Ein Eigentumsanspruch, der durch eine derartige höchstamtliche Bekräftigung<br />

gesichert ist, hat selbstredend ein anderes Gewicht am Verhandlungstisch als wäre er<br />

allein durch eine Besitzurkunde gesichert.<br />

War es neben anderem etwa auch diese päpstliche Bestätigung, die es dem Kloster<br />

ermöglichte, sich derart hartnäckig zu wehren? Wurde <strong>des</strong>halb gar Melanchthon in die<br />

Verhandlungen miteinbezogen? Könnte Melanchthon dieses Dokument also einst in<br />

Händen gehalten und daraus jenes merkwürdige Kuntling bzw. Kundling gezogen<br />

haben?<br />

Heinz Scheible, Herausgeber von „Melanchthons Briefwechsel“, erteilte mir telefonisch<br />

die Auskunft, dass in den Briefen Melanchthons sich kein Hinweis darauf findet,<br />

Melanchthon hätte sich mit der Reformierung Maulbronns befasst.<br />

Peter Rückert vom Staatsarchiv Stuttgart hat sich auf meine Bitte hin die Urkunde<br />

gezogen, es findet sich <strong>im</strong> Erledigungsvermerk kein Hinweis auf Melanchthon.<br />

Die angedachte Spur endet <strong>im</strong> Nichts. Ein Beweis ist nicht mehr zu holen, der Essay<br />

„Kuntling <strong>im</strong> Staatsarchiv“ ist mangels Masse zu schließen. Was freilich nicht angeht,<br />

wahre <strong>Faust</strong>forschung begann schon <strong>im</strong>mer und beginnt noch <strong>im</strong>mer dort, wo es<br />

scheinbar nicht weiter geht.<br />

Leserinnen und Leser können sich dennoch dem nächsten Essay zuwenden, die<br />

nachfolgenden Informationen sind allein gedacht, das Interesse von Kirchen-<br />

Historikern, Urkunden-Spezialisten sowie Vertretern der Melanchthon-Forschung auf<br />

die Frage zu lenken, ob Melanchthon sich einst mit jener Bekräftigungsurkunde<br />

befasst hat.<br />

Das Kloster Maulbronn<br />

Die voraus erwähnte Urkunde ist nicht die einzige, die eine enge Verbindung zwischen<br />

Rom und Maulbronn belegt. War es die schwindende Macht der Kaiser oder suchte<br />

das Kloster etwa das Wohlwollen Roms zu erlangen, da es nach dem Status einer<br />

Fürstabtei strebte, um sich aus der Abhängigkeit weltlicher Schutzherren zu lösen?<br />

Rund hundert Jahre später, nachdem Kaiser Barbarossa das Kloster unter seinen<br />

Schutz gestellt hatte, lässt sich das Kloster seine Besitzungen wiederholt durch Päpste<br />

bestätigen.<br />

Aus „Dorf – Flecken – Stadt / Knittlingen“ von Günther Mahal:<br />

27.6.1245, Papst Innocenz IV. n<strong>im</strong>mt das Kloster in seinen Schutz, er bestätigt <strong>des</strong>sen<br />

Besitzungen und Privilegien.<br />

27.6.1259, Papst Alexander IV. bekräftigt diesen päpstlichen Schutz.<br />

60


Dazu Knittlingen als konkrete Einzelsituation:<br />

8.12.1289, Bischof Friedrich von Speier inkorporiert dem Kloster die Kirche in<br />

Knittlingen.<br />

5.3.1290, Dekan Alexander und das Kapitel von Speier geben ihre Zust<strong>im</strong>mung.<br />

23.3.1291, Papst Nikolaus IV. bekräftigt die Inkorporation entsprechend den von<br />

Bischof und Kapitel ausgestellten und besiegelten Urkunden.<br />

Sind es tatsächlich diese höchstkirchlichen Bekräftigungen, die dem Kloster eine derart<br />

starke Position am Verhandlungstisch gaben? Etwa <strong>des</strong>halb, weil sie einen außenpolitischen<br />

Bezug hatten, bzw einst nach Rücksprache mit dem Kaiser ausgestellt<br />

worden waren, folglich nun auch den Kaiser und <strong>des</strong>sen Juristen in den Streit um die<br />

Reformierung miteinbezogen? Oder bedeutet der päpstliche Schutz gar, dass das<br />

Kloster unter dem Patronat Roms stand? Eine Zwangsreformierung unter Missachtung<br />

<strong>des</strong> Patronats wäre gleichsam ein gesteigerter Rechtsbruch gewesen, der den Kaiser<br />

nicht nur auf den Plan gerufen, sondern ihn zum Handeln gezwungen hätte, mit der<br />

Folge, dass Herzog Ulrich in den Bann geraten wäre, was wiederum den<br />

Schmalkaldischen Bund, die defensive Militärallianz lutherischer Fürsten und Städte in<br />

eine Zwangslage und damit in Gefahr gebracht hätte; der Bund stand ohnehin <strong>im</strong> Ruch<br />

der Ungesetzlichkeit und <strong>des</strong> Ungehorsams. Denn soviel sei hier zu Kenntnis gebracht,<br />

die Aufhebung der Klöster, die Einziehung von Klostergut, die Überführung klostereigener<br />

Dörfer in die Leibeigenschaft eines Lan<strong>des</strong>herrn, es waren ideologisch<br />

verbrämte Enteignungen, die einzig dadurch zu Recht wurden, da sie mit den Jahre zu<br />

unumstößlichen Tatsachen wurden.<br />

Die Reformierung <strong>des</strong> Klosters Maulbronn<br />

Im Jahr 1519 hatte Herzog Ulrich von Württemberg die Stadt Reutlingen besetzt und<br />

somit Landfriedensbruch begangen; Württemberg wurde unter habsburger Verwaltung<br />

gestellt. 1534 erhielt er die Herrschaft zurück und begann die Reformation umzusetzen,<br />

was eine enorme Stärkung der protestantischen Sache bedeutete, auch trat er<br />

dem Schmalkaldischen Bund bei. Nachdem die Reformation in jenen Jahren noch<br />

keineswegs als unumkehrbarer Vorgang galt, wurde um die gewaltigen Ländereien<br />

<strong>des</strong> Klosters und seine vielen Rechtstitel heftig gestritten. Der Versuch Herzog Ulrichs<br />

von Württemberg <strong>im</strong> Jahr 1534 <strong>im</strong> Kloster selbst die Reformation einzuführen<br />

scheiterte zunächst, es brauchte drei weitere Jahre bis er Erfolg hatte und die Mönche<br />

das Kloster verließen. 1548, nach dem Schmalkaldischen Krieg, durften sie<br />

zurückkehren, mussten es allerdings <strong>im</strong> Jahr 1552 erneut räumen.<br />

1555 fanden die Restitutionsverhandlungen statt, es wurde die Rückgabe von<br />

Kirchengut verhandelt.<br />

Bei diesen Verhandlungen lagen die Rechtstitel für die Maulbronner Besitzungen<br />

erneut auf dem Tisch. Die Ansprüche wurden als erledigt erklärt. Doch mitten <strong>im</strong><br />

Dreißigjährigen Krieg wird Maulbronn durch das Restitutionsedikt von 1629 erneut der<br />

katholischen Kirche zugesprochen, <strong>im</strong> Jahr 1646 wird Maulbronn wieder der<br />

evangelischen Lan<strong>des</strong>kirche unterstellt.<br />

Philipp Melanchthon<br />

ist zuvorderst als hochgebildeter Lehrer bekannt; er war jedoch nicht nur ein lehrender<br />

Mensch. Dazu eine kleine Auswahl von Ereignissen quer durch sein Leben,<br />

entnommen dem Band 10, Orte A – Z und Itinerar, aus der Reihe „Melanchthons<br />

Briefwechsel“ von Heinz Scheible.<br />

Aus dem Vorwort:<br />

„Nachdem der Einundzwanzigjährige den Mittelpunkt seines Berufslebens, Wittenberg,<br />

erreicht hatte, fließen die Quellen so reichlich, dass sein Aufenthalt an jedem Tag mit<br />

großer Sicherheit best<strong>im</strong>mt werden kann.<br />

Insbesondere seine zahlreichen Reisen sind so gut dokumentiert, dass sogar die<br />

einzelnen Stationen zumin<strong>des</strong>t wahrscheinlich gemacht werden konnten.“<br />

61


1519 Jun. 27. Mo. Leipzig / Beginn der Disputation<br />

1520 Jan. 25. Mi. Wittenberg / Mit L. bei Hieronymus Bronner <strong>im</strong> Schloß zum Essen<br />

1521 Okt. 01. Di. Wittenberg / Capito und Stromer bei M., der über 1 Kor. 13,12 liest<br />

1522 Jan. 01. Mi. Prettin / Verhandlungen mit Spalatin und Hugold von Einsiedel über<br />

die Zwickauer Propheten<br />

1522 Okt. 21. Di. Erfurt / L. predigt. M. lernt Heinrich Urban kennen, trifft Petrus<br />

Mosellanus<br />

1523 Nov. 14. Sa. Wittenberg / Gespräch mit Hochmeister Albrecht von Brandenburg<br />

1524 Jan. 05. Di. Wittenberg / M., L., Joh. Agricola und Benedikt Pauli beraten einen<br />

Ehefall<br />

1524 Jun. 02. Do. Treysa / Morgens Raben-Augurium<br />

1525 Apr. 16 – Mai 06. M., L., Joh. Agricola und Sebald Münsterer reisen durch das<br />

Aufstandsgebiet / Bitterfeld, Seeburg, Eisleben, Stolberg. Nordhsn., Wallhsn., We<strong>im</strong>ar<br />

1527 Sep. 27. Fr. Torgau / Besprechung mit L., Bugenhagen, Spalatin, von der Planitz<br />

1528 Mär. 10. Di. Erfurt / Mit einer kursächsischen Gesandtschaft be<strong>im</strong> Erfurter Rat<br />

1529 Feb. 25. Do. We<strong>im</strong>ar / Abreise <strong>im</strong> kurfürstl. Gefolge<br />

1530 Apr. 24. So. Coburg / Weiterreise <strong>im</strong> kurfürstl. Gefolge mit Jonas, Agricola,<br />

Aquila, Spalatin und Caspar Lindemann<br />

1530 Sep. 10. Sa. Augsburg / Moritz-Kirche gehe<strong>im</strong>e Unterredung mit Brück u. Vehus<br />

1532 Jan. 11. Do. Wittenberg / Mit L. bei Jonas zum Gelage, anschließend Prüfung<br />

der Magister<br />

1532 Mai. 22.? Wittenberg / L., M., Brück u. Bugenhagen lange bei Herzog Johann<br />

Friedrich<br />

1532 Nov. 24. So. Wörlitz / Jagdpartie der Fürsten Joach<strong>im</strong> und Johann von Anhalt,<br />

Joach<strong>im</strong> II. von Brandenburg und Christoph von Carlowitz<br />

1533 Jun. 16. Mo. Wittenberg / Beratung <strong>des</strong> Kurfürsten mit L., M., Bugenhagen und<br />

Jonas<br />

1538 Jan. 01. Di. Wittenberg / Morgens in der Sakristei mit L., Jonas, und Cruciger:<br />

Verhör <strong>des</strong> Georg Karg (Wiedertäufer)<br />

1538 Jan. 18. Fr. Wittenberg / L., M., J., Milichius und Erasmus Reinhold beobachten<br />

einen Kometen<br />

1538 Sep. 14. Sa. Wittenberg / L. u. M. rügen den Schulmeister Balthasar Mentze von<br />

Niemegk, der seinem Pfarrer Cordatus nicht gehorcht<br />

1545 Okt. 24. Sa. Wittenberg / L., M., Bugenhagen und Brück erhalten vom Kurfürsten<br />

Schweinewildbret<br />

1546 Jan. 07. Do. Wittenberg / Brück spricht mit M. über <strong>des</strong>sen Abordnung zum<br />

Regensburger Religionsgespräch<br />

1547 Jan. 17. Mo. Zerbst / Ankunft Ms., Camerarius u. Georg von Anhalt treffen ein,<br />

Joach<strong>im</strong> II. von Brandenburg wird erwartet<br />

1547 Apr. 09. Sa. Wittenberg / M. träumt, erzählt in der Stadtkirche den Kollegen<br />

seinen Traum<br />

1551 Nov. 01. So. Wittenberg / M. spricht mit Kurfürst Moritz<br />

1552 Mär. 28. Mo. Dessau / M. bei Georg von Anhalt<br />

1553 Aug. 05. Sa. Wittenberg / M. bei Kurfürst August<br />

1555 Jun. 03. Mo. Wittenberg / Festtagsvorlesung; Nach 22 Uhr: Stanislaus Ruszycki<br />

bedroht M., der mit seinem Diener einen Tumult von Studenten beenden will, mit dem<br />

Schwert.<br />

1556 Jan. 12. Sa. Wittenberg / Studentenunruhen in Wittenberg<br />

1556 Nov. 09. Mo. Wittenberg / Laski und Jan Utenhove besuchen M.s Vorlesung,<br />

worin etwa 1500 Hörer waren. Laski spricht den ganzen Tag mit M.<br />

1557 Okt. 27. Mi. Heidelberg / Gastmahl der Philosphischen Fakultät. J. Camerarius<br />

überbringt die Nachricht vom Tode der Frau M.s. Dessen Bruder ist aus Bretten<br />

gekommen.<br />

1559 Dez. 03. So. Lochau / Gespräch mit Joach<strong>im</strong> II. von Brandenburg<br />

1560 Apr. 19. Fr. Wittenberg / 18.45 Uhr, Tod Philipp Melanchthons<br />

62


Trotz „Raben Augurium“, „Studentenunruhen“ und anderen delikaten Häppchen, die<br />

viel zu interessant sind, um sie zu unterschlagen, die kleine Auswahl macht bereits<br />

deutlich, Philipp Melanchthon war entschieden mehr als nur ein Professor der<br />

Universität in Wittenberg, er war mit den politischen Geschäften – freilich auch mit den<br />

damit verbundenen Rechtsfragen, auf hoher Ebene vertraut; er hat als Ratgeber<br />

mitgewirkt.<br />

Dass sich in den hinterlassenen Briefen kein Hinweis in Sachen „Maulbronn“ findet,<br />

besagt wenig oder auch – so man will, bereits sehr viel, denn die Reformierung<br />

Württembergs war für den Protestantismus viel zu wichtig, als dass sie Melanchthon<br />

nicht berührt hätte. Auch fanden <strong>im</strong>mer wieder gehe<strong>im</strong>e Unterredungen statt, es waren<br />

Boten unterwegs, es pendelten Unterhändler. Und sicherlich nicht von ungefähr<br />

bekam Melanchthon zum Ende seines Besuchs in Tübingen von Herzog Ulrich 100<br />

Gulden geschenkt. Summa Summarum scheint der Schluß zulässig, dass<br />

Melanchthon eben doch mit der Reformierung Maulbronns befasst war – eine<br />

Schlussfolgerung, die allerdings abseits von jenem „Band 10, Orte A – Z und Itinerar“<br />

durch den Inhalt der Briefe Melanchthons selbst völlig widerlegt wird.<br />

„MBW“ bestätigt, dass Melanchthon gemeinsam mit anderen Reformatoren und<br />

Theologen für die protestantischen Fürsten laufend Gutachten und Positionspapiere<br />

erstellte, die Briefe offenbaren jedoch auch, dass Melanchthon und Luther in vielen<br />

Fragen mit den protestantischen Fürsten nicht einig gingen. So hintertrieben sie die<br />

Ausweitung <strong>des</strong> Schmalkaldischen Bun<strong>des</strong>, da sie einen Konflikt mit dem Kaiser<br />

fürchteten. Über Herzog Ulrich selbst waren Camerarius und Melanchthon der<br />

Auffassung, dass er besser nicht nach Württemberg zurückkehre, sie befürchteten<br />

Unruhen. Und was die Reformierung Maulbronns angeht, so bringt Melanchthon seine<br />

Meinung über die Einziehung von Kirchengut in seinem Schreiben vom 25.6.1539 an<br />

Camerarius auf den Punkt: Die Habgier auf Kirchengüter verzeihe er allein den<br />

Städten, die zum Unterhalt ihrer Kirchen auf Kirchengut angewiesen sind.<br />

Einer der großen Vorwürfe, derer sich die protestantischen Fürsten laufend erwehren<br />

mussten, lautete auf „Räuberei von Kirchengut“, einer der wichtigsten Gründe dafür,<br />

dass kirchliche Gebäude meist als Schulen und Spitäler der öffentlichen Nutzung<br />

zugeführt wurden, beziehungsweise die Erträge der selbstbewirtschafteten Landwirtschaft<br />

für Stipendien verwendet wurden. Was bestenfalls eine herzige Augenwischerei<br />

war, da mit der Reformation ganze Landstriche den Eigentümer wechselten.<br />

Abgesehen von den vorgenannten Gründen, Melanchthon war mit Arbeit nicht nur<br />

überladen, er war mit Arbeit zugeworfen, er war mit Dringlicherem befasst als mit der<br />

Reformierung eines einzelnen Klosters.<br />

Wiederholt erzählen die Briefe, dass Luther krank ist, bzw noch <strong>im</strong>mer krank sei, doch<br />

auch über sich selbst schreibt Melanchthon häufig, dass er sich unwohl fühlt.<br />

Verständlich, er ist nicht nur Lehrer, er ist zeitweise auch Rektor der Universität von<br />

Wittenberg. Daneben schreibt er an mehreren Büchern, überarbeitet bereits publizierte<br />

Werke, er fertigt Gutachten, dazu hat er täglich einen anspruchsvollen Briefverkehr zu<br />

bewältigen – nach allen Seiten giert er nach Informationen. Massiv bedrücken ihn<br />

auch die offenen Fragen der evangelischen Glaubensauslegung. Heute noch geläufig<br />

sind die Differenzen mit den Zwinglianern, dass unter den Protestanten das Sektieren,<br />

die Schwärmerei, das Aufhetzen, das Unruhestiften fröhliche Urstände feierte, ist<br />

kaum mehr bekannt. Es gibt die Böhmischen Brüder, es gibt die Donatisten, in<br />

Preussen breiten sich die Sakramentarier aus und <strong>im</strong>mer wieder greifen reformierte<br />

Prediger Teile der lutherischen Lehre an. Nicht zuletzt sind die Wiedertäufer aktiv, sie<br />

bringen die gesamte Reformbewegung in Verruf, sie lehnen u. a. die Erbsünde und<br />

den Waffendienst ab. Gemäß kaiserlichem Mandat sind sie quasi eine subversivkr<strong>im</strong>inelle<br />

Vereinigung zwecks Zerstörung der äußeren Ordnung; die Mitgliedschaft<br />

wird mit der To<strong>des</strong>strafe geahndet, die allerdings meist nur an Rädelsführern<br />

vollzogen wurde.<br />

Wiederholt äußert Melanchthon in seinen Briefen den Wunsch, er möchte nur noch<br />

seine Studien leben. Dass Melanchthon sich also für die Reformierung Maulbronns<br />

interessiert hätte, es spricht alles dagegen.<br />

63


Dennoch, der erhalten gebliebene Briefwechsel Melanchthons ist lückenhaft, und<br />

gewiss nicht zuletzt ist keineswegs auszuschließen, dass Melanchthon bei seinem<br />

Besuch in Tübingen um seine Meinung in der Sache „Maulbronn“ gebeten wurde;<br />

Melanchthon darf wohl als der scharfsinnigste Mensch seiner Zeit bezeichnet werden.<br />

Es wird <strong>im</strong> Essay „Melanchthons Briefwechsel“ noch deutlich werden: Ob<br />

angestammtes Recht, überkommene Sitte oder Gesetz, einen Vertrag oder auch eine<br />

Urkunde, was ein Melanchthon nicht zerpflücken und zerzupfen konnte, um es außer<br />

Kraft zu setzen oder <strong>im</strong> gewünschten Sinn neu zu interpretieren, das gab es nicht.<br />

Der Zeitpunkt seines Besuchs <strong>im</strong> Jahr 1536 fügt sich trefflich in den zeitlichen<br />

Bedarfsrahmen der gestellten Frage. Das Augenmerk richte sich dabei auf jene 20<br />

Tage in Tübingen, die Zeit zwischen dem 24. Sep. und dem 14. Okt. 1536.<br />

Mit wem führte Melanchthon Gespräche? Worüber wurde gesprochen?<br />

Abseits von einem gehe<strong>im</strong>en Gespräch mit Herzog Ulrich gehörte das Gros der<br />

Gesprächspartner Melanchthons wohl der Tübinger Universität an. Nicht allein<br />

<strong>des</strong>halb, weil sie ebenfalls gebildet waren, Melanchthon hat den Auftrag die<br />

Neustrukturierung der Universität voranzubringen. An einer Universität fanden sich<br />

damals auch jene Juristen, die den Willen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>herrn in Gesetzestexte gossen,<br />

also auch jene Erlasse und Verordnungen formulierten, die es brauchte, um die<br />

Reformation Württembergs umzusetzen. Traf Melanchthon an der Universität von<br />

Tübingen also auf jene Juristen, die den Streit mit dem Kloster Maulbronn führten?<br />

Das min<strong>des</strong>te was man in diesem Fall unterstellen darf, dass Melanchthon mit<br />

Camerarius und einigen der beteiligten Juristen in zwangloser Runde zusammen saß<br />

und mit ihnen auch den Fall „Maulbronn“ erörterte. Wobei sein Interesse an dem<br />

Streitfall nicht einmal dienstlicher Natur gewesen sein muss, der komplexe<br />

Sachverhalt reizte ihn – ein scharfsinniger Mensch braucht das Komplizierte. Die<br />

Abschriften der entscheidenden Urkunden lagen auf dem Tisch, gutmöglich hat<br />

Melanchthon sich der einen oder anderen Formulierung in den Papieren persönlich<br />

vergewissert und war dabei auf jenes „Kuntlingen“ gestoßen.<br />

Für den Fall, dass sich die Herkunft <strong>des</strong> „Kundling“ derart erklärte, darf man<br />

Melanchthon ein gutes Maß an Ironie bescheinigen; als Schutz und Schirm vor<br />

protestantischen Voyeuren breitete er über das zwangsreformierte Knittlingen ein<br />

Pergament aus päpstlicher Hand.<br />

Was das gehe<strong>im</strong>e Gespräch zwischen Philipp Melanchthon und Herzog Ulrich angeht,<br />

so bezweifelte Heinz Scheible bei jenem Telefonat, dass dabei die Reformierung <strong>des</strong><br />

Klosters das best<strong>im</strong>mende Thema war.<br />

In „MBW“ Band 10 bleibt das gehe<strong>im</strong>e Gespräch unerwähnt. Nachdem der Autor<br />

bereits in hohen Jahre ist, habe ich auf die Klärung der „Lücke“ verzichtet; sie erklärt<br />

sich vermutlich dadurch, dass die Information über ein gehe<strong>im</strong>es Treffen nicht<br />

Melanchthons Briefverkehr entstammt, sondern einer anderen Quelle.<br />

*<br />

<strong>Faust</strong> tritt auf – <strong>im</strong>mer situationsgerecht<br />

In keinem der Quellentexte tritt <strong>Faust</strong> als ein Knittlinger in Erscheinung; zwar schmückt<br />

er sich mit vielen tönenden Beinamen, „Kundlingensis“ ist nicht darunter.<br />

Magister, Georgius <strong>Faust</strong>us Helmitheus Hedelbergensis, Philosoph, Philosoph der<br />

Philosophen, Doctor <strong>Faust</strong>us philosopho, Doctor Jörg <strong>Faust</strong> von Haidlberg, Georgius<br />

<strong>Faust</strong>us helmstet, Komtur oder Lehrer der Johanniter bei Hallestein.<br />

So lauten die Titel, mit denen er sich in den Quellentexten vorstellt, bzw. er von andern<br />

betitelt wird.<br />

Der Titel „Philosoph“ ist gleichsam die Grundausstattung, er bedeutet, dass <strong>Faust</strong> sich<br />

als einen gebildeten Mensch betrachtet. Um als gebildet zu gelten, war kein Besuch<br />

einer Universität zwingend, man konnte sich auch in privaten Studien gebildet haben.<br />

Auch Alchemisten galten als „Philosophen“; als Alchemist konnte übrigens jeder tätig<br />

werden, vorausgesetzt er hatte selbst das Kapital oder eben einen Auftraggeber.<br />

64


Mit „Magister“ und „Doktor“ geht <strong>Faust</strong> einen deutlichen Schritt weiter, er stellt sich in<br />

die Reihe der Studierten einer Universität.<br />

Der Namenszusatz „Hedelbergensis“ oder auch „Haidlberg“, zielt in die nämliche<br />

Richtung, es verführt den Gegenüber zu der Annahme, <strong>Faust</strong> habe studiert; nicht in<br />

Prag oder Leipzig, sondern <strong>im</strong>merhin in Heidelberg. Die Universität von Heidelberg,<br />

1386 gegründet, war eine angesehene Universität.<br />

Heidelberg beherbergte neben der Universität auch eine kurfürstliche Residenz, nicht<br />

zuletzt war es die Wirkungsstätte <strong>des</strong> weltbekannten Astronomen Johannes Virdung;<br />

<strong>Faust</strong> hat sich also das Ansehen der Stadt als Ganzes unter die Flügel gefächelt.<br />

Der Verweis auf Heidelberg führte in der <strong>Faust</strong>forschung zu der Überlegung, ob <strong>Faust</strong><br />

ein gebürtiger Heidelberger gewesen sei; darauf fand sich allerdings kein weiterer<br />

Hinweis.<br />

Mit Heidelberg eiferte später – neben einigen anderen Orten, auch „helmstet“ um die<br />

Ehre dem großen Schwarzkünstler posthum eine Geburtsurkunde auszustellen; <strong>Faust</strong><br />

hatte sich <strong>im</strong> Juni 1528 dem Rebdorfer Prior Kilian Leib als „Georgius <strong>Faust</strong>us<br />

helmstet“ vorgestellt.<br />

Vergebliche Mühe, auch „helmstet“ blieb gegen Knittlingen auf der Strecke.<br />

Allerdings führte das “helmstet“ zu interessanten Überlegungen anderer Art.<br />

Das heutige Helmstedt-Bargen liegt etwa 35 Kilometer von Knittlingen entfernt.<br />

Nachweislich standen damals viele Menschen aus „helmstet“ bei Knittlingern in Dienst.<br />

Könnte es sein, fragten sich <strong>Faust</strong>forscher, dass <strong>Faust</strong> das Kind einer Magd aus<br />

„helmstet“ war; unehelich geboren, erbte er die Leibeigenschaft seiner Mutter.<br />

Eine gute Lüge besteht zu 50% aus Wahrheit. Man muss kein <strong>Faust</strong> sein, um das<br />

„helmstet“ in den Raum zu stellen und wirken zu lassen, so dem Gegenüber dann eine<br />

Verbindung zu den Grafen von Helmstet in den Sinn kommt, so ist das entschieden<br />

angenehmer, als dass man sich selbst als armer Bankert mit Helmsteter<br />

Leibeigenschaft offenbarte.<br />

Mit „Philosoph der Philosophen“ erhebt sich <strong>Faust</strong> über die Gebildeten seiner Zeit, er<br />

stellt sich auf eine Stufe mit Aristoteles; der Mensch von Heute fühlt sich bei soviel<br />

Verstiegenheit unangenehm berührt. Aus jener Zeit sind uns einige Persönlichkeiten<br />

bekannt, die nicht anders als <strong>Faust</strong>, sich mit „Aristoteles“ angenehm berührt fühlten;<br />

verständlich, so man umfassend belesen ist, den Fächerkanon einer damaligen<br />

Universität absolviert hat und obendrein sieben Fremdsprachen mächtig ist.<br />

<strong>Faust</strong> – soweit erkennbar, beherrschte Deutsch und Latein, sein Anspruch auf einen<br />

Sitz neben Aristoteles rührte wohl aus seinem Erfolg als Wahrsager.<br />

Dass <strong>Faust</strong> gelegentlich auch den Namen eines Halbgotts spazieren trug, sich<br />

„Helmitheus“ nannte, war ebenfalls nichts Ungewöhnliches. Der Dichter Eobanus<br />

Hessus wurde von Mutianus als „Zweiter Pindar“ bezeichnet. Agrippa von Netteshe<strong>im</strong><br />

ließ sich bisweilen als „Deus“ titulieren. Cornelius Aurelius schrieb von einem<br />

„göttlichen Trithemius“. Und nicht zuletzt Johannes Trithemius selbst, er bedient sich<br />

seines He<strong>im</strong>atorts Trittenhe<strong>im</strong> in phantastisch schillernder Antikisierung, er nennt sich<br />

Trithemius.<br />

Das Latinisieren und Gräcisieren <strong>des</strong> angestammten Namens braucht ein gerütteltes<br />

Maß an kühner Entschlossenheit. Ein gewisser Drahtzieher, der sich zu Thraziger<br />

veredelte oder ein gewisser Kannegieser, der sich zu Cantagiser ummodelte, sie<br />

wirken recht blass <strong>im</strong> Vergleich mit einem Philipp Schwarzerd, der <strong>im</strong> Saft umfassender<br />

Bildung zu Otho Germanus Philippus Melanchthon mutiert. Dass bei entsprechendem<br />

Lebenswerk ein wenig auch viel sein kann, beweist ein Martin Luder, er nennt sich<br />

Martinus Lutherus.<br />

„Georgius Sabellicus <strong>Faust</strong>us junior“ heißt es <strong>im</strong> Original <strong>des</strong> Trithemius-Brief und<br />

„Georgius <strong>Faust</strong>us Helmitheus Hedelbergensis“ notierte Conradus Mutianus.<br />

Drei hintereinander geschaltete lateinische Namen bedeuten nicht weniger, als dass<br />

<strong>Faust</strong> sich erfrechte, sich zum Kreis der Humanisten zu zählen. Ausgehend von<br />

Pomponius Laetus, einem Universitätslehrer in Rom um 1480, war es Brauch<br />

geworden, dass man unabhängig von der Muttersprache seinen Namen latinisierte<br />

65


sowie sich lateinische Beinamen zulegte, um seine Verbundenheit mit der Antike und<br />

dem Geist der daraus erwachsenen Renaissance zu bekunden. Conrad Celtis,<br />

Schüler <strong>des</strong> Laetus, hatte dann gefordert, dass es sich um drei Namen handeln sollte.<br />

Ein Schmankerl besonderer Art ist der zuvor genannte Halbgott „Helmitheus“ <strong>im</strong> Brief<br />

<strong>des</strong> Conradus Mutianus vom 3.10.1513. Ein wabern<strong>des</strong> Wortspiel, einmal mit<br />

„Helmstetius“, einem halb- oder auch scheinlatinisierten „helmstet“, korrekt wäre<br />

helmstetensis, sodann mit „Hemitheus“; Hemitheus bedeutet <strong>im</strong> Griechisch-<br />

Lateinischen: Halbgott.<br />

Die drei Wörter „Helmitheus“, „helmstetius“, „Hemitheus“, schnell und nachlässig<br />

gesprochen, klingen recht ähnlich: ein ohrenbrausen<strong>des</strong> Gaukelspiel mit Hörfehlergarantie;<br />

ein Kl<strong>im</strong>perspiel, <strong>des</strong>sen Möglichkeiten <strong>Faust</strong> gewiss nicht entgangen sind.<br />

<strong>Faust</strong>s Gegenüber konnte sich die Bedeutung gleichsam aussuchen, bzw. das<br />

verstehen, was er gern verstehen wollte. Er konnte auch nachfragen, dabei einen<br />

verachtungsvollen Blick riskieren, weil er so dumm und ungebildet sei, während <strong>Faust</strong><br />

ihn dabei rasch taxierte und entschied, ob er ihm nun weiter den „halben Gott“ bzw.<br />

den „Helmitheus“ zu schlucken gab, oder ob es klüger sei, rückwärts in Richtung<br />

„helmstet“ zu rudern.<br />

Addiert man zu den eingangs aufgezählten Titeln die Bezeichnungen seiner Berufe<br />

sowie seiner behaupteten medialen Befähigungen, dann ergibt sich ein geradezu<br />

feudal anmutender Rattenschwanz von Titeln, der gewiss nicht in voller Länge zum<br />

Einsatz kam. Die von Quellentext zu Quellentext anders lautenden Visitenkarten<br />

zeigen, <strong>Faust</strong> hat sich, der jeweiligen Situation entsprechend, aus seinem Repertoire<br />

die jeweils passende Würdenkette zurechtgepuzzelt. Denkt man sich seine<br />

selbstbewussten, um nicht zu sagen, unverschämten Reden hinzu – nicht zu<br />

vergessen seine merkwürdige „Kunst“, dann wusste er sich aus der Kakophonie seiner<br />

Mitbewerber hervorzuheben, sich stets einen unverwechselbaren Auftritt zu zaubern.<br />

Und da sind nicht nur seine Konkurrenten, die er übertönen muss, er muss auch<br />

gegen den Lärm dieser Zeit anschreien. Er war kein Gelehrter, kein Kaiser, Feldherr,<br />

Entdecker, kein Fugger, auch kein kühner Fechter, Dichterkönig oder Reformer, noch<br />

trat er als Autor in Erscheinung. Dass er inmitten dieser Zeit <strong>des</strong> Aufruhrs, der<br />

Spannungen und Aufregungen, es dennoch schaffte, dass uns <strong>im</strong>merhin – trotz aller<br />

nachfolgenden Wirren und Zerstörungen – neun Quellentexte erreichten, es liegt auf<br />

der Hand, <strong>Faust</strong> muss ein höchst ungewöhnlicher Mensch gewesen sein.<br />

Die Menschen in diesen Jahrzehnten sind aufgebracht, verstört, verunsichert. Sie sind<br />

hysterisch, versessen auf Übernatürliches, geradezu süchtig nach Wundern. Die reale<br />

Welt geht in Stücke, bietet keinen Halt, keine Orientierung mehr; es liegt ein Zeitenwechsel<br />

in der Luft. „… wenn ein solcher Wallfahrtszug nächtlicher weile mit Sang und<br />

Klang durch die Dörfer zog, so sprangen die Weiber auf und schlossen sich nicht<br />

selten <strong>im</strong> bloßen Nachtgewand demselben an. Wurden sie bei ihren Tagesverrichtungen<br />

von solchen Pilgerzügen übereilt, so liefen sie mit, wie der Geist der Andacht<br />

sie gefunden und ergriffen hatte, und ließen alles <strong>im</strong> Hause, Kinder und Gesinde und<br />

den Stall unversorgt liegen und stehen. In grotesken Gestalten, wie nackte Wilde, mit<br />

der Heugabel, mit dem Rechen oder mit einer Sense, die Weiber mit dem Melkfass in<br />

der hand, kamen viele nach Regensburg. Man hielt sie zum Theil für wahnsinnig oder<br />

bezaubert.“ Um <strong>im</strong> Ausschnitt dieses wilden Zeitgemäl<strong>des</strong> zu bestehen, mehr noch,<br />

um aus diesem Bild hervorzustechen, können es nicht dreiste Reden, billige<br />

Marktschreierei allein gewesen sein, die <strong>Faust</strong>s Bekanntheit begründeten.<br />

Über die Prediger jener Jahrzehnte wird berichtet „Kein Effekt war zu grob, kein<br />

Übergang vom Weinen zum Lachen zu krass, kein Anschwellen der St<strong>im</strong>me zu stark.“<br />

Diesen Zeitgeist bediente auch <strong>Faust</strong>; es ist gleichsam die Umrahmung jener<br />

seltsamen Kunst, die er wohl beherrscht haben muss. Er hat nicht allein stets die<br />

passenden Titel und Berufsbezeichnungen zur Hand, ergänzend zu den tollen<br />

Geschichten, die über ihn in Umlauf sind, zieht er mit wilden Sprüchen vom Leder;<br />

wenn er dabei überdosiert, dann weil er befindet, dass es das braucht, dass es die<br />

Situation hergibt.<br />

66


Viele seiner Zeitgenossen sahen ihn mit dem Teufel <strong>im</strong> Bunde. Spätere Generationen<br />

mit ihrem eigenen, selbstredend anderen Weltbild, begriffen <strong>Faust</strong> nur noch als zutiefst<br />

sündigen und verworfenen Menschen. Und noch mal spätere Generationen stuften ihn<br />

als Egomanen, titelsüchtigen Psychopathen, Selbstdarsteller und ähnliches mehr ein.<br />

Man muss bei <strong>Faust</strong> genau hinschauen. Wenn er es mit der allgemeinen Bevölkerung<br />

zu tun hat, auf der Straße, auf dem Marktplatz, wenn er in der Gaststube „schwatzt“,<br />

ist er seiner Zeit entsprechend geradezu hemmungslos.<br />

Betrachtet man sich dagegen den Brief <strong>des</strong> Joach<strong>im</strong> Camerarius an Daniel Stibarius<br />

vom 13. 8. 1536 oder den Brief aus Venezuela <strong>des</strong> Philipp von Hutten an Moritz von<br />

Hutten vom 15. 1. 1540, so finden sich nicht die geringsten Hinweise darauf, <strong>Faust</strong><br />

hätte sich in irgendeiner Weise ungebührlich benommen.<br />

<strong>Faust</strong> glänzte also keineswegs nur mit gewagten Sprüchen, er wusste das Niveau<br />

seiner Rede auf die jeweilige Situation einzustellen; er war nicht steuerlos enthemmt.<br />

Das Bild einer durchweg krankhaften Person, das sich be<strong>im</strong> ersten Lesen <strong>des</strong><br />

Trithemius-Briefes dem heutigen Leser aufdrängt, ist falsch. <strong>Faust</strong> hatte sich durchaus<br />

<strong>im</strong> Griff – auch bei der Anfertigung seiner Visitenkarten.<br />

Betritt er Universitätsstädte wie Erfurt und Ingolstadt, schmückt er sich mit dem<br />

Hinweis auf die Universitätsstadt Heidelberg, <strong>im</strong> Kloster Rebdorf tritt er hingegen als<br />

Geistlicher auf. Be<strong>im</strong> Fürstbischof von Bamberg gibt er der Türklinke als „Doctor<br />

<strong>Faust</strong>us Philosophus“ die Hand; das klingt bescheiden. Mehr sei schließlich auch nicht<br />

notwenig, nachdem er sich in der Gunst Seiner Gnaden sonnt, möchte man meinen.<br />

Diese Bescheidenheit ist nur eine scheinbare. <strong>Faust</strong>, der mit einem Fürstbischof<br />

vertrauliche Rede führt, bedarf der Weihen von Heidelberg, der Höhen feingeistiger<br />

humanistischer Bildung, der Verbindungen und <strong>des</strong> Wohlstands der Helmstedter<br />

Grafen nicht länger, er gibt sich nur entspannt; als Doktor und Philosoph sitzt er<br />

gleichsam <strong>im</strong> Morgenmantel mit dem Herrn von altem Adel zusammen.<br />

<strong>Faust</strong>, ein Chamäleon, ein Hochstapler, wenngleich sehr geschickt und einfühlsam?<br />

<strong>Faust</strong> war sicher auch ein geschickter Selbstverkäufer. Doch das Gehe<strong>im</strong>nis, die<br />

Wirkung seiner Person, mit dem Begriff „Hochstapler“ zu erklären, es greift zu kurz.<br />

<strong>Faust</strong> ist einzigartig, als Dr. <strong>Faust</strong>us ist er in die Weltgeschichte eingegangen.<br />

Die seltsame Kunst <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us! Leider wird sie weder in den Quellentexten noch<br />

in den Indizien beschrieben – was freilich andererseits recht aufschlussreich ist,<br />

keinerlei Aussagen bilden auch eine Aussage.<br />

Doch gemach, <strong>im</strong> Moment tritt <strong>Faust</strong> auf.<br />

Er hat stets die passenden Titel zur Hand, er führt seine Rede situationsgerecht, aber<br />

er tut entschieden noch mehr, er spielt mit der Situation. Er n<strong>im</strong>mt den gegenüber als<br />

Gegner an, er n<strong>im</strong>mt die gebotenen Karten auf und reizt sie bis zum L<strong>im</strong>it – so ein<br />

Kerker in der Nähe, bis an <strong>des</strong>sen Schwelle.<br />

Es lohnt sich seinen Auftritt in Rebdorf bei Ingolstadt zu betrachten.<br />

Eintragung <strong>des</strong> Rebdorfer Priors Kilian Leib in das Wettertagebuch, Juli 1528<br />

„Georgius <strong>Faust</strong>us helmstet, sagte am 5. Juni: wann Sonne und Jupiter <strong>im</strong> gleichen<br />

Grad eines Sternzeichen stehen, dann werden Propheten geboren (vielleicht wie<br />

seinesgleichen). Er versicherte, dass er Komtur oder Lehrer eines kleinen<br />

Ordenshauses der Johanniter an der Grenze Kärntens gelegen sei, namens<br />

Hallestein.“<br />

Die in Klammern gesetzte Einfügung „(vielleicht wie seinesgleichen)“ stammt aus der<br />

Feder <strong>des</strong> Priors.<br />

Der Eintrag <strong>im</strong> Wettertagebuch kam als letzter Quellentext <strong>im</strong> Jahr 1913 ans Licht,<br />

sechs der neun Quellentexte wurden in den Jahrzehnten hektischer Suche nach<br />

<strong>Faust</strong>-Beweisen zwischen 1880 und 1890 entdeckt. Der Trithemius-Brief war seit 1535<br />

bekannt, der „Index Sanitatis“ wurde 1539 gedruckt.<br />

„Rebdorf“, „Prior“ und ein „Wettertagebuch“, sie lassen nichts Besonderes vermuten.<br />

67


In der Tat, <strong>im</strong> Wettertagebuch finden sich der Flug der Schwalben sowie Raureif und<br />

Nebel festgehalten, die Feuchtigkeit auf den Steinfliesen, die Vernehmbarkeit der<br />

Glocken in den benachbarten Dörfern und auch die Tage, an welchen die Alpen klar<br />

am Horizont stehen.<br />

Kilian Leib betrieb Wetterforschung. Er war für die Bewirtschaftung <strong>des</strong> Klosters<br />

zuständig, ein Thermometer gab es noch nicht, auch das Barometer war noch nicht<br />

erfunden, und in die überlieferten Bauernregeln hatte er kein Vertrauen.<br />

Der Prior war also ein Empiriker. Das Tagebuch wurde von 1513 bis 1531 geführt, falls<br />

er selbst auf Reisen war, hielt ein Mitbruder die täglichen Beobachtungen fest.<br />

Das Wettertagebuch ist heute eine wichtige kulturgeschichtliche Quelle. Neben dem<br />

Heulen der Wölfe wurden Ernteerträge und Agrarpreise festgehalten, Begebenheiten<br />

und Nachrichten, der Tod von Mönchen sowie berühmter Zeitgenossen, aber auch<br />

interessante Besucher.<br />

<strong>Faust</strong> ist kein interessanter Besucher, der Prior mag ihn nicht. Da ist einmal die Verspätung<br />

der Notiz von <strong>im</strong>merhin vier Wochen, dann der zweifelsfrei spöttisch zu<br />

verstehende Zusatz „utpote sui generis“ (vielleicht wie seinesgleichen, wie Leute<br />

seines Schlages), sowie die Formulierung: „Er versicherte…“. <strong>Faust</strong>s Behauptung, er<br />

habe mit den Johannitern in Hallestein zu tun, war sie be<strong>im</strong> Prior etwa auf Unglauben<br />

gestoßen? Im Allgemeinen genügt es sich einmal vorzustellen. Ob nun der Prior sich<br />

die Behauptung wiederholen ließ oder ob <strong>Faust</strong> sich genötigt sah, die Behauptung zu<br />

bekräftigen, da er die Zweifel <strong>des</strong> Priors spürte, es sei dahin gestellt. Umso<br />

erstaunlicher, dass der Prior <strong>im</strong> Nachhinein nicht mehr wusste, ob sein Besucher sich<br />

nun als Komtur oder als Lehrer ausgegeben hatte.<br />

Darf man daraus schließen, dass <strong>Faust</strong> ihn leicht verwirrt zurückließ? Oder drückt sich<br />

in der nachlässigen Formulierung „Komtur oder Lehrer“ nur ein weiteres Mal der Spott<br />

<strong>des</strong> Priors aus?<br />

Prior Leib ist ein hoch gebildeter und obendrein welterfahrener Mann.<br />

1471 in Ochsenfurt geboren, besuchte er Schulen in Schweinfurt und Eichstätt, und<br />

trat <strong>im</strong> Jahr 1486 in das Augustiner-Chorherrenstift Rebdorf ein. Das Kloster lebte<br />

wieder streng nach alten Regeln, der Fünfzehnjährige erlebte Mönche, die selbst arm<br />

und asketisch lebten, die Liturgie und Chorgebet pflegten, die trotz Buchdruck sich<br />

noch <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Abschreiben von Büchern übten. Mit sechsundzwanzig Jahren wurde<br />

er zum Priester geweiht, zwei Jahre darauf zum Prior <strong>im</strong> Tochterstift Schamhaupten<br />

berufen, um dann 1503 das Amt eines Priors von Rebdorf wahrzunehmen; ein Amt,<br />

das er bis zu seinem Tod <strong>im</strong> Jahr 1553 inne hatte.<br />

Prior Leib war nicht nur ein begabter Ökonom, mit den Gewinnen <strong>des</strong> Stifts betätigte<br />

er sich auch als Kreditgeber. Verständlich, dass er bei seinen Befähigungen auch als<br />

Visitator unterwegs war. Neben den kirchlichen Aufgaben pflegte er Freundschaft und<br />

Briefwechsel mit Willibald Pirckhe<strong>im</strong>er, und, nachdem er neben Griechisch und Latein<br />

auch Aramäisch beherrschte, die Bibel <strong>im</strong> Original zu lesen verstand, die Quelle<br />

selbst, wie es dem humanistischem Bildungsideal entsprach, durfte er es sich gefallen<br />

lassen, dass ihn Pirckhe<strong>im</strong>er der „doctrina trilinguis“, einer dreisprachigen Gelehrsamkeit<br />

rühmte. Kompetent wie er war, kritisierte Prior Leib die lateinische<br />

Übersetzung <strong>des</strong> Neuen Testaments, wie Erasmus von Rotterdam sie vorgenommen<br />

hatte.<br />

Persönlich arm, teilte er anfangs Luthers Kritik an der Kirche, um ihn jedoch bald<br />

darauf in vielen Schriften als „Ketzer“ anzugreifen. Er wandte sich gegen Luthers Anti-<br />

Bauernschrift „Wider die räuberischen Rotten“; er machte Luther für den Bauernkrieg<br />

verantwortlich. Ihm zur Seite polemisierten Johannes Cochläus und Johann Eck gegen<br />

Luther.<br />

Prior Kilian Leib war auch ein Mensch mit persönlichem Mut, aufständischen Bauern<br />

war er <strong>im</strong> Ordensgewand entgegen getreten.<br />

Prior Leib war Humanist, er war gebildet, er fühlte sich der Antike verbunden, er lebte<br />

aber auch die alten kirchlichen Ideale, die Marienverehrung, die klösterliche<br />

Lebensweise und er war militant religiös. Als Berater begleitete er 1530 den<br />

68


Fürstbischof von Eichstätt, Gabriel von Eyb, zum Augsburger Reichstag. Mit Cochläus<br />

war er an der Ausarbeitung der „Confutatio“ beteiligt; ein katholisches Positionspapier,<br />

angefertigt als Zurückweisung der „Confessio Augustana“ <strong>des</strong> Philipp Melanchthon.<br />

Später beschrieb Prior Leib seinen Kontrahenten Melanchthon als klein und von<br />

schmächtigem Körper, aber von scharfsinnigem Geist, in dem der Dämon stecke.<br />

Ob er diesen „Dämon“ metaphorisch meinte? Die Notizen <strong>im</strong> Wettertagebuch zeigen<br />

keinen abergläubischen Prior. Und als Empiriker konnte er auch von der Astrologie<br />

und schon gar nicht viel von wandernden Astrologen und ihren Wetterprophezeiungen<br />

halten, wenngleich die entsprechenden Einträge <strong>im</strong> Wettertagebuch letztendlich doch<br />

zwischen Kometenfurcht und völliger Leugnung der Sternenkräfte schwanken.<br />

Prior Kilian Leib war durch seine Schriften und Briefe in den Kreis der Humanisten<br />

eingebunden. Wie <strong>im</strong> Essay „Skandal in Erfurt“ dargestellt, lässt sich an der<br />

Vernetzung der Gebildeten untereinander unschwer ablesen: <strong>Faust</strong> war für sie alle<br />

kein Unbekannter.<br />

Auch für den Prior ist <strong>Faust</strong> kein Unbekannter, zumin<strong>des</strong>t vom Hörensagen kennt er<br />

bereits den Mann, „der bei seiner zeit ein wunderbarlicher nigromanta gewest“; die<br />

schnörkellose Selbstverständlichkeit mit welcher der Prior den Namen <strong>des</strong> Besuchers,<br />

„Georgius <strong>Faust</strong>us helmstet“, notiert, scheint es zu bestätigen. Der Prior setzte den<br />

Namen auf das Papier, als ob es sich um „Luther“ oder „Melanchthon“, also um eine<br />

allgemein bekannte Person handelte.<br />

Auch <strong>Faust</strong> wusste, wen er vor sich hatte, Prior Leib war ein Begriff, er stand mit<br />

seinen Streitschriften und Traktaten in vorderster Front <strong>im</strong> Kampf gegen Luther und<br />

den sich ausbreitendenen „Unglauben“. Genauso wie <strong>Faust</strong> sicher sein durfte, dass<br />

auch der Prior schon von ihm gehört hatte, denn zum Zeitpunkt seines Besuchs in<br />

Rebdorf ist <strong>Faust</strong> bereits an die 30 Jahre lang „vast durch alle landtschafft,<br />

Fürstenthuomb vnnd Königreich gezogen, seinen namen jederman selbst bekannt<br />

gemacht“.<br />

Von daher kann es nur als eine prachtvolle Unverschämtheit bezeichnet werden, dass<br />

er sich als „Georgius <strong>Faust</strong>us helmstet“ und „als Komtur oder als Lehrer eines<br />

kleineren Ordenshauses der Johanniter“ vorstellt.<br />

Es ist gera<strong>des</strong>o, als ob er den Prior offen anlügt und dabei noch grinst.<br />

Dabei ist der Prior doch gewiss kein Mensch, der sich Unsinn erzählen lässt. Was<br />

macht <strong>Faust</strong> so sicher, dass der welterfahrene Prior ihn nicht einen Lügner heißt und<br />

ihn vor die Tür setzt? Hat <strong>Faust</strong> etwa in Drachenblut gebadet?<br />

Ob <strong>Faust</strong> nach Rebdorf kam, um dem Prior ein Horoskop zu verkaufen, daran darf<br />

gezweifelt werden; Kilian Leib war eine öffentliche Person, seine Zweifel an der<br />

Astrologie, seine Schriften, waren bekannt. Die Notiz <strong>des</strong> Priors gibt kein Gespräch<br />

wieder, es ist also nicht ersichtlich, welche Punkte das Gespräch berührte. Höchst<br />

wahrscheinlich war <strong>Faust</strong> nach Rebdorf gekommen, um eine Information zu „fischen“.<br />

Und die wichtigsten Informationen – jene, die in diesen Jahren Gol<strong>des</strong> wert waren –<br />

das sind die Standpunkte, die Strategien und Hoffnungen <strong>im</strong> Konfessionsstreit.<br />

Niemand weiß, wie und wann, und ob überhaupt, die verhärteten Fronten die<br />

Entscheidung in einem offenen Krieg suchen werden.<br />

Was sich in diesen Jahren zusammenbraut, darüber geben neben anderem auch<br />

Melanchthons Briefe Aufschluss. Anfang Juli 1529 notiert Melanchthon: … Otto von<br />

Pack … berichtete von Bündnissen <strong>des</strong> Landgrafen Philipp von Hessen mit den<br />

Franzosen und den Ungarn. Herzog Ulrich plane einen Einfall in sein Territorium (in<br />

dieser Zeit unter habsburger Verwaltung gestellt). Sein Bruder Graf Georg warb<br />

Söldner in Lothringen und Reiter in Niedersachsen. Doch Kurfürst Ludwig von der Pfalz<br />

verweigerte den Reitern den Durchzug. Hinter allem stecke der Landgraf Philipp.<br />

Und am 5.Jan.1530 schreibt Melanchthon an Camerarius: Der Landgraf muss von<br />

seinen wahnsinnigen Rüstungen abgebracht werden.<br />

Mit dem Religionsstreit sind phantastische Summen für die eine wie für die andere<br />

Seite <strong>im</strong> Spiel. Prior Kilian Leib ist ein wichtiger Mann in dieser Auseinandersetzung.<br />

Was nichts daran ändert, dass <strong>Faust</strong> es sich nicht nehmen lässt, dem berühmten Prior<br />

die Grenzen aufzuzeigen.<br />

69


<strong>Faust</strong> streift sich nicht nur ein geistliches Gewand über, die gehobene Stellung seines<br />

Gegenübers, <strong>des</strong>sen öffentliches Ansehen sind für <strong>Faust</strong> eine Herausforderung.<br />

Mit „helmstet“ und „Komtur“ hält er dagegen – zwei flotte Watschen, lässig mit der<br />

linken Hand geschlagen, damit Hochwürden Prior weiß, wer jetzt hier der Chef ist.<br />

Komtur der Johanniter, das bedeutet, dass er ebenfalls von geistlichem Stand ist, doch<br />

obendrein von Adel; der Orden der Johanniter war elitär, er grenzte sich ab.<br />

Dem behaupteten Adel geht sinnfällig der Fingerzeig auf „helmstet“ voraus; ein<br />

Hinweis auf die Wurzeln seiner adeligen Abkunft. Die Grafen von Helmstadt waren<br />

angesehen, sie saßen auf weit gestreuten Liegenschaften und waren wohlhabend.<br />

Das Geschlecht der Grafen von Helmstadt war auch weit verzweigt; ein ausladender<br />

Stammbaum, ein nicht jedermann einsichtiges Geflecht von Verwandtschaftsbanden,<br />

ein Dickicht, in welches sich <strong>Faust</strong> gut hinein wanzen kann.<br />

Glaubhaft als Adeliger aufzutreten, das mochte ein Kunst sein, die einige<br />

beherrschten. Bei <strong>Faust</strong> kriegt die Sache noch ein Krönchen: Die Grafen von Helmstedt<br />

sind nicht in Sachsen oder in den fernen Vogesen behe<strong>im</strong>atet, der Rebdorfer<br />

Prior ist durchaus mit ihnen vertraut. Auch <strong>im</strong> Umkreis von Rebdorf besitzen die<br />

Herren von Helmstedt weitläufige Besitzungen, einträgliche Pfründe und hohe Posten.<br />

<strong>Faust</strong> motzt sich also nicht mit irgendwelchen abseitigen Titeln auf, er kreuzt die<br />

Klinge <strong>des</strong> Verstan<strong>des</strong> auf gleicher Ebene mit seinem Gegenüber.<br />

Er macht sich zu einem Geistlichen, der Prior müsste ihn, den „Kollegen“, entlarven<br />

können. Der Prior kann es nicht.<br />

Er macht sich zu einem Adeligen aus einer Familie, die dem Prior in etwa bekannt ist.<br />

Und wieder kriegt der Prior keinen Fuß auf den Boden.<br />

„… dann werden Propheten geboren…“ heißt es weiter <strong>im</strong> Text.<br />

Dass <strong>Faust</strong> sich gegenüber einem entschiedenen Vertreter der Kirche als Prophet<br />

bezeichnet – nicht als Wahrsager wohlgemerkt, das wäre nicht situationsgerecht – ist<br />

schlicht die dritte Unverschämtheit: <strong>Faust</strong> erhöht sich zu einer biblischen Gestalt.<br />

Mehr noch: „… dann werden Propheten geboren…“, das ist die pure Überlegenheit,<br />

der Konfessionsstreit und seine Exponenten werden in die Nähe der Bedeutungslosigkeit<br />

irdischen Gezänks verwiesen.<br />

Vermutlich hat Prior Leib sich <strong>Faust</strong>s Frechheiten selbst zu zuschreiben. Er kann zwar<br />

<strong>Faust</strong> nicht als Lügner entlarven, doch als gefestigte Persönlichkeit beeindruckt ihn<br />

das nicht, er weiß wen er vor sich hat und er lässt es seinen Besucher spüren:<br />

„Vnuerschämbter Vnflat“, wie Manlius Melanchthon zitieren wird.<br />

<strong>Faust</strong> in Rebdorf, das ist nicht der Auftritt eines wilden Prahlhans`. <strong>Faust</strong> fand offenkundig<br />

sein größtes Vergnügen daran, den sonst so gelehrten und streitbaren Prior an<br />

die Wand zu fahren. Passgenau und mit Maß, denn in einer Sache ging <strong>Faust</strong> kein<br />

Risiko ein, das Ordenshaus hatte er nach Hallestein verlegt, weit weg an der Grenze<br />

Kärntens gelegen; dort, wo der Prior sich gewiss nicht auskannte.<br />

Wie erklärt es sich, dass der Prior den Besuch schließlich doch notierte?<br />

Vermutlich wird ihm <strong>Faust</strong> eine bescheidene Prognostikation, eine „Prophezeiung“<br />

verabreicht haben, eine kleine aber feine Information, die er irgendwo „gefischt“ hatte,<br />

in einer Sache, die dem Prior wichtig war, die ihn beschäftigte.<br />

Eventuell handelte es sich um eine Information zur weiteren Entwicklung in der<br />

Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten.<br />

Der Prior trägt <strong>Faust</strong> zunächst nicht in sein Buch ein. Für Leute wie <strong>Faust</strong> ist darin kein<br />

Platz. Und doch muss ihm die „verabreichte Prophezeiung“ – wohlgemerkt, eine<br />

Vermutung – sehr beschäftigt haben.<br />

Man meint sie förmlich zu hören, die schnurrenden Rädchen <strong>im</strong> Kopf <strong>des</strong> Priors; nach<br />

offenbar wochenlangem Grübeln greift er endlich <strong>im</strong> Juli zur Feder, um die Begegnung<br />

mit <strong>Faust</strong> vom 5. Juni zu notieren.<br />

Dieses Pokerspiel auf Augenhöhe, es zieht sich durch die Quellentexte. In Würzburg<br />

rühmt sich <strong>Faust</strong> der Wunder Christi. In der Universitätsstadt Erfurt schmückt er sich<br />

mit dem Verweis auf die Universitätsstadt Heidelberg, um dann auch hier wieder<br />

kräftig zu provozieren.<br />

70


Kaum anderes besagt das Protokoll <strong>des</strong> Ingolstädter Stadtrates vom 17.6.1528.<br />

„Anheut mitwoch nach Viti anno 1528 dem warsager soll befolchen werden, dz er zu<br />

der stat ausziech und seinen pfennig anderswo verzer.<br />

Am mitwoch nach Viti anno 1528. Ist ainem der sich genant Doctor Jörg <strong>Faust</strong>us von<br />

Haidlberg gesagt, dz er seinen pfennig anderswo verzer, und hat angelobt, solche<br />

eruordnung (Verordnung, Anordnung) für die obrigkeiht nit zu anthen noch zu äffern.“<br />

„ainem der sich genant Doctor…“ notierte der Schreiber – auch in Ingolstadt hatte man<br />

wohl Zweifel am Bildungsflitter <strong>des</strong> Besuchers.<br />

Zwischen Rebdorf und Ingolstadt liegt eine Wegstrecke von dreißig Kilometern. <strong>Faust</strong><br />

könnte sich also durchaus bereits am 7. Juni in Ingolstadt befunden haben. Auch in<br />

Ingolstadt existierte seit 1472 eine Universität.<br />

1520 war hier Johannes Reuchlin – nach seinem Streit mit den Dominikanern – ein<br />

triumphaler Empfang bereitet worden. Er hatte für drei Semester die Professur für Alt-<br />

Griechisch übernommen. Die Wohnung, die er bezog, war eine der Pfründe-<br />

Wohnungen <strong>des</strong> Johann Eck. 1521 / 1522 übernahm Reuchlin in Tübingen die<br />

Professur für Hebräisch, er starb <strong>im</strong> Juni 1522 an Gelbfieber.<br />

Johann Eck selbst, der streitbare Freund <strong>des</strong> Priors Kilian Leib, blieb Ingolstadt als<br />

Dozent der Rechtswissenschaften treu.<br />

Johann Eck war es auch gewesen, der Luther die Bannbulle „Exsurge Domine“ überbracht<br />

hatte. Nicht anders als der Prior von Rebdorf, auch Johann Eck steht in<br />

vorderster Front <strong>des</strong> Konfessionsstreits. Es liegt nahe, <strong>Faust</strong> hat das persönliche<br />

Gespräch mit Johann Eck gesucht.<br />

Ingolstadt war auch sonst der rechte Ort, um wieder Informationen zu „fischen“, ob nun<br />

in offener Diskussion mit den Professoren oder allein mit den Studenten, vielleicht<br />

auch nur als stiller Zuhörer am Nachbartisch <strong>im</strong> Speiselokal. „Als ich zu Basel mit<br />

<strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Oberen Collegium speiste, gab er dem Koch Vögel verschiedener Art …“,<br />

notierte denn auch Pfarrer Gast. Da ist er, unser Dr. <strong>Faust</strong>, wie er mittendrin sitzt und<br />

sein Messer auf dem Teller klappern lässt. Neben den Standpunkten <strong>im</strong> Konfessionsstreit<br />

könnte sich <strong>Faust</strong> auch dafür interessiert haben, was es in den Künsten,<br />

den Wissenschaften, an Neuigkeiten gab.<br />

Bei allem Interesse an den Wissenschaften und seiner Neugier zu erfahren, was die<br />

Gebildeten über den Konfessionsstreit denken, <strong>Faust</strong> hat auch wieder provoziert. Wie<br />

sollte er auch anders, es scheint ihm die liebste Gewohnheit gewesen zu sein, diese –<br />

frei formuliert – „gebildeten Dummköpfe als aufgeblasene Trottel“ zu bezeichnen.<br />

Ihnen unter die Nase zu reiben, „dass er ein so großes Wissen und Gedächtnis aller<br />

Weisheit erreicht habe, …“, nicht zu vergessen, „dass er in der Alchemie von allen, die<br />

je gewesen, der Vollkommenste sei.“<br />

Dem Volk mag gefallen haben, wenn <strong>Faust</strong> das Ansehen der erhabenen Professoren<br />

in den Dreck zog. Dieser Doktor <strong>Faust</strong> war offenkundig ein „gelehrter Mann“, aber<br />

einer, der sich nicht mit diesen dünkelhaften Gebildeten gemein machte, der diesen<br />

eingebildeten Laffen statt<strong>des</strong>sen die <strong>Faust</strong> unter die Nasen rieb. So betrachtet war<br />

<strong>Faust</strong>, wenngleich auf hinterhältige Art, doch ein Rebell – in eigener Sache!<br />

Gutmöglich hat es sich so verhalten, <strong>Faust</strong> fischte sich in den ersten Tagen seines<br />

Aufenthalts in Ingolstadt bei den richtigen Leuten die richtigen „Informationen“,<br />

anschließend ging er auf die Straße und machte seine „Informanten“ madig. Sein<br />

Vergnügen war also ein Doppeltes, wobei das zweite Vergnügen zum dritten führte.<br />

Mit den respektlosen Reden zog er die Aufmerksamkeit der Straße auf sich, eine<br />

wichtige Voraussetzung für das nächste Vergnügen, dem Volk das Geld aus der<br />

Tasche zu reden.<br />

Das alles steht zwar nicht <strong>im</strong> Ingolstädter Protokoll, doch warum sollte <strong>Faust</strong> sich<br />

plötzlich gesitteter benommen haben als wenige Tage zuvor in Rebdorf.<br />

Überhaupt, es ist erstaunlich, niemand hat es offenkundig jemals geschafft, <strong>Faust</strong> die<br />

frechen Reden auszutreiben; weder die Quellentexte noch die Indizien wissen<br />

dergleichen zu berichten. Verachtung, gepaart mit Verärgerung, werden allenfalls<br />

spürbar wenn Conradus Mutianus schreibt: „Ich habe seine Anmaßung nicht gestraft;<br />

71


denn was kümmert mich fremde Torheit?“ Ein Satz, mit dem auch Prior Leib seine<br />

Notiz hätte enden lassen können.<br />

Dabei werden Kilian Leib, Conradus Mutianus und allgemein die Dozenten sowie<br />

zumin<strong>des</strong>t einige Studenten der fortgeschrittenen Semester wohl kaum dümmer als<br />

<strong>Faust</strong> gewesen sein, und maulfaul oder zart besaitet waren sie auch nicht. Die Welt<br />

der Universitäten wird nicht mehr von Adeligen geprägt, Söhne von Handwerkern und<br />

Bauern bilden nun das Gros der Dozenten und deren Studenten. Freilich wissen sie zu<br />

disputieren und feine Gedanken zu Papier zu bringen, ihre hinterlassenen Streit- und<br />

Schmähschriften zeigen aber auch, dass sie gut zu polemisieren wissen, dabei höchst<br />

unakademisch unter die Gürtellinie schlagen und auch ohne ärztlichen Befund den<br />

Gegner rasch als „geisteskrank“ abqualifizieren.<br />

Doch mit <strong>Faust</strong> werden sie nicht fertig, ihm die Lust an seinen Auftritten von Mal zu<br />

Mal so richtig zu vergällen, das schaffen sie nicht. Es bleibt ihnen nur, be<strong>im</strong> Rat vorbei<br />

zu schauen, damit dieser den „warsager“ zur Stadt hinaus weist. Freilich ist <strong>Faust</strong><br />

auch wieder als Wahrsager aufgetreten, doch von dem Spott, den er auch in Ingolstadt<br />

wieder getrieben hat, steht verständlicher weise nichts <strong>im</strong> Beschluss.<br />

Indirekt steht freilich doch <strong>im</strong> Protokoll zu lesen, dass <strong>Faust</strong> wieder eine gewaltige<br />

Staubwolke aufzuwirbeln wusste. <strong>Faust</strong> „hat angelobt, solche eruordnung für die<br />

obrigkeiht nit zu anthen noch zu äffern.“<br />

Es darf gelacht werden, ein Wahrsager, einer von denen, die es damals zumin<strong>des</strong>t<br />

noch in katholischen Landstrichen <strong>im</strong> Dutzend gab, musste Urfehde schwören.<br />

Urfehde: „Durch Eid bekräftigte Versicherung, künftig Frieden zu halten; Verzicht auf<br />

Spott, üble Nachrede und jede Rache an der Stadt und ihren Bürgern, die<br />

Zusicherung, das Urteil nicht anzufechten und sich künftig von der Stadt fernzuhalten.“<br />

<strong>Faust</strong>, der auch hier wieder auf Augenhöhe und passend zu einer Universität als<br />

„Doctor Jörg <strong>Faust</strong>us von Haidlberg“ aufgetreten war, war gut beraten, die Urfehde zu<br />

beachten; für den Fall, dass er sich noch mal in Ingolstadt blicken ließ, drohte ihm eine<br />

schwere Haftstrafe.<br />

Die, wie es scheint, recht skandalösen Vorgänge in Ingolstadt könnten allerdings auch<br />

die Verspätung <strong>des</strong> Eintrags <strong>im</strong> Wettertagebuch erklären. <strong>Faust</strong> hatte in Rebdorf keine<br />

bewegenden Aussagen oder Anregungen hinterlassen, <strong>Faust</strong> war nur großmäulig bis<br />

unverschämt gewesen; der Prior hatte es mit einer Leerstelle in seinem Buch<br />

gewürdigt. Doch dann erhielt der Prior Nachricht, dass dieser <strong>Faust</strong> es in der<br />

herzoglichen Residenzstadt zum Rausschmiß mit Prädikat „Urfehde“ geschafft hatte.<br />

Damit hatte sich <strong>Faust</strong> für einen Eintrag <strong>im</strong> Wettertagebuch qualifiziert; verächtlich,<br />

vielleicht auch etwas nachlässig, notiert der Prior einige von <strong>Faust</strong>s Behauptungen.<br />

Diese Erklärung für die Verspätung <strong>des</strong> Eintrags beinhaltet freilich auch, dass die Aussagen<br />

<strong>im</strong> Tagebuch mit den Vorgängen in Ingolstadt in irgendeiner Weise miteinander<br />

korrespondieren, obgleich die Äußerungen <strong>des</strong> „Johanniters Georgius <strong>Faust</strong>us<br />

helmstet aus Hallestein“ <strong>im</strong> Kloster Rebdorf gewiss andere gewesen sein werden, als<br />

jene <strong>des</strong> „Doctor Jörg <strong>Faust</strong>us von Haidlberg“ in der Unversitätsstadt Ingolstadt.<br />

Von <strong>Faust</strong>s Reden ist weder hier noch dort etwas festgehalten.<br />

Höchst bemerkenswert ist jedoch, hier wie dort wird sein voller Name notiert, beide<br />

Male auch seine „Berufsbezeichnung“ und ebenso die Zweifel an <strong>Faust</strong>s Selbstauskünften:<br />

„Er versicherte, dass er …“ setzte Prior Leib aufs Papier („asserebat“ wird<br />

auch mit „er behauptete“ übersetzt), „ainem der sich genant Doctor…“ notierte der<br />

Schreiber in Ingolstadt.<br />

Was darf man daraus schließen? Etwa dass <strong>Faust</strong> ein allgemein bekanntes<br />

Faszinosum war, bei dem man nur noch die unterschiedlichen Visitenkarten für<br />

bemerkenswert hielt? Oder etwa, dass Prior Leib über Kreise der Universität von Ingolstadt<br />

von <strong>Faust</strong>s Ausweisung erfuhr und er sich mit Ihnen grundsätzlich darüber einig<br />

wusste, was von <strong>Faust</strong> zu halten war?<br />

Interessant der feine Spott, der in der Notiz <strong>des</strong> Priors mitschwingt. Der Prior wusste<br />

scheinbar recht genau, wen er da vor sich hatte, genauso wie er wusste und es auch<br />

akzeptierte, dass er gegen diesen „Dr. Allwissend“ machtlos ist.<br />

72


Es wurde in der <strong>Faust</strong>forschung angedacht, dass <strong>Faust</strong> mit Prior Leib nicht in Rebdorf<br />

sprach, sondern in Ingolstadt. Das bedeutet, dass <strong>Faust</strong> in Ingolstadt mit zwei<br />

„Pässen“ aufgetreten wäre. Das scheint min<strong>des</strong>tens ebenso zweifelhaft zu sein, wie<br />

die Annahme, dass <strong>Faust</strong> in Ingolstadt als Dozent tätig gewesen sein könnte. Wie<br />

hätte sich der Dozent <strong>Faust</strong> gegenüber Prior Kilian Leib als Komtur ausgeben können,<br />

wenn er gleichzeitig Kollege <strong>des</strong> Dozenten Johann Eck war, Johann Eck aber so eng<br />

mit dem Prior zusammenarbeitete. Ganz zu schweigen von der geradezu witzig<br />

anmutenden Vorstellung, ein Dozent der Universität wird als Wahrsager der Stadt<br />

verwiesen.<br />

<strong>Faust</strong> wurde auch nicht vom Senat der Universität aus der Stadt gewiesen, diesem<br />

unterstand die akademische Gerichtsbarkeit. Es war auch kein geistliches Gericht,<br />

dem die ketzerischen Fälle unterlagen, und das sich mit <strong>Faust</strong> beschäftigt hatte.<br />

Der Stadtrat verwies ihn, der Vorwürfe sind viele denkbar: Ruhestörung, Streitereien,<br />

Gefährdung der Ordnung.<br />

Der Eintrag erfolgte unter der Rubrik „Ausgewiesen“.<br />

Es sei an dieser Stelle der Begriff „Stadtbuch“ ein wenig ausgeleuchtet.<br />

Mit der Ausbildung vom Weiler zum Dorf, zum Flecken, spätestens mit der Erhebung<br />

zur Stadt, wurde für eine Kommune die Führung eines Stadtbuchs notwendig. Es galt<br />

Einnahmen und Ausgaben festzuhalten, <strong>des</strong> weiteren Ratslisten, Waffenverbote,<br />

Urkundenabschriften, Verpfändungen, Stadtverweise, Aufgebote verlorener Siegel,<br />

Ratsurteile und dergleichen mehr. Je nach Region bezeichnete man das Stadtbuch als<br />

„Radebok“, „unsir stat buch“, „denkelbok“ oder auch sehr liebevoll wie in Breslau um<br />

1340 als „Struppige Hilde“ und „Nackter Laurentius“; die „Hilde“ muss wohl einen stark<br />

mitgenommenen Schweinsledereinband, der „Laurentius“ wohl gar keinen Einband<br />

besessen haben. Je schneller eine Kommune wuchs, umso schneller erfolgte die<br />

Aufteilung <strong>des</strong> Stadtbuchs: Buch der Ratssitzungen, Eidbuch, Grundbuch, Pfandbuch,<br />

Urteilsbuch, Urfehdebuch. Die der Stadt Verwiesenen wurden auch in Achtbüchern<br />

oder, so sie inhaftiert gewesen waren, in Verfestungsbüchern namhaft gemacht.<br />

Die Ausweisung, in Verbindung mit einer „Urfehde“, lässt den Schluss zu, <strong>Faust</strong> hat<br />

auch in Ingolstadt seine Karten bis zum Letzten ausgereizt<br />

<strong>Faust</strong> liebte es wohl, hart an den Felsen zu segeln. Er muss ein Mensch von geradezu<br />

gefährlicher Intelligenz gewesen sein, folglich auch einsichts- und lernfähig; Tollheiten,<br />

wie er sie in den aufrührerischen Jahren vor dem Großen Bauernkrieg zum Besten<br />

gegeben hatte, jene, die einst Abt Trithemius empörten oder Conradus Mutianus an<br />

eine Erhebung der Theologen denken ließen, hatte er wohl inzwischen aus seinem<br />

Programm genommen.<br />

Zum Freund von Wahrheiten wird er damit allerdings nicht. Die Matrikelbücher der<br />

Universitäten blieben vollständig erhalten, <strong>im</strong> entsprechenden Zeitraum schrieben sich<br />

einige Studenten unter „<strong>Faust</strong>“ ein: „Heynricus <strong>Faust</strong> de Lindefelz, Johannes Fust de<br />

Francofordia, Wigandus <strong>Faust</strong> de Ley …“. So sehr man auch die einzelnen<br />

Kandidaten abklopfte, eine Verbindung zu unserem <strong>Faust</strong> ließ sich nicht herstellen.<br />

Auch Nachforschungen in Krakau förderten keinen Hinweis zutage. <strong>Faust</strong> hat also<br />

niemals studiert. Min<strong>des</strong>tens alles, und vielleicht noch mehr, was über „Johann Georg<br />

<strong>Faust</strong>us Kundlingensis, Philosoph, Arzt, Alchemist, Astrologe und Wahrsager“<br />

hinausgeht, ist bestenfalls Werbung.<br />

Wer hier einwirft, dass es den „<strong>Faust</strong>us Kundlingensis“ nicht mehr brauchte, weil <strong>Faust</strong><br />

eben <strong>Faust</strong>, also einzigartig war, weil er zum lebenden „Markenzeichen“ für das<br />

Unerklärliche schlechthin geworden war, der hat sicher Recht. <strong>Faust</strong> hatte einen<br />

derartigen Bekanntheitsgrad, seine Herkunft war bedeutungslos geworden, war hinter<br />

den Namen zurückgetreten. <strong>Faust</strong> hatte Knittlingen hinter sich gelassen, sich selbst<br />

neu erschaffen. Losgelöst von seiner Herkunft, seinem Ursprung, begann er<br />

irgendwann auf seiner eigenen Bühne zu leben. Die Ausstattung wechselte nach<br />

Bedarf, doch ganz gleich welches Stück er gab, spielte er nur den einen unverwechselbaren<br />

Dauerbrenner und lebenslangen Kassenschlager, und der hieß „<strong>Faust</strong>“.<br />

Zu vermuten, dass er Knittlingen absichtsvoll verschwieg, greift nicht.<br />

Es schreibt und liest sich zwar gut, wenn man unter Verweis auf Heine eröffnet:<br />

73


„Klappern gehört zum Handwerk, und das Klappern hat er verstanden!“, um dann fortzufahren:<br />

„Mit Knittlingen wäre möglicher Weise einiges ans Licht gekommen – <strong>Faust</strong><br />

hätte nicht mehr geklappert.“ Doch <strong>Faust</strong> war offenbar zuvorderst ein praktischer<br />

Mensch. Mit Knittlingen war kein Staat zu machen, es musste ein „Haidlberg“ sein.<br />

*<br />

„Tuus <strong>Faust</strong>us“ / <strong>Faust</strong> polarisiert die Oberschicht<br />

Es muss innerhalb der Oberschicht eine Reihe von Personen gegeben haben, die<br />

zumin<strong>des</strong>t zeitweise mit <strong>Faust</strong> auf gutem Fuß standen.<br />

„Tuus <strong>Faust</strong>us“ heißt es <strong>im</strong> Brief <strong>des</strong> hochgelehrten Camerarius an den Domherrn<br />

Stibarius, also „dein <strong>Faust</strong>“; das „tuus“ war unter Humanisten für eine Beziehung<br />

„herzlicher Verbundenheit“ gebräuchlich.<br />

„Der Philosophus <strong>Faust</strong>us (es) schier troffen hat.“ schreibt der Konquistador Philipp<br />

von Hutten aus Venezuela, ein Satz, der auf gutes Einvernehmen mit <strong>Faust</strong> deutet.<br />

Nicht zu übersehen ist allerdings, dass <strong>Faust</strong> die Gebildeten auch <strong>im</strong>mer wieder durch<br />

seine Reden empört; fast möchte man meinen, dass ihn geradezu Wut auf die<br />

Gebildeten umtreibt.<br />

Liebe zum Volk – um es klar zu sagen, scheint ihn allerdings auch nicht zu befeuern,<br />

mit Wahrsagerei, oder um welche Art von „Kunst“ es sich auch gehandelt haben mag,<br />

zieht er den Leuten das Geld aus der Tasche.<br />

Über <strong>Faust</strong>s Verhältnis zum Volk lässt sich den Quellentexten wenig entnehmen, was<br />

die Vertreter der Oberschicht angeht, so gab es offenbar die einen und die andern,<br />

jene, die mit <strong>Faust</strong> konnten und jene, die ihn nicht abkonnten.<br />

<strong>Faust</strong> polarisierte. Warum die einen ihn schätzten, andere ihn hingegen ablehnten,<br />

nun, der Quellentexte sind nicht viele.<br />

Dennoch! Bildungbewusstsein, Stolz sowie eifrig gepflegter Dünkel der neuen<br />

Bildungs-Elite, den heute so genannten Frühen Humanisten, liessen sich wohl kaum<br />

mit <strong>Faust</strong> und seinen „mit großer Frechheit ausgeführten Nichtsnutzigkeiten“<br />

vereinbaren.<br />

Der Fürstbischof von Bamberg, zuvorderst ein Machtpolitiker, mochte sich hingegen<br />

sagen: „Nun, so ist er eben auch! Andererseits …“<br />

Dieses „Andererseits“ gab es für die Frühen Humanisten nicht, sie folgten einem<br />

Codex, der besagte, wer wahrhaft gebildet ist, hat mit dem Volk nichts mehr gemein,<br />

und <strong>Faust</strong>, das ist ein Mann der Landstraßen, der ist „Volk“. Und Volk wollten die<br />

Humanisten, von denen die meisten selbst aus dem Volk kamen, nicht mehr sein;<br />

Sorgen, die den adlig geborenen Fürstbischof nicht plagten.<br />

Auch Prior Leib ist ein Machtmensch, jedoch ein kleiner. Er ist noch nicht mal Abt, und<br />

ein Fürstbischof steht weit über ihm. Zwar war er auch Verwalter und Geldverleiher,<br />

doch Ansehen und Ehre erwuchsen ihm durch sein Engagement <strong>im</strong> Konfessionsstreit,<br />

zuvorderst aber aus seiner humanistischen Bildung.<br />

Und dieses neue Bildungsbewusstsein könnte in der Tat die Scheidelinie gewesen<br />

sein.<br />

Soweit aus den Quellentexten zu ersehen, ist kein Humanist auszumachen, der mit<br />

<strong>Faust</strong> Umgang gepflegt hätte. So sie in den Texten auftreten, halten sie erkennbare<br />

Distanz wie der zuvor erwähnte Joach<strong>im</strong> Camerarius, oder sie äußern sich ablehnend,<br />

verbürgt sind: Johannes Trithemius, Conradus Mutianus, Kilian Leib und – da Manlius<br />

die <strong>Faust</strong>-Exempla korrekt wiedergab, auch Philipp Melanchthon.<br />

Unter jenen wiederum, die ihm – wie es scheint, positiv gegenüber standen, ist<br />

wiederum kein Humanist auszumachen: Johannes Virdung, Franz von Sickingen,<br />

Fürstbischof Georg III., Philipp von Hutten, Daniel Stibarius. Letztgenannter pflegte<br />

zwar herzliche Freundschaft mit Erasmus von Rotterdam, dieser bescheinigte ihm<br />

auch eine durch und durch humanistische Denkungsart, doch Stibarius war Jurist.<br />

Der Fürstbischof von Bamberg hat das Gespräch mit <strong>Faust</strong> offenbar zu schätzen<br />

gewusst. Was auch <strong>im</strong>mer sich zwischen Prior Leib und <strong>Faust</strong> abgespielt haben mag,<br />

es hat sich das Gegenteil von Bamberg ergeben, der Prior und <strong>Faust</strong> haben einander<br />

74


verfehlt. Gutmöglich gab der Prior von Anfang an <strong>Faust</strong> zu verstehen: “Mit mir nicht,<br />

mein Freund, von deinen Sprüchen und Betrügereien weiß ich genug!“ Derart<br />

voreingenommen verweigerte er <strong>Faust</strong> Ehre und Geld, er bekam Lametta, Lügen und<br />

Verstiegenheiten serviert.<br />

Sind <strong>Faust</strong>s anmaßende Reden etwa nur der sengende Gluthauch, der einer<br />

verweigerten Geschäftsverbindung als Strafe auf dem Fuße folgt?<br />

Bedeutet es, dass <strong>Faust</strong> in Erfurt, Rebdorf, Ingolstadt zunächst mit den Gebildeten das<br />

Gespräch suchte, seine Dienste als Astrologe anbot, und erst auf die Zurückweisung<br />

hin, <strong>im</strong> Wirtshaus oder auf dem Marktplatz, als Wahrsager den Eklat folgen ließ?<br />

<strong>Faust</strong>, also ein Mensch, der nicht allein Geld verdienen wollte, sondern den zuvorderst<br />

ein Hunger nach Anerkennung umtrieb, der eine Ablehnung seiner Person wie ein<br />

zorniger Gott beantwortete?<br />

Zorn, allerdings mit Augenmaß, wir haben keine verlässliche Nachricht darüber, dass<br />

<strong>Faust</strong> jemals inhaftiert war.<br />

Wird hier in Umrissen ein Teil <strong>des</strong> damaligen Klassenkampfes erkennbar?<br />

<strong>Faust</strong>, der einfache Mann aus dem Volk, der sich die Kenntnisse der Astronomie und<br />

Astrologie – bei<strong>des</strong> ordentliche Studienfächer einer damaligen Universität, <strong>im</strong> Selbststudium<br />

erarbeitet und es zum angesehenen Astrologen gebracht hatte, dem die<br />

Bildungselite neuer Prägung in ihrem Dünkel also den Respekt verweigerte?<br />

Diese Lesart möchte wohl einigen <strong>Faust</strong>-Verehrern behagen.<br />

Andersrum wird ein Schuh draus! Es ist <strong>Faust</strong>, der auf die Vertreter der neuen Elite<br />

zugeht und sie provoziert, sie gleichsam he<strong>im</strong>sucht. Er stellt sich als „Komtur“ vor, er<br />

benutzt die Visitenkarte der Humanisten, jene drei latinisierten Namen. Und wie es<br />

scheint fährt er diese Angriffe gegen die Humanisten ganz gezielt.<br />

Denn be<strong>im</strong> Fürstbischof firmiert er unter „Doctor <strong>Faust</strong>us ph(ilosoph)o“ und Philipp von<br />

Hutten kennt ihn als „Philosophus <strong>Faust</strong>us“.<br />

Warum <strong>Faust</strong> die neue Elite attackierte, muss offen bleiben. Interessant ist die Frage,<br />

was machte <strong>Faust</strong> so sicher, dass er es mit ihnen aufnehmen könne, was machte ihn<br />

derart anmaßend? Es wurde in „<strong>Faust</strong> tritt auf“ angesprochen, offenbar hat es nie<br />

jemand geschafft, ihm die frechen Reden auszutreiben. Lösen sich die Fragen, die<br />

sich hier stellen, mit der seltsamen Kunst, die <strong>Faust</strong> beherrschte?<br />

Man sollte meinen, <strong>Faust</strong>, der wahrscheinlich aus chancenlos armen Verhältnissen<br />

kam, der es offenbar zu einem angesehenen Astologen geschafft hatte, er hätte mit<br />

dem Titel „Philosoph“ überaus zufrieden sein können. Dass er auch einen Doktorhut<br />

und zu diesem noch ein Hutband humanistischer Pfauenfedern beanspruchte, es<br />

deutet auf ein Übermaß an Ehrgeiz: auf Ehrsucht.<br />

Die menschliche Urerfahrung weiß, Verstiegenheiten werden vom Leben mit Absturz<br />

und harter Landung geahndet. „Ikarus“ <strong>Faust</strong> hingegen, obgleich er sich dutzendweis<br />

namhafte Persönlichkeiten gezielt zu Feinden macht, stürzt nicht ab.<br />

Ein Umstand, der uns eine weitere Verbeugung vor seiner „Kunst“ abfordert.<br />

Es drängt sich jedoch die Vermutung auf, dass die Kunst, die <strong>Faust</strong> beherrschte, ihm<br />

zwar die Türen zu wichtigen Leuten öffnete, doch diese Kontakte pflegen, sie<br />

bewahren, das vermochte er wohl kaum. Anfangs gab er sich wahrscheinlich recht<br />

manierlich, bis ihm in seiner Ehrsucht doch der Gaul durchging und er seinen<br />

Bekannten vor den Kopf stieß.<br />

Wenngleich <strong>Faust</strong> die Oberschicht auch polarisierte, Freundschaften zerbrachen<br />

seinetwegen offenbar nicht.<br />

Ungeachtet der notierten Knabenschändung <strong>im</strong> vorhergehenden Satz, schreibt<br />

Trithemius: „…<strong>des</strong>sen Ankunft du mit so großem Verlangen erwartest.“ Und „tuus<br />

<strong>Faust</strong>us“ formuliert Camerarius, um sich anschließend über <strong>Faust</strong>s Aberglauben zu<br />

beschweren.<br />

Was auf nicht weniger deutet, als dass die Humanisten zwar zu <strong>Faust</strong>, dem<br />

ungebildeten Prahlhans und Provokateur, Abstand wahrten, <strong>Faust</strong> jedoch andererseits<br />

75


eine hohe Kunst beherrschte, die ihnen soviel an Respekt abnötigte, dass sie damit<br />

leben konnten, wenn ihre Bekannten es mit <strong>Faust</strong> hielten.<br />

Und auch Prior Leib, der kein Freund der Astrologie war, hatte mit Menschen zu tun,<br />

für die der Astrologe <strong>Faust</strong> durchaus kein Unbekannter war; gemeinsam mit Stibar und<br />

Moritz von Hutten war er über Jahre hinweg als Kirchendiplomat unterwegs.<br />

Kilian Leib war als Visitator der Windshe<strong>im</strong>er Kongregation für Gabriel von Eyb, den<br />

Fürstbischof von Eichstätt, ein wichtiger Ansprechpartner, auch waren sie befreundet.<br />

Die Gespräche an Eybs Tafel fanden breiten Eingang in Leibs Tagebücher. Als<br />

Gabriel von Eyb verstirbt, folgt 1539 Moritz von Hutten <strong>im</strong> Amt, zu einem Zeitpunkt, da<br />

auch er schon längst mit dem Prior freundschaftlich verbunden war; Moritz von Hutten<br />

hatte seine Laufbahn <strong>im</strong> Jahr 1512 als Kanonikus <strong>im</strong> Kloster Eichstätt begonnen.<br />

Daniel Stibar wiederum, über seine Großmutter übrigens weitläufig mit Weigand von<br />

Redwitz, dem Nachfolger <strong>des</strong> Fürstbischofs Georg III. von Bamberg, verwandt, erhielt<br />

seine erste Pfründe als Domizellar <strong>des</strong> Würzburger Domkapitels <strong>im</strong> Jahr 1517. In<br />

seiner Tätigkeit als Jurist und Kirchendiplomat folgten als Besoldung rasch weitere<br />

Pfründen, er wurde Domherr in Bamberg, Eichstätt und Würzburg.<br />

Die Selbstverständlichkeit mit der Philipp von Hutten von <strong>Faust</strong> schreibt, lässt den<br />

Schluss zu, dass auch der Empfänger <strong>des</strong> Schreibens, sein Bruder Moritz von Hutten,<br />

mit <strong>Faust</strong> bekannt war; wie auch anders, sowohl Philipp als auch Moritz von Hutten<br />

waren oft gemeinsam auf Stibars Hofgut zu Gast gewesen. Verständlich, dass Philipp<br />

in seinem Schreiben aus Übersee vom 16. Januar 1540 seinem Bruder Moritz aufträgt:<br />

„Bitt euch wollet Hernn Daniel Stieber mein Dienst sagen.“ – ein Freundschaftsgruß an<br />

den Domherrn und <strong>Faust</strong>-Freund Stibar.<br />

Und <strong>im</strong> „Tuus <strong>Faust</strong>us“-Brief vom 13. August 1536 fragt Camerarius bei Stibar nicht<br />

nur an, was <strong>Faust</strong> über den Kriegsausgang in den Sternen liest, er will auch wissen:<br />

„Wo ist denn unser lieber Hutten? Er wollte sich doch als mein Begleiter beigesellen.“<br />

Herzliche Formulierungen, sie belegen wie eng die Gebildeten unter den Katholiken<br />

und den Protestanten sich in diesen Jahrzehnten noch verbunden fühlten, während<br />

ringsum Zwist und Hader wucherten.<br />

Freilich ist es nicht allein die zu vermutende hohe Kunst <strong>Faust</strong>s, die Prior Leib, den<br />

katholischen Unterhändler, ein Auge zudrücken lässt, wenn es um die Begeisterung<br />

seiner Bekannten für die Astrologie, freilich auch für Visionen und die Deutung von<br />

H<strong>im</strong>melszeichen geht. Prior Leib hat gute Gründe die Sternengläubigkeit seiner<br />

Bekannten zu tolerieren. Denn Stibar pflegt einen Briefverkehr mit Camerarius, der an<br />

Intensität dem Briefverkehr zwischen Camerarius und Melanchthon wenig nachsteht.<br />

Mit Camerarius herzlich verbunden zu sein, bedeutet zu wissen, was Camerarius<br />

wiederum durch Melanchthon weiß. Und Melanchthon ist in seinen Briefen derart<br />

offenherzig, dass ihn Camerarius zur Vorsicht bei allzu fre<strong>im</strong>ütigen schriftlichen<br />

Äußerungen mahnt; wie Melanchthons Antwortschreiben vom 9. Aug. 1532(?) zu<br />

entnehmen, ein fruchtloses Ansinnen. Von daher weiß Camerarius Bescheid über die<br />

Internas der Universität von Wittenberg, über die Differenzen der protestantischen<br />

Fürsten untereinander, über die Querelen der Protestanten in Fragen der<br />

Glaubensauslegung und <strong>des</strong> Kirchendienstes. Camerarius kennt Melanchthons Kritik<br />

am Schmalkaldischen Bund, <strong>des</strong>sen Einschätzung der päpstlichen Politik, <strong>des</strong>sen<br />

Analysen der jeweiligen religions-politischen Lage, er weiß, welche Fäden<br />

Melanchthon in seiner Begeisterung für kirchliche Reformen zum französischen König<br />

spinnt – ein Eingriff in kaiserliche Rechte, dazu ein gefährliches Spiel mit außenpolitischem<br />

Feuer. Auch ist ihm bekannt, was Melanchthon von seinem eigenen<br />

Lan<strong>des</strong>herrn hält; Melanchthon zeiht den Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen der<br />

Tyrannei und der Unfähigkeit.<br />

Camerarius wusste weit mehr, als was „Melanchthons Briefwechsel“ uns heute verrät.<br />

Nicht allein <strong>des</strong>halb, weil „MBW“ nur noch ein Torso ist, in den Briefen findet sich<br />

zudem der häufige Hinweis, dass dem Überbringer <strong>des</strong> Schreibens eine mündliche<br />

Botschaft aufgetragen ist, bzw.: „alles weitere dann mündlich.“<br />

76


Nicht weniger wertvoll sind die Nachrichten über Melanchthon selbst. Nicht allein<br />

darüber, dass er überlastet ist und kränkelt und sich nach seinen Studien sehnt,<br />

sondern auch, dass er der protestantischen Scharfmacher genau so leid ist wie der<br />

katholischen, dass er diesen gesamten Hader satt hat, dass er inständig auf Reformen<br />

Roms hofft, damit endlich Ruhe einkehrt. Und geradezu Gol<strong>des</strong> wert ist es zu wissen,<br />

dass Melanchthon sich mit seinen Gutachten als geistiger Hoflieferant missbraucht<br />

fühlt; er liefert die Steine, mit welchen die protestantischen Fürsten und ihre Räte<br />

bauen, oder, um mit Melanchthon zu sprechen: um es zu „verhunzen“. Denn von der<br />

angewandten Politik selbst hält man ihn zu seiner Erbitterung fern – das ist auch gut<br />

so, denn davon hat er so wenig Ahnung, dass er selbst <strong>im</strong> Nachhinein nicht begreift,<br />

dass er mit der angestrebten Reformierung Frankreichs, den französischen König<br />

gleichsam zum Anführer <strong>des</strong> Schmalkaldischen Bun<strong>des</strong> geschlagen und somit das<br />

Reich gespalten hätte.<br />

Auch behandeln ihn seine Lan<strong>des</strong>herrn, darunter auch jener „löbliche Hertzog<br />

Johannes“, schlecht, die Räte bei Hof machen sich über ihn verächtlich und in Folge<br />

der „französischen Affaire“ sieht er sich sogar am Leben bedroht.<br />

Brief vom 31. Aug 1535 an Camerarius:<br />

(2) Auch M. ist in großer Gefahr. Der gegenüber C. oft beklagte Haß gegen ihn aus<br />

den eigenen Reihen, weil er nicht alle extremen Lehren billige, brach anlässlich seiner<br />

Einladung nach Frankreich hervor … (3) M. will seinem Kurfürsten antworten und<br />

dabei seine Entlassung anbieten, da er dieser ständigen Pressionen überdrüssig ist,<br />

und wenn es zum Konzil kommt (geplant war zu diesem Zeitpunkt ein Konzil auf<br />

Weisung <strong>des</strong> Kaisers), werden seine kirchenpolitischen Gegensätze zu seinem<br />

Kurfürsten ihn ohnehin zum Weggang zwingen. (4) Er bittet C. vorsichtig zu sondieren,<br />

ob er in Tübingen unterkommen kann …“<br />

Die Quelle „Camerarius“ die Prior Leib über Stibar und Moritz von Hutten anzapft –<br />

gewiss nicht die einzige Quelle, an der in diesen Jahren geschöpft wird, sie sprudelt so<br />

reichlich, man hat keine Mühe nachzuvollziehen, warum Rom sich in keiner Weise zu<br />

Reformen oder gar einem Konzil gedrängt sah; der Zeitpunkt, wo sich dieser Haufen<br />

von Ketzern und Schwärmern selbst wieder katholisch machte, war absehbar. Untätig<br />

blieb man in Rom <strong>des</strong>halb nicht, am 10. Jan. 1535 brachte Andreas Cricius, Bischof in<br />

Ptock (Polen) ein Schreiben auf den Weg. In Vollmacht <strong>des</strong> Papstes Paul III. und der<br />

Kardinäle fordert er Melanchthon auf, sich von den Ketzern zu trennen und bei ihm<br />

seine Studien zu pflegen.<br />

Leider die falsche Klaviatur, aber einer von vielen Versuchen, Melanchthon ins<br />

katholische Lager zu ziehen. So entgegenkommend Melanchthon als Philosoph in der<br />

Auseinandersetzung mit Rom auch war, so sehr er auf Versöhnung hoffte, so sehr er<br />

sich nach Ruhe sehnte, er war gleichsam so sehr katholisch, dass er nur ein<br />

Lutheraner sein konnte. Die Weltuhr auf „ante Luther“ zurückzustellen, so einfach war<br />

mit ihm nicht umzuspringen, denn dass die alte Kirche reformbedürftig war, davon war<br />

er nicht nur überzeugt, er hatte es in zahlreichen Gutachten dargelegt.<br />

Die Wiege dieser Lauschaktionen, zu einem Zeitpunkt, da noch niemand ahnte, was<br />

die kommenden Jahrzehnte bringen würden, war die Universität Erfurt gewesen. Dort<br />

hatten sich Stibar und Camerarius <strong>im</strong> Jahr 1518 be<strong>im</strong> Griechisch-Studium<br />

kennengelernt. Später brachte Stibar Moritz von Hutten mit Camerarius zusammen;<br />

gemeinsam kümmerten sich um den literarischen Nachlass <strong>des</strong> 1523 verstorbenen<br />

Dichters Ulrich von Hutten.<br />

Der Zeitraum, in welchem dieses Prominenten-Karussell sich dann speziell um <strong>Faust</strong><br />

drehte, beziehungsweise auch <strong>Faust</strong> hier sein Krüglein mit dem Quellwasser höherer<br />

Erkenntnisse füllte, ist kaum zu best<strong>im</strong>men, es lassen sich jedoch Kernjahre<br />

festmachen.<br />

Philipp von Hutten reiste <strong>im</strong> Dezember 1534 mit Nikolaus Federmann von St. Lucar,<br />

an der Mündung <strong>des</strong> Guadalquivir gelegen, nach Venezuela ab. Das Horoskop für die<br />

Reise hat <strong>Faust</strong> wahrscheinlich auch in diesem Jahr erarbeitet. Der „Tuus <strong>Faust</strong>us“-<br />

77


Brief trägt das Datum 13.8.1536. <strong>Faust</strong>, für die Zeit von 1534 bis 1536 in unmittelbarer<br />

Nähe dieses Kreises anzusiedeln, ist gewiss nicht falsch.<br />

*<br />

S<strong>im</strong>on Magus, „Urfaust“ und „Urketzer“<br />

Zu spassigen, seinerzeit freilich durchaus ernst gemeinten Überlegungen einiger <strong>Faust</strong>forscher,<br />

führte der „junior“ in der von Abt Trithemius notierten Würdenkette: „Georgius<br />

Sabellicus <strong>Faust</strong>us junior“. Heine meinte, dass <strong>Faust</strong> wohl einen älteren Bruder gehabt<br />

habe, ein anderer folgerte daraus, dass bereits <strong>Faust</strong>s Vater sich zauberisch betätigt<br />

habe, während ein August Holder den „junior“ dahingehend interpretierte, <strong>Faust</strong> wollte<br />

zum Ausdruck bringen, dass er einen Prozess der Reifung hinter sich habe, dass er<br />

sich gebessert hätte.<br />

Auf der Suche nach dem gehe<strong>im</strong>nisvollen „<strong>Faust</strong>us senior“ wurden quer durch die<br />

Geschichte verschiedene Personen gehandelt: Johann Fust (1400-1466), Kompagnon<br />

und späterer Prozessgegner Johann Gutenbergs; <strong>Faust</strong>us Socinus, ein polnischer Gelehrter;<br />

die Familie der <strong>Faust</strong>e von Stromberg; Lucius Victor <strong>Faust</strong>us, Herausgeber<br />

einer in Straßburg verlegten Terentius-Edition von 1522; Publius <strong>Faust</strong>us Andrelinus,<br />

ein Freund <strong>des</strong> Erasmus von Rotterdam; nicht zuletzt hatte es in der Spätantike einen<br />

Manichäer namens <strong>Faust</strong> gegeben, gegen den sich der heilige Augustinus mit groben<br />

Worten gewehrt hatte.<br />

Schließlich mehrten sich St<strong>im</strong>men, die darauf hinwiesen <strong>Faust</strong> hätte sich möglicher<br />

Weise von jenem S<strong>im</strong>on Magus zur Zeit <strong>des</strong> Petrus inspirieren lassen. Das unheilige<br />

Wirken <strong>des</strong> Erzzauberers und das heilige Wirken <strong>des</strong> Petrus waren Gegenstand einer<br />

der spätantiken Abenteuergeschichten in „Recognitiones“, „Recognitiones“ war 1503<br />

neu gedruckt worden. Dass <strong>Faust</strong> mit „Recognitiones“ vertraut war, darauf weist der<br />

„Helmitheus“, der Name eines griechischen Halbgotts, mit dem er seine Namenskette<br />

in Erfurt erweiterte. Zuvorderst sollte ihm aber S<strong>im</strong>on Magus durch die europaweit<br />

verbreitete Legendensammlung „Legenda aurea“ bekannt gewesen sein. In einer der<br />

Legenden wird das wilde Treiben jenes S<strong>im</strong>on Magus detailliert als warnen<strong>des</strong><br />

Exempel ausgebreitet. Bis in das späte Mittelalter hinein griffen Prediger <strong>im</strong>mer wieder<br />

gern diese Geschichte auf; S<strong>im</strong>on Magus war <strong>im</strong> Volk ein Begriff. Verfasser der<br />

„Legenda aurea“, war der Dominikaner Jakobus de Voragine, er lebte von 1230 bis<br />

1298, war Professor der Theologie und wirkte zuletzt als Erzbischof von Genua. Die<br />

„Legenda aurea“, eine Sammlung von Heiligenlegenden, war das religiöse Volksbuch<br />

<strong>des</strong> Mittelalters schlechthin. Getragen von Fabulierkunst und Sensationshascherei<br />

suchte es das Vertrauen in die helfenden Heiligen zu festigen; die Fragen der<br />

geschichtlichen Wirklichkeit sowie Orts- und Zeitangaben spielten dabei keine<br />

vorrangige Rolle.<br />

Leserinnen und Leser, die soeben der Gedanke an die „Historia“ durchblitzte, liegen<br />

nicht falsch, die „Legenda aurea“ und die „Historia“ gehören zum fortlaufenden Strang<br />

einer Art Belehrungsliteratur.<br />

S<strong>im</strong>on Magus hatte sich zeitweise „<strong>Faust</strong>us“ genannt, folglich hätte sich <strong>Faust</strong> in<br />

„mythischer Wiederkehr“ nicht nur als „<strong>Faust</strong>us junior“ sondern auch als „zweiter der<br />

Magie“ bezeichnet.<br />

Der reale S<strong>im</strong>on wird zu einer Gemeinde von Gnostikern gehört haben, die alte Riten<br />

mit christlichen Elementen angereichert hatten; sie waren die ersten Abweichler.<br />

Der S<strong>im</strong>on Magus der „Recognitiones“ stammte dagegen aus Samaria, hatte in<br />

Ägypten Magie gelernt, konnte durch Mauern und durch Feuer gehen, sich unsichtbar<br />

machen, auch das Goldmachen, das Beleben von Statuen und das Befragen von Toten<br />

beherrschte er. Seine Anhänger verehrten ihn als Gott, sie errichteten ihm zu Ehren<br />

Standbilder.<br />

In Rom unterrichtete er <strong>Faust</strong>us und <strong>Faust</strong>inus, die Söhne <strong>des</strong> Kaisers Tiberius<br />

Claudius. Schließlich ließ S<strong>im</strong>on Magus sich taufen und suchte von Petrus die Gabe<br />

<strong>des</strong> Heiligen Geistes um Geld zu erwerben.<br />

Mit S<strong>im</strong>onie wird bis heute der Kauf oder Verkauf geistlicher Ämter bezeichnet.<br />

78


Es kam zum Bruch mit Petrus, S<strong>im</strong>on Magus setzte die abenteuerlichen Beweise<br />

seiner Omnipotenz fort – begleitet von einem schwarzen Hund sowie einer prallen<br />

Helena, die er <strong>im</strong> Freudenhaus erstanden hat, um mit ihr an seiner Seite Petrus zu<br />

ärgern.<br />

Es folgt der krönende Abschluss seiner lästerlichen Dreistigkeiten: Der erste Flug über<br />

das Marsfeld! Das Publikum drängt sich – vor den Augen <strong>des</strong> Petrus und <strong>des</strong> Kaisers<br />

Nero stürzt S<strong>im</strong>on Magus in den Tod.<br />

„Vater der Häresie“ nannten ihn die Kirchenschriftsteller Irenäus und Eusebius; S<strong>im</strong>on<br />

Magus ist also der „Urketzer“, wobei der Begriff „Ketzer“ erst um 1170 entstand.<br />

Wenn <strong>Faust</strong> sich in die Nachfolge <strong>des</strong> S<strong>im</strong>on Magus stellt, dann sprengt es den<br />

Rahmen seiner üblichen Unbescheidenheiten; <strong>Faust</strong> legte sich alle phantastischen<br />

Geschichten, die sich mit dem Namen S<strong>im</strong>on Magus verbanden, als Mantel um die<br />

Schultern. S<strong>im</strong>on Magus könnte auch sein Idol gewesen sein; der angekündigte Flug<br />

über Venedig, den Manlius notierte, scheint es zu bestätigen. Es könnte sogar<br />

bedeuten, dass <strong>Faust</strong> die christlichen Glaubensvorstellungen bewusst ablehnte,<br />

statt<strong>des</strong>sen sich der Magie zugehörig fühlte.<br />

Der „Urketzer“ S<strong>im</strong>on Magus wäre damit gleichsam auch der „Urfaust“.<br />

Über die Titel und Sprüche, die Trithemius notierte, <strong>Faust</strong>s Verhältnis zu magischmediumistischen<br />

Welten auszuleuchten, es reizt, allerdings hat sich der Mann aus<br />

Knittlingen die Tore zwischen Wahrheit, Werbung und Selbstdarstellung stets weit offen<br />

gehalten.<br />

*<br />

„…wer aber weissagt, der erbaut die Gemeinde.“ (1. Korinther 14,4)<br />

Praecognition, Hellsehen oder Prophetie sind Begriffe deren inhaltliche Bedeutungen<br />

miteinander verschw<strong>im</strong>men. In der nachfolgenden Darstellung sei mit dem Begriff<br />

Prophetie die fortlaufende Schau einer einzelnen Person, also eines Propheten, auf<br />

große Welterereignisse verstanden.<br />

Mit „Magister Georg Sabellicus“ stellte sich <strong>Faust</strong> in die Nachfolge der Sabiner, sie<br />

wurden der Kunst der Weissagungen gerühmt. Als Prophet stellte er sich Prior Leib<br />

vor und als einer der Künste <strong>Faust</strong>s wird <strong>im</strong> „Index Sanitatis“ von „Visiones <strong>im</strong>m<br />

Christal“ berichtet. Das sind drei Quellentexte, die uns erzählen, <strong>Faust</strong> hätte sich der<br />

Kunst der Prophetie, der Visionen gerühmt.<br />

Immerhin, möchte man schon beinahe sagen, doch selbst wenn es durch weitere<br />

Quellen bestätigt würde, aus <strong>Faust</strong> würde dennoch kein Prophet. Schlicht <strong>des</strong>halb,<br />

weil die Wahrscheinlichkeit gegen ihn spricht. Der Hinweis <strong>im</strong> Manlius-Text: „vnd sagte<br />

viel verborgen ding“, ändert nichts daran.<br />

Propheten sind zu allererst in der Bibel zu Hause.<br />

Bis heute gibt es keinen einzigen Fall von Zukunftsschau, und erst recht nicht das<br />

Leben eines Propheten, das wissenschaftlich dokumentiert wurde, obgleich seit 1890<br />

seriöse Wissenschaftler parapsychologische Phänomene erforschen.<br />

Dennoch treten <strong>im</strong>mer wieder Personen ins Rampenlicht, die sich ihrer Visionen<br />

rühmen und auch Gehör finden. Dass sie Gehör finden, setzt allerdings voraus, dass<br />

ein deutlicher Prozentsatz der Bevölkerung zutiefst verunsichert ist. Ein Prophet zur<br />

Unzeit ist ein „Depp“, st<strong>im</strong>mt dagegen sein T<strong>im</strong>ing, fressen ihm die Menschen aus der<br />

Hand.<br />

Die tiefe Verunsicherung in den Jahrzehnten vor dem großen Bauernkrieg, vor Luther,<br />

die irrationalen Auswüchse jener Zeit – <strong>Faust</strong>s dreiste Reden sind ein Teil davon, das<br />

alles ist uns näher, als wir annehmen. Es schläft unter der Oberfläche unserer<br />

vermeintlich aufgeklärten Gegenwart.<br />

Die nachfolgenden Seiten beziehen sich nicht auf das späte Mittelalter, sondern auf<br />

die zweite Hälfte <strong>des</strong> letzten Jahrhunderts; sie dürfen nachdenklich machen.<br />

Anfang der siebziger Jahre machte in der BRD ein Seher, ein gewisser Hanussen, von<br />

sich reden. Er stellte sich in die Nachfolge jenes Hanussen, der am 25. März 1933 von<br />

79


SA-Leuten ermordet wurde. Später, nach 1945, wurde gemutmaßt, jener Hanussen<br />

musste sterben, weil er den Untergang <strong>des</strong> Dritten Reiches prophezeit hätte. Richtig<br />

ist, Hanussen verkehrte in homosexuellen SA-Kreisen, von daher hatte er Kenntnis<br />

über den geplanten Brand <strong>im</strong> Reichstag, dieses Wissen hatte er zu einer Vision<br />

umgemünzt; sein To<strong>des</strong>urteil.<br />

Sein selbsternannter Nachfolger sah 1972 den Anschlag auf die Sommer-Olympiade<br />

in München voraus. 1975 brachte er ein Buch unter die Leute. Im Teil 4 <strong>des</strong> Buches<br />

finden sich unter „Hanussen-Prognosen“ die kommenden Ereignisse bis zum Jahr<br />

2000:<br />

„Köln und Düsseldorf werden eine neue Stadt unter neuem Namen bilden. Diese Stadt<br />

wird die künftige Hauptstadt Deutschlands, in dieser Stadt wird auch die erste<br />

Untergrundstadt gebaut. Berlin wird als Hauptstadt keine Bedeutung mehr erlangen.<br />

Eine Währungsreform wird Sparer und Aktienbesitzer um ihr Vermögen bringen.<br />

Danach wird die D-Mark wieder stark sein, bevor sie durch eine europäische Währung<br />

abgelöst wird.<br />

Es wird weniger Automobile geben; nur noch Menschen, die unbedingt ein Automobil<br />

brauchen, werden auch eine Fahrberechtigung erhalten.<br />

Das Fehlen einer einheitlichen Bun<strong>des</strong>polizei wird sich schl<strong>im</strong>m bemerkbar machen.<br />

Banden, wie die Baader-Meinhof, wird man nicht ausmerzen. Die Mitglieder dieser<br />

Verbrechergruppe werden sogar aus dem Gefängnis befreit und zu neuen<br />

Terroranschlägen und Entführungen ansetzen.<br />

Ich sehe das ehrwürdige Bun<strong>des</strong>haus in Bonn gesprengt. Anarchisten werden mit<br />

einem Flugzeug die Regierungsgebäude überfliegen und Bomben abwerfen.<br />

Österreich wird wirtschaftlich stabil bleiben. Diese Entwicklung ist schon dadurch<br />

möglich, weil die Regierung das Volk <strong>im</strong>mer fest <strong>im</strong> Griff hat und keine<br />

Demonstrationen das friedliche Wirtschaftsbild trüben.<br />

Im nächsten Jahrzehnt wird Venedig völlig geräumt werden müssen. Viele Häuser<br />

werden bis dahin schon versunken oder eingestürzt sein.<br />

Die Kommunisten werden in Italien <strong>im</strong>mer mehr Macht gewinnen. Die Gastarbeiter<br />

wird man mit allen erdenklichen Maßnahmen aus dem Ausland zurückholen. Die<br />

größte Gefahr geht jedoch von der Schwarzen Magie aus. In den Satanskirchen wird<br />

der Mensch alles tun, was ihm verboten ist, man wird in Särgen liegen und Orgien<br />

feiern; dafür werden eigene Gebiete geschaffen … den Urlaub wird man in Italien<br />

verbringen, um sich auspeitschen zu lassen. Nach Papst Paul II. kommt ein Papst, der<br />

alle Dogmen öffnen wird. Die Mafia wird den Vatikan erpressen, in diesem<br />

Zusammenhang wird es in Rom zu einem großen Brand kommen.<br />

Ich sehe den Eiffelturm von Ereignissen bedroht … sicher aber wird es zu einer<br />

Abtragung kommen oder gar zum Einsturz.<br />

Prinz Charles wird der letzte englische König sein. Nordirland wird ein eigenständiger<br />

Staat.<br />

Japan wird von einer ungeheuren Erdbebenkatastrophe he<strong>im</strong>gesucht; große Teile <strong>des</strong><br />

Lan<strong>des</strong> werden <strong>im</strong> Meer versinken.<br />

An der Grenze zu Kanada werden in den USA die ersten außerplanetarischen Wesen<br />

landen. Diese werden etwa zwei Meter größer als der Mensch sein; das Zusammentreffen<br />

wird alle Welt über den Bildschirm miterleben.“<br />

Soweit zu den Prognosen jenes Hanussen, in Auszügen sinngemäß wiedergegeben<br />

aus „Hanussen – Mach mehr aus deinem Leben“<br />

„Herstellung bei: Fink & Partner, Wernau / Franz Spiegel Buch, Ulm“<br />

Der Mann, der die „Zukunft schaute“, hat freilich auch einen Ehren-Treffer gelandet:<br />

„Ein großer Brand, der in Wien wütet, wird ein historisches Gebäude einäschern und<br />

so zu einem unschätzbaren Verlust führen.“<br />

Tatsächlich brannte ein Flügel der Wiener Hofburg aus. Wien hat einen großen<br />

Bestand an historischen Gebäuden, mit einem derartigen Tipp liegt man in etwa <strong>im</strong>mer<br />

80


ichtig. Seinen Visionen liegen also die Themen jener Jahre sowie Wahrscheinlichkeitssannahmen<br />

zu Grunde.<br />

Hanussen war auch ein kleiner Fernsehstar. In seinem Erfolg spiegelt sich die<br />

seinerzeitige tiefe Verstörung der konservativen Bevölkerung wieder:<br />

Willy Brandt amtierte als Bun<strong>des</strong>kanzler, es gab Drogen, Hippies und die RAF.<br />

Hanussen bestätigte diese Menschen in ihrer Unheilserwartung, gleichzeitig tröstete er<br />

sie: „Ich sehe, dass die beiden Parteien SPD und FDP <strong>im</strong>mer mehr an Einfluss<br />

verlieren.“ Auch mit dieser Vision konnte er wenig falsch machen, Regierungsparteien<br />

wechseln gelegentlich.<br />

Wie kam es, dass Hanussen behaupten konnte, er hätte den Anschlag auf die<br />

Sommer-Olympiade in München von 1972 vorhergesagt? Dazu aus seinem Buch:<br />

„Seine Kraft, Dinge <strong>im</strong> Voraus zu sehen, wird in diesen Stunden zum Fluch. Denn wie<br />

kann Hanussen der Welt erklären, dass sich dieses Massaker einstellen wird…<br />

Hanussen lässt in den nächsten Tagen nichts unversucht. Italienische und<br />

französische Zeitungen berichten über seine düsteren Prognosen. Doch niemand will<br />

diese Erklärung richtig ernst nehmen, die Angst vor den Konsequenzen ist zu groß.<br />

Schließlich berichtet eine seriöse Düsseldorfer Zeitschrift über Hanussens<br />

Warnungen: „Extreme politische Gruppen und einzelne Gangster lösen mit<br />

verbrecherischen Anschlägen Polizeiaktionen aus. Es wird zahlreiche Gewaltakte<br />

geben. In dieser turbulenten Zeit kommt es zu einer spektakulären Entführung. Die<br />

Polizei wäre gut beraten, alle nur möglichen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.“ Doch<br />

die Polizei und die Verantwortlichen unternehmen nichts…“<br />

Kurz, Hanussen kann keine Zeitung mit Namen und Ausgabedatum nennen und somit<br />

belegen, dass er eine Vorwarnung gab. Er behauptet es <strong>im</strong> Nachhinein.<br />

Die Behauptung allein reichte freilich nicht, es brauchte eine breite Bevölkerungsschicht,<br />

die an einem Propheten Halt suchte; der Verstand war hinter das Bedürfnis zu<br />

glauben zurück getreten.<br />

Boulevardzeitungen wollen interessant sein, Hanussen betreute die einschlägigen<br />

Rubriken: „Hanussen tippt Lottozahlen“, „Ihr persönliches Hanussen-Horoskop!“<br />

Und sie brauchen kleine nette Artikel:<br />

„Europas größte Tageszeitung, Auflage über vier Millionen Exemplare (in jener Zeit), in<br />

einem Test über Hanussen: „Schweigen auch Sie“ beschwört er das Mädchen Rita,<br />

die er noch nie zuvor gesehen hat. Die Suggestivkraft <strong>des</strong> Hellsehers lässt sie<br />

verstummen. Hanussen schaut ihr in die Augen … „Sie gehen auf den Strich“, sagt er<br />

schließlich. „Und Ihr Freund profitiert davon… 1972 sind Sie geschieden worden. Sie<br />

hatten einen brutalen Mann … er hat Sie geschlagen. Mein Gott, Sie hatten ja schon<br />

Mordgedanken!“ Das Mädchen Rita starrt ihn an: „Es st<strong>im</strong>mt alles…“ flüstert sie.“<br />

Hanussen war noch kein Star, als Jeane Dixon längst den Beweis geliefert hatte, dass<br />

der gesammelte Unfug geradezu beliebig potenzierbar ist.<br />

Es wurde bereits festgestellt, was <strong>Faust</strong> laut Trithemius-Brief der Welt ins Gesicht<br />

schleuderte – auch wenn es keine Prophezeiungen waren, es macht Kopfschütteln.<br />

Was Jeane Dixon <strong>im</strong> 20. Jahrhundert der Welt überkippte, es macht perplex.<br />

Ihr „Leben und Prophezeiungen“ wurde 1969 <strong>im</strong> Turm-Verlag verlegt. Obgleich sie<br />

sich als „Botschafterin der Zukunft“ und „nichts als eine Mittlerin“ bezeichnet, sich<br />

dabei auf „Visionen, telepathische Übermittlungen oder Vorahnungen“ beruft, lässt das<br />

Buch bisweilen darüber <strong>im</strong> Unklaren, ob sie eine Befürchtung äußert oder ob es sich<br />

dabei um eine Vision handelt.<br />

Einige ihrer Prophezeiungen, entnommen aus „Leben und Prophezeiungen“:<br />

„Sowohl in Korea als auch in Vietnam sehe ich Tod und Zerstörung sich zur<br />

mörderischen Ekstase fortsteigern. Solange die Sowjets die Einverleibung Westdeutschlands<br />

nicht abgeschlossen haben, werden sie die USA in Südostasien zu<br />

beschäftigen wissen; doch auch in Peru und in den lateinamerikanischen Ländern,<br />

damit die USA ihre Truppen aus Europa abziehen.<br />

81


Die USA werden sich zur Abrüstung verleiten lassen, und während man glaubt, sich<br />

einem Weltfrieden zu nähern, werden 1999 Tod und Zerstörung herrschen.<br />

Fidel Castro wird demnächst rasch an Macht verlieren, er wird keines natürlichen<br />

To<strong>des</strong> sterben. Cuba wird dennoch kommunistisch bleiben, es dient heute schon als<br />

Trainingsbasis internationaler Guerillas; Ausbilder sind Chinesen, unter sowjetischem<br />

Kommando. Cuba wird zum Zankapfel zwischen China und der UdSSR.<br />

Ich sehe in den USA Lebensmittelknappheit voraus.<br />

Mitte der achtziger Jahre sehe ich einen Kometeneinschlag, die größte Katastrophe<br />

dieses Jahrhunderts. Eine detaillierte Warnung werde ich noch ergehen lassen.<br />

In der katholischen Kirche werden <strong>im</strong>mer mehr Priester und Würdenträger heiraten.<br />

Ich empfange harmonische Strömungen aus dem Innersten der sowjetischen<br />

Hierarchie, sie deuten nicht darauf hin, dass die Führung der Sowjets schwach ist und<br />

sich in Aufruhr befindet, sondern auf aktive Führung. Das Ziel: die Aufsplitterung von<br />

Führung und Volk der USA.<br />

In welchen Punkten Präsident Nixon weiterhin entschlossen bleibt, ist mir bereits<br />

bekannt: In Vietnam, <strong>im</strong> Ost-West-Handel, bei den Studentenunruhen.<br />

Meine Wahrnehmung sagt mir, dass Südvietnam ausreichend mit Waffen und<br />

Ausbildern versorgt werden muss, dann wird es einen siegreichen Kampf gegen die<br />

Kommunisten führen.<br />

Verteidigungsminister Laird wird sehr bald bekannt geben, dass einer unserer<br />

Aufklärer von Nord-Koreanern abgeschossen worden ist. Meine Ahnung sagt mir, dass<br />

der Abschuss von einem Kreuzer erfolgte, nachdem der Aufklärer die Russen bei<br />

Versuchen mit elektronischen Unterwasserwaffen störte.<br />

Der Goldpreis wird in die Höhe gehen, der Dollarstand verunsichert werden.<br />

Der Präsident sowie alle Gouverneure der 50 Staaten werden entschlossen gegen<br />

Professoren auftreten, die Studenten zu Unruhen aufhetzen.<br />

Meine Schwingungen sagen mir, dass die USA keinen ausgewogenen Handel treiben.<br />

Waffenmaterial der USA wird in die Hände der Kommunisten gelenkt werden.<br />

Amerika wird einen beträchtlichen Kapitalzufluss haben. Er dient zur Finanzierung von<br />

Studentenunruhen und Rassenaufständen.<br />

Die politischen Machenschaften <strong>des</strong> Kennedy-Clans sind meinem Gefühl nach aktiver<br />

als zuvor. Senator Kennedy greift in seinem Rennen um die Präsidentschaft „seiner“<br />

richtigen Zeit vor. Wer „seinem“ richtigen Zeitpunkt entgegenarbeitet, handelt unklug.<br />

Nordirland: Bernadette Devlin steht vor einer rasanten Zukunft, sie wird großen<br />

Einfluss gewinnen, auch gewiss mehr als eine Ehe eingehen. In Irland wird bald<br />

Frieden herrschen.<br />

Ich sehe Japan sich zu einem gigantischen, wirtschaftlichem Existenzkampf mit dem<br />

Westen rüsten. Daraus werden schwere Konflikte entstehen, in den USA werden die<br />

Strukturen von Gewerkschaften und Arbeiterbewegungen betroffen sein.<br />

Zwischen Israel und den Arabern sehe ich keinen Frieden, erst nach dem großen<br />

Erdbeben von Jerusalem wird Frieden herrschen.<br />

Im Jahr 2000 sehe ich chinesische und mongolische Truppen <strong>im</strong> mittleren Osten. Am<br />

Jordan toben heftige Kämpfe. Gott selbst aber stellt sich auf die Seite Israels, die<br />

östlichen Gegner werden große Verluste erleiden. Anschließend werden die Juden<br />

Christus als Sohn Gottes anerkennen.<br />

In den USA wird es weiterhin Rassenkrawalle geben, sie werden sich über die<br />

gesamte Erde ausbreiten. Unruhestifter und Negersippen (die Bezeichnung „Neger“<br />

wurde damals nicht als „rassistisch“ betrachtet), durch den Anschlag auf Martin Luther<br />

King aufgewiegelt, werden noch mehr Hader stiften und auch die Sowjets instruieren<br />

weiterhin die Unruhestifter.<br />

Ich sehe, dass eine unserer einflussreichsten nationalen Einrichtungen als Tarnobjekt<br />

für die Kriegsführung auf chemischer und bakteriologischer Basis dient und man<br />

Exper<strong>im</strong>ente in den indischen und russischen Grenzgebieten durchführt.<br />

Ich sehe innerhalb von 15 Jahren einen dramatischen Anstieg der Steuerlasten, man<br />

wird sich wie <strong>im</strong> Mittelalter vorkommen.<br />

Noch vor 1990 wird eine Frau als Präsidentin gewählt werden.“<br />

82


Mrs. Jeane Dixon sah in einer „Weltvision“ auch die Geburt <strong>des</strong> Antichristen. „… der<br />

sich als Friedensfürst…ausgibt und behauptet, er sei Christus.“ Sein Geburtsdatum:<br />

14. Juli 1952<br />

Noch größeres wurde ihr zuteil, als bei einem Empfang in der belgischen Botschaft<br />

eine Taube sich auf ihrer Hand niederließ. Christus sprach zu ihr. John Fetzer, „ein<br />

tiefgründiger Denker“, Präsident <strong>des</strong> Detroit-Tiger-Baseballclubs und Vorsitzender<br />

einer Reihe von Radio- und Fernsehstationen in Michigan und Nebraska konnte ihr<br />

später bestätigen, dass es sich um eine „Manifestation Gottes“ gehandelt habe.<br />

Jeane Dixon, die sich rühmte, die Morde an John F. Kennedy, Dr. Martin Luther King<br />

und Robert Kennedy „gesehen“ zu haben, die Teilung Indiens <strong>im</strong> Jahre 1947, den<br />

Sturz Chruschtschows und ungezählt anderes mehr, war bestenfalls eine Grande<br />

Dame de Duperie.<br />

„Leben und Prophezeiungen“ enthält viele, verschlungen formulierte Geschichtchen<br />

von Visionen und nachfolgenden Versuchen, die Betroffenen zu warnen. Freundinnen<br />

und Bekannte werden namentlich als Zeugen genannt, doch statt ei<strong>des</strong>stattlicher<br />

Erklärungen liest man:<br />

„Noch heute ist ein Mann Mitglied <strong>des</strong> Weißen Hauses, der sich hundertprozentig für<br />

die vollkommene Richtigkeit … verbürgt.“<br />

Die Vorhersage <strong>des</strong> Preisanstiegs <strong>des</strong> Gol<strong>des</strong> (1979) sowie die Wirtschaftskraft<br />

Japans ab den achtziger Jahren waren zwar richtig, doch sie resultierten wohl aus<br />

dem Umgang mit Wirtschaftsführern und Militärs. Mrs. Dixon war Immobilienmaklerin<br />

in Washington, sie gehörte zur feinen Gesellschaft. Bei hohen Rüstungsausgaben und<br />

unausgeglichene Handelsbilanzen redete man über Inflation und Gold, und mit<br />

Wirtschaftsexperten diskutierte man über die Vorgänge in Japan.<br />

Weder Hanussen noch Dixon nahmen an wissenschaftlichen Testreihen teil, obwohl<br />

gerade in jener Zeit sich viele Wissenschaftler mit parapsychologischen Phänomenen<br />

befassten; 1969 wurde die Parapsychological Association als wissenschaftliche<br />

Vereinigung in den USA anerkannt.<br />

Desweiteren kann festgestellt werden, Hanussen und Dixon haben ihre Visionen<br />

bezüglich bereits eingetretener Ereignisse <strong>im</strong> Nachhinein behauptet, die in Buchform<br />

niedergelegten Visionen künftiger Ereignisse sind dagegen nicht eingetreten.<br />

Sicherlich, es mag Propheten geben, man denke an den „Mühlhiasl“ <strong>im</strong> Bayerischen<br />

Wald um 1800 oder die „Gret“ von Ahaus, eine Magd, sie sah die Einäscherung von<br />

Ahaus in der Lüneburger Heide <strong>im</strong> Jahr 1933 voraus, doch diese Propheten sind<br />

derart selten, es gibt sie gleichsam nicht.<br />

<strong>Faust</strong>, ich finde ihn konkurrenzlos sympathisch, dass er jedoch unter den Sternen der<br />

Gabe der Prophetie geboren wurde, kann ich nicht glauben.<br />

Und was seine durch Begardi überlieferte Kunst der „Visiones <strong>im</strong>m Christal“ angeht,<br />

Jeane Dixon hatte auch so ein Spielzeug – aus Brüssel, es soll – wie auch anders,<br />

einst einem Adeligen gehört haben. Der Ausdruck „Visiones <strong>im</strong>m Christal“ verrät nicht,<br />

ob <strong>Faust</strong> bei seiner „Zukunftsschau“ mit einem Bergkristall oder einer Glaskugel<br />

hantierte. Die größere Faszination übte damals wohl eine Glaskugel aus. Eine Kugel<br />

aus reinem Glas ohne Verunreinigen und ohne Luftblasen herzustellen, gelang selten.<br />

Um das Gelingen zu fördern, wurde bei der Produktion die Stellung der Gestirne<br />

beachtet, es wurden helfende Geister zitiert. Allein durch diese begleitenden<br />

Maßnahmen war die Kugel entprofanisiert, „magisch“ aufgeladen, gleichsam geheiligt.<br />

Die augenscheinliche Tatsache, dass die Kugel „rein“ aus Glas bestand, ließ auch das<br />

Publikum annehmen, dass vielfältig wirkende, gehe<strong>im</strong>nisvolle Kräfte in ihr wohnten. So<br />

mancher „Kristallenseher“ mag dann auch selbst geglaubt haben, dass er damit etwas<br />

zustande brächte.<br />

*<br />

83


„Astrologie, die große Hure“<br />

<strong>Faust</strong> war auch als Astrologe tätig, und er muss als solcher einen guten Ruf gehabt<br />

haben. Ohne an dieser Stelle die einzelnen Passagen abzuklopfen, auf den ersten<br />

Blick erzählen die Quellentexte nichts Nachteiliges über <strong>Faust</strong>s astrologische<br />

Kenntnisse.<br />

Johannes Virdung, der Hofastrologe von Heidelberg, erwartet ihn dringend. Der Fürstbischof<br />

Georg III. schenkt ihm zehn Gulden und <strong>Faust</strong> revanchiert sich mit einer<br />

Nativität. In Rebdorf nennt <strong>Faust</strong> eine Planetenkonstellation. Und Camerarius platzt<br />

schier vor Ungeduld, er will endlich wissen, was <strong>Faust</strong> über den Krieg <strong>des</strong> Kaisers in<br />

den Sternen liest. Voll <strong>des</strong> Lobs für <strong>Faust</strong> ist Philipp von Hutten, als er seinem Bruder<br />

Moritz von Hutten schreibt: „der Philosophus <strong>Faust</strong>us schier troffen hat…“<br />

Andererseits wissen wir, die Astrologie ist keine konkrete Wissenschaft.<br />

<strong>Faust</strong> und die Astrologie – wie konnte er in einem Metier brillieren, wo in der Regel nur<br />

die Scherben ungezählter Fehlprognosen glitzern?<br />

Zunächst einige allgemeine Aussagen über die Astrologie.<br />

Die Macht der Astrologie gründet sich zuvorderst auf das Verlangen nach<br />

transzendentaler Geborgenheit. Diese Sehnsucht ist die Wurzel der so genannten<br />

Makrokosmos-Mikrokosmos-Analogie, in die sich der Mensch eingebettet sehen will.<br />

Es bereitet ihm kein Problem, mit diesen h<strong>im</strong>mlischen Mächten einen Bund zu<br />

flechten, ihnen Entscheidungen zu überlassen.<br />

Astrologie war die erste geistige Form der Aneignung der Welt mittels eines<br />

Regelwerks von Naturgesetzen. Die Astrologie beflügelte die Astronomie, diese<br />

ordnete erstmalig die Welt; Hochwasser, Saattermine, Festtage wurden zu Terminen<br />

<strong>im</strong> Jahreskalender. Hermann Wenzel hat den minoischen „Diskos von Phaistos“ als<br />

Planetenkalender entziffert, er hat <strong>des</strong> weiteren nachgewiesen, Runeninschriften<br />

verbergen hinter der sichtbaren Information die Umlaufzeiten verschiedener Gestirne.<br />

Die Astrologie ist nicht allein das Fundament der Astronomie sondern auch der<br />

Alchemie, aus letzterer gingen wiederum die Chemie und die Pharmazie hervor.<br />

Wie man auch <strong>im</strong>mer zur Astrologie steht, als Bestandteil <strong>im</strong> Leben vieler Menschen<br />

ist sie ein bedeutsames kulturelles Phänomen; ob Büfetthelfer oder Börsianer, sie alle<br />

lassen sich gelegentlich von astrologischen Befunden leiten.<br />

Die Astrologin E. Tessier stand dem französischen Präsidenten Francois Mitterrand<br />

zur Seite – Kunde und Ratgeberin, eine Beziehung, sie könnte den Quellentexten<br />

entnommen sein.<br />

Um <strong>Faust</strong> auf die Spur zu kommen, stellt sich die Frage: „Was kann die Astrologie<br />

leisten?“<br />

Eine Frage, die sich 1949 auch der französische Psychologe Michel Gauquelin stellte.<br />

Was er zu Tage förderte, führte zu hässlichen Auseinandersetzungen mit Vertretern<br />

der konkreten Wissenschaften, er erfuhr Missachtung und Kampagnen. Wie einst<br />

Galilei und Mendel konnte auch er seine Beobachtungen nicht mit den bekannten<br />

Naturgesetzen erklären. 1975 unterzeichneten 192 „führende Wissenschaftler“,<br />

darunter 19 Nobelpreisträger, eine Grundsatzerklärung gegen die Astrologie, darin<br />

heißt es: „…wissen wir, wie unendlich klein die Gravitationseffekte sind…einfach ein<br />

Irrtum zu glauben, dass Kräfte ausgehen…“<br />

Professor Luc de Marrè, er war 1972 mit der Arbeit <strong>des</strong> Belgischen Para-Komitees in<br />

Bezug auf den Gauquelin´schen „Mars-Effekt“ beschäftigt, sprang Gauquelin zur Seite:<br />

„Tatsächlich sah sich das Komitee nicht <strong>im</strong>stande, irgendeinen Fehler oder Irrtum in<br />

Herrn Gauquelins Berechnungen oder den von ihm aufgestellten Resultaten zu finden<br />

…“ In der Frühjahrsnummer <strong>des</strong> „Skeptical Inquirer“ von 1983 entschuldigten sich<br />

endlich einige Gegner, Paul Kurtz, George Abell und Marvin Zelen: „Gauquelin hat in<br />

korrekter Art und Weise die Anwesenheit <strong>des</strong> Planeten Mars bei der Geburt berechnet<br />

und demographische und astronomische Faktoren in Betracht gezogen.“<br />

Ausgehend von der Überlegung, dass planetarische Einflüsse bei bekannten Persönlichkeiten<br />

stärker ausgeprägt sein müssten, begann Gauquelin seine Untersuchungen<br />

mit den Daten von 576 französischen Ärzten, die von 1820 bis 1939 in die Akademie<br />

84


der Medizin aufgenommen worden waren. Die Voraussetzung für seine Arbeit hatte<br />

die Französische Revolution geschaffen, seit 1789 ist die Angabe der Geburtsstunde<br />

ein Bestandteil der Geburtsurkunde in Frankreich.<br />

Später untersuchte er 15000 weltweit herausragende Menschen quer durch alle<br />

Berufe; ein Datenpaket, das er nur mit Hilfe seiner Frau Francoise schultern konnte.<br />

Dazu Hans Eyseneck, Professor der Psychologie an der Universität London: „es gibt<br />

wenige Datensammlungen in der Psychologie, die sich mit diesen Beobachtungen<br />

messen können.“<br />

Noch mal später wuchtete Gauquelin 30 000 Geburtsdaten; da gab es bereits den PC.<br />

Das Hauptergebnis seiner Arbeit: Die bei der Geburt jeweils dominierenden<br />

H<strong>im</strong>melskörper und zwar MOND, VENUS, MARS, JUPITER und SATURN, best<strong>im</strong>men<br />

die Charakter- und Wesenszüge der Menschen quer über alle Kontinente.<br />

Einflüsse von Uranus, Neptun, Pluto und Merkur könne er dagegen nicht nachweisen;<br />

diese seien wohl zu weit entfernt.<br />

1964 bekam er Einsicht in Akten der Psychiatrie; 6400 Datenblätter von Geisteskranken,<br />

Schizophrenen, verschiedenen Psychotikern. Resultat: „Der Planeteneffekt,<br />

bei Erfolgreichen entdeckt, lässt sich bei Abnormen nicht nachweisen.“<br />

Des weiteren prüfte Gauquelin die Daten von Selbstmördern, er konnte keinen planetarischen<br />

Zusammenhang zu Art, Zeitpunkt und der Tatsache <strong>des</strong> Suizids feststellen.<br />

„Meine Arbeit hat ihr fundamentales Postulat zugunsten der Astrologie soweit<br />

demonstriert – mit der Rolle, die astrale Einflüsse bei der Geburt spielen. Auf der Basis<br />

der Geburtsposition eines Planeten in Relation zum Horizont und Meridian ist es<br />

möglich, eine Prognose <strong>des</strong> zukünftigen Temperaments und Benehmen eines Neugeborenen<br />

zu erstellen. Mehr zu beweisen – was die Astrologen erwarteten – war mir<br />

nicht möglich.<br />

Ich glaube, dass planetarische Effekte <strong>im</strong>mer in Zusammenhang mit Vererbung,<br />

Bildung, Erziehung, sozialer Situation und Zufall be<strong>im</strong> Werden eines Individuums<br />

betrachtet werden müssen. Ich habe nicht die Horoskope bestätigt, lediglich den Effekt<br />

einiger Planeten.“<br />

Und Anthony Standen kommentierte: „Hat Gauquelin wirklich die Astrologie bewiesen?<br />

Wenn Sie jene Astrologie meinen, die in den USA und auch sonst überall<br />

vorherrschend ist, dann hat er sie vollständig widerlegt. Wenn sie darunter aber „jeden<br />

Effekt“ der Planeten verstehen, dann ist Gauquelins Arbeit sehr aussagekräftig.“<br />

Planeten färben das Temperament <strong>des</strong> Menschen; die Menschheit darf sich geehrt<br />

fühlen. Planeten best<strong>im</strong>men jedoch nicht das Schicksal, dieses best<strong>im</strong>mt der Mensch<br />

selbst – entsprechend den Umständen, in die sein Leben geworfen ist.<br />

Nur zu gern hätte das Ehepaar Gauquelin die Charakterfärbung von Menschen<br />

geprüft, die unter den extremen astrologischen Bedingungen einer Stadt wie<br />

Murmansk geboren werden.<br />

Davon abgesehen, das Ehepaar Gauquelin stellte <strong>des</strong> weiteren auch einen<br />

planetarischen Vererbungseffekt fest, jedoch auch, dass der Vererbungseffekt durch<br />

Zangengeburt gelöscht wird; es stelle sich die Frage, ob in einer Zeit der medizinisch<br />

eingeleiteten Geburten das Erstellen einer Prognose bei Menschen, die nach 1950<br />

geboren wurden, überhaupt noch Sinn mache.<br />

Des weiteren wiesen sie nach, dass die astrologischen Interpretationen, wie sie<br />

gemäß Margret Hone und Paul Choisnard praktiziert und gelehrt wurden, in Teilen<br />

falsch sind. Beide messen den Planeten, die gerade dabei sind, den Meridian oder<br />

den Horizont zu überqueren, den stärksten Einfluss zu. Die Statistiken der Gauquelins<br />

belegen etwas vollkommen anderes.<br />

Nicht weniger brisant waren die Erkenntnisse, die sich gleichsam nebenbei einstellten.<br />

Dr. Petiot war ein berühmter Kr<strong>im</strong>ineller, er hatte mehr als 50 Menschen ermordet.<br />

Gauquelin gab die Geburtsdaten an einen Astrologen, weihte ihn aber nicht in die<br />

Identität <strong>des</strong> Dr. Petiot ein. Aus dem Horoskop fertigte Gauquelin eine psychologische<br />

85


Analyse und ließ ein Inserat platzieren: „Nutzen Sie die Gelegenheit eines einmaligen<br />

Exper<strong>im</strong>ents. Schicken Sie Namen, Adresse, Geburtsort und -zeit an: Astral<br />

Electronic.“<br />

150 Interessenten schickte er eben diese eine psychologische Analyse als Antwort.<br />

90% der „Klienten“ schrieben ihm enthusiastische Briefe, bei 80% wurde das „günstige<br />

Urteil“ von Freunden und Bekannten geteilt. Die Psychologie lehrt, dass die Menschen<br />

dazu tendieren, sich <strong>im</strong> Horoskop wie in einem Spiegel zu sehen.<br />

Und bei der Arbeit mit astrologischen Fragebögen stellte sich heraus: Menschen<br />

können sich selbst nicht einschätzen, der ersehnte Traumberuf hat keine planetarische<br />

Entsprechung. Und Personen, die in der Astrologie relativ beschlagen sind,<br />

identifizieren sich mit ihren Sternzeichen, ihr Wunschdenken dominiert. Unbewusst<br />

beeinflussen sie ihre Angaben in einem derartigen Maße, die Fragebögen sind<br />

wertlos.<br />

Von daher stellt sich die Frage, ob sich jemand selbst ein Horoskop stellen kann.<br />

Gauquelin hat bestätigt, was schon die Griechen wussten: „5000 Männer zogen in die<br />

Schlacht, ein jeder unter einem anderen Stern geboren, sie alle starben an einem<br />

Tag.“<br />

Die Astrologie hält dagegen: Für das Tagesereignis zeigten die Sterne die „Tendenz“.<br />

Es kann jeder das Beispiel mit den 5000 selbst durchdenken. Die behauptete<br />

„Tendenz“ ist ein Geschäft mit dem Zufall.<br />

So wird einsichtig, warum Wallenstein, trotz profunder astrologischer Kenntnisse,<br />

seinen Mördern nicht entging. Nicht allein, dass ihm bei der Ausdeutung der<br />

„Geneigtheit der Sterne“ persönliche Ängste und Wünsche <strong>im</strong> Weg standen, nach<br />

Gauquelin sind die Sterne die Wiege <strong>des</strong> Charakters, jedoch nicht <strong>des</strong> Schicksals.<br />

Als Kardinal Fesch bei einer nächtlichen Unterredung Napoleon den Feldzug nach<br />

Russland ausreden wollte, trat Napoleon ans Fenster und zeigte in den Nachth<strong>im</strong>mel:<br />

„Schau auf und lies! Da am gestirnten H<strong>im</strong>mel steht mein Schicksal! Und was da<br />

geschrieben steht, wird unabänderlich in Erfüllung gehen!“ Großartige Worte, obgleich<br />

die Astrologie bereits 1666 verworfen worden war; unter Ludwig XIV. hatte der Minister<br />

Jean-Baptiste Colbert die „Academie <strong>des</strong> Sciences Francaises“ gegründet, die<br />

Astrologie jedoch ausgeschlossen, ihre Grundlagen wären keine Gesetzmäßigkeiten.<br />

Leserinnen und Leser mögen das Jahr 1666 <strong>im</strong> Auge behalten. Während der kritische<br />

Colbert die Astrologie ausgrenzt, n<strong>im</strong>mt zwei oder drei Jahrzehnte später ein<br />

Hofregistrator <strong>im</strong> „Fürstlich württembergischen Dienerbuch“ eine höcht unkritische,<br />

eine gar nicht aufgeklärte Einfügung vor:<br />

Abt Entenfuß, „iß Dr. <strong>Faust</strong>en deß Zeuberers Collega gewesen, welcher diesen zu<br />

Maulbronn besucht.“<br />

Mehr dazu <strong>im</strong> Kapitel „Geschichtsfälschung auf protestantisch“<br />

Mit der Entdeckung „Indiens“ nahm die Zeit der Aufklärung ihren Anfang und mit ihr<br />

begann das Vertrauen in die unbegrenzten Möglichkeiten der Naturwissenschaften zu<br />

wachsen. Voraussetzung dafür war jedoch das blinde Vertrauen in die Astrologie zur<br />

Zeit unseres <strong>Faust</strong>s gewesen. Im Umgang mit ihr äußerte sich der Wille das Schicksal<br />

zu durchschauen, das Schicksal außerhalb der Kirche und dem Vertrauen auf Gott<br />

nun selbst in die Hand zu nehmen.<br />

Freilich gab es auch Zweifler. Johann Eck bestritt 1514 in „Chryspassus“ die Annahme<br />

der Astrologen, dass H<strong>im</strong>melskörper beseelt seien. Agrippa von Netteshe<strong>im</strong><br />

bezeichnete die Astrologie als „abergläubische und betrügliche Mutmaßung“. Der<br />

italienische Neu-Platoniker Pico della Mirandola wütete gegen die Astrologie als „Pest<br />

der Medizin“ und „Quelle aller Laster“. Luther bezeichnete sie als „feine lustige<br />

Phantasei…“ und als „heillose und schebichte Astrologia“.<br />

Nur menschlich, dass Luther seiner Ansicht zeitweilig doch untreu wurde, wenn er<br />

äußerte, er sei unter unglücklichen Sternzeichen geboren, oder er gar das Vorwort für<br />

86


die deutschsprachige Ausgabe der „Practica“ von 1527 schrieb; ein astrologisch<br />

best<strong>im</strong>mtes Prophezeiungswerk von Johann Lichtenberger.<br />

Diese Ambivalenz ist jedoch auch für Pico della Mirandola, Prior Kilian Leib und<br />

andere Zweifler belegt.<br />

Die Astrologie beeindruckte die Menschen mächtig. Johannes Virdung veröffentlichte<br />

1532 das Werk „Nova medicinae methodus…“, eine Abhandlung, die den Einfluss der<br />

Gestirne auf die Heilkunde zum Thema hatte. Philipp Melanchthon hielt gegen Luthers<br />

Willen Vorlesungen über Astrologie. Der Arzt Hartmann Schedel sagte, wer die<br />

Astrologie nicht beherrsche, verdiene es nicht, Arzt genannt zu werden; Melanchthon<br />

war der nämlichen Auffassung. Trithemius baute in „De septem secundeis“ aus dem<br />

Sternenglauben eine komplette Geschichtsphilosophie. Paracelsus beachtete be<strong>im</strong><br />

Aderlass den Stand <strong>des</strong> Mon<strong>des</strong>, nichts anderes tat auch das Bocke Madel, wenn sie<br />

Kräuter schnitt. Und auch die Apotheker richteten sich nach dem Stand der Sterne, um<br />

den Theriak zu mischen, das gleiche galt für die Alchemisten, aber auch für die Metallund<br />

Glasgießer.<br />

Die Sterne gehörten allen – die „Influenza“, der Einfluss der Sterne, war total.<br />

Ein Nativität, die Ausdeutung der Stellung der Planeten <strong>im</strong> Moment der Geburt, war<br />

selbst in kirchlichen Kreisen nichts Anrüchiges, es wurde als Lebenshilfe, als<br />

Wegweiser für die Wahl <strong>des</strong> geeigneten Berufs verstanden.<br />

Freilich kann man die Astrologie auch als Kampfmittel einsetzen.<br />

Be<strong>im</strong> einfachen Mann reichte es eventuell zu sagen, Luther sei ein Werkzeug <strong>des</strong><br />

Teufels. Für die Gebildeten brauchte es mehr, ihnen wird ein wissenschaftlicher<br />

Beweis, der astrologische Prägestempel <strong>des</strong> Unheilbringers Luthers gereicht – ein<br />

gefälschtes Horoskop <strong>des</strong> italienischen Astrologen Lucas Gauricus. Da Luthers<br />

Geburtstag nun gar nichts Aufregen<strong>des</strong> hergab, hatte Gauricus das Geburtsdatum um<br />

ein volles Jahr in eine Nativität verschoben, voll der astralen Feindschaften und<br />

Kollisionen. Kein Zweifel, Luther, das war eine üble Person, Luther trug auch die<br />

Schuld am Bauernkrieg. Letzteres war in so weit richtig als Luthers Ideen die Bauern<br />

beflügelt hatten. „Schlagt sie tot, diese lutherischen Hunde!“ war dann auch der Ruf<br />

der französischen Söldner, als sie den Aufstand <strong>im</strong> Elsass niederwarfen.<br />

Jedenfalls eine ordentliche astrologische Arbeit, die Lucas Gauricus vorlegte, jeder<br />

Gebildete konnte sich selbst von der Richtigkeit überzeugen, nur dass eben das<br />

Geburtsdatum falsch war.<br />

Und sinniger Weise war auch Melanchthon einer von jenen, die das gefälschte Lutherhoroskop<br />

an alle Freunde verschickten; die Begeisterung für die Sterne kannte keine<br />

Konfessionsgrenzen.<br />

Ein Verdacht, dass man anhand der Sterne gar kein Horoskop für eine Reise oder<br />

eine Heirat stellen könne, hat die damaligen Astrologen nicht berührt.<br />

Falls ein Kunde sich über ein missratenes Horoskop beklagte, suchte der Astrologe<br />

die Schuld bei sich selbst. Die Astrologie he<strong>im</strong>lich in Zweifel zu ziehen, er wäre sich<br />

lächerlich vorgekommen. Sie öffentlich in Frage zu stellen, war undenkbar, er hätte<br />

sich dem Vorwurf ausgesetzt, er sei wohl nicht recht beschlagen.<br />

Kurz, man überschätzte die Möglichkeiten der Astrologie. Schlicht <strong>des</strong>halb, weil man<br />

die Planeten als Gottes Schöpfung so hoch schätzte. Da Gott sie geschaffen hat, Gott<br />

nichts Unsinniges tut, hätten die Planeten eine Aufgabe; Kräfte auf sie zurück zu<br />

führen, war wissenschaftliche und auch rechte Weltsicht. Denn „da kamen Magier vom<br />

Morgenland nach Jerusalem, welche sprachen: „Wo ist der König der Juden, der<br />

geboren worden ist? Denn wir haben seinen Stern <strong>im</strong> Osten gesehen.“ heißt es <strong>im</strong><br />

Evangelium nach Matthäus.<br />

Der Stern von Bethlehem, in jüngerer Zeit gern als Komet dargestellt, war gewiss kein<br />

Komet; Kometen waren von altersher als Unglücksbringer gefürchtet. Vermutlich<br />

lautete die Auskunft: „Wir haben in den Sternen gelesen.“ Eine Aussage, die so freilich<br />

nicht sein durfte, das junge Christentum hielt rein gar nichts von der Sterndeuterei, ein<br />

Standpunkt, der <strong>im</strong> Mittelalter eine Aufweichung erfuhr.<br />

87


Folglich durfte sich <strong>Faust</strong> gegenüber Prior Leib auf die Sterne berufen: „wann Sonne<br />

und Jupiter <strong>im</strong> gleichen Grad eines Sternzeichen stehen, dann werden Propheten<br />

geboren…“<br />

Man könnte annehmen, dass <strong>Faust</strong>, nicht anders als seine Zeitgenossen, an die<br />

Möglichkeit der Astrologie glaubte, nur dass er eben bei der Ausdeutung gewitzter<br />

war. Eine Annahme, die freilich fehl geht; wo nichts ist, hilft auf Dauer auch keine<br />

Gewitztheit. Möglicher Weise liegt der Witz jedoch in der Kunst der Formulierung.<br />

Wie sollte <strong>Faust</strong> sich auch helfen, als Philipp von Hutten sein Reisehoroskop für Südamerika<br />

bei ihm bestellte. Eine Aussage wie: „…werdet Ihr nach hartem Kampf mit<br />

Wind und See glücklich <strong>im</strong> Hafen von Coro landen!“, ist einfach nur riskant, ganz<br />

gleich wie günstig er als Astrologe die Sterne <strong>des</strong> Kunden beurteilte. Stürme, Meuterei<br />

und Schiffbruch gleich mit ein zu kalkulieren, konnte nicht falsch sein: „Neptun rührt<br />

gewaltig. Äolsharfenklänge enden <strong>im</strong> Klirren zwischen Mars und Saturn. Dank<br />

mannhaftem Unverzagen grüßen die Sterne über Venezuela.“<br />

Wir wissen nicht, wie <strong>Faust</strong> die Geneigtheit der Sterne ausformulierte, wir besitzen<br />

kein einziges Schriftstück <strong>des</strong> Doktor <strong>Faust</strong>us. Wir entnehmen Philipp von Huttens<br />

Brief, dass <strong>Faust</strong> große Schwierigkeiten für Philipp in Südamerika prognostiziert hatte.<br />

Philipp von Hutten glaubte noch, dass <strong>Faust</strong> es „schier troffen hat“, 1546 wusste sein<br />

Bruder Moritz von Hutten, Fürstbischof von Eichstätt und Empfänger <strong>des</strong> Schreibens,<br />

dass <strong>Faust</strong> es ganz und gar nicht „troffen hat“.<br />

Philipp von Hutten hatte in Spanien den Konquistador Pizarro kennen gelernt und war<br />

1534 <strong>im</strong> Auftrag der Welser mit 600 Söldnern nach Venezuela aufgebrochen, um nun<br />

ebenfalls als Konquistador nach dem „El Dorado“ zu suchen. 1546 waren seine<br />

Söldner tot, ihn selbst hatte sein spanischer Konkurrent, Juan de Carvajal, ermordet.<br />

Übrigens, Philipp und Moritz von Hutten sind Vettern jenes Ulrichs von Hutten; Ulrich<br />

war jedoch in der Rhön, auf der kleinen Steckelburg zu Hause.<br />

Dass <strong>Faust</strong> als Astrologe überfordert ist, geht auch aus dem Brief <strong>des</strong> hochgelehrten<br />

Joach<strong>im</strong> Camerarius vom 13. 8. 1536 an Daniel Stibarius hervor:<br />

„Aber was sagt uns jener (<strong>Faust</strong>) endlich? Und was noch? Ich weiß nämlich, dass du<br />

dich sorgfältig nach allem erkundigt hast. Siegt der Kaiser? So muss es freilich<br />

geschehen.“<br />

Die Delikatesse dieser dringlichen Anfrage, es geht um eine Schlacht, die niemals<br />

geschlagen werden wird. Was nichts daran ändert, dass Camerarius, der Protestant,<br />

und Stibar <strong>im</strong> katholischen Würzburg, sich für das kommende Kriegsgeschehen<br />

brennend interessieren. Solange ein Krieg dem Kaiser die Hände bindet, solange wird<br />

es auch <strong>im</strong> Konfessionsstreit nicht weitergehen.<br />

„Siegt der Kaiser?“ Die Frage ist gestellt. <strong>Faust</strong>, der sonst so beschlagen ist, zögert.<br />

Er spielt, so scheint es, auf Zeit.<br />

„wenn er dich doch lieber ein bisschen von dieser Kunst gelehrt haben möchte“ tadelt<br />

Camerarius, „die er mit etwas Wind <strong>des</strong> nichtigsten Aberglaubens aufgeblasen, oder<br />

ich weiß nicht welcher Gaukelei aufrechterhalten haben möchte. Aber was sagt uns<br />

jener endlich?“<br />

<strong>Faust</strong> liefert nicht, er rührt <strong>im</strong> Aberglauben. Und da ganz offensichtlich weder Stibarius,<br />

noch Camerarius, noch ihrer beider gebildeter Anhang, es mit <strong>Faust</strong>s astrologischen<br />

Künsten aufnehmen können, müssen sie es sich gefallen lassen, dass <strong>Faust</strong> von<br />

abergläubischen Dingen zwischen H<strong>im</strong>mel und Erde faselt, von denen sie schlicht<br />

keine Ahnung haben.<br />

Man kann diese interessante Situation nicht genug würdigen. Stibarius gehört offensichtlich<br />

zu jenen, die auf <strong>Faust</strong>s Fähigkeiten vertrauen. Camerarius selbst zählte sich<br />

offenbar nicht zu <strong>Faust</strong>s Freunden, wobei er als Protestant und Humanist ohnehin<br />

Distanz gegenüber <strong>Faust</strong> zu demonstrieren hatte.<br />

Dass sein „Stibare chariss<strong>im</strong>e“, sein allerliebster Stibar, mit <strong>Faust</strong> auf vertrautem Fuß<br />

lebt, weiß er aber genau, und er nutzt jetzt diese gute Beziehung zwischen <strong>Faust</strong> und<br />

Stibar, mögen auch sonst Welten zwischen ihm und <strong>Faust</strong> liegen.<br />

88


Camerarius war gleichfalls Astrologe. Dass seine Kunst dabei nicht an jene <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s<br />

heranreichte, muss ihm offenkundig be<strong>im</strong> Abfassen <strong>des</strong> Briefes, als er förmlich um die<br />

Erkenntnisse <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s bettelte, also bereits <strong>im</strong> Jahr 1536 klar gewesen sein. Dabei<br />

war Joach<strong>im</strong> Camerarius nicht irgendjemand, er war ein umfassend gebildeter<br />

Mensch. Als Erasmus von Rotterdam 1536 verstirbt, tritt Camerarius <strong>des</strong>sen<br />

Nachfolge als der unbestritten führende Philologe Deutschlands <strong>des</strong> 16. Jhdts an. Sein<br />

Lebenswerk umfasst allein 150 Bücher.<br />

Dass es mit den astrologischen Kenntnissen <strong>des</strong> Camerarius nicht weit her ist, <strong>im</strong> Jahr<br />

1547 wussten es dann auch die übrigen Gebildeten. 1547 traf die Nachricht von der<br />

Ermordung Philipp von Huttens in Deutschland ein.<br />

Philipp von Hutten hatte auch bei Camerarius ein Reisehoroskop bestellt. Und<br />

Camerarius hatte sein Reisehoroskop für Philipp in seiner Schrift „Aeolia“ publiziert;<br />

die Prognose lautete auf eine Rückkehr in Gesundheit und, dass Philipp so berühmt<br />

wie kein anderer in Deutschland sein werde.<br />

Wir wissen nicht, welchen „Wind <strong>des</strong> nichtigsten Aberglaubens“ <strong>Faust</strong> dem Stibarius in<br />

die Ohren säuselte, um seinen Lieferverzug zu begründen, eventuell deutschte er ihm<br />

auch die Kabbala (Mystik <strong>des</strong> Judentums) auf seine Art aus:<br />

„Jehuiah, der dreiunddreißigste Genius, durch <strong>des</strong>sen Anrufung man die Verräter<br />

erkennt, hält sich verborgen; das aber begünstigt Verwirrung und Aufruhr. Verzagt sei<br />

<strong>des</strong>halb Hakamiah, der sechzehnte Genius, der den Sieg verleiht. Gnädig schweigt<br />

Lanoiah, der siebzehnte Genius, unter <strong>des</strong>sen Herrschaft die Wissenschaften und<br />

Offenbarungen stehen. Erst wenn dieser das Tuch der Dunkelheit lüftet, werde man<br />

wieder in den Gestirnen lesen.“<br />

Der astrologischen Kunst <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s sind also Grenzen gesetzt, zumin<strong>des</strong>t wenn es<br />

um Ereignisse fern der He<strong>im</strong>at geht, in Venezuela oder auf den Schlachtfeldern in<br />

Italien.<br />

In Zusammenhang mit Johannes Virdung und seinen wundersam brauchbaren<br />

„Prognosen“ wurde bereits die Vermutung geäußert, dass Virdung Material seiner<br />

Agenten miteinfließen ließ.<br />

Auch <strong>Faust</strong> ist Agent – Agent in eigener Sache. Er reist viel, redet und diskutiert mit<br />

wichtigen Leuten, kennt Absichten, Pläne, Hoffnungen, Neigungen, selbstredend auch<br />

manche He<strong>im</strong>lichkeit.<br />

Auf welche Weise <strong>Faust</strong> an seine noblen Kunden kam? Einmal durch das sogenannte<br />

Schneeballsystem: Kunden, die er mit seiner Kunst überzeugt hatte, empfahlen ihn<br />

weiter bzw. stellten ihm Empfehlungsbriefe aus, <strong>des</strong>weiteren wurden einer vertrauenswürdigen<br />

Person auch Briefe mit auf den Weg gegeben, bzw. mündliche Botschaften<br />

aufgetragen. Es versteht sich, dass <strong>Faust</strong> einen Brief nicht der Küchenmagd <strong>des</strong><br />

Empfängers in die Hand drückte, sondern dem Empfänger persönlich und zu<br />

passender Stunde überreichte.<br />

Desweiteren hielten sich an einigen Fürstenhöfen bis zu hundert Vertreter <strong>des</strong> Adels<br />

auf. Mit einem Aufwand von täglich 100 Gulden wurden sie fürstlich gespeist und<br />

getunkt, den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend hatten sie bereits „Mittags starke<br />

Räusche“. Ein höfisches Protokoll gab es noch nicht, man konnte einen guten Freund<br />

zur Tafel mitbringen, auch interessante Besucher waren willkommen.<br />

<strong>Faust</strong> musste also nicht unbedingt viel reisen, er musste gezielt reisen und sich nur<br />

noch dazu setzen. So kannte er sie gleichsam alle, kannte bei jedem „Geschäft“ auch<br />

die Gegenseite, konnte die Erfolgsaussichten eines Vorhabens beurteilen, wusste also<br />

gut zu raten.<br />

Nicht als Ratgeber, sondern als Astrologe; wie sollte er auch sonst zu seinem Geld<br />

kommen. Die Astrologie war eine aufwendige und teure Wissenschaft mit eigenen<br />

Honorarsätzen. Und das Geschäft blühte, die Kunden interessierten sich nicht allein<br />

für die eigenen Sterne, sondern auch für die ihrer Freunde, freilich auch für die ihrer<br />

Kontrahenten – von letzteren galt es auf dem Umweg über die Planeten deren Stärken<br />

und Schwächen „objektiv“ kennen zu lernen.<br />

89


Das Horoskop und das dazugehörige Fachchinesisch waren <strong>Faust</strong>s <strong>Visier</strong>, es ging<br />

niemanden etwas an, dass seine Prognosen das Resultat von Kontakten, Recherche<br />

und gewiss auch eines geschulten Verstan<strong>des</strong> waren.<br />

Was nicht heißen muss, dass <strong>Faust</strong> sich nur noch auf seinen Verstand verließ und<br />

sich innerlich vollkommen von der Astrologie abgewandt hätte; er ist ein Kind seiner<br />

Zeit. Gutmöglich sah er sich durch die Astrologie herausgefordert, denn gelegentlich<br />

st<strong>im</strong>mten die Sterne mit dem überein, was er be<strong>im</strong> Wunsch eines Kunden sich selbst<br />

bereits gedacht hatte, andere Male besagten sie etwas völlig anderes.<br />

Diese „Differenz“ zu ergründen, es könnte ihn gereizt haben.<br />

Doch bis zur Klärung musste <strong>Faust</strong> sich in der „Todsünde der Astrologie“ üben; er ließ<br />

bei der Ausdeutungen der „Neigung“ gelegentlich ein Wissen einfließen, das rein gar<br />

nichts mit den Sternen zu tun hatte.<br />

<strong>Faust</strong> hatte also Macht, und es muss ihm ein Genuss gewesen, als kleiner Niemand,<br />

als einer, der noch nicht einmal eine Universität besucht hatte, be<strong>im</strong> Spiel der Großen<br />

mitzuspielen. Die Faszination <strong>des</strong> Horoskops, die Sucht jener Zeit nach Prognosen,<br />

glichen nahezu alles aus, was ihm, der er vermutlich von niederem Stand war,<br />

normaler Weise versagt geblieben wäre.<br />

Ob Johannes Virdung nun <strong>Faust</strong> so dringend erwartete, weil er astrologischen Rat<br />

brauchte, oder unter dem Vorwand der Astrologie diesem „Rebellen“ mal ganz<br />

persönlich auf den Zahn fühlen wollte, muss offen bleiben. Auch wenn Virdung sich<br />

gleichfalls in der „Todsünde der Astrologie“ übte, aus seinen hinterlassenen Schriften<br />

ist ersichtlich, er wurde der Astrologie nicht untreu.<br />

Der Fürstbischof Georg III. von Bamberg schenkte <strong>Faust</strong> zehn Gulden; es darf doch<br />

sehr bezweifelt werden, ob es sich dabei um das Honorar für das Horoskop nach<br />

Geburtsstunde handelte. Schließlich zählte der Fürstbischof bereits fünfzig Jahre, er<br />

brauchte best<strong>im</strong>mt keine Hilfe mehr für die Wahl <strong>des</strong> richtigen Berufs. Die generösen<br />

zehn Gulden erlauben die Vermutung, dass er von <strong>Faust</strong> brisante Informationen erhielt.<br />

Welche Informationen das gewesen könnten, ein Blick in das Geschichtsbuch hilft<br />

weiter. „Neun Zehntel von Deutschland erheben das Feldgeschrei „Luther““, meldet der<br />

päpstliche Legat Hieronymus Alexander nach Rom, „und das übrige Zehntel<br />

wenigstens „Tod dem römischen Hof“, und „jedermann verlangt und schreit nach einem<br />

Konzil.“<br />

Und während das Volk seine Wut und Hoffnungen lebt, üben sich geistliche wie<br />

weltliche Würdenträger <strong>im</strong> Beobachten, <strong>im</strong> Belauern. Tage und Wochen, in denen man<br />

viel verlieren, allerdings auch einiges gewinnen kann - Information ist alles. Da braucht<br />

man einen <strong>Faust</strong>; einen, der auf den Straßen die Menschen ablauscht, einen, der sich<br />

in den richtigen Häusern über die Macht der Sterne, über Gott und Luther und die Welt<br />

unterhält.<br />

So wird verständlich, warum <strong>Faust</strong> überfordert ist, als Philipp von Hutten ihn darum<br />

bittet, die Zukunft hinterm Horizont, jenseits <strong>des</strong> großen Wassers zu lesen. Es wird <strong>im</strong><br />

Essay „Nachtsitzungen“ noch deutlich werden, wie gewissenhaft der ehrgeizige<br />

„Astrologe“ <strong>Faust</strong> – zumin<strong>des</strong>t seine noblen Kunden, bediente. Es ist zu vermuten,<br />

dass er selbst eine Reise nicht scheute, um bei entsprechenden Personen jene<br />

Informationen abzugreifen, die er für die Ausarbeitung einer verlässlichen „Prognose“<br />

benötigte. Doch mit Philipp von Huttens Bestellung eines Reisehoroskops saß <strong>Faust</strong> in<br />

der Zwickmühle. Venezuela in der Neuen Welt war weit weg, er konnte keine<br />

Nachrichten einholen. Anderseits durfte er die Prognostikation nicht verweigern, Philipp<br />

von Huttens Bekanntenkreis wäre darüber mehr als nur erstaunt gewesen.<br />

Andererseits ging es um ein Unternehmen, das sich nicht nur über Jahre hinziehen<br />

würde, bereits die Überfahrt war gefährlich. Und vielleicht wusste <strong>Faust</strong> längst, was<br />

sein Kunde dann vor Ort selbst erfahren und am eigenen Leib erleben würde, dass<br />

man überm Ozean nicht nur „Goldinseln und nackte Leut“ gefunden hatte, sondern „ein<br />

Grauen, was Ungeziefers als Schlangen, Kroten, Heydechsen, Ottern… die Indianer…<br />

ein sehr Ernst und wehrhaft Volk…“. Philipp von Huttens Abenteuer war gutmöglich<br />

eine Reise ohne Wiederkehr, <strong>Faust</strong> entschied, bei der Formulierung <strong>des</strong> Horoskops<br />

90


Skepsis dominieren zu lassen. Der Quellen, an denen <strong>Faust</strong> sein Wissen über die<br />

wahren Verhältnisse in Südamerika geschöpft haben könnte, waren reichlich.<br />

Nikolaus Federmann war 1532 von seiner ersten Reise aus der neuen Welt<br />

zurückgekehrt und hatte in Augsburg den Welsern, seinen Auftraggebern, Bericht<br />

erstattet. Man darf annehmen, dass Federmann über seine Venezuela-Erfahrungen<br />

nicht in der Öffentlichkeit redete, sie waren Betriebsgehe<strong>im</strong>nis <strong>des</strong> Bankhauses Welser.<br />

Im Auftrag der Welser schrieb er einen Bericht, diese „Indianische Historia“ wurde aber<br />

erst 1557 in Druck gegeben. Nun jedoch anzunehmen, dass Federmann – der als<br />

„Konquistador“ durch die Gesellschaft gereicht wurde, selbst nicht bei einem Wein<br />

durch ein säuerliches Lächeln einem guten Freund zu verstehen gegeben hätte,<br />

welchen Schwierigkeiten man sich in Venezuela gegenüber sah, geht freilich zu weit.<br />

Das Wissen, was einen in Südamerika in etwa erwartete, mochte also durchaus in<br />

jenen Kreisen kursieren, in denen auch <strong>Faust</strong> verkehrte. Ganz abgesehen von den<br />

Mannschaften zurückkehrender Schiffe und dem, was he<strong>im</strong>kehrende Söldner<br />

erzählten. Und nicht zuletzt war Philipp von Hutten eventuell selbst es gewesen, der in<br />

Vorbereitung der Reise sich bereits intensiv mit Federmann unterhalten hatte, und<br />

nachfolgend auch <strong>Faust</strong> hellhörig gemacht hatte.<br />

Was verschlägt es, die Gier nach Gold raubt den Menschen den Verstand.<br />

Die <strong>Faust</strong>-Forschung hat keine Antwort darauf gefunden, von welchem Zeitraum Phillip<br />

von Hutten schreibt, als er „ein fast böses Jahr“ aufs Papier setzte. Mit Blick auf seine<br />

übrigen Briefe aus Venezuela ist man zur Ansicht gekommen, dass er wohl einen übergeordneten<br />

Zeitbegriff meinte, also „eine fast böse Zeit“.<br />

Nicht weniger fatal war die Frage <strong>des</strong> Camerarius nach dem Sieg <strong>des</strong> Kaisers. Nach<br />

allem, was <strong>Faust</strong> gewöhnlich aus dem „Sternenh<strong>im</strong>mel seiner Bekanntschaften“ heraus<br />

fintringierte, durften seine Kunden annehmen, dass er verlässliche Auskunft gab. Doch<br />

wie soll er in diesem Fall? Dass der Kaiser <strong>im</strong> Ausland weilt, dazu wieder ein<br />

Kriegsgerücht und die Kunde von Söldneranwerbungen umläuft, besagte noch sehr<br />

wenig. Der Kontrahent konnte morgen bereits <strong>im</strong> Sterben liegen, die Söldner in den<br />

Bereitstellungsräumen einer Seuche erliegen, das Wetter konnte verrückt spielen, nicht<br />

zu vergessen, das diplomatische Tauziehen entlang <strong>des</strong> gedachten Schlachtfel<strong>des</strong>. Die<br />

Frage <strong>des</strong> Camerarius nach dem Ausgang eines möglichen Krieges auf einem fernen<br />

Kriegsschauplatz, war nicht zu beantworten. Also rührte <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Aberglauben.<br />

Der Ausgang dieser Angelegenheit ist uns nicht überliefert.<br />

Soweit zur Legende vom beschlagenen Astrologen <strong>Faust</strong>.<br />

Als Nachschlag, ein denkwürdiger Vorgang jener Jahrzehnte:<br />

1523, Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen, beflügelt von Luthers Schrift „An den<br />

Christlichen Adel teutscher Nation“ von 1520, beschließen den Plan umzusetzen, durch<br />

eine mitreißende Tat, die Ritterschaft <strong>im</strong> Zugriff auf das Kircheneigentum zu vereinen<br />

und in altem Glanz auferstehen zu lassen,<br />

„Die stillschweigende Zust<strong>im</strong>mung <strong>des</strong> Kaisers annehmend, belagern sie in der so<br />

genannten Sickingischen Fehde die Stadt Trier.“<br />

Der Kurfürst und Trierer Erzbischof hatte bei der Kaiserwahl für Franz I. von Frankreich<br />

gest<strong>im</strong>mt, schien also das richtige Opfer zu sein. Franz von Sickingen haut hier auf die<br />

nationale Pauke. Glaubhaft ist er dabei nicht, er selbst war einst als Söldner in<br />

französischen Diensten gestanden; er hatte <strong>im</strong> Jahr 1516 für den französischen König<br />

Metz erobert. Sollte ihm bei seiner Vergesslichkeit etwa auch das politische Gespür<br />

abhanden gekommen sein?<br />

Die Begeisterung für Luther schlug zwar hohe Wellen, auch war durch die Vorgänge<br />

um Luther offenkundig geworden, wie angreifbar die Kirche geworden war, dazu konnte<br />

das Taktieren oder auch die Unentschiedenheit <strong>des</strong> Kaisers zwischen den Fronten <strong>im</strong><br />

Glaubensstreit durchaus zu Hoffnungen und Annahmen verführen; der Papst betrieb<br />

offen eine kaiserfeindliche Politik, die deutschen Fürsten zeigten sich mehrheitlich<br />

gegenüber dem Kaiser widerspenstig. Von daher sah Franz von Sickingen gutmöglich<br />

den Moment gekommen, dem Kaiser ein wiedererstarktes Rittertum als Grundlage<br />

91


seiner Macht anzubieten. Andererseits muss sich Franz von Sickingen bewusst<br />

gewesen sein, dass er Landfriedensbruch übte; er selbst war <strong>im</strong> Auftrag <strong>des</strong><br />

Schwäbischen Bun<strong>des</strong> <strong>im</strong> Jahr 1519 gegen den Landfriedensbrecher Herzog Ulrich<br />

vorgegangen. Ebenso muss er gewusst haben, dass die Fürsten bereits <strong>im</strong> Jahr 1504<br />

beschlossen hatten, Einungen von Rittern sowie Bauernbünde als Rebellion zu<br />

behandeln. Gewiss nicht zuletzt sollte ihm als Protestant der ersten Stunde bekannt<br />

gewesen sein, dass er mit seiner wilden Fehde dem hochverehrten Luther reinweg nur<br />

schadete. Über Luthers Anliegen schwebte in jener Zeit ein dreischneidiges Schwert:<br />

Ketzerei, Rebellion sowie Ungehorsam gegenüber dem Kaiser; Vorwürfe, die sowohl<br />

Luther und Melanchthon als auch die Luther zugeneigten Fürsten fortlaufend heftig<br />

bestritten.<br />

Entsprechend entsetzt sind Luther und Melanchthon über die Sickingische Fehde: Sie<br />

lieferte den Beweis, Protestanten sind Rechtsbrecher. Der Gründe, die gegen einen<br />

derartigen Handstreich sprachen, waren also genug. Franz von Sickingen war zudem<br />

kein Hasardeur, er war als Heerführer derart angesehen, dass Kaiser Max<strong>im</strong>ilian die<br />

seinerzeit verhängte Reichsacht vorzeitig aufhob, damit Franz von Sickingen<br />

he<strong>im</strong>kehrte und sich nicht mehr vom französischen König anwerben ließ. Auch hatte<br />

Franz von Sickingen die Sache keineswegs aus dem Ärmel heraus entschieden,<br />

bereits <strong>im</strong> Juni 1521 hatte Ulrich von Hutten an Melanchthon von einem geplanten<br />

Unternehmen zum Heil Deutschlands geschrieben.<br />

Dass Franz von Sickingen allein darauf gebaut hatte, dass ihm die Ritterschaft zur<br />

Seite springt, ist nicht glaubhaft, der Kriegsmann – aber auch Mann von Welt, sollte<br />

sich <strong>des</strong> in vielerei Hinsicht kläglichen Zustands <strong>des</strong> Rittertums bewusst gewesen sein.<br />

Auch müsste er genug Klarsicht besessen haben, zu wissen, dass sein mehrfach<br />

gesetzbrecherisches Unternehmen, so es nicht zum Vabanquespiel geraten und <strong>im</strong><br />

Fiasko enden sollte, eine entschiedene Protektion brauchte. Von daher ist keineswegs<br />

auszuschließen, dass Franz von Sickingen tatsächlich eine Art von kaiserlicher<br />

Zust<strong>im</strong>mung besaß. Kaiser Karl V. strebte nach der Universalmonarchie, er brauchte<br />

Vorgänge, um das Kräfteverhältnis zwischen Kaiser und Fürsten in seinem Sinne<br />

umzugestalten. Eventuell kam es ihm allein darauf an, das Unternehmen ins Laufen zu<br />

bringen, um zu sehen, ob nicht etwa ein protestantischer Fürst oder die<br />

protestantischen Fürsten allesamt sich zum Aufspringen verleiten ließen. Denn die<br />

Unsicherheit über die Zukunft der lutherischen Lehre war derart, bereits <strong>im</strong> Februar<br />

1523 hatte Melanchthon <strong>im</strong> Auftrag seines Fürsten ein erstes Gutachten über das<br />

„Widerstandsrecht christlicher Fürsten gegen den Kaiser“ angefertigt. Doch die<br />

protestantischen Fürsten der ersten Stunde bewiesen Nervenstärke, sie ließen sich<br />

nicht zum Aufspringen verleiten und begaben sich nicht in die Hand <strong>des</strong> Kaisers. Dass<br />

<strong>im</strong> Vorfeld der Sickingischen Fehde gute Kontakte zum Kaiser bestanden, darauf lässt<br />

einmal ein Brief Ulrichs von Hutten vom 20. Jan. 1520 an Melanchthon schließen. Er<br />

schreibt, dass er zunächst Erzherzog Ferdinand, den Bruder <strong>des</strong> Kaisers, für Luther<br />

gewinnen will. Und es gibt ein Kreditgeschäft, das damals für Aufsehen sorgte: 1520<br />

leiht Franz von Sickingen dem Kaiser eine hohe Summe und fordert keine<br />

Sicherheiten.<br />

Dass der Kaiser ihn als Lockvogel benutzte – und dafür spricht nicht wenig, darüber<br />

wird Franz von Sickingen – als er es merkte, zwar weidlich geflucht haben, als<br />

Söldnerführer hat er es gewiss akzeptiert.<br />

Anmerkung meines Historikers: „Söldner bleibt Söldner.“<br />

Erstaunlich rasch, besser gesagt, verdächtig schnell, nahen starke Kräfte dem Trierer<br />

zu helfen; bereits nach sechs Tagen muss die Belagerung abgebrochen werden. Dabei<br />

ist Franz von Sickingen nicht allein vor Trier – das Städtchen St. Wendel hatte er sich<br />

be<strong>im</strong> Anmarsch bereits einverleibt, er und die mit ihm verschworenen Ritter haben<br />

6000 Söldner angeworben. Doch gleichsam wie aus dem Nichts sieht er sich einer<br />

Streitmacht von 20 000 Mann gegenüber. Franz von Sickingen zieht sich auf seine<br />

Festung Nanstein bei Landstuhl zurück. Im Beschuss durch den „Schwäbischen Bund“<br />

wird er schwer verletzt. Von den Siegern umgeben, stirbt er in der zerstörten Burg; es<br />

ist der 7. Mai 1523 – man darf sagen – der To<strong>des</strong>tag <strong>des</strong> Rittertums.<br />

92


Ulrich von Hutten ist inzwischen auf der Flucht, Erasmus von Rotterdam weist dem<br />

totkranken und mittellosen Freund die Tür, doch Zwingli in der Schweiz n<strong>im</strong>mt ihn auf<br />

und versteckt ihn auf der Insel Ufenau. Dort stirbt von Hutten <strong>im</strong> selben Jahr an den<br />

Folgen der Syphilis.<br />

Die ritterlichen Ehrenrechte: Fehde, Geiselnahme und eigenmächtige Pfandnahme,<br />

werden nach dem so genannten Religionsfrieden von 1555 durch das Reichskammergericht<br />

kassiert.<br />

Diejenigen, die von ihrem Kenntnisstand her es für wenig wahrscheinlich halten, dass<br />

dieser Kaiser den Ehrgeiz eines Franz von Sickingen derart he<strong>im</strong>tückisch für sich zu<br />

nutzen suchte, mögen sich in Wikipedia die Kurzbiographie Jörgs von Frundsberg zu<br />

Gemüte führen. In Zusammenhang mit der Schlacht von Pavia erfahren sie, wie Karl V.<br />

den Feldherrn und Söldnerführer als Dank für den Sieg finanziell ruinierte – wenngleich<br />

keineswegs he<strong>im</strong>tückisch. Er blieb ihm nicht allein den gesamten Sold schuldig,<br />

sondern obendrein die Erstattung der millionenschweren Vorfinanzierung, die Jörg von<br />

Frundsberg aus eigenem Vermögen getätigt hatte.<br />

Selbstverständlich hatte Franz von Sickingen bei der Planung <strong>des</strong> Trierer Coups auch<br />

die Macht der Sterne bedacht und eine „Elektion“ in Auftrag gegeben. Eine Elektion ist<br />

die Ermittlung <strong>des</strong> richtigen Zeitpunkts für ein Vorhaben, jener Zeitpunkt, an welchem<br />

die Sterne einem Vorhaben zugeneigt sind.<br />

Franz von Sickingen hatte die Elektion bei Johannes Virdung in Auftrag gegeben.<br />

Hätte er sich doch an seinen alten Freund <strong>Faust</strong> gehalten. Doch wer weiß, wo der sich<br />

<strong>im</strong> Jahr 1522 herumtrieb, vielleicht hatten sie sich inzwischen auch verkracht.<br />

*<br />

Nachtsitzungen – <strong>Faust</strong> in den ersten Kreisen der Gesellschaft<br />

Es ist Camerarius, der <strong>im</strong> „Tuus <strong>Faust</strong>us-Brief“ bei Stibar so dringend nach <strong>Faust</strong>s<br />

Prognose über den Ausgang <strong>des</strong> Krieges zwischen Karl V. und Franz I. verlangt.<br />

Wobei allerdings keineswegs auszuschließen ist, dass Melanchthon hinter der Anfrage<br />

<strong>des</strong> Camerarius steht.<br />

Denn wer sich durch „MBW“ liest, wird feststellen, dass Melanchthon bei der Lösung<br />

<strong>des</strong> Glaubensstreits wenig auf Papst und Fürsten gab, dass sein Hoffen so sehr auf<br />

den Kaiser gerichtet war, dass man die Anfrage „Siegt der Kaiser? So muss es freilich<br />

geschehen!“ gleichsam als „Melanchthon pur“ bezeichnen darf.<br />

Die Anfrage fällt zudem in ein Jahrzehnt, in welchem die Unsicherheit über die Zukunft<br />

<strong>des</strong> Protestantismus schlicht unerträglich geworden war; die Häufung astrologischer<br />

Anfragen und Fragen in „MBW“ in diesem Zeitraum ist unübersehbar.<br />

Ein Brief Melanchthons an Camerarius mit der entsprechenden Anfrage oder aber<br />

zumin<strong>des</strong>t ein Brief, in welchem der Sieg <strong>des</strong> Kaisers und die Konsequenzen daraus<br />

erörtert werden, müsste sich in „MBW“, Band 2 (1531-1539) finden. Ein Brief solcherlei<br />

Inhalte findet sich darin nicht – nach allem, was „MBW“ hergibt, müsste ein Brief dieser<br />

Art jedoch existieren; darüber später mehr.<br />

Camerarius verfasste den „Tuus <strong>Faust</strong>us-Brief“ zudem kurz vor dem Besuch<br />

Melanchthons in Tübingen. Zwar war das Verhältnis zwischen Melanchthon und<br />

Herzog Ulrich harmoniefrei, doch eine Begegnung Melanchthons mit Herzog Ulrich<br />

war unausweichlich; es kam dann auch zu einem gehe<strong>im</strong>en Gespräch. Nachdem Rom<br />

be<strong>im</strong> Glaubensstreit sich nicht bewegte, war die Frage, ob der Kaiser siegreich sei und<br />

dann auf die innenpolitische Bühne zurückkehrte, von hoher Bedeutung; die Frage war<br />

gewiss bei jenem gehe<strong>im</strong>en Gespräch erörtert worden.<br />

Um den Inhalt und die Hintergründe <strong>des</strong> „Tuus <strong>Faust</strong>us-Briefes“ abzuklären bieten sich<br />

drei Quellen an: einmal „MBW“, sodann der Briefverkehr <strong>des</strong> Camerarius sowie die<br />

Briefe <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>-Freunds Stibar an Camerarius.<br />

Zunächst zu Stibar: Seine Briefe an Camerarius sind heute allesamt verschollen.<br />

Wieviel Stück es gewesen sein mögen, es lässt sich schätzen. Stibar starb 1555,<br />

seine Freundschaft mit Camerarius begann 1517, so man nur 2 Briefe <strong>im</strong> Monat zu<br />

Grunde legt – das ist wenig in jener Zeit geschwätziger Vielschreiberei, kommt man<br />

93


auf etwa 900 Briefe. Nun kann man Abstriche vornehmen, schließlich werden sich die<br />

beiden auch mal eine Zeitlang aus den Augen verloren haben, doch viel weniger als<br />

300 Briefe werden es wohl kaum gewesen sein.<br />

Warum sie entsorgt wurden? Eventuell war ein wenig zu oft von „Dr. <strong>Faust</strong>us“ in ihnen<br />

die Rede gewesen. Zuvorderst dürften sie jedoch deutlich gemacht haben, in welchem<br />

Umfang der katholische Unterhändler Stibar seinen Melanchthon-Freund Camerarius<br />

nach Informationen abgebürstet, beziehungsweise über Camerarius nolens volens<br />

Fehlinformationen nach Wittenberg durchgereicht hatte.<br />

Was nun Melanchthon und Camerarius angeht, beide wurden post mortem<br />

instrumentalisiert und auch stilisiert, sie waren für das historische Bild von den<br />

Anfängen <strong>des</strong> Protestantismus, sodann in ihrem Höchstmaß an Anspruch traditioneller<br />

Bildung, als Wegbereiter staatstragenden Bildungsbürgertums viel zu bedeutsam, als<br />

dass man ihre Briefportraits ungereinigt der Nachwelt überliefern durfte; das<br />

Engagement eines Verschönerungsvereins war zwingend.<br />

Der Briefbestand <strong>des</strong> Camerarius präsentiert sich heute mit ein wenig mehr als nichts.<br />

Erasmus von Rotterdam (1469-1536) war das gelehrte Aushängeschild der alten<br />

Kirche, Joach<strong>im</strong> Camerarius (1500-1574) – sein ansehensmäßiger Nachfolger, war das<br />

gelehrte Aushängeschild der reformierten Kirche. Das heute bekannte Briefwerk <strong>des</strong><br />

Erasmus von Rotterdam umfasst 2000 Briefe, das Briefwerk <strong>des</strong> Joach<strong>im</strong> Camerarius<br />

umfasst 200 Briefe.<br />

Eine frappante Differenz, wo täglich Briefe geschrieben wurden, wo jeder Gebildete zu<br />

jeder Zeit mit einem Dutzend anderer in Briefkontakt stand.<br />

Wie übel der Verschönerungsverein dabei hauste, wird be<strong>im</strong> Blättern in „Melanchthons<br />

Briefwechsel“ deutlich.<br />

Wiederholt bedankt sich Melanchthon bei Camerarius für die zahlreichen Briefe, so<br />

bespielweise in seinem Brief vom 12.5.1531, und wiederholt bittet er um<br />

Entschuldigung, dass er viel zu selten zurückschreibe. Doch in “MBW“ finden sich<br />

laufend Briefe Melanchthons an Camerarius, doch unverhältnismäßig wenige Antwortschreiben<br />

<strong>des</strong> Camerarius.<br />

In Anbetracht der Unversöhnlichkeit zwischen Katholiken und Protestanten, die in<br />

ihren Ausläufern gewiss bis in die 50er Jahre <strong>des</strong> letzten Jahrhunderts reichte, und der<br />

Tatsache, dass Camerarius zu jenen gehörte, die den Bruch der Christenheit zu kitten<br />

suchten, wurden wahrscheinlich zum einen jene Briefe entsorgt, die das Bild vom<br />

verlässlichen Protestanten Camerarius störten. Der Vernichtung anhe<strong>im</strong> fielen auch<br />

jene Schreiben, in welchen sich Camerarius allzu deftig über die Fürsten, <strong>im</strong><br />

Besonderen aber über Herzog Ulrich von Württemberg äußerte.<br />

Denn 1534 wurde Württemberg an Herzog Ulrich restituiert und mit dem Jahr 1534<br />

betreibt der Herzog die Reformierung Württembergs. Durch die Einziehung der<br />

Kirchengüter erfährt das Herzogtum zum einen eine deutliche Vergrößerung, zum<br />

anderen wechseln die vormaligen Klosterdörfer in die Leibeigenschaft <strong>des</strong> Herzogs.<br />

Mit Blick auf den Reichsfrieden wird die Reformierung sanft betrieben, die<br />

unmittelbaren Kirchengüter werden einer eigenen Verwaltung unterstellt, katholische<br />

Geistliche erhalten eine Pension. Ansonsten betreibt der Herzog jedoch eine rigorose<br />

Steuerpolitik; seine Hofhaltung ist unangemessen aufwendig, seine Festungsbauten<br />

verschlingen Unsummen. Die Bedrückung der Landbevölkerung erreicht binnen<br />

kurzem ein derartiges Unmaß, bereits 1534 bringt Camerarius eine Ekloge über das<br />

harte Los der Bauern unter den Gebildeten in Umlauf; wenngleich in lateinischer<br />

Sprache – ein ungewöhnliches wie hochherziges Engagement.<br />

Der hochgebildete Philologe einerseits und der jähzornige und gewalttätige Herzog<br />

andererseits – einige Historiker sprechen von einer ererbten Geisteskrankheit, das war<br />

wie Wasser und Feuer.<br />

Zwar wird Camerarius vom Herzog nach dem ehrenvollen Besuch Melanchthons in<br />

Tübingen <strong>im</strong> Jahr 1536 noch zum Rektor der Universität ernannt, doch bereits 1541<br />

rettete er sich mit Hilfe Melanchthons in eine Professur nach Leipzig.<br />

Nach Auskunft der Camerarius-Forschungsstelle ist die Zeit <strong>des</strong> Camerarius in<br />

Tübingen bis zur Stunde nicht wissenschaftlich aufgearbeitet. (Sic!)<br />

94


Der Tenor der Camerarius-Briefe dürfte sich auch nach 1541 kaum verändert haben,<br />

die Misswirtschaft bei Hofe, das Verschleudern von Steuergeldern, wurde auch in<br />

Kursachsen praktiziert. Als Camerarius 1535 eine Geldanlage be<strong>im</strong> Kursächsischen<br />

Hof ins Auge fasst, rät ihm Melanchthon in mehreren Briefen entschieden ab – wegen<br />

der Misswirtschaft.<br />

Camerarius und Melanchthon – ein Herz und eine Seele. Nicht allein, das sie sich über<br />

Herzog Ulrich einig sind, sie wissen auch was sie mit zunehmenden Jahren allgemein<br />

von den Fürsten und deren Räten zu halten haben: Intriganten, Hazardeure,<br />

Bildungsverächter, Verschwender, Ausbeuter. Am 24. Febr. 1549 schreibt<br />

Melanchthon an Camerarius: „Fürsten sind Atheisten oder habgierige Heuchler wie<br />

Kurfürst Joach<strong>im</strong> II. von Brandenburg.“ Er schreibt weiter, dass Joach<strong>im</strong> II. von<br />

Brandenburg von Wittenberger Kindern besch<strong>im</strong>pft wurde, das Gespräch mit ihm<br />

verweigerte, statt<strong>des</strong>sen wegen der Besch<strong>im</strong>pfungen Beschwerde einlegen ließ.<br />

Der Gründe, um in den nachfolgenden Zeiten „Gott begnadeter Fürstenherrlichkeit“<br />

den Briefwechsel <strong>des</strong> Camerarius zu kürzen, waren also reichlich.<br />

Und die in etwa gleichen Gründe ließen den Verschönerungsverein auch bei den<br />

nachgelassenen Briefen Melanchthons zupacken. Der heute bekannte Briefwechsel<br />

Melanchthons umfasst 9301 Schreiben und Notizen. Das erscheint <strong>im</strong> Vergleich mit<br />

dem Briefwerk <strong>des</strong> Erasmus von Rotterdam als viel. Doch Melanchthon führte nicht<br />

nur eine wissenschaftliche Korrespondenz, er war mit Verwaltungsaufgaben, mit der<br />

Auslegung von theologischen Fragen befasst, er suchte einen Konsens mit den<br />

verschiedenen evangelischen Gruppierungen, er war politisch gefordert. Wie hoch der<br />

Bestand an Schriftstücken gewesen war? Es sollte nicht überraschen, falls der Ur-<br />

Bestand dabei auf 50 000 und mehr Dokumente geschätzt würde,<br />

Heinz Scheible, Herausgeber der „Melanchthons Briefwechsel“, sieht die Gründe für<br />

die Lücken <strong>im</strong> Briefwechsel einmal bei Melanchthon selbst; Melanchthon wäre bei der<br />

Aufbewahrung von Briefen nachlässig gewesen. Dem muss nicht widersprochen<br />

werden, wiederholt schreibt Melanchthon, dass er etwas vergessen oder schon wieder<br />

etwas verlegt habe. Doch „vergessen und verlegt“ bedeutet nicht zwangsläufig<br />

„verlieren“. In „MBW“, Band 8, notiert Melanchthon, dass in der Zeit der Besetzung von<br />

Wittenberg während <strong>des</strong> Schmalkaldischen Krieges, ein deutlicher Teil seiner Bücher<br />

verloren ging. Es liegt nahe, dass dabei auch Briefe abhanden kamen. Im nämlichen<br />

Band beschwert sich Melanchthon wiederholt, dass aktuell, also etwa um 1558, seine<br />

Briefe auf dem Botenweg gezielt abgefangen werden.<br />

Heinz Scheible schreibt <strong>des</strong>weiteren <strong>im</strong> Vorwort, „MBW“ Band 1: „Als Wolfgang Crell<br />

1574 mit anderen Philippisten (durch den Kurfürst von Sachsen) ausgewiesen wurde,<br />

durfte er das nahezu druckfertige Manuskript (einer Sammlung von Melanchthon-<br />

Briefen) nicht mitnehmen. Zwei Bände Briefabschriften <strong>des</strong> Theologieprofessors<br />

Heinrich Moller, der mehr als zehn Jahre Melanchthons Hausgenosse gewesen war,<br />

wurden ebenfalls beschlagnahmt und sind seitdem verschollen.“<br />

Es war Manlius gewesen, der mit „Farrago“ <strong>im</strong> Jahr 1565, erstmalig Melanchthon-<br />

Briefe publizierte, es folgte Peucer mit „Epistolae selectiores aliquot“ <strong>im</strong> Jahr 1566 (?),<br />

sodann Camerarius. Die Briefe, soweit in jenen frühen Publikationen abgedruckt,<br />

waren zu einem guten Teil retuschiert. Heinz Scheible schreibt: „Camerarius hat<br />

Namen unkenntlich gemacht, Urteile abgemildert, ganze Passagen neu formuliert …<br />

notwendige Retuschen, um die zu befürchtende Empörung über manche Äußerung<br />

abzufangen.“<br />

Soweit zu den erklärbaren und nachgewiesenen Bestandsverlusten, zu denen sich<br />

freilich die Verluste durch Wirren und Zerstörungen nachfolgender Kriege addieren.<br />

Dass auch ein Verschönerungsverein den Bestand dez<strong>im</strong>ierte, lässt sich mühelos<br />

erschließen. In „MBW“ ist kein einziges Mal von einer Hexe, von einem Zauberer die<br />

Rede, <strong>des</strong>weiteren wurde keine Kräuterärztin, kein Wahrsager und auch kein<br />

Teufelskerl verfolgt, gefoltert und verbrannt. Laut „MBW“ wurden Protestanten in den<br />

Niederlanden, Frankreich, Spanien, Italien, Bayern und auch zeitweise in England<br />

dransaliert, beraubt, ermordet und auch verbrannt. Auf reformiertem Boden hingegen<br />

95


– mit Ausnahme der Wiedertäufer, wurde niemand drangsaliert oder gar ausgewiesen.<br />

Und was Melanchthon selbst angeht, gemäß „MBW“ muss er ein Mensch gewesen<br />

sein, der wohl 150 Jahre später gelebt hat.<br />

Was allesamt nichts anderes bedeutet, als dass der Verschönerungsverein dem<br />

Vorbild bildungshungriger Jugend nicht mit Pinsel und Cajalstift zu Leibe rückte,<br />

sondern es in dummdreister Manier mit B<strong>im</strong>sstein abschrubbte – und noch <strong>im</strong>mer nicht<br />

sorgfältig genug war. „MBW“, insbesondere Band 2, ist eine einzige Indiskretion, trotz<br />

der Skelettierung enthüllt er u. a. noch <strong>im</strong>mer, wie Luther und Melanchthon, die beiden<br />

Heroen der Reformation, von den protestantischen Fürsten gegängelt und geschubst<br />

wurden.<br />

Nun mag man auf den zuvor erwähnten Brief vom 24. Febr. 1549 verweisen, in<br />

welchem Melanchthon schreibt, „Fürsten sind Atheisten …“. Die bloße Existenz eines<br />

derart radikalen Schreibens widerlege die Behauptung, dass ein Verschönerungsverein<br />

wirkte.<br />

Zum einen sei angemerkt, Briefe dieser Deutlichkeit sind wahrhaft seltene Perlen in<br />

„MBW“; das Gros der Informationen erschließt sich durch stetig wiederkehrende<br />

Aussagen <strong>im</strong> Pixelformat.<br />

Desweiteren notierte Hans Scheible in der Fußnote jenes Briefes: COD. II, 288.<br />

Das bedeutet gemäß der Erläuterungen in „MBW“, der Brief gehört zum Codex<br />

Chisianus J VIII 293 und 294 der Bibliotheca Vaticana, Rom.<br />

Soweit zu einem stark ausgekämmten Briefwechsel, der einst jenen Brief enthalten<br />

haben müsste, der heute nicht mehr existiert. Denn das, was <strong>Faust</strong> mit Stibar, und<br />

Stibar mit Camerarius verband, war auch Teil der Freundschaft zwischen Camerarius<br />

und Melanchthon: Melanchthons Leidenschaft für Horoskope; sie wird in „MBW“<br />

durchlaufend bestätigt. Es wird die Problematik der Ermittlung der Geburtsstunde<br />

angesprochen, es werden die Namen von Astrologen gereicht: Johannes Virdung,<br />

Johannes Carion, Johannes Pfeil, Johannes Capistor u. a. In bald jedem zweiten Brief<br />

geht es um die Geburtsdaten von Erzbischöfen, Kurfürsten und Königen; allesamt<br />

Persönlichkeiten, die <strong>im</strong> aktuellen Geschehen durch ihre Parteinahme oder auch<br />

Unentschiedenheit von Bedeutung sind. So bittet Melanchthon beispielsweise <strong>im</strong> Brief<br />

vom 12. Okt 1537 Camerarius um das Horoskop <strong>des</strong> Königs von Frankreich sowie um<br />

eine allgemeine Prognose für das Jahr 1538.<br />

Das Urteil der Sterne wird auch den Neugeborenen <strong>im</strong> Bekanntenkreis sofort zuteil<br />

und gelegentlich müssen selbst Studenten bangen: Ein gewisser „Isaak Horning ist<br />

bockig gegen Melanchthon“. Bevor Melanchthon nun <strong>des</strong>sen Vater empfiehlt, Isaaks<br />

Studium zu beenden, fragt er um Isaaks Geburtsstunde an, um für Isaak das<br />

Lebenshoroskop zu stellen.<br />

Melanchthon nutzte die Astrologie zur Abrundung einer Einschätzung, die sich<br />

zuvorderst aus Informationen, Meinungen und seinen persönlichen Überlegungen<br />

al<strong>im</strong>entierte. So er sich dann auch noch durch die Sterne bestätigt sah, war er`s<br />

zufrieden, bestätigten die Sterne seine Überlegung nicht, überprüfte er seine<br />

Gedanken.<br />

Es sei an dieser Stelle noch mal jenen <strong>Faust</strong>forschern widersprochen, die meinen, der<br />

hochgelehrte Philippus zu Wittenberg hätte <strong>Faust</strong> nur vom Hörensagen gekannt:<br />

Melanchthon war nicht nur mit dem Thema „<strong>Faust</strong>“ vertraut, er muss sich für <strong>Faust</strong>,<br />

nicht zuletzt wegen der Treffsicherheit <strong>des</strong>sen „astrologischer“ Prognosen, unbedingt<br />

interessiert haben.<br />

In „MBW“ findet sich die magisch-mediumistische Welt, wie sie auch <strong>Faust</strong> mit seiner<br />

illustren Titelkette für sich reklamiert. Melanchthon wird wiederholt über erregende<br />

Wolkenbilder informiert, <strong>des</strong>weiteren über eine Geburt unter Austritt von Flammen,<br />

über eine Sonne mit Nebensonnen, über einen Spuk, über blutigen Regen. Er erhält<br />

Kenntnis von einer Blutquelle, von einem Erdbeben in Böhmen, von blutendem<br />

Getreide. Ihm wird mitgeteilt, dass sich ein Erdspalt in einer Stadt auftat, aus dem nun<br />

96


Dampf quillt. Man berichtet ihm, dass ein Heuschreckenschwarm den Troß König<br />

Ferdinands, Bruder <strong>des</strong> Kaisers, überfiel.<br />

So wir den Menschen jener Zeit erklärten, dass sich selbst die „Nebensonnen“<br />

physikalisch erklären, dass es sich um eine Haloerscheinung handelt, für die es<br />

hexagonale Eiskristalle in der Luft braucht und einen Sonnenstand von weniger als 22°<br />

über dem Horizont, die Menschen wären verblüfft – aber nur über die verbohrte<br />

Engstirnigkeit <strong>des</strong> modernen Menschen.<br />

Denn die Erklärung änderte doch nichts daran, dass es sich um ein bemerkenswertes<br />

Ereignis handelte. Und entscheidend ist doch, dass diese Erscheinung gerade jetzt,<br />

und nicht früher oder später passierte; weiß doch selbst ein Kind, dass je<strong>des</strong> dieser<br />

seltsamen Ereignisse ein Fingerzeig oder gar eine Warnung ist.<br />

Melanchthon war es zugedacht, je<strong>des</strong> dieser Ereignisse wie ein Seher zu deuten.<br />

Gemäß „MBW“ war für ihn das Ausdeuten etwas Selbstverständliches, und wie es<br />

scheint, verstand er einiges von der Sache. Melanchthon war offenbar medial belastet,<br />

er selbst hatte häufig Wahr- und Warnträume, auch schrieb er Channelgedichte.<br />

Dass Melanchthon neben anderen Astrologen auch bei seinem Freund Camerarius<br />

nach dem „Sieg <strong>des</strong> Kaisers“ fragt – „Melanchthons Briefwechsel“ lässt keine andere<br />

Aussage zu, ist von einer derartigen Selbstverständlichkeit, es wäre vielmehr höchst<br />

unverständlich, so er nicht angefragt hätte.<br />

Melanchthons Brief mit der Frage „Siegt der Kaiser?“ <strong>im</strong> Vorfeld <strong>des</strong> „Tuus <strong>Faust</strong>us-<br />

Briefes“ wurde vermutlich <strong>des</strong>halb entsorgt, da man nicht allein den übrigen Aussagen<br />

<strong>des</strong> „Tuus <strong>Faust</strong>us-Briefes“ den Vorrang gab, Melanchthons Anfrage neben dem „Tuus<br />

<strong>Faust</strong>us-Brief“ zu belassen, es hätte offenbart, dass Camerarius seinen Freund<br />

Melanchthon mit Horoskopen, sprich Lageeinschätzungen, aus <strong>Faust</strong>s Feder bedient<br />

hatte.<br />

Und zwar wiederholt – wie die Betrachtung <strong>des</strong> „Tuus <strong>Faust</strong>us-Briefes“ zeigen wird.<br />

Der Weltwitz ist perfekt: Die astrologisch verbrämten Erkenntnisse <strong>des</strong> „Scheißhaus<br />

vieler Teufel“ flossen mit den Briefen <strong>des</strong> Camerarius über das Pult <strong>des</strong> hochgelehrten<br />

Philippus in <strong>des</strong>sen Positionspapiere und weiter auf den Tisch <strong>des</strong> Schmalkaldischen<br />

Bun<strong>des</strong>.<br />

<strong>Faust</strong> – wie auch anders, <strong>im</strong> Auge <strong>des</strong> Zeitorkans! Not- und Geburtshelfer <strong>des</strong><br />

Protestantismus oder gar hinterhältiger Hemmschuh?<br />

Die Frage, ob Camerarius die Prognosen selbst unterschrieb oder unter „<strong>Faust</strong>“ nach<br />

Wittenberg reichte, ist dabei nahezu unwichtig. Angesichts <strong>des</strong> unbeschwerten<br />

Briefverkehrs darf man annehmen, Melanchthon wusste von der Nähe <strong>Faust</strong>s zu<br />

Camerarius.<br />

Es existiert ein Brief Melanchthons vom 9. März 1536, in welchem er schreibt, dass er<br />

sich über die von Camerarius erwähnten Schriften und Angelegenheiten eines<br />

gemeinsamen Freun<strong>des</strong> bei seinem Besuch in Tübingen äußern will.<br />

Handelte es sich bei diesem namenlosen „Freund“ etwa um <strong>Faust</strong>?<br />

Auszuschließen ist es nicht, denn <strong>Faust</strong> war nun wirklich keine Person, die ein Philipp<br />

Melanchthon offiziell näher kennen durfte, vier Jahre zuvor hatte das protestantische<br />

Nürnberg „Doctor <strong>Faust</strong>o, dem grossen Sodomitten und Nigromantico“ die Stadttore<br />

vor der Nase zugeknallt.<br />

Wie es auch <strong>im</strong>mer sich verhielt, <strong>Faust</strong>s astrologische Überlegungen haben zumin<strong>des</strong>t<br />

ihren Niederschlag in den Briefen <strong>des</strong> Camerarius an Melanchthon gefunden.<br />

Es stellt sich allerdings die Frage, ob Melanchthon nicht bei Stibar direkt angefragt<br />

hatte; Stibar und Melanchthon hatten sich 1526 in Wittenberg kennen gelernt.<br />

Die Frage beantwortet ein Brief Melanchthons an Stibar vom 29. Sept. 1536,<br />

geschrieben in Tübingen: Melanchthon bedankt sich darin für Stibars Brief, er freut<br />

sich, dass Stibar die alte Freundschaft wieder aufleben ließ, er hofft dass die<br />

Freundschaft der Gemäßigten dem Gemeinwohl und der Kirche diene, … Empfehlung<br />

an Moritz von Hutten und Glückwunsch zu <strong>des</strong>sen Amtsantritt als Würzburger<br />

Dompropst.<br />

97


Der Brief bestätigt, dass Melanchthon den katholischen Unterhändler Moritz von Hutten<br />

kannte, er erzählt allerdings auch, dass Stibar und Melanchthon sich aus den Augen<br />

verloren hatten.<br />

Der Briefwechsel Camerarius-Stibar existiert nicht mehr und mit Blick auf den<br />

„teuflischen <strong>Faust</strong>“ passt es trefflich ins Bild, dass nur ein einziger Brief erhalten blieb,<br />

in welchem dann auch prompt von <strong>Faust</strong> die Rede ist und – das ist wichtig, er<br />

protestantisch korrekt und von keinem Geringerem als Camerarius <strong>des</strong> „nichtigsten<br />

Aberglaubens und der Gaukelei“ bezichtigt wird. Angenehm auch, dass Camerarius<br />

den Sieg <strong>des</strong> Kaisers wünschte.<br />

Textstellen, die dem Verschönerungsverein nur gefallen konnte und so blieben uns<br />

wenigstens ein paar Sätze von der Quadriga „Camerarius – Stibar – Moritz von Hutten<br />

– <strong>Faust</strong>“ erhalten.<br />

Wieder einmal zu wenig an Material, als dass sich auch nur ein einziger ordentlicher<br />

Wissenschaftler engagierte, doch genug, damit sich die Schar der <strong>Faust</strong>-Freunde einen<br />

Festschmaus bereitet. Die wenigen Zeilen verraten, dass <strong>Faust</strong> in ersten Kreisen der<br />

Gesellschaft verkehrte, dass Camerarius <strong>Faust</strong> für eine Koryphäe in Sachen der<br />

Astrologie hielt und nicht zuletzt erzählen sie, dass <strong>Faust</strong> als Astrologe in politischen<br />

Fragen konsultiert wurde.<br />

<strong>Faust</strong> hatte also die Finger <strong>im</strong> Brei, inwiefern er dabei den Fortgang der Ereignisse<br />

beeinflusste, wird gewiss nicht mehr zu klären zu sein.<br />

Vor dem Genuss der Zeilen sei daran erinnert, Camerarius war Humanist und<br />

obendrein Protestant. So offen und herzlich, ob nun <strong>im</strong> Gespräch oder über Briefe,<br />

man auch sonst in diesem Kreis miteinander Umgang pflegte, Camerarius hatte in<br />

Sachen „<strong>Faust</strong>“ genug der Gründe, sich bei Schriftwechseln relativ bedeckt zu halten,<br />

die Sachverhalte nicht direkt anzusprechen, sondern sich in Umschreibungen zu üben.<br />

Der entsprechende Abschnitt <strong>im</strong> „Tuus <strong>Faust</strong>us“-Brief lautet:<br />

„Wo ist denn unser lieber Hutten? Er wollte sich doch als mein Begleiter beigesellen.<br />

Einzig und allein die Erwartung seiner Ankunft hält mich hier fest, und er schrieb doch<br />

niemals so ausdrücklich wie neulich, dass er kommen werde.<br />

Vor den Nonen (diesen Monat, vor kurzem) habe ich eine sehr traurige Nacht<br />

verbracht, als Luna <strong>im</strong> Sternbild der Fische zu Mars in Opposition stand. Dein <strong>Faust</strong><br />

nämlich veranlasst mich, dass es beliebt, mit dir das zu erörtern;<br />

wenn er dich doch lieber ein bisschen von dieser Kunst gelehrt haben möchte, als<br />

dass er dich aufgeblasen hätte mit dem Wind <strong>des</strong> nichtigsten Aberglaubens und dich<br />

in Spannung gehalten hätte mit ich weiß nicht was für Gaukelei.<br />

Aber was sagt uns jener endlich?<br />

Und was noch?<br />

Ich weiß nämlich, dass du dich sorgfältig nach allem erkundigt hast.<br />

Siegt der Kaiser? So muß es freilich geschehen.<br />

Freilich erzählen einige Leute, der Papst wolle seine gleichsam friedenstiftende<br />

Person einschalten und von jedem der beiden 20 000 Soldaten anfordern, um mit ihrer<br />

Hilfe das Konzil – das er demnächst einberufen wird – schützen und die Widerspenstigen<br />

zur Ordnung rufen zu können. Das jedenfalls behaupten jedenfalls einige<br />

Franzosen, die sich hier mit Literatur beschäftigen.<br />

Ich habe kleinere Preisgedichte auf den Kaiser herausgegeben, und zwar in aller Eile,<br />

<strong>des</strong>halb sind sie nicht ganz durchgefeilt.<br />

Ich habe sie Dir gewidmet, und ich habe Philipp von Hutten erwähnt …“<br />

Zunächst geht es um den Verbleib <strong>des</strong> „lieben Hutten?“. Die Frage, oberflächlich<br />

betrachtet, belegt ein herzliches Verhältnis sowie die Ungeduld, einen geschätzten<br />

Menschen so rasch wie möglich wiederzusehen.<br />

Doch dieser geschätzte Mensch ist ein wichtiger Unterhändler der katholischen Kirche,<br />

was nicht weniger bedeutet, als dass Camerarius diesen Unterhändler dringend<br />

sprechen will.<br />

98


Die Frage nach dem „lieben Hutten“ ist bei Stibar goldrichtig; der <strong>Faust</strong>-Freund Stibar<br />

erwarb 1532 bei Würzburg ein Hofgut und Moritz von Hutten ist dort häufig zu Gast,<br />

ein offenbar recht idyllischer Ort, eine Art Villa Kornblum, mit der auch Camerarius seit<br />

einer Würzburg-Reise <strong>im</strong> Herbst 1533 vertraut ist.<br />

Anschließend ist von „Luna <strong>im</strong> Sternbild der Fische …“ die Rede, ein Sternbild, das<br />

Camerarius sehr traurig machte. Als Ursache der Traurigkeit wird <strong>im</strong> nachfolgenden<br />

Satz <strong>Faust</strong> genannt.<br />

„Luna <strong>im</strong> Sternbild der Fische …“ ist wohl als Datumsangabe zu verstehen. Bedeutet<br />

es etwa, dass <strong>Faust</strong> versprochen hatte, sich bis zu diesem Termin über den Sieg <strong>des</strong><br />

Kaisers zu äußern?<br />

Den Zeilen <strong>des</strong> Camerarius müssen zumin<strong>des</strong>t zwei Briefe, beziehungsweise zwei<br />

Gespräche vorausgegangen sein, einmal eine Anfrage <strong>des</strong> Camerarius, sodann die<br />

Auskunft Stibars, dass <strong>Faust</strong> die ersehnte Information nicht liefert, statt<strong>des</strong>sen seinen<br />

Lieferverzug mit Verweis auf „höhere Kräfte“ begründet. Wie bereits in „Astrologie, die<br />

große Hure“ angesprochen, spielte <strong>Faust</strong> wohl auf Zeit, schlicht <strong>des</strong>halb, weil es ein<br />

Ding der Unmöglichkeit ist, in den Sternen die kommenden Ereignisse auf dem<br />

Schlachtfeld zu lesen.<br />

„Aber was sagt uns jener endlich?“ heißt es weiter.<br />

Zuvorderst spricht aus der Formulierung Ungeduld, wenn nicht sogar Ungehaltensein,<br />

jedoch auch, dass der Schreiber auf einer Auskunft über den Ausgang <strong>des</strong> Krieges<br />

beharrt; was nicht wenig erstaunlich ist, da er sich soeben noch über <strong>Faust</strong>s hohlsten<br />

Aberglauben erregte.<br />

Das Wort „endlich“ verrät darüber hinaus, dass Camerarius bereits seit einiger Zeit auf<br />

Antwort drängt.<br />

Macht man sich bewusst, dass der angesehene Philologe Camerarius ungeduldig wird,<br />

obwohl er selbst Astrologe ist, dann erschließt sich, dass diesen Zeilen deutlich mehr<br />

voraus ging, als lediglich eine einzige Anfrage <strong>des</strong> Camerarius, dass die Frage nach<br />

dem Sieg bereits mehrmals angesprochen wurde, was selbstredend auch den Zeitraum<br />

erweitert, in dem die Frage nach dem Sieg <strong>des</strong> Kaisers zur Klärung ansteht.<br />

Camerius weiß doch schließlich selbst am Besten, dass die Sprache der Sterne<br />

gelegentlich widersprüchlich ist, dass man auf eine direkte Frage nicht unbedingt eine<br />

unmittelbare Antwort erhält, insbesondere wenn es um schwierige Sachverhalte geht.<br />

Er weiß, dass man sich dann über indirekte Fragestellungen behelfen muss, um die<br />

„Neigung der Sterne“ über die „Verrechnung“ verschiedener „Aussagen“ zu erarbeiten,<br />

was die „Findung“ gewiss nicht einfacher macht. Auch darf man annehmen, dass er die<br />

Frage nach dem Sieg <strong>des</strong> Kaisers selbst wiederholt über einer „Sternenkarte“ bebrütet<br />

und offenbar auch keine Antwort findet.<br />

Die Annahme, dass Camerarius mit dem „Tuus <strong>Faust</strong>us“-Brief eine wiederholte Anfrage<br />

auf den Weg brachte, scheint zulässig. Sie findet einmal Unterstützung durch die<br />

Annahme, dass es sich bei „Luna <strong>im</strong> Sternbild der Fische …“ um eine Datumsangabe<br />

handelt, der Zeitpunkt, zu dem <strong>Faust</strong> anfänglich wohl liefern wollte – in einem<br />

nachfolgenden Bescheid nahm er dann Zuflucht <strong>im</strong> „Aberglauben“, sowie durch die<br />

Formulierung „und dich in Spannung gehalten hätte“.<br />

„Aber was sagt uns jener endlich?“ Aus der Formulierung selbst sowie aus dem<br />

Umstand, dass der Astrologe Camerarius – obgleich inzwischen reichlich verärgert,<br />

auf Auskunft beharrt, erschließt sich, dass Camerarius von <strong>Faust</strong>s Künsten nicht nur<br />

überzeugt ist, sondern auch überaus verwöhnt ist; <strong>Faust</strong> muss ihn bislang mit<br />

verlässlichen Prognosen bedient haben.<br />

Es wurde bereits an anderer Stelle gesagt, <strong>Faust</strong> fischte vermutlich gezielt<br />

Informationen, die Astrologie war dabei sein <strong>Visier</strong>; es brauchte niemand wissen, dass<br />

seine Prognosen das Resultat von Kontakten, Recherche und gewiss auch eines<br />

geschulten Verstan<strong>des</strong> waren.<br />

Doch nicht allein die Frage nach dem Sieg <strong>des</strong> Kaisers interessiert Camerarius. „Und<br />

was noch?“ heißt es weiter <strong>im</strong> Text. Diese Frage macht nur Sinn, so man sie<br />

99


dahingehend versteht, dass <strong>Faust</strong> mit mehreren Fragen konfrontiert wurde, wobei die<br />

Frage nach dem Sieg freilich Priorität hat.<br />

„Ich weiß nämlich, dass du dich sorgfältig nach allem erkundigt hast.“ Wer möchte<br />

daran zweifeln, Stibar war auch als Richter tätig. Er hat <strong>Faust</strong> abgeklopft, von oben bis<br />

unten, ihn gleichsam ins Kreuzverhör genommen, festzustellen, ob <strong>Faust</strong> vielleicht<br />

doch etwas weiß, es mit Rücksicht auf einen anderen Klienten verschweigt oder aus<br />

welchen Gründen auch <strong>im</strong>mer, es für sich behält.<br />

Es mag noch angehen, dass Camerarius als angesehener Protestant und Freund<br />

Melanchthons sich schriftlich nach <strong>Faust</strong>s Prognose über den Sieg <strong>des</strong> Kaisers<br />

erkundigte; die gestellte Frage ist wichtig genug, da kann ein angesehener Protestant<br />

sich durchaus den Lapsus leisten, Auskunft bei einem verrufenen Teufelskerl zu<br />

suchen. Doch dass Camerarius sich derart exponierte, einen Katalog von Fragen, die<br />

an <strong>Faust</strong> zu richten seien, auf den Postweg zu bringen, es erscheint als wenig denkbar.<br />

Durchlaufend ist „MBW“ zu entnehmen, dass Briefe nicht ankamen, weiter zu leitende<br />

Briefe versehentlich geöffnet wurden oder auch, dass der Bote nicht zuverlässig sei. Es<br />

scheint, dass Boten gelegentlich – so die Adressaten interessant genug waren, Briefe<br />

bündelweise unter der Hand verkauften, bzw die Anfertigung von Abschriften<br />

gestatteten.<br />

Die Antwort, was sich <strong>im</strong> Vorfeld <strong>des</strong> „Tuus <strong>Faust</strong>us-Briefes“ zugetragen haben könnte,<br />

liefern einmal „Reisetagebücher“, wie sie von Historikern auf der Basis von Briefen<br />

rekonstruiert werden, sowie eine Würdigung jener Humanisten und Gebildeten, die <strong>im</strong><br />

Religionsstreit zu vermitteln suchten.<br />

Für die Gebildeten jener Zeit war die <strong>im</strong>mer deutlicher sich abzeichnende Spaltung der<br />

Kirche ein Schock – ein Kultur-, ein Weltschock; durch das Fundament der Kirche,<br />

einem Bau mit einer Geschichte von eineinhalbtausend Jahren, lief ein Riss, der sich<br />

unaufhaltsam zu einer Kluft verbreitern wollte.<br />

Bis zum Religionsfrieden von 1555, mit dem Spaltung festgeschrieben wurde, mühten<br />

sich die Gebildeten beider Lager einen Ausgleich zu suchen, die Auffassung und die<br />

Ansprüche Roms mit den Anliegen der Reformer in Einklang zu bringen.<br />

Ihre Einigungsbemühungen sind durch unzählige Briefe dokumentiert, sie waren<br />

Gegenstand offizieller Missionen und das best<strong>im</strong>mende Thema privater Gespräche.<br />

Im April 1536 sind Moritz von Hutten und Stibar bei Camerarius in Tübingen zu Besuch.<br />

In Gesprächen bis tief in die Nächte hinein erörtern sie die gegenwärtige Situation und<br />

Nachrichtenlage; bei<strong>des</strong> präsentierte sich gemäß „MBW“ reichlich gemischt:<br />

Brief 1525, M. an Camerarius, 10. Jan. 1535:<br />

Camerarius soll M. über die Rüstungen <strong>des</strong> Kaisers gegen Frankreich unterrichten.<br />

Brief 1608, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an M., 17. Aug. 1535:<br />

Anbei auch für Luther neue Zeitungen über einen Sieg <strong>des</strong> Kaisers über Chaireddin<br />

Barbarossa in Tunis.<br />

Brief 1638, M. an Camerarius, 4.Okt. 1535:<br />

Vom Bruder <strong>des</strong> Kaisers, König Ferdinand in Wien, kommt die Nachricht, dass der<br />

Kaiser von Afrika komme, um über ein Konzil zu verhandeln. M. fürchtet, dass<br />

Frankreich das Konzil verhindere, um den Kaiser in einen deutschen Krieg zu<br />

verwickeln.<br />

Brief 1640, M. an den englischen Gesandten Mont, 4.Okt. 1535:<br />

M. wünscht weitere Beratungen in einem durch die Könige einzuberufenden Religionsgespräch,<br />

da ein freies Konzil nicht zu erwarten sei.<br />

Brief 1643, M. an Bugenhagen?, 5.Okt. 1535:<br />

Nachricht, der Kaiser habe die Absicht, in Italien mit dem Papst über ein Konzil zu<br />

verhandeln. Desweiteren über die den Frieden hindernde antikaiserliche Politik <strong>des</strong><br />

Königs von Frankreich, angesichts deren Eintracht nötig wäre.<br />

Brief 1645, M. an Hieronymus Baumgartner, 11.Okt. 1535:<br />

100


M. erbittet Nachricht über die Ankunft <strong>des</strong> Kaisers in Italien und das Konzil.<br />

Brief 1648, M. an Frecht, 18.Okt. 1535:<br />

Wenn der Kaiser ein Konzil einberuft, müssen die Protestanten zuvor untereinander<br />

über die Abendmahlslehre u. a. verhandeln.<br />

Brief 1665, M. an Camerarius, 29.Nov. 1535:<br />

Der päpstliche Nuntius Pietro Paolo Vergerio bringt keine Gewissheit über das Konzil.<br />

Brief 1676, M. an Jakob Sturm, 11.Dez. 1535:<br />

Da der Kaiser ein Nationalkonzil zustande bringen wird …<br />

Brief 1677, die Mitglieder <strong>des</strong> schmalkaldischen Bun<strong>des</strong> an Vergerio, 21.Dez. 1535:<br />

Papst Paul III. hat ein Konzil in Mantua angekündigt. Ein solches Konzil ist nicht frei …<br />

da…<br />

Brief 1679, M. i. A. <strong>des</strong> schmalkalischen Bun<strong>des</strong> an den engl. Gesandten Edward Fox:<br />

Warnung vor dem päpstlichen Konzil …<br />

Brief 1680, M. i. A. <strong>des</strong> schmalkalischen Bun<strong>des</strong> an den französischen König, 22.Dez.<br />

1535: Bitte um Förderung eines freien Konzils …<br />

Brief 1698, M. an Camerarius, 10.Feb. 1536:<br />

Der König von Frankreich wolle einen Krieg um Mailand beginnen, das Konzil werde<br />

verzögert.<br />

Brief 1733, M. an Veit Dietrich, 9.Mai 1536:<br />

M. erbittet Nachricht über den Krieg zwischen dem Kaiser und dem fr. König.<br />

Brief 1755, M. an Jonas, 21.Juni 1536:<br />

Nichts Gewisses über den Kaiser. Briefe aus Italien berichten von Rüstungen.<br />

Aushebungen (von Truppen) in der Nachbarschaft der Niederlande, da Herzog Karl<br />

von Geldern sich wohl für Frankreich entschieden hat.<br />

Brief 1763, Kurfürst von Sachsen an die Theologen und Juristen der Universität von<br />

Wittenberg, 24.Juli 1536:<br />

Da das Konzil nicht in Deutschland abgehalten werde und ein Kardinal in dieser Sache<br />

unterwegs sei, werden die Gelehrten um ein Gutachten ersucht, wie er und der<br />

Schmalkaldische Bund sich zu verhalten haben.<br />

Die Antwort auf diese Frage erfolgte dann am 6. Aug. 1536 dahingehend, dass die<br />

Einberufung durch den Papst sowie der Ort Mantua keine Gründe zur Zurückweisung<br />

seien; eine Antwort, die zu diesem Zeitpunkt jene nächtlichen Beratungen und auch<br />

den „Tuus <strong>Faust</strong>us-Brief“ nicht mehr berührte.<br />

Es geht also neben anderem um ein Konzil. Doch sollte Rom tatsächlich ein Konzil<br />

einberufen, bei welchem es sich gefallen lassen musste, wegen Sündhaftigkeit<br />

angeklagt zu werden? Und für den Fall, dass es doch zustande käme, wie sollten die<br />

Protestanten ihre Sache verhandeln, da sie selbst in Fragen der Auslegung und <strong>des</strong><br />

Ritus derart zerstritten waren? Wobei es freilich zuvorderst darum ginge, den<br />

sündhaften Machtmissbrauch Roms abzustellen, eine Angelegenheit, die eventuell<br />

auch Könige und Fürsten untereinander klären konnten; eine Option, die<br />

vielversprechend war, nachdem auch König Heinrich VIII von England wieder mit dem<br />

Gedanken spielte die Reformation anzunehmen. Eine andere Option war die<br />

Einberufung eines Konzils durch den Kaiser, eventuell eines Nationalkonzils.<br />

Andererseits durfte der Kaiser es sich nicht allzusehr mit dem Papst verderben, denn<br />

das bedeutete eine Stärkung seines Widersachers, <strong>des</strong> Königs von Frankreich, der<br />

gemäß letzten Nachrichten, einen Krieg um Mailand beginnen wollte, somit die<br />

päpstlichen Konzilsvorbereitungen störte, was folglich in Deutschland weiterhin Zwist<br />

und Hader wuchern ließ. Und lebte Deutschland nicht ohnehin bereits am Rande eines<br />

Bruderkriegs, an <strong>des</strong>sen Ende die Spaltung <strong>des</strong> Reichs stand?<br />

Anderseits stellte sich die Frage, ob es überhaupt ein Konzil brauchte, schließlich<br />

waren der Kaiser und seine Fürsten auch in der Lage gewesen den „Nürnberger<br />

Anstand“ auszuhandeln, so man auf dieser Ebene weiter verhandelte …<br />

101


Nächtliches Gedankenwürfeln, das sich am Ende in die Hoffnung rettete, dass der<br />

Kaiser auf die innenpolitische Bühne zurückkehrte und wieder zusammenfügte, was<br />

Papst und Protestanten <strong>im</strong>mer weiter auseinander sch<strong>im</strong>pften.<br />

Hoffen auf den Kaiser, eine Hoffnung, die sich freilich auf die Erfüllung einer anderen<br />

Hoffnung gründete, dass dem Kaiser der Sieg gewährt sei, damit er endlich die Hände<br />

frei bekäme. „Siegt der Kaiser?“ Der Kaiser, der Krieg und das Glück – eine vertrackte<br />

Kombination, was allerdings nur eine Frage von vielen war. Wie ging es dann weiter,<br />

wie würde es sich entwickeln, würde man sich wieder zusammen finden oder würde<br />

die Entscheidung doch in einem Bruderkrieg gesucht. Ein Krieg, den die Protestanten<br />

zumin<strong>des</strong>t damals kaum gewinnen konnten. So viele Unwägbarkeiten, die Antworten<br />

mochte der H<strong>im</strong>mel, die Sterne wissen. Joach<strong>im</strong> Camerarius, der Astrologe, hat das<br />

Wort in der kleinen Runde. Antworten, wie dem „Tuus <strong>Faust</strong>“-Brief zu entnehmen ist,<br />

hat er nicht; die Sprache der Sterne ist in dieser Sache nicht weniger unklar wie die<br />

Sache selbst.<br />

Kein Problem, Stibar ist mit <strong>Faust</strong> befreundet und so trennt man sich und tröstet sich<br />

mit <strong>Faust</strong>. Stibar wird alle diese Fragen mit <strong>Faust</strong> besprechen.<br />

Monate später ist Camerarius mit seiner Geduld am Ende: „wenn er dich doch lieber<br />

ein bisschen von dieser Kunst gelehrt haben möchte, die er mit etwas Wind <strong>des</strong><br />

nichtigsten Aberglaubens aufgeblasen, oder ich weiß nicht welcher Gaukelei<br />

aufrechterhalten haben möchte.“<br />

Dass Camerarius <strong>im</strong> Anschluß daran seine Anfrage dennoch erneuert, ist wie bereits<br />

gesagt, höchst erstaunlich. Sicherlich erklärt es sich dadurch, dass die Angelegenheit<br />

für Camerarius von höchster Bedeutung ist und er sich selbst keinen Rat weiß, doch<br />

Camerarius ist offenbar der festen Überzeugung, dass <strong>Faust</strong> die Antworten in den<br />

Sternen zu lesen weiß. Und das ganz gewiss nicht <strong>des</strong>halb, weil – wie einige<br />

<strong>Faust</strong>forscher annehmen, ihm sein Freund Stibar, bei welcher Gelegenheit auch<br />

<strong>im</strong>mer, von einem ominösen <strong>Faust</strong> berichtet hatte, der auf alle große Fragen der Zeit,<br />

die Antworten in den Sternen zu lesen verstünde.<br />

„Freilich erzählen einige Leute“ heißt es weiter, „der Papst wolle seine gleichsam<br />

friedenstiftende Person einschalten und von jedem der beiden 20 000 Soldaten<br />

anfordern, um mit ihrer Hilfe das Konzil – das er demnächst einberufen wird –<br />

schützen und die Widerspenstigen zur Ordnung rufen zu können.<br />

Das jedenfalls behaupten jedenfalls einige Franzosen, die sich hier bei uns mit<br />

Literatur beschäftigen.“<br />

Eine Textstelle, die Argwohn erzeugt; sich mit Dr. <strong>Faust</strong>us zu befassen, macht<br />

zwangsläufig misstrauisch.<br />

Camerarius, <strong>im</strong>merhin Philologe und erfahrener Schreiber, der sonst so zielstrebig die<br />

einzelnen Punkte seines Briefes abarbeitet, würdigt sich herab ein Gerücht<br />

wiederzugeben, der Satzbau ist dabei verschachtelt, auch handelt es sich um das<br />

Gerede einiger Literaturinteressierter, die in der Sache wohl wenig kompetent sind.<br />

Der Kern <strong>des</strong> Gerüchts: Der Papst wird ein Konzil einberufen, und zwischen dem<br />

Kaiser und dem französischen König vermitteln.<br />

Also eventuell doch ein Konzil, und zwar mit doppeltem Auftrag.<br />

Eine Fama mit Nachrichtenwert, und trotzdem nur eine Fama unter vielen in jenen<br />

Monaten. Die freilich nahtlos zu jenen Zitaten aus „MBW“ passt: ein anstehen<strong>des</strong><br />

Konzil und ein drohender Krieg waren die Themen in jenen Monaten.<br />

Und auch für die gewaltige Heeresmacht von 40 000 Söldnern findet sich eine<br />

Erklärung. Denn ein Jahr später, am 29.Mai 1537, schreibt Melanchthon an Veit<br />

Dietrich, Papst Paul III. soll das Konzil verschoben haben, weil Herzog Frederigo<br />

Gonzaga von Mantua aus Furcht vor einem Handstreich auf die Stadt Schwierigkeiten<br />

macht.<br />

Das Konzil findet dann ohne die Protestanten statt, denn die päpstliche Einladung<br />

enthält eine Vorverurteilung der Protestanten. Und der Krieg um Mailand findet<br />

überhaupt nicht statt. Im Brief vom 6.Juli 1537 heißt es, der französische König zog<br />

102


wegen einer Seuche seine Truppen aus den Niederlanden zurück, ohne sie nach<br />

Italien zu führen.<br />

Die Textstelle, anders als der Trithemius-Brief, verbirgt also kein großes Gehe<strong>im</strong>nis.<br />

Bestenfalls läßt sich vermuten, dass der Abschnitt zeigt in welcher Art und Weise<br />

Camerarius jene Fragen kenntlich machte, die Stibar bitte an <strong>Faust</strong> richten möge. Da<br />

ist einmal die Kenntlichmachung durch einen Rahmen: Eingangs ist von „einigen<br />

Leuten“ die Rede, zum Schluss werden sie als „einige Franzosen“ verifiziert.<br />

Die Frage selbst könnte durch die Bin<strong>des</strong>triche gekennzeichnet sein: „ …das Konzil –<br />

das er demnächst einberufen wird – „.<br />

Eventuell hat Camerarius be<strong>im</strong> Begrübeln, warum <strong>Faust</strong> nicht liefert, als mögliche<br />

Fehlerquelle die Fragestellung entdeckt. Die Sterne schweigen auf die Frage nach<br />

Sieg oder Unsieg, während sie hingegen nach der Schlichtung durch ein Konzil befragt<br />

eventuell eine Antwort wissen.<br />

„Ich habe kleinere Preisgedichte auf den Kaiser herausgegeben, und zwar in aller Eile,<br />

<strong>des</strong>halb sind sie nicht ganz durchgefeilt.<br />

Ich habe sie Dir gewidmet, und ich habe Philipp von Hutten erwähnt …“<br />

Zum Schluss also Kusshändchen, einmal für Stibar, einmal für den Bruder <strong>des</strong> „lieben<br />

Hutten“ und ganz besonders viele für den Kaiser, schließlich handelt es sich um<br />

Preisgedichte auf den Kaiser. Lobpreisungen mit Fabrikationsfehlern - ein böses Foul<br />

<strong>im</strong> Strafraum der Philologie, was sich Camerarius da leistet.<br />

Andererseits, er hat es eilig. Der gesamte Abschnitt <strong>des</strong> Briefes spricht von Eile.<br />

Dringend will er den „lieben Hutten“ sprechen, „endlich“ will er wissen, was <strong>Faust</strong> zu<br />

sagen hat und auch für die Preisgedichte hatte er wenig Zeit.<br />

Was macht ihn denn so nervös?<br />

Muss man den Brief <strong>im</strong> Zusammenhang mit dem anstehenden Besuch Melanchthons<br />

in Tübingen sehen? Glaubte Camerarius, er müsse <strong>Faust</strong>s Prognose für Melanchthon<br />

in Erfahrung bringen?<br />

Oder suchte er für sich selbst eine Orientierung, einen Halt auf schlüpfrigen Grund?<br />

Melanchthon trifft dann auch von Bretten kommend am Sonntag, den 24.9.1536 in<br />

Tübingen ein, er bleibt bis zum 14.Oktober.<br />

Man darf sich den Moment vorstellen, so Camerarius in Anwesenheit Melanchthons<br />

dem versammelten Collegium der Universität Tübingen erklärt hätte, dass er <strong>im</strong> Besitz<br />

einer Prognose aus verlässlicher Hand sei, die besagt, dass es kein Konzil geben<br />

werde, der Kaiser jedoch siegreich, und eine Versammlung der deutschen Fürsten<br />

einberufen werde. Nach den vielen Monaten quälender Ungewissheit, der Moment der<br />

Erlösung.<br />

Bis zum 13.8.1536, dem Datum <strong>des</strong> „Tuus-<strong>Faust</strong>us“-Briefes, hatte <strong>Faust</strong> nicht<br />

geliefert, ob er in den nachfolgenden Wochen noch lieferte?<br />

Da <strong>Faust</strong> offenbar nicht die Möglichkeit nutzte, einen Zufallstreffer zu landen sowie die<br />

Tatsache, dass Camerarius so große Stücke von <strong>Faust</strong> hielt, lässt den Schluss zu,<br />

<strong>Faust</strong> muss ein überaus verlässlicher wie auch ehrgeiziger Berater gewesen sein.<br />

Der allgemein gepflegten Annahme, <strong>Faust</strong> sei lediglich ein Scharlatan gewesen, darf<br />

widersprochen werden.<br />

*<br />

„Doctor iuris utriusque“ – die Entwicklung <strong>des</strong> Rechts<br />

Am Morgen <strong>des</strong> 10. Dezembers 1520 trennte sich Martin Luther in aller Form von der<br />

Kirche. Er verbrannte vor dem Elstertor in Wittenberg einen Plakatdruck der Bannbulle<br />

„Exsurge Domine“; mit dieser Bulle, „Erhebe Dich Herr“, war er aufgefordert worden,<br />

Teile seiner 95 Thesen binnen 60 Tagen zu widerrufen. Luther hatte auf die Bulle mit<br />

der Schrift „Von der Freyheith eines Christenmenschen“ geantwortet.<br />

103


Des Weiteren verbrannte Luther einige Schriften seiner erbittersten Gegner <strong>im</strong><br />

Glaubensstreit, Johann Ecks und Hieronymus Emsers, sowie die Sammlung der<br />

päpstlichen Dekretalen, die Kodifikation <strong>des</strong> kirchlichen Rechts.<br />

Mit Blick auf Luther verkündete das Konzil von Trient (1545-1563): „Wer sagt, Jesus<br />

Christus sei den Menschen von Gott als Erlöser gesandt, dem sie vertrauen, nicht aber<br />

zugleich als Gesetzgeber, dem sie gehorchen sollen, der sei verflucht!“<br />

Der Anspruch höchster Gesetzgeber zu sein, bedeutet zwangsläufig den Besitz der<br />

Universalgewalt in geistlichen wie weltlichen Dingen. Diese „plenitudo potestatis“<br />

wurde, nachdem die Kirche sich ausweglos in die „Inneren Kreuzzüge“, die<br />

Ketzerkriege, verstrickt hatte, unter dem Juristen und Papst Innozenz III. <strong>im</strong> Jahre 1215<br />

zur Leitlinie <strong>des</strong> 4. Laterankonzils.<br />

Der Anspruch der Kirche, höchster irdischer Gesetzgeber zu sein, ergab sich also nicht<br />

zwangsläufig aus dem Anspruch der Stellvertretung Christi auf Erden, sondern aus der<br />

Überdehnung dieses Anspruchs, was allerdings die Voraussetzung war, um Ketzerei<br />

und Hexerei als Hochverrat zu definieren.<br />

Entsprechend dem Grundgedanken „Ecclesia vivit lege romana“, die Kirche lebt durch<br />

römisches Gesetz, konnte dann das 4. Laterankonzil den Einsatz der Folter<br />

beschließen, denn <strong>im</strong> Alten Rom war bei Anklage auf Hochverrat die Folter zulässig<br />

gewesen.<br />

Mit dem Einsatz der Folter werden dann auch die Ketzer niedergeworfen werden.<br />

Und mit diesem Weltanspruch kam das 4. Laterankonzil dann auch überein, die Juden<br />

nun entgültig zur Annahme <strong>des</strong> christlichen Glaubens zu zwingen; es verschärfte und<br />

erweiterte die Reihe der judenfeindlichen Gesetze, auch wurde das Judenabzeichen<br />

eingeführt.<br />

In den Auseinandersetzung mit den französischen Königen – die auf die Auseinandersetzungen<br />

mit den Kaisern folgten, wurde <strong>im</strong> Jahr 1302 die Unterwerfung unter den<br />

alleinigen Herrschaftsanspruch für heilsnotwendig erklärt: „Nulla salus extra ecclesiam.“<br />

Die entsprechende Bulle trägt den Namen „Unam Sanctam“, darin heißt es: „Dass<br />

demnach alle menschliche Kreatur bei Verlust ihres Seelenheils dem römischen Papst<br />

untertan sein muss, erklären, sagen und definieren wir hiermit.“<br />

Worauf der französische König den Papst nach Avignon presste.<br />

Der Jurist Rudolph Sohm meinte dazu rückblickend: „Das Wesen eines allumfassenden<br />

Kirchenrechts steht mit dem Wesen der Kirche <strong>im</strong> Widerspruch.“<br />

Voraussetzung, dass die in ihren Anfängen nur lehrende Kirche bald zu einer<br />

gesetzgebenden Kirche werden konnte, war eine <strong>Neufassung</strong> <strong>des</strong> alten römischen<br />

Rechts, sie erfolgte in Byzanz <strong>im</strong> Jahr 534. Das Gesetzeswerk trägt den Namen<br />

„Codex Justiniani“, dem allerdings alte römische Gesetze beigeordnet blieben.<br />

Der „Codex Justiniani“ wurde auch von der katholischen Kirche übernommen und<br />

laufend erweitert, z. B. durch von Fall zu Fall erforderliche päpstliche Edikte; Edikte<br />

haben Gesetzeskraft.<br />

Die Anwendung der Gesetze begann mit den Sendgerichtssprengeln der Archidiakone,<br />

den ordentlichen geistlichen Richtern.<br />

Für bedeutsame Entscheidungen gab es bischöfliche Sendgerichte.<br />

Selbstredend existierten auch weltliche Gerichtsbarkeiten, sie werden an dieser Stelle<br />

nicht dargestellt.<br />

Ob nun Archidiakone oder Beisitzer <strong>des</strong> bischöflichen Gerichts, sie kamen aus der<br />

Schicht der Domherren, Dechanten, Pröpste und Äbte, waren also privilegierter, später<br />

dann adeliger Herkunft. Ab dem Jahr 1000 zogen sich diese Geistlichen von den<br />

Richterämtern zurück, an ihre Stelle traten allmählich studierte Kanoniker, Juristen <strong>des</strong><br />

kirchlichen Rechts.<br />

(Canon griech.-lat.: Stab, Richtstab, Norm, Rohr)<br />

Diese Kanoniker sind die Begründer <strong>des</strong> Juristenstands, deren Vertreter auch heute<br />

noch bei Gericht <strong>im</strong> Talar und mit Barett auftreten.<br />

104


Unter allen Studienfächern besaß das der Theologie, dicht gefolgt von der<br />

Jurisprudenz, das höchste Ansehen. Dazu ein Textfragment, es wurde mit weiteren<br />

Fragmenten, aus „Höfische Kultur“ von Joach<strong>im</strong> Bumke, sinngemäß ergänzt:<br />

„Um 1200<br />

Früher war es Brauch, nur wenige ausgewählte Geistliche von hoher Begabung, nicht<br />

allein zu Hause, sondern am Rhein oder gar in Frankreich bei den berühmten Lehrern<br />

von Re<strong>im</strong>s, Laon, Chartres, Paris oder Orléans studieren zu lassen.<br />

Seit einigen Jahren strömen in großer Zahl auch jene Landsleute dorthin, die nach<br />

Ämtern streben; ein Studium zu Hause erscheint jetzt als gering: es gilt als wenig<br />

höfisch, nur eine Sprache zu sprechen, die geschmeidige Beweglichkeit der<br />

französischen Sprache sowie die Erhabenheit scharfsinniger Gedankengänge<br />

bereiteten ein höheres Entzücken.<br />

Die Klugheit der neuen Lehrer sei zu preisen, der Eifer der Studenten zu loben, da sie<br />

zu deren Füßen sitzen, zuhören, fleißig aufschreiben und abschreiben, damit auch die<br />

Freunde in der He<strong>im</strong>at teilhaben an französischem Scharfsinn und Gewandtheit der<br />

Rede.<br />

Wenngleich jetzt auch in Frankreich, die ehrwürdigen Lehrer und ihre Studenten unter<br />

dem Schutz <strong>des</strong> Königs stehen, dazu ein eigenes Gericht haben, und wie es beliebt,<br />

auf allen Wegen kommen und gehen, jede Stadt betreten und verlassen dürfen, es<br />

bleibt eine mühevolle Aufgabe, sich Wissen anzueignen.<br />

Die Straßen, wie auch der Umgang mit aller Welt Menschen sind beschwerlich und<br />

niemals ungefährlich. Überall locken die Schenken mit Würfel und Brettspiel. Überall<br />

sind erpresserische Hauswirte, Räuber und schl<strong>im</strong>me Studenten: Jene von England<br />

sind Trinker, die Franzosen aber hochmütig, wollüstig und von unmännlicher Gestalt,<br />

die Italiener aufsässig, die Flamen putzsüchtig und verschwenderisch, die Dänen<br />

ahmen stets die Gepflogenheiten der Deutschen nach, von uns Deutschen aber wird<br />

gesagt, dass wir wütend sind und wüst bei den Gelagen.<br />

Nicht selten sind jetzt <strong>im</strong> ersten Stock die Schule und die Lehrer, darunter aber ein<br />

Bordell, in welchem die Dirnen ihr schändliches Gewerbe betreiben. Dazu sind alle<br />

Kosten hoch, der Studenten viele und der Quartiere zu wenige.<br />

Des Weiteren höre ich, dass man in Paris die Freien Künste sucht, in Bologna die<br />

Schriften <strong>des</strong> Rechts, in Salerno die Arzneikunde, in Orléans die Alten Autoren und in<br />

Toledo die Schwarze Kunst. Jedoch höre ich nicht, dass die Studenten zuletzt auch<br />

gedrängt werden, die guten Sitten zu suchen, denn nach den guten Sitten wird<br />

überhaupt nicht gefragt.<br />

Hingegen wird gesagt, dass die Lehrer nicht nur auf ihre Weisheit und ihre Kenntnisse<br />

in den Wissenschaften ungemein stolz sind und sich an der Bewunderung durch die<br />

Studenten äußerst erfreuen, sondern die Studenten mit hoffärtigsten Versprechungen<br />

anlocken; so verkünden sie, dass zur Jurisprudenz kommen solle, wer ein Amt erjagen<br />

will, dazu Freude an weltlichen Ruhm und Besitztümern hat.<br />

Also wird den Studenten auf ihren neuen Wegen auch der Hoffahrt Narrenspiel auf<br />

neue Art gelehrt.“<br />

Kanoniker waren bald nicht nur in der unmittelbaren Rechtspflege gesucht, sondern<br />

auch als Verwalter, Unterhändler und als Berater höchster Amtsinhaber. Dass die<br />

meisten von ihnen geistlichen Stan<strong>des</strong> waren, hatte durchaus Bedeutung für ihre<br />

Karriere innerhalb der Kirche, doch falls der Erbe <strong>des</strong> väterlichen Besitzes ausfiel,<br />

konnten sie in den weltlichen Stand zurücktreten und die Linie <strong>des</strong> Adelshauses<br />

weiterführen.<br />

Umfasste das Arbeitsgebiet der neuen Juristen anfänglich nur Streitigkeiten um<br />

kirchliche Güter und Rechte, so kamen rasch Streitigkeiten zwischen Klerikern und<br />

Laien hinzu, dann Rechtshilfeersuchen der Armen, Streitigkeiten zwischen Eheleuten<br />

und schließlich konnten auch alle denkbaren Fälle sündhafter Geschäfte wie Wucher<br />

oder Eidbruch vor ein geistliches Gericht getragen werden. Die geistlichen Gerichte<br />

hatten einen derartigen Zulauf, dass in den Städten wiederholt Verbote einer<br />

105


Inanspruchnahme ausgesprochen wurden. Wirksam umzusetzen waren die Verbote<br />

freilich nicht. Die geistlichen Gerichte arbeiteten schneller, das angewandte<br />

Prozessrecht war frei von irrationalen traditionellen Elementen, dazu war die<br />

Vollstreckung besser gesichert. Wo be<strong>im</strong> weltlichen Gericht der Vollzug an den<br />

Grenzen <strong>des</strong> Sprengels endete, war für die Kirche der Schuldner gleichsam überall<br />

erreichbar. Ganz zu schweigen von den kirchlichen Mitteln der Durchsetzung; die<br />

bevorstehende Exkommunikation, die Ausgrenzung aus der Gemeinde oder die<br />

Drohung ewiger Höllenqualen machten einem säumigen Schuldner Beine.<br />

Natürlich durfte hier ein heiliger Schutzpatron nicht fehlen, Ivo Hèlory, ein französischer<br />

Jurist; von dem allerdings der Volksmund behauptete, dass er nach seiner Aufnahme in<br />

den H<strong>im</strong>mel sofort die Leiter hinter sich hoch gezogen habe.<br />

Das aus Traditionen gewachsene weltliche Recht kannte viele Rechtskreise; unabhängig<br />

von einander gewachsen und schließlich zu einem sowohl widersprüchlichen<br />

wie verschachtelten System zusammengewachsen, erschwerte es die Rechtsfindung.<br />

Das außergerichtliche Schiedsverfahren wurde daher oft einem ordentlichen Prozess<br />

vorgezogen.<br />

Das weltliche Recht setzte dazu vor allem auf Mündlichkeit, sowohl in der Rechtsüberlieferung,<br />

als auch auf Zeugenaussagen bei aktuellen Fällen.<br />

Die römische Kirche entwickelte dagegen ein universales Rechtssystem.<br />

Die neuen Juristen führten den viel zitierten Aktenstaub, die Schriftlichkeit, also die<br />

“Entscheidung nach Aktenlage“ ein.<br />

Das heißt: Anklageschrift, Zeugenprotokolle, Dokumente als Beweise, „Briefe sind<br />

besser als Zeugen“.<br />

Um dem Anspruch <strong>des</strong> 4.Laterankonzils höchster Gesetzgeber zu sein und den damit<br />

verbundenen gewachsenen Anforderungen gerecht zu werden, begannen um 1230<br />

zuvorderst Kanoniker der Rechtsschule Bologna, die inzwischen deutlich gewachsene<br />

Masse <strong>des</strong> vormaligen „Codex Justiniani“ sinnfällig zu ordnen. Das Ergebnis ihrer<br />

Mühen, das römisch-kanonische Recht, ist selbst für den Laien heute noch sichtbar.<br />

„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“, „Augen auf! Kauf ist Kauf!“, „Pacta sunt<br />

servanda“, d. h. Verträge müssen gehalten werden, „Wer schreibt, der bleibt!“, das<br />

Wesen der Vertragsfreiheit, die Ehe auf der Grundlage der Willensbekundung von Frau<br />

und Mann anstelle der väterlichen Verfügungsgewalt. Und selbst der Ausdruck<br />

„anhängiges Verfahren“, geht auf jene Kanoniker zurück: Da man noch keine Schränke<br />

kannte, anderseits Mäusefraß fürchtete, wurden die Papiere der Verfahren in Köchern<br />

oder auch Röhren verwahrt, die an Schnüren von der Decke hingen.<br />

Als Einblick in die Denkweise jener Juristen, ein Ausschnitt aus einem Gutachten <strong>des</strong><br />

Thomas von Aquin aus der Zeit um 1260:<br />

„Denn wer zu einem best<strong>im</strong>mten Termin schuldet, handelt wucherisch, wenn er vor<br />

dem Termin zahlt, um einen Schuldnachlass zu erlangen, weil er offenbar den<br />

Zahlungstermin für Geld verkauft… Er wird auch nicht dadurch entschuldigt, dass er<br />

durch die vorzeitige Zahlung einen Nachteil erlitten habe, oder dass ihn ein anderer<br />

dazu verleitet habe, denn sonst könnten alle Wucherer entschuldigt werden.“<br />

Damals wie heute waren Spezialisten gesucht. Bartolus de Saxoferrato (1314-1357),<br />

wurde mit dem Spruch: „Nemo iurista nisi Bartolista“ gerühmt. Und sein Schüler Baldus<br />

de Ubaldis (1327-1400) verdiente sich durch streitige Erbeinsetzungen ein Vermögen<br />

von sagenhaften 15000 Dukaten; er hatte allerdings bei seinen Gutachten neben dem<br />

jeweiligen Statutarrecht (Stadtrecht) auch das kanonische Recht und das alte<br />

lombardische Lehnsrecht zu berücksichtigen. Letzteres bedeutet, das Rechtswissen<br />

<strong>des</strong> Baldus de Ubaldis umspannte 600 Jahre, er besaß selbst Kenntnsse weltlicher<br />

Rechtspflege, wie sie noch vor der Zeit der Karolinger in Italien geübt wurde.<br />

Unser heutiges europäisches Rechtssystem, das so einheitlich allerdings nicht existiert,<br />

ruht sowohl auf dem römischen Recht wie auf dem kanonischen Recht. Trotz<br />

Reformation und späterer Überarbeitungen, sie sind derart miteinander verzahnt, man<br />

kann sie nicht von einander trennen.<br />

„Doctor iuris utriusque“, Doktor beider Rechte, <strong>des</strong> römischen wie <strong>des</strong> kirchlichen<br />

Rechts – so lautet bis heute der vollständige Doktortitel eines Juristen.<br />

106


Mit dem „Wiener Konkordat“ von 1448 beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte <strong>des</strong><br />

Rechts. Dieses Konkordat erlaubte das Einzelkonkordat; der einzelne Fürst traf seine<br />

Vereinbarung mit Rom über die künftige Zusammenarbeit u. v. a. m.<br />

Die Lan<strong>des</strong>fürsten, ebenso die freien Städte, greifen von dieser Zeit an, also bereits<br />

lange vor Luther, auch <strong>im</strong>mer stärker in kirchliche Angelegenheiten hinein.<br />

In diesem Zusammenhang beschneiden sie die Zuständigkeit der geistlichen Gerichte,<br />

die unberechtigte Inanspruchnahme eines geistlichen Gerichts wird zunehmend<br />

verfolgt, während in die weltliche Rechtsprechung in verstärktem Maße römischkanonisches<br />

Recht in das überbrachte deutsche, germanische Recht einfließt.<br />

Dieses Ineinander, Miteinander und freilich auch Gegeneinander zweier Rechtswelten<br />

in diesen Jahrzehnten führte zu Fehlurteilen, zu unverständlichen Urteilen, zu<br />

Reibereien und Diskussionen darüber, was nun eigentlich Recht sei.<br />

Zustände, die einen schwäbischen Beamten zutiefst störten. Er machte sich an die<br />

Niederschrift <strong>des</strong> „Richterlich Klagspiegel“; das erste Rechtsbuch, das Inhalte römischkanonischen<br />

Rechts in allgemein verständlicher, auch volkstümlicher deutscher<br />

Sprache vermittelte. Es half den zu dieser Zeit zum größten Teil noch unstudierten<br />

weltlichen Richtern, Schöffen, Anklägern und Verteidigern, das einfließende römische<br />

Recht besser zu verstehen.<br />

In Verbindung mit der Entdeckung, dass man aus Textilien, genauer gesagt, aus<br />

gemahlenen Lumpen, Papier (1390) herstellen kann sowie der Erfindung <strong>des</strong><br />

Buchdrucks (1457), wurde der volkstümliche Klagspiegel zum Promotor der breiten<br />

Einführung römischen Rechts. Später war er die Grundlage der Bambergischen<br />

Halsgerichtsordnung, auf der wiederum die „Carolina“ aufbaute. Die volksnahe Sprache<br />

<strong>des</strong> Klagspiegels veranlasste nachfolgende Juristen das Werk auf dem neuesten Stand<br />

zu halten; trotz der „Carolina“ wurde es noch um 1600 nachgefragt und gedruckt.<br />

Der Verfasser <strong>des</strong> Klagspiegel, Conrad Heyden, studierter Jurist und Vorsteher der<br />

Stadtkanzlei in Schwäbisch Hall, hatte keinen Auftraggeber. Als er sich um 1436 an die<br />

Niederschrift machte, wollte er rein der Unkenntnis der Laien abhelfen.<br />

Nach: „Der Klagspiegel und sein Autor Conrad Heyden“ von Andreas Deutsch.<br />

1495 vereinbarten die Lan<strong>des</strong>fürsten, römisches Recht habe dort Vorrang, wo die<br />

Geltung <strong>des</strong> germanischen, deutschen Rechts nicht bewiesen sei. „Geltung“ bedeutet<br />

nicht „Gewohnheit“, heißt: Nun konnten auch die allerletzten Rud<strong>im</strong>ente „alten Rechts“<br />

abgeschafft werden.<br />

Das römische Recht aber ist den Menschen fremd, sie empfinden es als Willkür. Seine<br />

Umsetzung ist ein tiefer Eingriff in die überkommene bäuerliche Selbstverwaltung; die<br />

Dorfnobilitäten werden mehr und mehr in ihren richterlichen Zuständigkeiten<br />

eingeschränkt. Konnte sich vorher jeder über die Rechtsfindung unter der Linde als<br />

Zuschauer kundig machen und über die einzelnen Entscheidungen mit seinem<br />

Nächsten diskutieren, nun bleiben die Bänke zunehmend verwaist, das „Recht“ ist aus<br />

der Dorfgemeinschaft hinweg genommen; die Geschichtsschreibung bezeichnet es als<br />

Entmündigung.<br />

Jetzt muss man reisen, es muss das Gericht in der Stadt aufgesucht werden. Nicht nur,<br />

dass man von der Arbeit abgehalten wird, plötzlich muss man sich mit „Schriftkram“<br />

herum schlagen, wo man doch selbst nicht lesen und nicht schreiben kann, folglich sich<br />

an einen Schreiber wenden muss, der auch nur wieder Geld kostet.<br />

Die Gerichtskosten sind dabei nicht nur <strong>im</strong> Voraus zu entrichten, die Kostensätze<br />

werden laufend angehoben. Auch die Einnahmen aus der Verhängung von Strafgeldern<br />

machen das Gerichtswesen zu einer wichtigen städtischen, beziehungsweise<br />

fürstlichen Einnahmequelle.<br />

Die schrittweise Einführung <strong>des</strong> römischen Rechts schädigt die reichen Bauern zuletzt,<br />

als erstes trifft es die Kleinbauern, diese können die geforderten Gerichtskosten nicht<br />

<strong>im</strong> Voraus entrichten; sie verzichten auf die Durchsetzung ihres Rechts.<br />

Um der neuen Auffassung von Rechtspflege zügig Geltung zu verschaffen, sind die<br />

„neuen Staatsdiener“, nicht nur von Steuern befreit, es werden dafür Leute ausgewählt,<br />

die nicht weniger raubeinig als die Landbevölkerung sind.<br />

107


In den Dörfern sehen sich die Menschen mit der neuartigen Policey konfrontiert.<br />

Personen, die gegen ein Urteil Protest erheben, werden eingesperrt, sodann wird ein<br />

hohes Kostgeld erpresst. Ein Beamter gibt konfisziertes Diebesgut nicht heraus.<br />

Strafen und Gebühren werden willkürlich erhoben. Ein Beamter erhöht eigenmächtig<br />

das gerichtlich verhängte Bußgeld. Bei der Verfolgung wird die Engst<strong>im</strong>munität <strong>des</strong><br />

Hauses verletzt; je nach Region konnte es sich dabei um den gesamten überdachten<br />

Bereich handeln oder um den reinen Wohnbereich oder auch nur um die Schlafkammer.<br />

Und schnell sind die Vollzugsbeamten zur Hand, eine Familie auf die Straße zu jagen,<br />

die Steuerschuld aus eigener Tasche zu begleichen, anschließend die Hofstelle zu<br />

übernehmen und privilegiert zu bewirtschaften.<br />

Auch die Richter sind privilegiert, neben dem Richteramt sind ihnen steuerbefreite<br />

Unternehmungen gestattet. Recht zu sprechen und Handel zu treiben führt dann auch<br />

konsequenter Weise dazu, dass ein Richter schließlich 40% <strong>des</strong> Weinhandels einer<br />

fränkischen Stadt in Händen hält.<br />

So verschieden die regionalen Beweggründe für die Erhebung der Bauern waren, die<br />

veränderte Rechtspflege, die Durchsetzung derselben, die begleitenden Umstände und<br />

vielfältigen Konsequenzen daraus, waren eine der gemeinsamen Quellen wachsender<br />

Unzufriedenheit und Wut, die zum großen Bauernkrieg führten<br />

1540, fünfzehn Jahre nach dem Bauernkrieg, gibt Kurfürst Joach<strong>im</strong> II. von Brandenburg<br />

– ein sehr geldgieriger Fürst, dem brandenburgischen Adel die Erlaubnis zum<br />

„Bauernlegen“: Wüstungen, also aufgegebene Siedlungen und Höfe, dürfen den<br />

Rittergütern einverleibt werden, <strong>des</strong> Weiteren dürfen freie Bauern unter Einsatz aller<br />

Druckmittel zum Verkauf ihrer Höfe gezwungen werden. Die freien Bauern waren jene,<br />

die es über Jahrhunderte verstanden hatten, dem Status der Leibeigenschaft zu<br />

entgehen.<br />

Man kann die Entwicklung <strong>des</strong> Rechts und <strong>des</strong>sen Anwendung selbstredend auch<br />

völlig anders betrachten.<br />

F. Calasso in seinem „Medio Evo del Diritto“ von 1954: „Die Einheit beider Rechte<br />

wurzelt in der Unterordnung allen menschlichen Rechts, <strong>des</strong> geistlichen wie <strong>des</strong> weltlichen,<br />

unter die göttliche Gerechtigkeit. Kanonisches und römisches Recht waren also<br />

nur Erscheinungsformen der einen Rechtsidee.“<br />

„Der einen Rechtsidee!“ Was für eine Formulierung! Was für ein Anspruch!<br />

Andererseits, ein Italiener, an beiden Brüsten <strong>des</strong> Rechts genährt – an der einen, wie<br />

der andern – darf nicht anders schreiben.<br />

Lasse man ihm seinen Sonnenuntergang – und die Folterwerkzeuge unter dem Tisch.<br />

*<br />

Chinthugh bei Bagdad – über den Umgang mit Urkunden<br />

Chinthugh, irgendein Örtchen auf diesem Globus, derart unbedeutend, ganz gleich<br />

welche Variante seines Namen es sich zulegte, ob Kheitlingen oder Clüttelingen, es hat<br />

nur die eine Bedeutung, es existiert; eventuell irgendwo bei Bagdad.<br />

Wobei Chinthugh freilich eher auf Schottland weist, Knütelinge dagegen auf Schweden,<br />

Kheitlingen wiederum auf Arabien; ein verballhorntes „Sheik“, vielleicht auch abgeleitet<br />

von „Sheitan“, eine Art eingedeutschtes „Satanshausen“.<br />

Und jeder, der an einem schwarznebligen Herbstabend in Knittlingen anlangt, durch die<br />

Gassen <strong>des</strong> Städtchens stolpert, kann diese Sprachverwirrung auch körperlich erleben.<br />

Jenen Moment, da unvermittelt eine gewaltige Gestalt vor das nebelmüde Licht einer<br />

Laterne tritt. Verblüffung! Nasskalte Nebelsuppe sei Dank, es braucht nur ein Frösteln,<br />

um wieder zu wissen, dass man ganz gewiss nicht in Arabien gelandet ist, dennoch,<br />

die Verwirrung bleibt.<br />

Um sich Sicherheit zu schaffen, lässt man die Umrisse <strong>des</strong> Fremden vor dem Licht der<br />

Laterne hin und her gehen, und tritt schließlich näher. Man streckt die Hand aus und<br />

greift auf Metall, nasses kaltes Metall; noch eine Sache, die am kommenden Morgen in<br />

Augenschein genommen werden muss.<br />

108


Dass ein Ortsname <strong>im</strong>mer anders klang, folglich <strong>im</strong>mer anders geschrieben wurde, ist<br />

dem heutigen Menschen schwer zu vermitteln, <strong>im</strong> Allgemeinen ist er mit der<br />

Rechtschreibung vertraut. Um das seinerzeitige Chaos der „Rechtschreibung“ zu<br />

begreifen, sei jedermann empfohlen, ein auf Arabisch geführtes Gespräch nach Gehör<br />

mitzuschreiben.<br />

So er dann noch die verschiedenen Dialekte bedenkt, wird er <strong>im</strong> vorliegenden Fall auch<br />

ein Cunchelinge oder ein Cnuddelingun akzeptieren.<br />

Die Welt <strong>des</strong> Schreibens in Deutschland, selbst noch <strong>im</strong> späten Mittelalter schrieb man<br />

nach Gehör. Ein guter Teil der Verwirrung ist sicher auch der Verwilderung der Buchstaben<br />

zuzuschreiben, es gab noch keine Normschrift.<br />

Eine schillernde Vielfalt von Schreibweisen, nicht allein bei einem klingenden Namen<br />

wie Knittlingen. Auch ein Wurstmacher, ein gewisser Hans Jakob Mordenfuess, hatte<br />

seine Alias; mal wird er „Norttenfuoss“ geschrieben, ein anderes Mal ist er als<br />

„Nordenfuss“ notiert. Und selbst ein Wörtchen wie „dass“, brauchte seine Freiheiten, es<br />

findet sich in den Schriften als „daz“, „das“ oder gänzlich abgemagert auch als „dz“.<br />

Abgesehen von der Problematik einer Orthographie nach Gehör, zu allem Überfluss<br />

gibt es verschiedene Orte gleichen Namens.<br />

Um festzustellen, um welchen Ort, der in einer Urkunde genannt wird, es sich definitiv<br />

handelt, dafür sind die begleitenden Aussagen der Urkunde bald wichtiger als der<br />

genannte Ort selbst.<br />

Der Umgang mit Ortsangaben in Briefen, Berichten und Urkunden ist eine knifflige<br />

Angelegenheit; dass obendrein seit jeher gern gefälscht wurde, macht die Sache<br />

gelegentlich spannend, aber gewiss nicht einfacher.<br />

*<br />

Der Mann aus dem Nebel<br />

„Aus alten Knittlinger Tagen erreicht uns die Kunde, dass <strong>Faust</strong> ein Gerlacher war und<br />

in der Tat wurden auf der einstigen Hofstelle der Gerlachs dann auch aufregende<br />

Funde …“ Derart wohlfeil eröffnend, könnte man einen Streifzug durch Knittlingen<br />

beginnen. Da es jedoch um <strong>Faust</strong> geht, funktioniert das selbstredend wieder nicht,<br />

mehr noch, sobald derart salbungsvolle, sensationslüsterne Formulierungen auf dem<br />

Bildschirm blühen, in Sachen „<strong>Faust</strong>“ sind sie ein verlässliches Warnsignal.<br />

1837 wurde auf einem Knittlinger Anwesen ein „Zauberschrank“ entdeckt. Es ist Teil<br />

der örtlichen Überlieferung, auf diesem Grundstück stand einst das Anwesen einer<br />

Familie Gerlach. Mit der Auffindung <strong>des</strong> Schranks avancierte das nachfolgende<br />

Gebäude, es wurde um 1840 errichtet, zum heutigen <strong>Faust</strong>haus. Nachdem in diesem<br />

Haus um 1922 / 23 auch ein „Zauberzettel“ zum Vorschein kam, wurde <strong>Faust</strong> mit<br />

diesem Anwesen verstärkt in Verbindung gebracht. Und prinzipiell spricht nichts<br />

dagegen, dass der kleine <strong>Faust</strong> auch auf dem Misthaufen der Gerlachers einst den<br />

Handstand probte. Einige <strong>Faust</strong>forscher gehen allerdings soweit, sie sind geneigt<br />

anzunehmen, <strong>Faust</strong> wäre der uneheliche Spross eines Gerlachers gewesen.<br />

Die Vermutung, so gewunden und literarisch garniert sie auch präsentiert wird, <strong>Faust</strong><br />

sei ein Gerlacher gewesen, beruht auf keiner Überlieferung, sie ist ein Produkt dürrer<br />

Faktenlage, ein Gespinst von Logeleien, das nach 1923 in Umlauf gesetzt wurde.<br />

Dass diese „Überlieferung“, zu harten Fakten geronnen, ihren Weg in Lexika gefunden<br />

hat, ist „eben wieder mal typisch <strong>Faust</strong>“. In „Neue Deutsche Biographie“, Alfred<br />

Zastrau, Bd. 5, 1961, findet sich <strong>Faust</strong>, umrahmt von seiner Gerlacher Verwandtschaft.<br />

Nun Knittlinger Überlieferungen einige Tröpfchen Gerlacher Blut abzupressen, hilft<br />

auch nicht weiter. „Diese Gerlachs waren Grübler, religiöse Fanatiker, manche auch<br />

etwas schwärmerisch veranlagt, selbstbewusst und ihre Mitmenschen überragend!“<br />

Derartige Analogien herzustellen, ist zwar nicht verboten, doch es bleibt ein ungutes<br />

Gschmäckle. Zum einen handelt es sich um subjektive Einschätzungen, und selbst<br />

wenn diese überlieferten Merkmale korrekt wären, sie beziehen sich auf die auffälligen<br />

„Typen“, nicht auf die „normalen“ Gerlachs. „Auffällige Typen“ bleiben <strong>im</strong> Gedächtnis.<br />

Nicht zu vergessen, jede Sippe hält sich von Generation zu Generation min<strong>des</strong>tens<br />

109


einen „Clown“. Auch setzten die skizzierten Persönlichkeitsmerkmale voraus, dass uns<br />

<strong>Faust</strong> in seinem Charakter greifbar wäre.<br />

Den einzigen Hinweis auf <strong>Faust</strong>s Wesensart liefert der Manlius-Text. „…den tag vor<br />

seinem letzten ende / in einem Dorff in Wirtenberger landt gantz trawrig gesessen. Der<br />

Wirt fragt jn / Wie es keme / das er doch sonsten nicht pflegte.“<br />

<strong>Faust</strong> war offenbar zuvorderst ein gutgelaunter und vergnügter Mensch gewesen.<br />

Mehr lässt sich aus den Quellentexten und Indizien nicht herauslesen. Von den wilden<br />

Sprüchen <strong>des</strong> Selbstverkäufers auf <strong>des</strong>sen Charakter zu schließen, es verbietet sich.<br />

Auch wird behauptet, <strong>Faust</strong> hätte einen Buckel gehabt, er sei ein verwachsener<br />

Mensch gewesen; das dem so gewesen sei, dafür gibt es keinen Hinweis. Auch hätte<br />

es niemand einer Notiz für wert befunden; schief verwachsene Knochenbrüche, Narben<br />

von bösartigem Aussehen und dergleichen mehr, waren damals nicht ungewöhnlich.<br />

Das Knittlinger Wappen zeigt den Maulbronner Abtstab sowie zwei gekreuzte Knüttel,<br />

lateinisch: „fusti“. Könnte es sein, fragten <strong>Faust</strong>forscher, dass der „Georg Sabellicus“ <strong>im</strong><br />

Trithemius-Brief auf einen Georg Zabel verweist (lat-, Sand), der seinen Namen um<br />

einen Knüttel, einen „faustus“ erweiterte. Eine Annahme, die ins Leere geht; das<br />

Knittlinger Wappen zeigt um 1450 keine gekreuzten Prügel, sondern etwas „Floreales“.<br />

Eventuell handelte es sich um zwei langstielige Wasserlilien – eine Bezugnahme auf<br />

den Knittlinger See, das Rote Meer, oder um zwei Stengel Mä<strong>des</strong>üß aus <strong>des</strong>sen<br />

Uferbereich. Um 1700 zeigten die Stadtsiegel dann gekreuzte Ruder bzw. Schilfkolben.<br />

Der See wurde <strong>im</strong> letzten Jahrhundert zugeschüttet und mit ihm vielleicht auch die<br />

Antwort auf die Frage, was das Wappen ursprünglich darstellte.<br />

Könnte es sein, fragten andere, dass „<strong>Faust</strong>us“ ein frei gewählter Beiname ist; „faustus“<br />

bedeutet auf Lateinisch „der Glückliche“.<br />

Oder hieß er wirklich nur „<strong>Faust</strong>“, ein Name der gemäß der unter den Gebildeten<br />

gepflegten Latinisierung ihrer Familiennamen zu „<strong>Faust</strong>us“ wurde?<br />

Man lasse es der Einfachheit halber bei „<strong>Faust</strong>“. Aus einem derb-deutschen „<strong>Faust</strong>“<br />

wurde ohne großen Aufwand ein „<strong>Faust</strong>us“, gutmöglich auch ein „glücklicher“.<br />

Dass Knittlingen <strong>Faust</strong>s He<strong>im</strong>atort ist, es braucht nicht angezweifelt werden, <strong>Faust</strong>s<br />

Abstammung liegt jedoch <strong>im</strong> Dunkel. Aus welchen Verhältnissen er hingegen kam, der<br />

Melanchthon-Schüler Augustin Lerche<strong>im</strong>er notierte <strong>im</strong> Jahr 1597 in seinem „Christlich<br />

bedencken vnd erinnerung von Zauberey“: „Hatte weder Hauß noch Hof … war nirgent<br />

dahe<strong>im</strong> …“ War <strong>Faust</strong> also tatsächlich der Bankert einer Knittlinger Magd?<br />

*<br />

Knittlingen verliert die ersten zwei Indizien<br />

Der Weisert-Kaufbrief<br />

Am 3.März 1934 legte Karl Weisert, Lehrer und engagierter He<strong>im</strong>atforscher, dem Knittlinger<br />

Bürgermeister F. Lehner einen soeben aufgefundenen Kaufbrief von 1542 sowie<br />

eine Bleistift-Abschrift <strong>des</strong>selben zur amtlichen Beglaubigung vor. „Wohnbehausung<br />

<strong>des</strong> Frühmessers“ heißt es darin, „vnd Hofraytin samt Keller vnd übrig zugehord, alles<br />

an vnd beyeinand rechter hand vf dem berg neben der Cappel, eynseit <strong>des</strong> Jörgen<br />

Gerlachen seelig behausung, allwo <strong>Faust</strong>en born, auch neben der Wagenhüttin vnd<br />

beym kleinen gestaffelten Wandelgäßlen … zu einem vffrechten, steten, vesten vnd<br />

ewigen Kaufs verkauft.“<br />

Das Original wurde zwar durch eine Brandbombe vernichtet, doch <strong>im</strong>merhin, die<br />

Abschrift ist beglaubigt, und klipp und klar steht zu lesen: “allwo <strong>Faust</strong>en born“.<br />

<strong>Faust</strong>, ein Knittlinger! Da ist er, der Beweis!<br />

In einer Urkunde jener Zeit müsste jedoch „<strong>Faust</strong>en“ richtigerweise „<strong>Faust</strong>us“ lauten.<br />

Hat sich 1542 der Ratsschreiber verschrieben oder <strong>im</strong> Jahr 1934 der Lehrer Karl<br />

Weisert? Nicht zu vergessen der Bürgermeister, ihn störten weder Weiserts<br />

persönliche Anmerkungen auf der Abschrift, noch die Schmierzetteloptik der Abschrift,<br />

eventuell hat er auch nicht aufmerksam genug abgeglichen. Wer <strong>im</strong>mer da gepatzt<br />

hat, der Schreibfehler „<strong>Faust</strong>en“ verwies die amtlich beglaubigte Abschrift zu den<br />

Indizien.<br />

110


Es muss erwähnt werden, der <strong>Faust</strong>forscher Günther Mahal sieht in dem bewussten<br />

Schreibfehler „<strong>Faust</strong>en“ kein Problem, er verweist auf Cunrad Dieterichs „Ecclesiastes“<br />

von 1642. Darin heißt es: „Johann <strong>Faust</strong>en / der endtlich / da er lang gekünstlet / vom<br />

Teuffel an Stucken in se<strong>im</strong> Heymath bei Knittlingen zerrissen.“<br />

Dem kann entgegen gehalten werden, „Ecclesiastes“ wurde hundert Jahre später<br />

geschrieben. Der Umgang mit der Sprache hatte sich verändert, <strong>des</strong> weiteren unterlag<br />

die „Ecclesiastes“ nicht den Regeln der Urkundensprache, eine Freiheit, die Dieterichs<br />

wohl auch nutzte, „<strong>Faust</strong>en“ klingt großartiger als „<strong>Faust</strong>us“.<br />

Der Streit ist nicht weiter tragisch, selbst wenn es „<strong>Faust</strong>us“ hieße, es würde nur<br />

beweisen, dass dort irgendwann vor 1542 ein Bub mit dem Familiennamen „<strong>Faust</strong>“<br />

geboren wurde, doch um welchen <strong>Faust</strong> es sich dabei handelte, das bliebe letztlich –<br />

selbst wenn er <strong>im</strong> <strong>Faust</strong>haus geboren wurde – stets mit einem Fragezeichen behaftet.<br />

Es fehlt die zweite Information, die diesen <strong>Faust</strong> unverwechselbar zu unserm <strong>Faust</strong>, zu<br />

jenem <strong>Faust</strong> macht, der in Krakau die Zauberei lernte, der Luther verderben wollte.<br />

Denn „<strong>Faust</strong>“ war ein gängiger Name in der Region, er ist für die damalige Zeit belegt<br />

und auch noch heute vertreten.<br />

So gesehen könnte man den <strong>Faust</strong>bezug fallen lassen, die Abschrift wieder in den<br />

Stand einer mittelalterlichen Kaufurkunde erheben; schließlich gab es eine Urkunde <strong>im</strong><br />

Original, sie lag dem Bürgermeister vor.<br />

Das ist leider nicht möglich, Karl Weisert hat nicht den vollen Text abgeschrieben,<br />

sondern lediglich den voraus zitierten Passus; jenen Abschnitt der Urkunde, der einen<br />

„<strong>Faust</strong>“ betrifft.<br />

Die Beglaubigung lautet: „Die Richtigkeit der vorgezeigten Abschrift <strong>des</strong> <strong>im</strong> Keller <strong>des</strong><br />

Knittlinger Rathaus in einer Kiste gefundenen Kaufvertrags vom Jahr 1542 (betr.<br />

Geburtshaus <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>) wird aufgrund vorgelegten Kaufbriefes bescheinigt.“<br />

Abgesehen davon, was ein Notar dazu meint, es wird eine Paraphrase als „Abschrift“<br />

beglaubigt, sodann dass der Kaufbrief das Geburtshaus <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong> betrifft, und nicht<br />

zuletzt auch der Fundort; ein Zeuge, der bei der Auffindung der Urkunde zugegen war,<br />

wird jedoch nicht genannt. Im Übrigen sei die Frage gestattet, wie viel Erfahrung hatte<br />

der Bürgermeister mit alten Urkunden? Woraus resultierte seine Sicherheit zu wissen,<br />

dass es sich beispielsweise nicht um eine rückdatierte Anfertigung aus dem Jahr 1580<br />

handelte?<br />

Wie auch <strong>im</strong>mer, der Vorgang deutet auf ein vertrauensvolles Verhältnis der beiden<br />

Männer; unten wurde gefunden, oben wurde beglaubigt.<br />

Demjenigen, der sich daran stört, dass eine mit Bleistift geschriebene Paraphrase<br />

beglaubigt wurde – wo ein Bleistift, ist schließlich ein Radiergummi nicht weit, darf sich<br />

beruhigen, die Verwendung eines Bleistifts schließt eine beglaubigungsfähige Abschrift<br />

nicht aus.<br />

Dennoch, ein engagierter He<strong>im</strong>atforscher entdeckt eine Urkunde, die <strong>im</strong>merhin 400<br />

Jahre alt ist und bescheidet sich mit einem Bleistift? Müsste ihm nicht das Herz<br />

aufgehen? War der Fund nicht großartig genug, eine schmucke Abschrift <strong>des</strong> vollen<br />

Wortlauts vorzunehmen? Mit Tinte und in Schönschrift! schließlich war Karl Weisert<br />

auch Lehrer.<br />

Was sollte eine beglaubigte „Bleistift-Abschrift“ zudem bezwecken? Zur Vorlage in<br />

einem Amt, wäre sie akkurat mit der Feder oder gar mit einer Schreibmaschine<br />

geschrieben worden. Für den Handgebrauch, oder um sie in der abendlichen<br />

Schoppenrunde herum zu reichen, dafür hätte es keine Beglaubigung gebraucht.<br />

Die Abschrift nun als „Mystifikation“ abzutun, geht wohl zu weit. Die Angelegenheit ist<br />

rätselhaft, und je weiter man vordringt, <strong>des</strong>to verworrener wird sie.<br />

Die Formulierung „vf dem berg neben der Cappel“ findet sich auch in der Urkunde<br />

eines Conrad Croner von 1433: „uff dem berg neben der Kapellen“. Es liegen hundert<br />

Jahre zwischen beiden Texten, die Einwohnerzahl Knittlingens war um 1540 auf 2000<br />

Menschen angewachsen. Hatte sich die Kapelle nicht zu einer Kirche entwickelt?<br />

„Eynseit <strong>des</strong> Jörgen Gerlachen seelig behausung, allwo <strong>Faust</strong>en born“ heißt es in der<br />

Abschrift. Doch warum heißt es nicht „Familie Gerlachen behausung“? Was hat es mit<br />

111


dem Verstorbenen auf sich, dass er über die Lebenden gestellt wird, anders als diese,<br />

war er von diesem Immobiliengeschäft gewiss nicht mehr betroffen.<br />

Sodann der Zusatz „allwo <strong>Faust</strong>en born“. Nicht unbedingt <strong>des</strong>halb störend, weil es eine<br />

weitere sachfremde Information ist, doch Knittlingen war 1534 lutherisch geworden.<br />

Falls es zutrifft, was einige <strong>Faust</strong>forscher vermuten, <strong>Faust</strong> sei das uneheliche Kind<br />

eines Gerlachers, dann müssen die Blutsbande mit diesem schwarzen Ausbund allen<br />

Christen sichtbar Fleisch gewordener Sünde eine arge Hypothek für die Gerlachers<br />

gewesen sein. In jenen Jahrzehnten religiöser Eiferei, sie auch noch derart zu<br />

beurkunden, war infam.<br />

So betrachtet lässt die Abschrift die Schlussfolgerung zu, dass <strong>Faust</strong> gewiss kein<br />

Gerlacher gewesen war. Gutmöglich tut man mit diesen vielen Überlegungen der<br />

Abschrift zuviel der Ehre an. Es wurde bereits gesagt, es besteht keine Sicherheit, dass<br />

sie von jenem <strong>Faust</strong> spricht, der uns interessiert.<br />

Darüber hinaus ist die „Abschrift“ mit derart vielen Fragen behaftet, selbst als Indiz ist<br />

sie nicht zu gebrauchen.<br />

Der Pergamentzettel<br />

1922 wird in Knittlingen bei Umbauarbeiten <strong>im</strong> Gerlach`schen Haus in einer Türschwelle<br />

<strong>des</strong> ersten Stocks ein Astlochzapfen entdeckt. Als man ihn löst, kommt ein<br />

Lederbeutelchen zum Vorschein, darin ein 3,5cm auf 6cm großer Pergamentzettel. Die<br />

betreffende Türschwelle wurde wohl als unwichtig erachtet, über ihren Verbleib ist<br />

nichts bekannt.<br />

Dieser Fund war nach Auffindung <strong>des</strong> „Zauberschranks“ der zweite Gegenstand, der<br />

nicht nur auf Knittlingen wies, sondern auch auf diese Hofstelle.<br />

Auf dem Pergament ist die AREPO-Formel notiert sowie eine Unsumme von Kürzeln,<br />

vermutlich zwecks Herstellung einer Substanz.<br />

Die AREPO Formel ist eines von vielen lateinischen Buchstabenquadraten. Bereits die<br />

Römer übten sich in der Kunst dieser Wortspielereien; Latein eignet sich dafür ausgezeichnet.<br />

Die Magier – auch den Römern nicht fremd – vermuteten in den Quadraten<br />

einen gehe<strong>im</strong>nisvollen Zugang zu höherem Wissen, also magischen und zauberischen<br />

Kräften.<br />

Damit das Quadrat, ob quer oder senkrecht gelesen, stets den gleichen Wortlaut hat,<br />

braucht es den Einschub eines Phantasieworts. Es lautet in diesem Fall auf AREPO,<br />

entfernt man es, fällt das Quadrat auseinander. Man folgerte, dass mit dem Wort<br />

AREPO ein weiteres Gehe<strong>im</strong>nis verbunden sei.<br />

S A T O R<br />

A R E P O<br />

T E N E T<br />

O P E R A<br />

R O T A S<br />

Frei übersetzt: Der Sämann hält das Werk in Gang. Es handelt sich um eine Abwehrund<br />

Schutzformel. Günther Mahal merkt dazu an, die AREPO-Formel sollte wohl den<br />

Zettel schützen. B. Emil König berichtet, dass AREPO vornehmlich als Formel gegen<br />

Feuer benutzt wurde. Das macht insgesamt Sinn, damals waren die meisten Häuser<br />

„aus Holz, fest gefügt, dazu he<strong>im</strong>elig“, wie ausländische Besucher in ihren Briefen<br />

festhielten, doch ebenso permanent durch Feuer gefährdet.<br />

Was die „chemischen Formeln“ auf dem Zettel angeht, so sie auch zum Entziffern<br />

reizen, der Erfolg steht in den Sternen. Es wird vermutet, dass es um alchemistische<br />

Formeln geht. Und die Alchemie war derart mit Magie und Metaphysik befrachtet;<br />

variable Größen, deren Zeichen nicht nur von Meister zu Meister verschieden bewertet<br />

und eingesetzt wurden, jeder Meister hatte zum Teil auch eigene Symbole entwickelt.<br />

Damit nicht genug, bei der Niederschrift der Kochanleitungen wurden „Leerstellen“<br />

eingearbeitet, durch die Auslassung best<strong>im</strong>mter Arbeitsschritte sollte verhindert<br />

werden, dass andere die Formeln verwendeten.<br />

112


Bei aller Begeisterung für den Alchemisten <strong>Faust</strong>, es stellte sich für mich die Frage, ob<br />

es sich bei dem Zettel auch um Notizen eines Apothekers handeln könnte. Bis in das<br />

18. Jhdt. hinein waren in der Apotheke auch Volksmagie und Alchemie vertreten. Auch<br />

ein Apotheker forschte und probierte, entwickelte gegen Krankheiten Mixturen, die er<br />

Gol<strong>des</strong> wert erachtete.<br />

Ein Dozent für Pharmazie-Geschichte versicherte mir allerdings, die Kochanleitungen,<br />

wie auf dem Pergamentzettel notiert, seien gewiss von keinem Apotheker geschrieben<br />

worden.<br />

Bei der Betrachtung <strong>des</strong> Zettels entdeckt man, dass die „Informationen“ durch einen<br />

frei Hand gezogenen Querstrich mittig geteilt sind. Offenkundig handelt es sich um zwei<br />

Informationen. Sodann sieht man an der oberen, wie an der unteren Kante <strong>des</strong><br />

Pergaments, die Reste von durchschnittenen Trennungsstrichen. Bedeutet dies, dass<br />

der Zauberzettel gar nicht die „brisanten Formeln schlechthin“ enthält, sondern Teil<br />

eines größeren Pergaments, einer Formelsammlung war, das in mehrere Zettel<br />

zerschnitten wurde?<br />

In Knittlingen wurden auch „Zauberzettel“ der nachfolgenden Jahrhunderte gefunden.<br />

Diese tragen keine alchemistischen Formeln, sie sind mit Abwehrsprüchen in deutscher<br />

Sprache beschrieben. Sie dienten der Abwehr von Geistern, dem Schutz <strong>des</strong> Hauses<br />

und anderem mehr. Von daher passt der „Zettel“ aus dem Anwesen der Gerlachs nicht<br />

ins Bild, er ist kein Gegenstand der Volksmagie. Die AREPO Formel selbst gehörte<br />

zwar nicht zum Gehe<strong>im</strong>en Wissen, sie verweist aber auf einschlägige Kreise. In<br />

Knittlingen waren die Vertreter jener Art von Gelehrsamkeit nicht unbedingt zu Hause.<br />

Der mit diesen Kreisen jedoch Kontakt hatte und das „Wissen“ nach Knittlingen trug,<br />

das könnte <strong>Faust</strong> gewesen sein.<br />

<strong>Faust</strong> war jedoch nicht der einzige Knittlinger, der in der Welt spazieren ging. Aus einer<br />

Urkunde von 1546 ist ausgerechnet ein Georg Stephan Gerlach überliefert, von Beruf<br />

Steinmetz. Steinmetze mussten sich ihren Broterwerb erwandern, sie gehörten zum<br />

fahrenden Volk. Auch sie hatten sich die Welt erfahren, kenntnisreich waren sie dazu;<br />

man denke an die Kirchen, die damals erbaut wurden. Dass der Zettel „chemische<br />

Formeln“ trägt, bedeutet nicht zwingend, dass jener Steinmetz rein gar nichts damit zu<br />

tun hat. Wer weiß, von welchem bankrotten Dr. Fidibus er den Zettel als besonders<br />

wertvoll erwarb oder gar <strong>im</strong> Auftrag aufbewahrte. Die Liste der denkbaren<br />

Möglichkeiten, wie es sich zugetragen haben könnte, ist endlos.<br />

Gleiches gilt für <strong>Faust</strong>. Unabhängig davon, ob es bei dem Zettel um Rezepte oder um<br />

Vorgänge der Alchemie geht, es kann sein, <strong>Faust</strong> hat den Zettel beschrieben, es kann<br />

genauso gut sein, es ist die Handschrift eines seiner Kollegen.<br />

Der erste Zauberzettel, der tatsächlich drei Wünsche erfüllte: Endlich eine Schriftprobe<br />

<strong>Faust</strong>s, endlich der Beweis, dass er auch Alchemist war und nicht zuletzt der mögliche<br />

Nachweis, dass er sich zumin<strong>des</strong>t in Knittlingen aufgehalten hat. Drei Mal Fehlansage!<br />

Der Zettel fällt in der volksnahen <strong>Faust</strong>forschung unter die Rubrik „Indizien“, scharf<br />

betrachtet, zerbläst er förmlich zu Asche.<br />

1632 wurde Knittlingen durch die Kaiserlichen gebrandschatzt, 1692 wurde es von französischen<br />

Truppen niedergebrannt. Zwe<strong>im</strong>al bot Knittlingen das Bild einer schwarzen<br />

Wüstenei, einer menschenleeren Öde. 1632 wurden alle Männer niedergehauen, die<br />

übrige Bevölkerung nach Bretthe<strong>im</strong> (Bretten) vertrieben, um 1695 braucht es sogar<br />

eine fürstliche Resolution: „… diesen vorhin volkreichen und deß Feld-Baus Halber<br />

sonst einträglichen Ort wieder nach Genüge zu peuplieren (bevölkern).“<br />

Ebenerdig verbautes Holz mochte einen Brand unbeschadet überstehen. Im<br />

günstigsten Fall könnte es sich so verhalten haben, dass die jeweiligen Familien der<br />

Behringer, der Stoffel, der Koppen, sich zusammentaten, die Asche von ihren Hausund<br />

Hofstellen räumten, die in Erdnähe verbauten Balken bargen und gemeinsam für<br />

die ganze Sippe zunächst eine große Notunterkunft errichteten. Als Zweites werden sie<br />

sich wahrscheinlich um ihre Fässer in den Kellern und um ihre Weingärten gekümmert<br />

haben. Bis jede Familie wieder ihr eigenes He<strong>im</strong> hatte, wird es wohl einige Jahre<br />

gebraucht haben.<br />

113


Kurzum, das verbliebene Bauholz wurde hin und her gereicht. Sollte es wirklich möglich<br />

sein, dass ausgerechnet jene Bohle, der <strong>Faust</strong> das Lederbeutelchen anvertraute, zwei<br />

Feuersbrünste überlebte, zwe<strong>im</strong>al das Chaos <strong>des</strong> Wiederaufbaus überstand, um<br />

ausgerechnet wieder in jenem, später aus Steinen errichteten, heutigen <strong>Faust</strong>haus als<br />

Türschwelle Verwendung zu finden?<br />

Wer an Magie glaubt, sieht die Kraft der AREPO-Formel bestätigt.<br />

Daneben stellt sich ein anderes Problem. Der Dozent für Pharmazie-Geschichte ist der<br />

Meinung, der „Zettel“ sei jünger als <strong>Faust</strong>. Ich sprach in der Frage nach dem Alter auch<br />

einen Mitarbeiter einer Firma an, die sie sich mit der Herstellung homöopathischer<br />

Mittel beschäftigt. Aufgabe dieses Mitarbeiters ist die Suche nach alten Kochanweisungen<br />

und deren Entschlüsselung. Auch er meint, der „Zettel“ sei jünger als <strong>Faust</strong>,<br />

er schätzt, die Niederschrift erfolgte weit nach 1600. Das Pergament ist in Knittlingen<br />

<strong>im</strong> <strong>Faust</strong>-Museum ausgestellt, die Erklärung zum Exponat besagt ebenfalls, der Zettel<br />

könnte aus der Zeit nach <strong>Faust</strong> stammen.<br />

Angesichts der Umstände, dass Knittlingen zwe<strong>im</strong>al niedergebrannt wurde und einige<br />

Fachleute der Meinung sind, das Pergament sei deutlich jünger als <strong>Faust</strong>, lässt sich der<br />

„Zauberzettel“ als Indiz, <strong>Faust</strong> sei ein Knittlinger gewesen, nicht aufrecht erhalten.<br />

Die Präsentation <strong>des</strong> Pergaments <strong>im</strong> <strong>Faust</strong>-Museum von Knittlingen ist subopt<strong>im</strong>al; den<br />

Besuchern wird letztlich ein Zusammenhang mit <strong>Faust</strong> suggeriert.<br />

Es bleibt die Frage, wie gelangte der Zettel in das <strong>Faust</strong>haus.<br />

Selbst wenn er um 1600 beschrieben wurde, wie konnte er zwei Brände überstehen?<br />

Vermutlich war der Objektträger, der Balken, nicht vor Ort, als Knittlingen brannte.<br />

Die Türschwelle, um 1840 <strong>im</strong> Haus verbaut, könnte aus einem Abrissgebäude außerhalb<br />

Knittlingens stammen; Steine und Balken fanden eine Wiederverwendung.<br />

Und interessanter Weise gab es in Großsachsenhe<strong>im</strong>, 35 Km von Knittlingen entfernt,<br />

einst eine Alchemisten-Kolonie. Herzog Friedrich I., interessiert an den Naturwissenwissenschaften,<br />

freilich auch an der Goldmacherei, hatte sie um 1600 gegründet,<br />

großzügig ausgestattet und finanziert. Neben dieser Erklärung zur Herkunft <strong>des</strong><br />

Pergaments sind selbstredend weitere Möglichkeiten denkbar.<br />

*<br />

Zwischenruf<br />

Von allen Indizien hat die Kunde vom Bocke Madel, gewiss den meisten Charme. Von<br />

vier Jahrhunderten geradezu ätherisch ausgedünnt, fast verblasst, erreicht uns, gleichsam<br />

kurz vor dem Verlöschen, die Überlieferung, dass einst in Knittlingen eine Frau bei<br />

<strong>Faust</strong> in Diensten stand. Dass <strong>Faust</strong> sogar einmal pleite gewesen sei, ist wahrscheinlich<br />

schon wieder eine Logelei der Nachgeborenen, die Herkunft <strong>des</strong> Rezeptbuchs<br />

brauchte eine sinnfällige Erklärung. Das Indiz „Bocke Madel“ besticht durch Schlichtheit,<br />

es will kein erregender Beweis sein, es vermeldet lediglich; zwar nicht viel, nur<br />

soviel, wie sich bei mündlicher Überlieferung glaubhaft erhalten hat.<br />

Nicht zuletzt überzeugt es durch seine Naivität. Das Rezeptbuch selbst, aber auch die<br />

Art, wie aus der Familiengeschichte wieder hinaus entsorgt wurde, das ist putzig, es<br />

einem He<strong>im</strong>atforscher in die Feder zu diktieren, ist die pure Arglosigkeit.<br />

Mehr als das Bronnenkind „Bocke Madel“ gibt der Brunnen Knittlinger Überlieferungen<br />

allerdings nicht frei. Überlieferungen ist es zu Eigen, dass sie aus „uralten Tagen“<br />

stammen wollen. Das gilt auch für <strong>Faust</strong> in Knittlingen und „seine Geschichten“, die<br />

heute <strong>im</strong> Umlauf sind; die Wurzeln reichen allesamt bestenfalls in die Jahre der<br />

Auffindung <strong>des</strong> „Zauberschranks“ zurück.<br />

Für mich ist es interessant festzustellen, die dünne Überlieferung eines Bocke Madel<br />

evozierte eine phantasievolle Biographie; siehe „Magdalena Bock, Kräuterweib und<br />

Zauberfrau“.<br />

Die gehaltvollen, schweren „Indizien“ dagegen, „Abschrift“ und „Pergament“, wurden<br />

abgearbeitet und verworfen.<br />

*<br />

114


Textbausteine für Knittlingen<br />

Zwei gegenständliche Indizien sind noch zu betrachten, doch wie bereits an den<br />

Überlegungen zur „Abschrift“ und zum „Zettel“ erkennbar, die gegenständlichen<br />

Indizien, die einen <strong>Faust</strong> in Knittlingen nahe legen, in ihrer Bündelung gleichsam ein<br />

Beweis dafür sein wollen, sie halten einer näheren Betrachtung nicht stand.<br />

Einsam und verloren steht „Kundling“ als Beweis dafür, dass <strong>Faust</strong> ein Knittlinger war;<br />

ein Beinahe-Beweis, ein Indiz, denn Manlius ist ein Zeuge aus der zweiten Reihe.<br />

Allerdings mit hoher Glaubwürdigkeit, Manlius gab Melanchthon getreu wieder, und<br />

Augustin Lerche<strong>im</strong>er, ein anderer wichtiger Zeuge aus der zweiten Reihe, der nicht<br />

wesentlich über das hinausgeht, was bereits Manlius notierte, wird umstandslos von<br />

„Knütlingen“ schreiben.<br />

Wie nachfolgend noch deutlich werden wird, reichte den Menschen jener Zeit eine<br />

ungefähre Wiedergabe <strong>des</strong> Ortsnamen bereits völlig aus; wichtiger war der Sachverhalt<br />

oder eine best<strong>im</strong>mte Person, ein „Ungefähr und Ähnlich“ bezüglich <strong>des</strong> Ortes genügte.<br />

Und auch Heinz Scheible, der Verantwortliche für „MBW“, hat keinerlei Zweifel, dass es<br />

sich bei „Kundling“ um Knittlingen handelt. Er war bei jenem Telefonat vielmehr höchst<br />

erstaunt, dass darüber noch Zweifel bestehen. Eine Auffassung, die zwar auch nicht<br />

zum gewünschtem Beweis gerinnt, doch unbedingt bemerkenswert ist; Heinz Scheible<br />

hat sich ein Leben lang mit dem Schriftverkehr Melanchthons beschäftigt. Und was das<br />

heißt wird fassbar, wenn man weiß, dass jene Dokumente höchst unzulänglich datiert<br />

waren. Briefe, die als Datumsangabe ein „Nach Martini“ oder einen „1. jul.“ tragen,<br />

lassen sich allein über ihre inhaltlichen Aussagen chronologisch ordnen. Das bedeutet,<br />

Heinz Scheible musste sich jeweils bis ins letzte scheinbar unbedeutende Detail hinein,<br />

neben der Vita Melanchthons auch mit der Entwicklung <strong>des</strong> geschichtlichen Umfelds,<br />

einschließlich der wechselnden Rivalitäten unter den Fürsten auseinandersetzen, mit<br />

der Reformation und dem Fortgang ihrer verschiedenen Strömungen, dazu mit<br />

Gesetzen und Erlassen und gewiss nicht zuletzt auch mit den Sitten und Gebräuchen<br />

jener Jahrzehnte. Dass der Umgang mit den verschiedenen Schreibweisen eines Ortes<br />

dabei die geringste Schwierigkeit war, darf man gelassen annehmen.<br />

Und dennoch, die <strong>Faust</strong>forschung hat „Kundling“ ein Fragezeichen aufgeklebt, und<br />

auch die Leserinnen und Leser wollen kein borstiges „Kundling“, sondern ein<br />

Knittlingen, zumin<strong>des</strong>t aber ein klangliches Adaequat.<br />

Doch haben die verstreuten Textstellen, die auf Manlius folgen und unmittelbar von<br />

Knittlingen sprechen, soviel an Substanz, dass sie sich zum „Beweis“ verdichten?<br />

Denn mit geradezu entwaffnender Selbstverständlichkeit stellen die Autoren sich selbst<br />

das Bein; sie überlassen es der Nachwelt zu ergründen, wo das jeweilige Wissen<br />

geschöpft wurde. Ihre Texte sind miteinander verzahnt, es wurde abgeschrieben, man<br />

übte sich in Missverständnissen.<br />

1568 zitiert Johannes Weier in „De praestigiis daemonum“ (Über die Vorherrschaft der<br />

Dämonen) den Anfang <strong>des</strong> Manlius-Textes: „Johannes <strong>Faust</strong>us ex Kundling oppidulo<br />

oriundus“.<br />

„Joh. <strong>Faust</strong> von Knütlingen“ heißt es kurz bei Augustin Lerche<strong>im</strong>er <strong>im</strong> Jahr 1585 in der<br />

ersten Ausgabe seines „Christlich bedencken vnd erinnerung von Zauberey“. Erstmalig,<br />

dazu mit geradezu verblüffender Selbstverständlichkeit, wird „Kundling“ als „Knütlingen“<br />

ausgewiesen. Beachtenswert, auch Lerche<strong>im</strong>er war ein Schüler Melanchthons, überdies<br />

waren sie eng miteinander befreundet; Melanchthon sorgte dafür, dass Lerche<strong>im</strong>er<br />

in Riga eine Professorenstelle bekam, später wirkte Lerche<strong>im</strong>er an der Universität von<br />

Heidelberg. Die enge Beziehung legt nahe, Melanchthon und Lerche<strong>im</strong>er haben<br />

abseits vom offziellen „Kundling“ über „Knütlingen“ geredet.<br />

1596 schreibt Wolfgang Bütner in seiner „Epitome Historarium“ (Geschichtlicher Abriß):<br />

„Ein solcher Schwartzkünstler vnnd Gast ist auch gewesen Johannes <strong>Faust</strong>us, der mir /<br />

sagt Philippus Melanchthon, gar wol bekandt / seiner geburt von Kündlingen / ein<br />

kleines Städtlein / dass nicht weit von meinem Vaterlande oder He<strong>im</strong>at vnnd geburts<br />

Stadt Bretta ligt.“<br />

115


Auch Bütner hat bei Manlius geschöpft, jedoch Melanchthons Geburtsort Bretten<br />

eingefügt. Interessant ist dabei, er ignoriert sowohl das „Kundling“ <strong>des</strong> Manlius-Textes,<br />

als auch das „Knütlingen“ <strong>des</strong> Autors Lerchhe<strong>im</strong>er. Er spricht von „Kündlingen“.<br />

1597 schreibt Augustin Lerche<strong>im</strong>er in der 3.Ausgabe von „Christlich bedencken vnd<br />

erinnerung von Zauberey“: „Er ist bürtig gewesen auß e<strong>im</strong> flecken Knütling / ligt <strong>im</strong><br />

Wirtemberger lande an der Pfältzischen grentze. War eine weile schulmeister vnder<br />

Franz von Sickinge bey Creuznach…“<br />

Ein Text, der neben dem Manlius-Text auch vom Brief <strong>des</strong> Trithemius lebt. Erstmalig<br />

wird die Auskunft <strong>des</strong> Manlius „nicht weit von meinem Vatterland“, mit „Pfältzischer<br />

grentze“ konkretisiert. Übrigens, „Knütlingen“ heißt es in seinem Werk von 1585, nun<br />

zwölf Jahre später, schreibt er von „Knütling“; die kleine Abweichung stört ihn nicht.<br />

Im „Regenten-Spiegel“ von 1606 notiert Thomas Birck: „(<strong>Faust</strong> hat) hin vunnd wider so<br />

lang vagiert, / biß er entlich in einem Flecken in Württenberg darauß er auch / nicht weit<br />

von Knitlingen (wie Philippus selbst schreibt) bürtig war / zu Nacht vom Teuffel mit<br />

umbgedrehtem Halß erwürgt worden.“<br />

Abgesehen davon, dass <strong>Faust</strong> erst der Hals umgedreht und er dann auch noch erwürgt<br />

wurde, wie kommt es, dass <strong>Faust</strong>s To<strong>des</strong>ort nun identisch mit dem Geburtsort ist?<br />

Birck schöpfte bei Lerche<strong>im</strong>er. Was bei dieser „Schöpfung“ unterlief, wird klar, sobald<br />

man betrachtet, was Lerche<strong>im</strong>er über <strong>Faust</strong>s Geburts- und sodann über den To<strong>des</strong>ort<br />

schreibt:<br />

„Er ist bürtig gewesen auß e<strong>im</strong> flecken Knütling / ligt <strong>im</strong> Wirtemberger lande…“<br />

„… vom teufel erwürget in e<strong>im</strong> dorffe <strong>im</strong> land zu Wirtemberg“.<br />

Obgleich ein Flecken kein Dorf ist, Birck hat offenkundig die beiden Orte in<br />

„Wirtemberg“ zu einem Ort, nämlich Knittlingen, zusammengezogen.<br />

Übrigens, völlig unbeeindruckt vom Erfolg der „Historia“ schreibt Birck von „Knitlingen<br />

(wie Philippus selbst schreibt)“. Auch Birck hat offenbar keinerlei Zweifel, dass<br />

Melanchthon hinter dem Manlius-Text steht, die schreiende Diskrepanz zwischen<br />

„Kundling“ und seinem „Knitlingen“ beunruhigt auch ihn nicht, obgleich er auf den<br />

Bürgen „(wie Philippus selbst schreibt)“ hohen Wert legt.<br />

In „Daemonomagia“ (Gespensterzauberei) von 1607 notiert Philipp Ludwig Elch den<br />

Anfang <strong>des</strong> Manlius-Textes: „(<strong>Faust</strong>us) ex Knüdtling oppidulo oriundus“.<br />

1632 schreibt Cunrad Dieterichs in „Weißheit Salomons“: „Wie es vmb Johan <strong>Faust</strong>us<br />

bewandt / ist fast männiglich (vielen) bewust und bekandt. Er hat gelebt zu Lutheri vnd<br />

Philippi zeiten / ist allernechst bey Knüttlingen in dem Wirtemberger Land dahe<strong>im</strong> …“<br />

An anderer Stelle notiert er: „Johann <strong>Faust</strong> / da er lang Gauckelspiel genug getrieben /<br />

ist er in seiner He<strong>im</strong>ath zu nacht von dem Teuffel mit vmbgetrehetem Halß in seiner<br />

Kammer erwürget worde.“<br />

Dieterichs hat also das Birck´sche Missverständnis übernommen.<br />

1642 schreibt Dieterichs in seiner „Ecclesiastes“ (Prediger): „Johann <strong>Faust</strong>en / der<br />

endtlich / da er lang gekünstlet / vom Teuffel an Stucken in se<strong>im</strong> Heymath bei<br />

Knittlingen zerrissen.“<br />

Hier spricht nicht mehr der Historiker, sondern der Prediger, folglich wird <strong>Faust</strong> zerfetzt.<br />

Auch Dieterichs gebrauchte innerhalb von zehn Jahren zwei verschiedene Schreibweisen<br />

für Knittlingen.<br />

1587 wurde die „Historia“ gedruckt. Die Autoren der „Historia“ ignorieren nicht allein<br />

das „Kundling“ <strong>des</strong> Manlius sowie das „Knütlingen“ <strong>des</strong> Professors Lerche<strong>im</strong>er, sie<br />

behaupten frei, <strong>Faust</strong> sei gebürtig in Roda (heute: Stadtroda) gewesen. Nicht minder<br />

aufschlussreich, nachfolgende Autoren kümmert das „Roda“ der „Historia“ nicht, sie<br />

schreiben von Knittlingen.<br />

Diese kurz gefasste Betrachtung jener Textstellen den Geburtsort betreffend, eine<br />

Generation und mehr nach <strong>Faust</strong>s Tod notiert, zeigt das Dilemma der Forschung,<br />

Knittlingen, wenn nicht über Sachindizien, so doch wenigstens über weitere schriftliche<br />

Zeugnisse festzumachen.<br />

Viel mehr als das, was Manlius als Zeuge der zweiten Reihe bereits notierte und was<br />

sein „Kollege“ Lerche<strong>im</strong>er <strong>im</strong>mer wieder bestätigte, ist nicht zu holen. Zumin<strong>des</strong>t nicht<br />

auf den ersten Blick. Aufschlussreich sind allerdings die Attacken Lerche<strong>im</strong>ers gegen<br />

116


die Verfasser der „Historia“. In den Kapiteln „Eine Instrumentalisierung“ sowie<br />

„Geschichtsfälschung auf Protestantisch“ werden sie beleuchtet.<br />

Allein auf die „Historia“ angewiesen, wir suchten heute <strong>Faust</strong>s Wiegenstellplatz<br />

zwischen We<strong>im</strong>ar und Jena.<br />

Manlius hielt sich an sein Erfolgskonzept „Melanchthon“; er beschränkte sich auf seine<br />

Quelle. Hätte nicht wenigstens Lerche<strong>im</strong>er mehr erzählen können, als was bereits<br />

Manlius berichtete? Zunächst einmal und <strong>im</strong>merhin bestätigt Lerche<strong>im</strong>er als Ex-<br />

Wittenberger mit seiner Bezugnahme auf den Manlius-Text, <strong>des</strong>sen Richtigkeit,<br />

beziehungsweise eben das, was an der Universität von Wittenberg zur Zeit<br />

Melanchthons allgemein über <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Schwang war. Und bei seiner Attacke gegen die<br />

Verfasser der „Historia“ verweist er zum einen auf seine Eigenschaft als Zeuge: <strong>Faust</strong><br />

könne auf keinen Fall zur Zeit Luthers und Melanchthons in Wittenberg ein Professor<br />

der Theologie gewesen sein, „darum dass ich auch etwan da studiert habe“.<br />

Des Weiteren liefert er Informationen über <strong>Faust</strong>, die wohl einen hohen Wahrheitsgehalt<br />

haben, denn er trägt sie als Beweise dafür vor, dass das Leben <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us,<br />

wie in der „Historia“ dargestellt, „boeslich vnd buebelich erdichtet vnnd erlogen“ sei.<br />

Lerche<strong>im</strong>er schreibt: „Hatte weder Hauß noch Hof zu Wittenberg oder anderswo / war<br />

nirgent dahe<strong>im</strong> lebete wie ein lotterbube / war ein schmarotzer / fraß sauff vnd<br />

ernehrete sich von seiner gauckeley.“<br />

Unsere fortlaufende Klage, warum die Menschen jener Zeit nicht mehr über <strong>Faust</strong> zu<br />

Papier brachten, ist nicht gerechtfertigt. Man nehme die Inhalte <strong>des</strong> Trithemius-Briefes,<br />

<strong>des</strong> Index Sanitatis, <strong>des</strong> Manlius-Textes und dazu die Darstellung Lerche<strong>im</strong>ers, es<br />

ergibt sich eine „<strong>Faust</strong>-Vita“, und nicht zu knapp. Jene Informationen, die wir<br />

vermissen, wurden den Menschen jener Zeit vom Zeitgeist und durch die aktuellen<br />

Ereignisse geliefert. Bei <strong>Faust</strong> war der Teufel <strong>im</strong> Spiel gewesen und was der Teufel<br />

alles trieb und was Menschen mit Hilfe <strong>des</strong> Teufels alles trieben, das lasen sie täglich<br />

in den Flugschriften über die Geständnisse von Hexen und sonntags erfuhren sie es<br />

vom Pastor.<br />

Soweit zum Lamento über den Mangel an Informationen, was freilich nichts daran<br />

ändert, dass ein wissenschaftlich anerkannter Beweis für Knittlingen bis heute nicht<br />

erbracht werden konnte.<br />

Folglich machten sich <strong>Faust</strong>forscher auf die Suche nach alternativen Kandidaten.<br />

Am 3. Dez. 1505 <strong>im</strong>matrikulierte sich an der Universität Heidelberg ein Joannes Fust<br />

aus Symmern, als Joannes <strong>Faust</strong> erwarb er am 15. Jan. 1509 das Baccalaureat (Grad<br />

vor dem Magister).<br />

Ein Kandidat, der sich allerdings ein großes Fragezeichen auf den Leib geschnallt hat,<br />

denn der Heidelberger Professor Virdung lässt sich durch Abt Trithemius über einen<br />

Heidelberger Studenten informieren, den er ohnehin selbst kennt und der derart fleißig<br />

studiert, dass er als bester von 16 Prüflingen abschneiden wird, während er gemäß Abt<br />

Trithemius gleichzeitig in deutschen Landen spazieren geht; abgesehen davon,<br />

S<strong>im</strong>mern war zu keiner Zeit an der pfälzischen Grenze gelegen und schon garnicht in<br />

der Nähe von Bretten.<br />

Frank Baron bringt in Wikipedia unter „Johann Georg <strong>Faust</strong>“ einen Studenten aus<br />

Helmstett ins Spiel. Ein Georgius Helmstetter besuchte mit dem Jahr 1483 die Universität<br />

Heidelberg, am 1.März 1487 erhielt er die Magisterwürde.<br />

Ein Kandidat, der ebenfalls von Melanchthon und Lerche<strong>im</strong>er <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> verwiesen<br />

wird. Sie kennen keinen Fust aus Symmern und auch keinen Helmstetter <strong>Faust</strong>, aber<br />

einen aus Kundling, bzw aus Knütlingen.<br />

Wenngleich Knittlingen keinen ult<strong>im</strong>ativen Beweis verbuchen kann, sich statt<strong>des</strong>sen mit<br />

einem Strauß schriftlicher Hinweise begnügen muss, es verfügt über ein stilles Plus:<br />

Bis zur Stunde musste es sich mit keinem Argument auseinandersetzen, das gegen<br />

Knittlingen als <strong>Faust</strong>s Geburtsort spricht.<br />

Ein Wermutstropfen bleibt, und er ist dem einen oder anderen unter den Lesern sicher<br />

nicht entgangen. Wenn auch die Menschen jener Zeit, nicht anders wie ein Heinz<br />

Scheible, mit einem Kundling / Knüdlingen offenbar keine Schwierigkeit hatten, es stellt<br />

sich die Frage, warum Staufen, der heute anerkannte Sterbeort <strong>Faust</strong>s keinerlei<br />

117


Niederschlag fand, statt<strong>des</strong>sen allein Melanchthons Auskunft über ein Dorf <strong>im</strong><br />

Württemberger Land stereotyp wiederholt wurde.<br />

Zwar darf man recht sicher sein, es wurden Dokumente entsorgt, gewiss spielte auch<br />

der Respekt vor dem großen Melanchthon und <strong>des</strong>sen Ausführungen über <strong>Faust</strong>, wie<br />

von Manlius festgehalten, eine bedeutsame Rolle, und unzweifelhaft verlief mit dem<br />

Religionsfrieden von 1555 nicht nur eine Bekenntnisgrenze, sondern auch eine geistige<br />

Mauer durch Deutschland – der Austausch von Meinungen und Informationen<br />

zwischen den Gebildeten kam zum Erliegen, die Erörterung gegensätzlicher religiöser<br />

Standpunkte wurde sogar verboten, doch dass selbst Lerche<strong>im</strong>er, dem doch so viel an<br />

getreuen Ortsangaben lag, nicht von Staufen schreibt, es erzeugt Missmut, es lässt<br />

unbefriedigt.<br />

*<br />

Vorsicht! <strong>Faust</strong>-Falle!<br />

In die Reihe der Indizien stellte ich einen Text, der von der regulären <strong>Faust</strong>forschung<br />

nicht als Indiz angesehen wird. Es handelt sich um einen handschriftlichen Eintrag in<br />

einem Buch, die Unterschrift kann mit etwas Fantasie als „<strong>Faust</strong>“ gelesen werden;<br />

vielleicht kommen <strong>Faust</strong>enthusiasten gerade <strong>des</strong>halb so gerne auf dieses Buch zu<br />

sprechen. Es wurde bei einer Hausrenovierung in Staufen von einer Angela Ehret<br />

gefunden; es handelt sich dabei um zwei Bücher, die zu einem Buch gebunden<br />

wurden.<br />

Der „QUADRANS APIANI“ von Ordinarius Petrus Apianus, 1532 in Ingolstadt<br />

gedruckt, er behandelt Astronomie und Astrologie in lateinischer Sprache. Das zweite<br />

Buch ist von Sebastian Münster, gedruckt in Basel 1537, es handelt von der Sonne<br />

und Sonnenuhren, geschrieben in deutscher Sprache.<br />

Der Exlibris-Vermerk besagt: das Buch wurde 1537 in Freiburg von einem Nicolai von<br />

der Stroß aus Basel erworben.<br />

Gegenüber der Titelseite <strong>des</strong> älteren Buchs, <strong>des</strong> „QUADRANS APIANI“, findet sich mit<br />

Tinte geschrieben: „Zwanzig, zwanzig Jahr nahist wan“, (Zwanzig, zwanzig Jahre<br />

sind`s gewesen.)<br />

Der Satz macht verständlicher Weise stutzig, er hat etwas Grüblerisches, er klingt<br />

traumverloren.<br />

Man sieht sich gedrängt, den Eintrag sowie die übrigen Details zu bedenken.<br />

Die Unterschrift lässt sich in etwa als „<strong>Faust</strong>“ lesen, also geht es um <strong>Faust</strong>. Der Inhalt<br />

<strong>des</strong> „QUADRANS APIANI“ betrifft Astronomie und Astrologie, das passt ebenfalls zu<br />

<strong>Faust</strong>. Ausgehend von der Möglichkeit, dass der „QUADRANS APIANI“ noch <strong>im</strong> Jahr<br />

1536 in <strong>Faust</strong>s Besitz war, bevor er 1537 um ein Buch erweitert und an Nicolai Stroß<br />

verkauft wurde, rechne man jene genannten 20 Jahre rückwärts, man stößt auf das<br />

Jahr 1516. Der bekannte Teufelspakt auf 24 Jahre kommt in den Sinn, folglich 1516<br />

plus 24, man erhält das Jahr 1540. Phantastisch!<br />

Denn die Z<strong>im</strong>merische Chronik von 1564-1566, ein Indiz, berichtet: „ …Es ist auch<br />

umb die zeit (<strong>des</strong> Reichstags zu Regensburg, 1541) der <strong>Faust</strong>us zu oder doch nit weit<br />

von Staufen, dem stettlin <strong>im</strong> Breisgew, gestorben.“<br />

Auf die Angabe „umb die zeit“ wird noch eingegangen werden.<br />

Weiter heißt es in der Z<strong>im</strong>merischen Chronik: „Die büecher, die er verlasen, sein dem<br />

herren von Staufen, in <strong>des</strong>sen herrschaft er abgangen, zu handen worden.“<br />

Na, also! In Staufen wurde der „QUADRANS APIANI“ schließlich auch gefunden.<br />

Nun die letzte Frage: Was hat es mit dem Jahr 1516 auf sich?<br />

Die kreisenden Gedanken bleiben am „Verzeichnis der Maulbronner Äbte“ hängen.<br />

„Johannes Entenfuß de Elvishe<strong>im</strong>, electus a(nn)o 1521, + d. 4ten Februar. 1525,<br />

iß Dr. <strong>Faust</strong>en deß Zeuberers Collega gewesen, welcher diesen Abbt zu Maulbronn<br />

besucht.“<br />

Als Besuchsjahr wird <strong>im</strong> Jahr 1752 von Christian Friederich Sattler „um 1516“ genannt.<br />

118


Von seinen Mönchen wurde Abt Entenfuß <strong>im</strong> Jahr 1518 davon gejagt; wegen „üblen<br />

Hausens“, wie es heißt. Er kehrte als einfacher Mönch zurück und verstarb <strong>im</strong> Kloster<br />

Maulbronn.<br />

Nun das Gerücht mit einbezogen, dass <strong>Faust</strong> für den bauwütigen Abt Entenfuß als<br />

Goldmacher tätig war, dann ergibt sich eine verblüffende Übereinst<strong>im</strong>mung der<br />

Jahreszahlen sowie der Überlieferungen, wie sie <strong>im</strong> Allgemeinen gehandelt werden.<br />

„<strong>Faust</strong> hat, um für den Abt Gold zu machen, sich <strong>im</strong> Jahr 1516 dem Teufel verkauft<br />

und zwanzig Jahre später, in Grübelei über seine Dummheit, mit dem Teufel ein<br />

Geschäft machen zu wollen, diesen nachdenklichen Satz in ein Buch geschrieben. Der<br />

unsinnigen Wissenschaft leid geworden, verkaufte er das Buch, doch seine Reue kam<br />

zu spät, pünktlich, vier Jahre später, hat ihn der Teufel geholt.“<br />

Tja, so einfach kann <strong>Faust</strong>forschung sein!<br />

1. Der Pakt als Grundlage der Jahresermittlungen<br />

Dass <strong>Faust</strong> eine Art von Pakt schloss, ist nicht belegt; selbst in den Indizien findet sich<br />

nicht der geringste Hinweis darauf.<br />

Der Teufelspakt auf 24 oder auch auf 7 Jahre ist eine Dreingabe späterer <strong>Faust</strong>literaturen.<br />

Teufelspakte waren seit der Antike bekannt, auch Jesus wurde ein derartiges<br />

Geschäft vorgeschlagen. Der Teufel selbst wird in der „Historia“, dem ersten der<br />

Volksbücher vom Dr. <strong>Faust</strong>, erstmalig be<strong>im</strong> Namen genannt: „Mephostophiles“.<br />

(hebr.-altgriech.: Mephi, Mepho: Feind, Zerstörer / Topheles, Tufel: Lügner.)<br />

2. Der Eintrag „Zwanzig, zwanzig Jahr nahist wan“<br />

Der Eintrag selbst belegt keinen Teufelspakt, von wem und wie auch <strong>im</strong>mer. Er weist<br />

auf einen Lebensabschnitt, eventuell auch auf ein persönliches Erlebnis bzw. Ereignis;<br />

es liegt 20 Jahre zurück.<br />

Von welchem Jahr aus gesehen es 20 Jahre zurück liegt, steht in den Sternen.<br />

Der Schreiber hat das Datum vergessen. Da der „QUADRANS APIANI“ 1532 gedruckt<br />

wurde, ist nur eines sicher, der Eintrag erfolgte nicht vor 1532. Der Zeitraum, in<br />

welchem gefahrlos spekuliert werden kann, beträgt gern hundert Jahre.<br />

3. Die Handschrift<br />

Ob der handschriftliche Eintrag von <strong>Faust</strong>s Feder stammt, niemand weiß es; es<br />

existiert von <strong>Faust</strong> keine Schriftprobe. Im Übrigen, selbst wenn man die Unterschrift<br />

als „<strong>Faust</strong>“ liest, ist damit nicht gesagt, um welchen <strong>Faust</strong> es sich handelt. Denn dass<br />

einige kluge Fäuste eine Universität besuchten, ist belegt. Dass sie sich auch für<br />

Astrologie interessierten, steht außer Frage.<br />

4. Der Fundort<br />

Selbst angenommen, <strong>Faust</strong> hätte den Eintrag vorgenommen, der „QUADRANS<br />

APIANI“ gehörte nicht zu jenen Büchern, die <strong>Faust</strong> bei seinem Tod hinterließ; das<br />

Buch war verkauft. Sich nun in Spitzfindigkeit zu üben und anzunehmen, <strong>Faust</strong> hätte<br />

es dem Nicolai von Stroß wieder abgekauft, führt zu nichts.<br />

Man darf <strong>Faust</strong>-Enthusiasten nicht tadeln. Es ist durchaus frappierend, wie sich das<br />

Buch in die Eckpunkte der in der Öffentlichkeit gehandelten <strong>Faust</strong>-Vita drängt.<br />

5. Das Goldmachen<br />

Die Geschichte vom „Goldmacher <strong>Faust</strong> in Maulbronn“ wird erstmalig 1840 <strong>im</strong><br />

„Schwäbischen Merkur“ erzählt. Die Zeitungsente war ein Volltreffer, der Zeitgeist der<br />

Romantik war bedient.<br />

In rascher Folge setzten weitere Autoren ihre Maulbronnmärlein in die Welt. <strong>Faust</strong> und<br />

Abt Entenfuß und das Kloster Maulbronn, nun wurden sie unauflöslich mit einander<br />

verknüpft.<br />

„Im Kloster hat <strong>Faust</strong> Gold gemacht, in einem Turm gewohnt, mit Abt Entenfuß<br />

gebechert, <strong>im</strong> Kloster hat ihn der Teufel an die Wand geworfen …“. Sicherheitshalber<br />

gibt es dort mehrere Örtlichkeiten, wo ihn der Teufel holte.<br />

Und wer heutzutage das Kloster und Weltkulturerbe Maulbronn besucht, ist durchaus<br />

geneigt, einen Teil dieser Geschichten für bare Münze zu nehmen, zumin<strong>des</strong>t aber<br />

bereit, einen Bodensatz von Wahrheit darunter zu vermuten.<br />

Das Ensemble der alten Gebäude ist derart schön, es riecht förmlich nach <strong>Faust</strong>, und<br />

der <strong>Faust</strong>turm ist derart entzückend, man möchte sich sofort einmieten.<br />

119


Nicht zu vergessen, fünf Kilometer entfernt liegt Knittlingen.<br />

5. Das Äbte-Verzeichnis<br />

Das Verzeichnis ist vermutlich weiträumig um 1700 entstanden. Offenbar wurde ein<br />

älteres Verzeichnis abgeschrieben, dabei wurde die bereits zitierte Erweiterung<br />

vorgenommen:<br />

Entenfuß, „iß Dr. <strong>Faust</strong>en deß Zeuberers Collega gewesen, welcher diesen Abbt zu<br />

Maulbronn besucht.“<br />

Bezeichnet der Schreiber Abt Entenfuß als <strong>Faust</strong>s Studienkollegen oder gar als<br />

Zauberkollegen?<br />

Es handelt sich, das sei vorweggenommen, wahrscheinlich um verspäteten Kollegenzauber.<br />

Das so entstandene Äbte-Verzeichnis ist das allererste Schriftstück überhaupt, das<br />

von einer Verbindung zwischen Abt Entenfuß und <strong>Faust</strong> und Maulbronn spricht; nach<br />

wohlgemerkt bald zweihundert Jahren. Wenn es eine Quelle nennen würde, dann<br />

taugte es wenigstens als Indiz, so taugt es zu gar nichts.<br />

Bevor das Verzeichnis in den Papierkorb segelt, bekommt es einen Ehrenplatz – auf<br />

Zeit – direkt neben meiner Tastatur. Eine „Urkunde“, aus dem Off herein gereicht, das<br />

ist ein Vorgang, er muss hinterfragt werden.<br />

*<br />

Geboren, verstorben, verweht<br />

„Ja, bist du verruckt? Bist narrisch? Des is doch gar nix! Sonne und Jupiter in ein und<br />

demselben Sternzeichen, damit kannst du rein gar nichts anfangen. Was glaubst, wie<br />

viel Arbeit so ein Horoskop ist?! Und na kummst du mit a solchem Schmarrn daher!<br />

Ohne Geburtsstunde geht gar nix!“<br />

So der Tenor meiner Bekannten Elfie K. in München, als ich sie mit <strong>Faust</strong> und <strong>des</strong>sen<br />

Rebdorfer „Sternbild“ konfrontierte.<br />

So interessant es ohne Zweifel gewesen wäre, <strong>Faust</strong> posthum ein Nativität zu<br />

erstellen, „der behutsame Beweis“ auf Grundlage <strong>des</strong> Rebdorfer „Sternbilds“, <strong>Faust</strong><br />

hätte am 23. April 1478 das Licht der Welt erblickt, muss nicht ausgeleuchtet werden.<br />

Es ist ohne Belang, ob <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Jahr 1478 oder um 1480 geboren wurde.<br />

Dass der 23. April 1478 auch ein Georgstag ist, darf zwar beeindrucken, doch<br />

erhielten Kinder, abhängig von der Familientradition, nicht zwingender Weise den<br />

Namen <strong>des</strong> Tagesheiligen. Gerne wurden die Vornamen der Eltern auch mit dem<br />

Namen <strong>des</strong> Tagesheiligen kombiniert. Unabhängig davon, nicht anders als heute, gab<br />

es Moden; in jener Zeit war der Name Johannes überaus beliebt.<br />

Eine falsche Annahme zieht bekanntlich die nächste nach sich.<br />

Es wurde bei den Überlegungen zum „Pergament“ ein Georg Stephan Gerlach<br />

erwähnt. Der Vorname Georg wurde auch prompt als weiterer Hinweis gewertet,<br />

Johann Georg <strong>Faust</strong> sei ein Gerlacher gewesen. Nicht zu vergessen, der Weisert-<br />

Kaufvertrag nennt einen Jörgen Gerlach. Und da <strong>Faust</strong> wahrscheinlich ein uneheliches<br />

Kind gewesen sei, wäre der Vorname seiner Mutter, vermutlich eine Johanna <strong>Faust</strong>,<br />

dem Georg vorangestellt worden.<br />

Die Verkettung „unverkrampfter Annahmen“ klingt <strong>im</strong> ersten Moment schlüssig und<br />

führt anschließend ins Nichts; auch Georg war damals ein Modenamen.<br />

Nun wäre freilich auch noch der Johannes aufzuspießen, denn die Quellentexte<br />

kennen einen Georgius, Georg oder Jörg <strong>Faust</strong>, von einem Johannes <strong>Faust</strong> wissen sie<br />

nichts. Von Johannes ist erstmalig <strong>im</strong> Manlius-Text die Rede, allerdings wissen wir,<br />

Manlius hat verlässlich notiert, was Melanchthon redete. Wie es scheint war <strong>Faust</strong> der<br />

wehrhafte St. Georg lieber als der Lieblingsjünger Jesu. Der heilige Georg war auch in<br />

der Ritterschaft hoch angesehen und der „Schwäbische Bund“ führte den Drachentöter<br />

sogar <strong>im</strong> Wappen.<br />

<strong>Faust</strong> sprach in Rebdorf von „Sonne und Jupiter <strong>im</strong> selben Grad eines Sternzeichen“.<br />

Es handelt sich um eine Selbstauskunft; dass es bei <strong>Faust</strong> mit dem Wahrheitsgehalt<br />

seiner Selbstauskünfte nicht weit her ist, wurde bereits in „<strong>Faust</strong> tritt auf“ dargestellt.<br />

120


Nicht zu vergessen, <strong>Faust</strong>s Abstammung liegt völlig <strong>im</strong> Dunkel, laut Lerche<strong>im</strong>er kam er<br />

aus armen Verhältnissen. Es mag noch angehen, dass er als „gemeiner Mann“ den<br />

Heiligen kannte, unter dem er geboren wurde, dass er jedoch die Stunde seiner<br />

Geburt gekannt haben soll, es wäre höchst ungewöhnlich. Die Kenntnis der Geburtsstunde<br />

ist jedoch die Grundvorraussetzung für ein Lebenshoroskop und somit für die<br />

Behauptung, er wäre unter den Sternen der Prophetie geboren.<br />

Ähnlich belanglos verhält es sich mit dem To<strong>des</strong>jahr, das in der Z<strong>im</strong>merischen Chronik<br />

mit „Umb die Zeit…“, genannt wird; gemeint ist die Zeit <strong>des</strong> Reichstags zu Regenburg.<br />

Wie aus anderen Urkunden jener Zeit ersichtlich, bedeutet ein „umb die Zeit“ nur ein<br />

„ungefähr“, also <strong>im</strong> vorliegenden Fall einen Spielraum von 1540 bis 1542. Nach Lage<br />

der gegenwärtig bekannten Quellentexte reicht auch diese Zeitangabe völlig aus.<br />

<strong>Faust</strong> lässt sich an keinem konkreten Punkt weder in Knittlingen noch sonstwo festmachen,<br />

auch die Eckdaten seines Lebens behält er für sich.<br />

Nichts anderes kann von vielen namhaften Personen seiner Zeit gesagt werden.<br />

*<br />

Till kommt nach Knittlingen<br />

Der Manliustext, die wiederholte Ortsangabe bei Lerche<strong>im</strong>er, <strong>des</strong>sen harsche Kritik an<br />

der „Historia“, sowie die Geschichte vom Bocke Madel, das sind die „harten Indizien“,<br />

welche darauf deuten, dass <strong>Faust</strong> sich wiederholt oder über längere Zeit in Knittlingen<br />

aufhielt und auch ein gebürtiger Knittlinger war. Bei aller Liebe zu Knittlingen, die<br />

„Beweislage“ ist dürftig. Verglichen allerdings mit dem, was andere Anwärterstädte<br />

seinerzeit in den Ring zu werfen hatten, darf die Knittlinger Beweiskette beeindrucken.<br />

Einer der angebotenen Nachweise für Knittlingen ist ein handschriftliche Eintrag in<br />

einem Exemplar von „DE OCCULTA PHILOSOPHIA“. Der Autor <strong>des</strong> Buchs: Agrippa<br />

von Netteshe<strong>im</strong>, ein Mann mit einem Lebenslauf <strong>im</strong> Breitbandformat; Abt Trithemius<br />

zählte zu den Geringeren unter seinen Bekannten.<br />

Der Eintrag, soweit dem lateinischen Gekritzel <strong>des</strong> Faks<strong>im</strong>ileabdrucks zu entnehmen,<br />

beginnt mit „<strong>Faust</strong>us de Knaitlingen … Zeit seines Lebens von einem Hund begleitet,<br />

welcher der Teufel war…<br />

Man bemerke erneut, ein gebildeter Mensch – „DE OCCULTA PHILOSOPHIA“ ist nun<br />

wahrlich kein Bauernkalender, lässt sich mit einer geradezu umwerfenden Selbstverständlichkeit<br />

in seinen Gedanken von einem Hund leiten, „welcher der Teufel war“.<br />

„<strong>Faust</strong>us“ und „Knaitlingen“ sowie der „teuflische Hund“ – auch <strong>im</strong> Manliustext sind<br />

Hunde unterwegs – alles in allem betrachtet, der Eintrag bezieht sich auf <strong>Faust</strong>.<br />

Es wird angenommen, der Eintrag wurde um 1560 vorgenommen.<br />

„<strong>Faust</strong>o de Knaitlingen…“, das schreit geradezu danach, in die Reihe der Indizien für<br />

Knittlingen gestellt zu werden. Der Versuch, es dort hinein zu argumentieren, brauchte<br />

allerdings einen Teufelsadvokaten, auf den als Dank freilich eine Narrenkappe<br />

wartete. Nicht allein, weil der Schreiber das Datum und die Unterschrift vergaß,<br />

„Knaitlingen“ ist möglicher Weise eine abweichende Schreibweise von Kneitlingen; das<br />

aber ist Till Eulenspiegels (1300-1350) He<strong>im</strong>atort, in der Nähe von Schöppenstedt bei<br />

Braunschweig gelegen.<br />

Dass <strong>im</strong> nachfolgenden Streit Knittlingen seinen <strong>Faust</strong> an Kneitlingen verliert, die<br />

Wahrscheinlichkeit tendiert gegen Null, ob Kneitlingen seinen Till an Knittlingen<br />

verliert, hängt von den Künsten jenes besagten Advokaten ab. Jedenfalls eine<br />

vollkommen neue Situation für Knittlingen: Mutterstadt <strong>des</strong> volkstümlichsten Zauberers<br />

als auch <strong>des</strong> beliebtesten Aufklärers.<br />

Zurück zu jener merkwürdigen Gestalt <strong>im</strong> Knittlinger Novembernebel <strong>im</strong> Jahr 2001.<br />

Am nächsten Morgen stellte ich fest, auf der Suche nach <strong>Faust</strong> hatte ich am Abend<br />

zuvor seinem Denkmal die Hand gereicht. Ein in Bronze gegossenes Stereotyp eines<br />

arabischen Händlers, vielleicht auch Magiers, in weiter unförmiger Mantilla und einer<br />

merkwürdigen Kopfbedeckung, eine Kreation, halb Turban - halb Fez.<br />

Man darf sagen, <strong>Faust</strong> wäre auch mit den Menschen unserer Tage klar gekommen.<br />

121


Ich selbst war enttäuscht und ich bin es <strong>im</strong>mer noch. Mit einer figürlichen Darstellung<br />

ist <strong>Faust</strong>s Persönlichkeit nicht beizukommen. Sancta S<strong>im</strong>plicitas! Nicht auszudenken,<br />

was die Knittlinger mit Till anstellen, so besagter Advokat ihn nach Knittlingen<br />

argumentierte, vermutlich ihn diesem <strong>Faust</strong>-Denkmal als Hampelmann an die Seite<br />

stellen. Ich drücke den Kneitlingern beide Daumen.<br />

Knittlinger Honoratioren aber empfehle ich einen Spaziergang durch die Stuttgarter<br />

Königstraße. Sie stoßen dort auf eine Plastik: „Sonny Liston“, von Hrdlicka; Beispiel<br />

einer künstlerischen Umsetzung.<br />

Bis dahin gilt, was man <strong>im</strong> „finnischen Kinutelingen“ über <strong>Faust</strong> so spricht:<br />

„Dem hats daho<strong>im</strong> net gfalla, weil er <strong>im</strong>mer größer sei wollt, als er war!“<br />

„Und gschämt hat er sich au, <strong>des</strong>wega hat er nia verrata, wo er her kummt.“<br />

*<br />

„Typisch deutsch!“<br />

„Ist <strong>Faust</strong> typisch deutsch?“ <strong>Faust</strong> schöpfte die Möglichkeiten der Selbstentfaltung aus,<br />

wie sie sich damals in Deutschland für ihn boten. Nicht in der Mitte einer unteren<br />

Bevölkerungsschicht, er lebte seinen Willen, vielleicht auch sein Getriebensein, quer<br />

durch alle Schichten der Gesellschaft. Ähnlich einer gewaltigen polaren Eismasse, die<br />

in Teile bricht, waren die Gesellschaftsschichten in Bewegung geraten. Was so lange<br />

erstarrt lag, nun war es aufgebrochen. Die Schichten der Gesellschaft rieben sich,<br />

schlugen krachend aneinander.<br />

Die Gegensätze und Spannungsfelder dieser Zeit darzustellen, es füllte Bücher.<br />

Aufruhr und Rebellion sind biblisch nicht vorgegeben, sind Sünde, es sei denn, man<br />

beruft sich bei seinen Forderungen auf die Bibel. Folglich träumen die Bauern von der<br />

Rückkehr zur Abgabe <strong>des</strong> biblischen Zehnten, die verschuldeten Fürsten drehen<br />

dagegen an der Steuerschraube. Die Ritter schwärmen von altem Glanz und einem<br />

wiedererstarktem Kaisertum, sie weigern sich zu bemerken, dass der Kaiser innenpolitisch<br />

längst weitgehend entmachtet ist. Kaiser Karl V. träumt von der Erneuerung<br />

<strong>des</strong> Reichs Karls <strong>des</strong> Großen und ist in seinem Ehrgeiz nur ein Spielball der<br />

Geldhäuser. Während „in seinem Reich die Sonne nicht untergeht“, bringen die<br />

Geldhäuser den Metallhandel in ihre Hand, bilden Kartelle und jagen die Preise hoch;<br />

zwar klagen die Reichsstände wegen Monopol und Wucher, doch dem mächtigen<br />

Kaiser bleibt nur, den Reichsfiskal anzuweisen, „dass er gegen die Beklagten als da<br />

sind: Fugger, Welser, Höchstetter, Grander, Herwarth und Rem, nicht unterhandle,<br />

noch fortfahre, sondern gänzlich still stehe.“<br />

Jacob Fugger, der Reiche, steigert die Gewinne seines Hauses <strong>im</strong> Zeitraum von 1511<br />

bis 1527 um 1000%, gleichzeitig schreibt er: „…ich bin reich, von Gottes Gnaden,<br />

jedermann ohne Schaden!“ Das tägliche Leben von gewiss einem Drittel der Bevölkerung<br />

wird jedoch von Hunger, Kälte, Krätze, Läusen, Seuchen und Räubereien<br />

best<strong>im</strong>mt. Damit lebt man, wen kümmert es? Das Leben ist eine Wanderschaft, auch<br />

Jesus und seine Jünger mussten sich ihr Leben erwandern. Die grellen Unterschiede<br />

werden nicht grundsätzlich als Unrecht gesehen, sondern als biblisch vorgegeben.<br />

Die Motive der aufständischen Bauern sind nicht nur innerhalb der verschiedenen<br />

bäuerlichen Schichten, sondern auch von Landstrich zu Landstrich verschieden.<br />

Die Wut über die Einführung und Umsetzung <strong>des</strong> Römischen Rechts verbindet sie<br />

dagegen. Das Los der Landlosen jedoch zu ändern, dafür sehen sie keinen Anlass.<br />

Was ein Christ allerdings zu leisten hat, er muss sich der Armen erbarmen, er reicht ein<br />

Stück Brot, er lässt den Wanderer in der Scheune nächtigen, und falls er reich ist, stiftet<br />

er zum Heil seiner Seele ein Seelhaus, eine Herberge; das Übernachten ist billig,<br />

gelegentlich auch umsonst, statt<strong>des</strong>sen wird gemeinsam ein Gebet für die Seele <strong>des</strong><br />

Stifters gesprochen.<br />

Abgesehen von den Geldmagnaten, Fürsten und Bischöfen, auch die übrigen Reichen<br />

leben die Habgier, Streit- und Rachsucht. Sie neiden sich ihre Vermögen und sind in<br />

Prozesse und Streitigkeiten verwickelt. In scharfem Kontrast zur Armut der Menge von<br />

122


Wanderarbeitern, Siechen und Armen, stellen sie ein kindisch märchenhaftes<br />

Gepränge wie aus Tausend-und-einer-Nacht zur Schau.<br />

Kultureller Überfluß und höchste künstlerische Verfeinerung stehen gegen viehische<br />

Brutalität und schamlose Ausbeutung. Jeder steht gegen jeden. Die geistlichen und<br />

weltlichen Fürsten beuten die Städte und die Bauern aus, die Patrizier wehren sich<br />

gegen Machtansprüche der Bürger, die Zünfte halten die Gesellen unter Kuratell, die<br />

Bauern treten die Saisonarbeiter. Der Handel mit Kindern ist üblich, das Prügeln<br />

ohnehin, und dass die Frauen von ihren Männern geschlagen werden, ist auch normal.<br />

Analphabetentum kontrastiert mit h<strong>im</strong>melsfern abgeschirmter, glänzend elitärer<br />

Gelehrsamkeit. Hochgeborener Dünkel geht Hand in Hand mit erbarmungsloser Rache<br />

an den aufständischen Bauern. Edelste Gedanken stehen gleichberechtigt neben dem<br />

Glauben an die Existenz <strong>des</strong> Teufels. Gemälde <strong>des</strong> Leidens Christi und <strong>des</strong><br />

Totentanzes konkurrieren mit dem „Garten der Lüste“, der vollen sexuellen Libertinage.<br />

Ein wesentliches Momentum dieser Zeit ist eine Religiösität hysterischer Ausmaße.<br />

In Breslau zählte ein Zeitgenosse allein <strong>im</strong> Dom und den beiden größten Pfarrkirchen<br />

322 Stiftungsaltäre. Selbstredend mischte sich hier, wie bei vielen Stiftern, die Selbstdarstellung,<br />

Selbststilisierung und Festigung <strong>des</strong> Status mit der Sicherung <strong>des</strong><br />

Seelenheils. Eine Art von Frömmigkeit, die gewiss nicht die Frömmigkeit der Masse<br />

<strong>des</strong> Volkes ist. Doch auch die Unterschicht treibt die Frage nach dem Seelenheil um,<br />

sie fürchtet den plötzlichen Tod, sie sucht Schutz bei der Mutter Gottes, und dies bald<br />

mehr als bei Jesus. Und auch ein gebildeter Mann wie Friedrich der Weise, Kürfürst<br />

von Sachsen, sammelt mit Inbrunst Heiligenreliquien; mehr als 11 000 Stück sollen es<br />

gewesen sein. Gleichzeitig verschafft er Martin Luther politische Deckung:<br />

Herrschaftsinteresse und Mühen um das eigene Seelenheil sind hier deckungsgleich.<br />

Der junge Luther ist dagegen das eindeutige Beispiel der Weltentsagung zur<br />

Erlangung <strong>des</strong> Seelenheils. Das Seelenheil bewegt auch die zahllosen Witwen; zäh<br />

sparen sie sich Geld vom Mund ab, um sich wenigstens eine einzige Seelenmesse zu<br />

sichern. 1519, also zwei Jahre nach Luthers so genanntem Thesenanschlag, kam es<br />

zu Massenwallfahrten zur „Schönen Maria von Regensburg“. 25 374 Messen sollen in<br />

3 Jahren gelesen worden sein. Im Jahr 1520 wurden 109 198 bleierne und fast 10 000<br />

silberne Pilgerabzeichen verkauft. Und das, obgleich die Wallfahrer in ihrem<br />

He<strong>im</strong>atdorf neben einem Kloster leben, <strong>des</strong>sen Abt den Luxus liebt und ungeniert<br />

prunkvoll auftritt. Im Refektorium, dem Speisesaal <strong>des</strong> Klosters, hat alle Welt Zutritt, es<br />

geht zu wie in einem Wirtshaus. Mönche halten sich Konkubinen, gehen mit ihren<br />

Kindern spazieren, tragen Herrenkleidung und gehen weltlichen Geschäften nach; die<br />

dabei erzielten Gewinne sind steuerfrei, Mönche sind von privilegiertem Stand.<br />

Die erneuerte klösterliche Zucht, soweit sie durch die Visitationen bereits bewirkt<br />

wurde, sie ändert nichts am Druck der Abgaben und Steuern. Folglich ändert sie auch<br />

nichts an der landläufig gewordenen Auffassung, Mönche seien „unnütze Fresser“, die<br />

obendrein noch nicht mal biblisch vorgegeben seien.<br />

Die Visitationen zeigten zuvorderst in den Städten und in deren Umland Wirkung, die<br />

Besetzung der ländlichen Pfarrstellen wird weiterhin auf alte Weise gehandhabt; das<br />

schmerzt die Menschen in ihrem religiösem Empfinden und Verlangen tief.<br />

Oft bleiben die Pfarrstellen vakant, oder es werden Scholaren mit der Seelsorge vor Ort<br />

betraut. Naturgemäß sind die Scholaren ortsfremd, ihre „Ausbildung“ reichte gerade<br />

soweit, dass sie <strong>im</strong> rechten Tonfall eine Messe lesen können. Zu predigen wissen sie<br />

allerdings nicht, die Schrift können sie auch nicht auslegen, ungeniert greifen sie<br />

dagegen in den Klingelbeutel, tragen Kirchengeschirr und Altardecken ihren Weibern<br />

hin, auch kann es den Gläubigen passieren, dass sie am Bett ihres Pfarrers beichten<br />

müssen – der Herr hat wieder keine Lust zum Aufstehen. Meist sind die „Heuerpfaffen“<br />

auch nach kurzer Zeit wieder verschwunden.<br />

Das alles ist nicht die Schuld dieser Geistlichen. Erstens sind sie keine Geistlichen, <strong>des</strong><br />

Weiteren ist eine Pfarre als Pfründe einem Kloster oder einem Domkapitel unterstellt.<br />

Diese vereinnahmen zwar die Einnahmen der Pfarre, heuern jedoch billigst einen<br />

Scholaren, einen fahrenden Schüler, als Pfarrer an.<br />

123


Die wenigsten dieser Hilfspfarrer haben an einer Universität studiert, die meisten von<br />

ihnen haben gerade mal eine Lateinschule besucht. So jemals einer dieser Scholaren<br />

Bildungshunger verspürte, Brothunger best<strong>im</strong>mte seinen Lebensweg. Mit einer Pfarre<br />

hat er Hunger gegen schmale Kost, Mobilität gegen vorübergehende Sesshaftigkeit<br />

getauscht.<br />

Der Mangel an Reformwillen auf dem Lande, findet dann auch folgerichtig seinen<br />

Niederschlag in den Forderungen der aufständischen Bauern. Sie wollen die Aufsicht<br />

über das Kirchenvermögen und künftig ihre Pfarrer selbst best<strong>im</strong>men.<br />

Wurde die Kirche auch kritisiert, wegen der Geldgier und der Misswirtschaft der Kurie,<br />

wegen der Verweltlichung und <strong>des</strong> Sittenverfalls der Priester, wegen mangelnder<br />

Bereitschaft zu Reformen, die Kirche hatte Hochkonjunktur, die Menschen suchten<br />

ihre Gnadenmittel. Diese tiefe Religiosität war die Vorrausetzung für die rasche<br />

Ausbreitung der Reformation; aus Bilderstiftern wurden gleichsam Bilderstürmer.<br />

Es war eine Ära greller Gegensätze. Sündigen und dabei um das Seelenheil bangen,<br />

Hoffnung auf Besserung bei gleichzeitiger Erwartung einer bevorstehenden Apokalypse,<br />

die Menschen dieser Zeit lebten alle diese Begriffe in einem Atemzug. Die Agonie<br />

<strong>des</strong> Mittelalters war noch nicht vergangen, das Kreißen der so genannten Neuzeit noch<br />

nicht abgeschlossen, ein oft sanguinisch und melancholisch unausgeglichenes Gefühl<br />

von Schwebe und Unsicherheit beherrschte die Menschen.<br />

Gewiss wäre <strong>Faust</strong> seinen Weg auch in Frankreich oder Spanien gegangen, gelangweilt<br />

hätte er sich auch dort nicht, doch derart bewegt und spannend wie in<br />

Deutschland, mit Fehden, Luther und Bauernkrieg, war es dort in jener Zeit nicht.<br />

Heinrich Heine begeisterte sich nicht nur für Goethes <strong>Faust</strong>, er beschäftigte sich auch<br />

mit dem historischen <strong>Faust</strong>. Er schrieb: „Unser Doktor <strong>Faust</strong>us ist eine so grundehrliche,<br />

wahrheitliche, tiefsinnig naive, nach dem Wesen der Dinge lechzende und<br />

selbst in der Sinnlichkeit so gelehrte Natur, dass er nur eine Fabel oder ein Deutscher<br />

sein konnte.“ Eine Feststellung, die Heine wohl der Überschwang in die Feder diktierte;<br />

Heine starb 1856, die zuletzt aufgefundenen sechs Quellentexte hat er nicht gekannt.<br />

Christopher Marlowe`s “The Tragicall History of the Life and Death of Doctor <strong>Faust</strong>us”<br />

von 1589 und “Histoire Prodigeuse et Lamentable de Jean <strong>Faust</strong>, Magicien avec sa<br />

Mort Epouventable”, erschienen in Paris, 1598, sind der Beginn der begeisterten<br />

Aufnahme der <strong>Faust</strong>-Thematik <strong>im</strong> europäischen Ausland. Es liegt auf der Hand, „<strong>Faust</strong><br />

ist keineswegs typisch deutsch“. Doch seine hohe wie rätselhafte Kunst, dazu die<br />

Annahme, er hätte diese Kunst mit seiner Seele bezahlt sowie die nachfolgenden<br />

Sagen, waren der Humus, auf dem die Phantasien der Autoren der „Historia“ gediehen.<br />

Die „Historia“ wurde zum Ausgangswerk eines der bedeutendsten Themen der<br />

Weltliteratur. Stephan Füssel lieferte die knappe Begründung:<br />

„Mit dem Namen <strong>des</strong> Doktor <strong>Faust</strong> verknüpfen sich die tragische Schönheit sowie die<br />

Gewalt <strong>des</strong> Willens sich über Menschenmaß zu erheben mit der Verwegenheit<br />

menschlichen Geistes <strong>im</strong> Drang nach Erkenntnis.“<br />

*<br />

Eine Instrumentalisierung<br />

Auch die Überzeichnung, die Einteufelung <strong>des</strong> Johann Georg <strong>Faust</strong>, wenn nicht gar die<br />

Wiederauferstehung als literarische Figur überhaupt, ist ein Produkt dieser Zeit.<br />

Genauer gesagt, ein Produkt kampfbereiter Lutheraner in den Jahrzehnten der<br />

Unsicherheit, als sie nicht wussten, wie und wann sie demnächst wieder katholisch<br />

gemacht werden. Eine Situation unendlicher Anspannung, sie ertrug keine Grauzonen,<br />

sie brauchte Abgrenzung, Feind- und Vorbilder in Schwarz-weiß, derbe Parolen,<br />

einprägsame Flugschriften und entschiedene Standpunkte. Bei der ideologischen<br />

Auseinandersetzung mit dem Papsttum wurde nicht nur angezweifelt, ob <strong>des</strong>sen<br />

Existenz von Gott gewollt sei, es ging auch um <strong>des</strong>sen Sündhaftigkeit. Doch das<br />

Schlagwort „Die sündigen Päpste“ aus dem Vorfeld der Reformation war verbraucht,<br />

und so richtig sündig waren die Päpste auch gar nicht. Ihre Gier nach Macht war die<br />

124


eines Kaisers, ihre Fleischeslust, die eines Freudenhauses, ihre Excesse allesamt<br />

irdischer Art, außerdem, Rom war weit.<br />

<strong>Faust</strong> hingegen war präsent, mit seinen Reden und seinem Treiben, ein Mann über den<br />

geredet wurde, für <strong>des</strong>sen Kunst es dringend eine Erklärung brauchte.<br />

Noch zu Lebzeiten wurde er zum Begriff eines überaus sündigen Lebens, er personifizierte,<br />

was den Anhängern <strong>des</strong> neuen reinen Evangeliums ein Gräuel war.<br />

Seine Sterbestunde, just in diesen Jahrzehnten, war dann seine Sternstunde. Anders<br />

gesagt: Das rechte Leben, ein rätselhafter Tod, und bei<strong>des</strong> zur rechten Zeit.<br />

<strong>Faust</strong>s entstellter Körper schuf endgültig Gewissheit, es war <strong>Faust</strong> nicht nur gelungen,<br />

den Teufel sich zu verpflichen, <strong>Faust</strong> war so weit gegangen, wie noch nie ein Mensch<br />

zuvor: Er hatte sich selbst, sein kostbares Seelenheil als Preis gesetzt.<br />

Päpste mussten nur besonders lange in der Hölle leiden, <strong>Faust</strong> war nun ein jemand,<br />

den es bis dahin auf der Erde noch nicht gegeben hatte. Selbst die Bibel weiß nichts<br />

von einem Menschen zu berichten, der das ewige Leben mit den Füßen tritt, mit dem<br />

Satan einen Pakt schließt, bei <strong>des</strong>sen Ablauf nichts als die Hölle wartete. <strong>Faust</strong> war ein<br />

Monster.<br />

Eva, in ihrer Lust auf eine gottgleiche Existenz, hat die Menschheit auf ewig mit dem<br />

Stigma der Erbsünde belastet; durch Gott können die Menschen aber erlöst werden.<br />

Eva hatte jedoch keinen Pakt mit der Schlange geschlossen, sie war verführt worden,<br />

mit dem, was <strong>Faust</strong> getan hatte, war es nicht zu vergleichen. <strong>Faust</strong> war der Anti-Hiob.<br />

Seine Auferstehung als literarische Figur gründete sich auf weit mehr als auf seinen<br />

Mythos zu Lebzeiten und sein gewaltsames Ende. <strong>Faust</strong> war ein Bedarfsartikel <strong>des</strong><br />

geistigen Kl<strong>im</strong>as. An seinem entsetzlichen Tod hatte sich bewahrheitet, was jene<br />

Menschen erwartete, die nicht Gottes Gnade zu erlangen suchten.<br />

Eine wichtige Rolle bei der Ausdeutung seiner Person spielte dabei die „Teufelsglauberei“<br />

jener Zeit.<br />

Die Annahme, jemand sei mit dem Teufel <strong>im</strong> Bunde, dass es wohl mit dem Teufel<br />

zugehe, war überall und schnell zur Hand, sobald etwas nicht sofort erklärbar war. Der<br />

Teufel war die Welterklärung für jedermann; mochte einer noch so unwissend sein,<br />

dass es den Teufel gab, das wusste er.<br />

Seit 1455 gab es gedruckte Bücher. Innerhalb einer Auflage glich ein Buch dem<br />

anderen wie ein Ei – zumin<strong>des</strong>t auf den ersten Blick. In den Augen der Zeitgenossen<br />

war der Buchdrucker ein „Schwarzkünstler“; irgendwie ging es be<strong>im</strong> Druck der Bücher<br />

mit dem Teufel zu.<br />

Eine Seiltänzerin in schwindelnder Höhe – selbstverständlich ohne Netz, ein Fechter<br />

mit einem „dünnen payrischen Schwert, der so schnell war, dass man sein Schwert<br />

nicht sah“, sie alle waren irgendwie mit dem Teufel <strong>im</strong> Bund, also Teufelskerle.<br />

Von anderer „Zunft“ war der Gaukelmacher, der „nebulo“, der Dunstmacher.<br />

„Loses Gesindel, das mit dem Gaukelsack in den landen umbherzihet“ und den<br />

Menschen Wein aus den Nasen laufen lässt. „Solche Possen weren zu leiden, giengen<br />

wol hin, wanns dabey bliebe und sie nicht übernatürliche unmenschliche spectakel<br />

erzeigten mit <strong>des</strong> teuffels beystand.“<br />

Letztlich aber auf harmlose Art. Nebulos machten Staunen, sie waren unterhaltsam,<br />

überall gern gesehen, auch gern empfohlen, weitergereicht von Bischof zu Bischof, von<br />

Stadt zu Stadt, so ihre Künste nur ungewöhnlich genug waren.<br />

Eine Satire der Reformationszeit spottete über der „Bischöfe ir lüderliches hofgesindt,<br />

nemlich springer, ringer, fechter, lutenschlaher, trompeter und <strong>des</strong> leichtfertigen volks<br />

gar vil.“<br />

Gefragt waren auch die mit Geistern und Kobolden verwobenen Heilkünste, eine<br />

Grauzone, die bereits gefährlich nahe an den Bereich der Zauberei, der Schadzauberei<br />

grenzte. Und dass es einzelne Menschen geben musste, die ein Bündnis mit<br />

dem Teufel geschlossen hatten, selbstredend dabei schwere Schuld auf sich geladen<br />

hatten, das war Allgemeinwissen; wobei man gern genaueres gewusst hätte. Nicht<br />

zuletzt darüber, wie die Sache mit der Anrufung und dem Bannkreis, dem Höllenzwang,<br />

funktionierte, damit man den Teufel auch mal leibhaftig zu sehen bekäme.<br />

125


<strong>Faust</strong> war einer, bei dem man sich bereits zu <strong>des</strong>sen Lebzeit recht sicher gewesen<br />

war, dass er irgendein Geschäft mit dem Teufel am Laufen hatte. <strong>Faust</strong> hatte bei dieser<br />

Annahme fleißig mitgestrickt.<br />

„Multa dicebant de <strong>Faust</strong>o, welcher den Teufel seynen schwoger hieß…“ notiert<br />

Aurifaber, und die Chronisten der Z<strong>im</strong>merischen Chronik bestätigen es: „der bös gaist,<br />

den er in seinen lebzeiten nur sein schwager genannt“.<br />

Beide Aussagen sind zwar keine Beweise dafür, dass <strong>Faust</strong> sich jemals einer derart<br />

illusterdüsteren Bekanntschaft rühmte, doch sie dürften wohl in der Nähe <strong>des</strong>sen<br />

liegen, was man über <strong>Faust</strong> bereits vor seinem Tod redete. Was freilich von Landstrich<br />

zu Landstrich nicht das Nämliche bedeutete. Galt er soeben noch als „richtiger<br />

Teufelskerl“, war er durch Luther, etwa ab dem Jahr 1525, hundert Meilen weiter ein<br />

„Teufelshurer“.<br />

In den Jahrzehnten <strong>des</strong> jungen <strong>Faust</strong>s gab es einzelne Hexenverbrennungen, Auslöser<br />

waren meist Missernten und Seuchen. Seit der erfolglosen Hexenbulle <strong>des</strong> Jahres<br />

1484 waren Prediger unterwegs, sie wetterten gegen das Unwesen der Hexen; das<br />

Echo in der Bevölkerung war gering. In dieser Zeit wurde allgemein derart überdreht<br />

und grell gepredigt, die scharfen Reden gegen die vielen bösen Hexen bestätigten<br />

lediglich, was man ohnehin wusste. Die Reden stachelten niemand an, erzeugten keine<br />

neue Aufgeregtheit, die Menschen wussten, dass das Böse in vielfätigen Formen um<br />

sie herum präsent war, sie hatten gelernt es zu ertragen, sie lebten damit.<br />

Mit Luther hatte sich die Gangart erheblich verschärft. Runter mit den Heiligenbildern,<br />

weg mit den Götzen, hinaus aus den Kirchen mit allem, was nicht Gottes Wort ist.<br />

Schluss mit den Wahrsagern, den zauberischen Gauklern, den Kristallsehern, allein bei<br />

Gott kann der Mensch Gnade finden, auf Gott allein hat der Mensch sein Sinnen zu<br />

richten, denn die Welt ist voller Teufel. Diese seine Angst vor dem Teufel, in Verbindung<br />

mit der Frage der Vergebung der Sünden, war Luthers mächtigste Triebfeder.<br />

Gestützt auf die Bibel, begriff er sich als autorisiert, die Menschen aus dem Freilauf<br />

fröhlich katholischer Verdummung auf einen Lebensweg hohen Ernstes zu retten.<br />

War Luther nur ein Reformator oder etwa auch ein Revolutionär gewesen? Luther ist<br />

heute zerschrieben und verörtert, er liegt unter einem Bücherberg. Dennoch! Es gibt<br />

etwa 20 Briefe, geschrieben zwischen dem Thesenanschlag von 1517 und 1519,<br />

unterschrieben mit „Eleutherius“, der Freie. Und Luther selbst in dieser Zeit: „Als<br />

Christenmensch bin ich niemand untertan und aller Menschen Knecht.“ Das ist revolutionär!<br />

Doch das Sektieren und Revoluzzern unter den Evangelischen, während es auf<br />

der politischen Bühne für den Fortgang der Reformation fürstliche Unterstützung<br />

brauchte, dazu seine Furcht vor ewiger Verdammnis und seine Frage wie Gottes<br />

Gnade zu erlangen sei, ließen Luther vor den komplexen Fragen irdischer Verteilungskämpfe<br />

wohl resignieren. Anmerkung meines Historikers: „Geheiratet hat er trotzdem.“<br />

Nun, Luther war – dem Sachverhalt angemessen, leicht verwirrt. Am 12. Okt. 1524<br />

schreibt er an Hieronymus Baumgärtner: … wenn Du Deine Käthe von Bora halten<br />

willst, so beeile Dich mit der Tat, ehe sie einem anderen gegeben wird, der bei der<br />

Hand ist; sie hat die Liebe zu Dir noch nicht überwunden. Am 16. April 1525 schreibt er<br />

an Spalatin: Habe ich doch gleich drei Weiber auf einmal gehabt und so tapfer geliebt,<br />

dass ich zwei eingebüßt … die dritte (Käthe) hält nur noch ein schwaches Band …<br />

Bei <strong>Faust</strong>s Tod <strong>im</strong> Jahr 1540 hatte Luther das Leben und Denken in weiten Landstrichen<br />

bereits tief geprägt. Die Nachricht, dass <strong>Faust</strong> der Teufel geholt hatte, muss<br />

Luther gefallen haben. Luther selbst starb 1546.<br />

Neben dem Glauben braucht es auch <strong>im</strong>mer etwas Schriftliches; seit 1536 kursierte der<br />

Brief <strong>des</strong> Abts Trithemius als Flugschrift. Mochten auch die Väter über die frechen<br />

Sprüche <strong>des</strong> <strong>Faust</strong> noch gestaunt, sich daran ergötzt haben, doch was bei Trithemius<br />

zu lesen stand, die Theologie-Studenten in Wittenberg, die künftgen Pastoren, als<br />

junge Bannerträger <strong>des</strong> rechten evangelischen Glaubens konnten sie das nun gar nicht<br />

mehr witzig finden. Obendrein gab es seit 1539 den „Index Sanitatis“ <strong>des</strong> Begardi, dasx<br />

<strong>Faust</strong> gewidmete Kapitel ist überschrieben: „Von den bösen / vngeschaffnen /<br />

vntüglichen / trüfkhafftigen / vnnützen / vnd auch vngelerten ärtzten etc vnd auch / wo<br />

bej man sie erkennen mag“.<br />

126


Es bereitete keine Mühe, <strong>Faust</strong> als wahrlich sündigen Menschen einzuordnen.<br />

Eine Einschätzung, die sich auch jenen älteren Geistlichen mitteilte, die vordem<br />

innerhalb der katholischen Kirche tätig gewesen waren. Über <strong>Faust</strong> wurde geredet und<br />

phantasiert, da brauchte es einen Standpunkt und rechte christliche Belehrung.<br />

Bereits 1541 gibt der reformierte Pfarrer Johannes Gast bei Niclaus Brylinger in Basel<br />

seine Tischgespräche, die „SERMONES CONVIVALES“ zum Druck. 1543 lässt er den<br />

Teil II, die „TOMUS SECUNDUS CONVIVALIUM SERMONUM“ folgen.<br />

Die Bücher waren gefragt, bekannt sind Nachdrucke der Jahre 1548, 1554 und 1566.<br />

Leserinnen und Leser mögen sich die Quellentexte, allesamt zu <strong>Faust</strong>s Lebzeiten<br />

geschrieben, noch einmal durchlesen, sie finden weder Teufel noch phantastische<br />

Hunde.<br />

Die dann unmittelbare Drehung der Aufzeichnungen ins Phantastische, beginnend mit<br />

Pfarrer Gasts „SERMONES CONVIVALES“, <strong>im</strong> selben Moment da <strong>Faust</strong> das Zeitliche<br />

segnete, ist frappant.<br />

Diese unmittelbare Drehung kann nur bedeuten, das phantastische Bild, das Pfarrer<br />

Gast in seinen Notizen von <strong>Faust</strong> zeichnet, existierte in den Köpfen der Lutheraner<br />

bereits vor <strong>Faust</strong>s Tod. Es ist ein weiterer Fingerzeig darauf, <strong>Faust</strong> hat die<br />

reformierten Landstriche nicht mehr bereist, er hat dem Phantastischen Raum<br />

gegeben, musste ihm auch Raum geben.<br />

Pfarrer Gast schreibt: „Als ich zu Basel mit <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Oberen Collegium speiste, gab er<br />

dem Koch Vögel verschiedener Art“.<br />

Man n<strong>im</strong>mt an, das könnte <strong>im</strong> Jahr 1525 gewesen sein.<br />

An anderer Stelle ist von einem Poltergeist die Rede, <strong>Faust</strong>s Dankeschön an ein<br />

Kloster, weil man ihm den Wein vorenthalten hätte. „Am frühen Morgen ging er weg,<br />

ohne zu grüßen, und sandte in das Kloster einen wüthenden Teufel, der Tag und<br />

Nacht lärmte … (Die Mönche verlassen das Kloster.) Einige behaupten, dass auch<br />

jetzt noch, wenn Mönche in`s Kloster kommen, ein solcher Tumult sich erhebe, dass<br />

die Bewohner keine Ruhe haben. Solches weiß der Teufel zu veranstalten.“<br />

Über <strong>Faust</strong>s Tod steht zu lesen:<br />

„Er hatte einen Hund und ein Pferd bei sich, die, wie ich glaube, Teufel waren, da sie<br />

alles verrichten konnten. Einige sagten mir, der Hund habe zuweilen die Gestalt eines<br />

Dieners angenommen und ihm Speise gebracht. Der Elende endete auf schreckliche<br />

Weise, denn der Teufel erwürgte ihn, seine Leiche lag auf der Bahre <strong>im</strong>mer auf dem<br />

Gesicht, obgleich man sie fünfmal umdrehte.“<br />

<strong>Faust</strong> war also das Genick gebrochen worden, bzw. hatte sich das Genick gebrochen.<br />

Interessanter wäre freilich zu wissen, worüber Gast mit <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Oberen Collegium<br />

geredet hatte, wo <strong>Faust</strong>s Leiche auf der Bahre lag und wann das gewesen war.<br />

Das jedoch wissen zu wollen, entspricht unserer heutigen, quasi verwissenschaftlichten<br />

Neugier. Gast nennt kein Datum, keinen Ort, keine Quelle. Seine Notate gelten somit<br />

lediglich als Indizien; dass er <strong>Faust</strong> persönlich kannte, hilft nichts.<br />

Obendrein sind seine Zeilen für uns mit dem Odium <strong>des</strong> Geschwätzigen behaftet.<br />

Dabei bedeuten Gasts Leerzeilen in Sachen <strong>Faust</strong>s Tod nicht unbedingt, dass Gast es<br />

nicht genauer gewusst hätte. Falls es zutrifft, worauf die Wissenschaft sich auf Grund<br />

der Z<strong>im</strong>mer´schen Chronik geeinigt hat, dass <strong>Faust</strong> am Kaiserstuhl ums Leben kam,<br />

dann wusste Gast in Basel es auch, genauso wie er wusste, wann das in etwa passiert<br />

war.<br />

Staufen und Basel sind über die Rheinschifffahrt gleichsam nur einen Katzensprung<br />

von einander entfernt. Der Rhein war damals die wichtigste Handelsstrasse Mitteleuropas.<br />

Selbst heute, trotz Autobahnen und Lastwagen, stellt ein Wasserweg für<br />

einige Industrien noch <strong>im</strong>mer die einzige Alternative dar. Abhängig vom Transportgut<br />

braucht es hundert Lastwagen, um eine einzige Schiffsladung zu übernehmen. Das gilt<br />

ungleich mehr für die damalige Zeit; mit ihren Pferdefuhrwerken auf schlechten<br />

Straßen. Das wichtigste Transportgut war damals Brotgetreide. Weiträumig <strong>im</strong><br />

Einzugsgebiet von Bug und Weichsel hatte sich seit etwa 1500 ein extensiver Anbau<br />

entwickelt. Die Ernte wurde die Weichsel abwärts geschifft, in Danzig umgeladen, um<br />

127


über die Ost- und Nordsee bis England und die Niederlande, aber auch bis Straßburg<br />

und Basel transportiert zu werden. Neben den Waren fuhren Mensch und Nachrichten.<br />

Eine der Nachrichten war die Kunde von <strong>Faust</strong>s gewaltsamen Ende, sie hat deutlich<br />

Staub aufgewirbelt, die Gerüchteküche brodelte.<br />

In der Z<strong>im</strong>merischen Chronik heißt es: „Vil haben allerhandt anzeigungen und<br />

vermuetungen noch vermaint, der bös gaist, den er in seinen lebzeiten nur sein<br />

schwager genannt, habe ine umbbracht.“<br />

Dass der reformierte Pfarrer Gast nicht getreu berichtet, sondern „fabuliert“, braucht<br />

eine eigene Lesart.<br />

<strong>Faust</strong>, bereits zu Lebzeiten für alle Lutheraner der Inbegriff eines sündigen Menschen,<br />

war mit seinem Tod zum Inbegriff <strong>des</strong> verwerflichsten Menschen überhaupt geworden.<br />

<strong>Faust</strong> war nicht mehr nur der böse <strong>Faust</strong>, nun war er der verworfenste Mensch unter<br />

allen schlechten Menschen, die je über die Erde gegangen waren, der finsterste aller<br />

Finsterlinge, schwärzer als schwarz.<br />

War er vorher bereits abgeurteilt, fortan war er ausgestoßen.<br />

Bei Gast erfährt er zum ersten Mal eine Ehre, wie sie bis dato an sich nur den<br />

Gestalten der Bibel zuteil wird: Abraham, Moses, Hiob, Ruth…<br />

In ihrer Reihe steht nun auch <strong>Faust</strong>. Allerdings nicht unter ihnen, sein Platz ist ganz<br />

außen, am Rand der Bühne, dort, wo die Dunkelheit am schwersten lastet.<br />

Hätten die Lutheraner nicht die Kirchen <strong>des</strong> Schmucks, der Bilder und Figuren beraubt,<br />

man könnte formulieren: Dort in der Kirchenwand, dort war seit Menschengedenken<br />

noch eine Nische frei gewesen. Jetzt war sie besetzt.<br />

Für die Menschen <strong>des</strong> späten Mittelalters war die Bibel kein Produkt <strong>des</strong> Einst, die<br />

Erzählungen der Bibel passierten <strong>im</strong> Jetzt – alle zur selben Zeit. Der Mensch <strong>des</strong><br />

späten Mittelalters erlebte sie in seiner überschwänglichen Phantasie nicht nur als<br />

Mult<strong>im</strong>ediakino, sondern als Parallelwelten, gleich auf der anderen Straßenseite.<br />

Künstler, wie Grünewald oder Dürer, hatten kein Problem damit, die Menschen der<br />

Bibel mit den Menschen ihrer Zeit darzustellen. Frauen, Ratsherren, Söldner und das<br />

zerlumpte Fahrende Volk, sie finden sich Eins zu Eins in ihren Werken.<br />

Der Begriff „Zeit“ hat in der Bibel wenig Bedeutung. Moses, wann geboren, in welchem<br />

Jahr be<strong>im</strong> Pharao gewesen, wann gestorben? Was für unsinnige Fragen. Wichtig war<br />

allein, wofür Moses stand, was er in der Glaubenslehre repräsentierte.<br />

Gleiches gilt für Ortsangaben.<br />

Wo die Arche gestrandet, wo der Berg Horeb und das Rote Meer lag, jeder durfte sich<br />

vorstellen, was er wollte, allein der tiefere Sinn <strong>des</strong>sen, was dort passiert war, allein<br />

das war wichtig.<br />

<strong>Faust</strong> war zu <strong>Faust</strong> geronnen; Unsterblichkeit braucht keinen irdischen Datensalat.<br />

Die Bibel ist nur begrenzt als ein jüdisches Geschichtsbuch zu betrachten, es ist die<br />

Geschichte eines Volks und seinem Gott – verfasst von Priestern.<br />

Objektive Ereignisse waren die Knetmasse. Was uns erreichte, ist ein Produkt aus<br />

Fakten und der Suche nach dem Sinn der Ereignisse, der Suche nach Gott und seinem<br />

Willen. Freilich ist die Bibel auch ein Beleg für ein Machtmonopol bei der lehrhaften<br />

Ausdeutung von Ereignissen.<br />

„Gott aber sprach…“ ist ein <strong>im</strong>mer wieder kehrender Einschub, ein mahnender Fingerzeig<br />

auf Gott in den Ereignissen. Dazu werden Personen nach vorne gerückt, andere<br />

werden weggedrückt, wichtige Personen und Ereignisse werden überhöht. Die zehn<br />

Plagen Ägyptens, sie haben sich wohl alle zugetragen und wurden überliefert. In der<br />

schriftlichen Fassung werden sie zu einem Ereignisbündel, es dient zum einen der<br />

Erhöhung <strong>des</strong> Moses, zum andern, um das machtvolle Eintreten Gottes für sein Volk<br />

zu belegen.<br />

Dieser freie Umgang mit objektiven, freilich auch behaupteten Ereignissen gilt nun auch<br />

für <strong>Faust</strong>. Sein Leben und Sterben ist die Knetmasse, um eine lehrhafte Figur zu<br />

formen. Weiterer Teig wird hinzugefügt – der hohe Auftrag der Belehrung erfordert es.<br />

128


Die <strong>Faust</strong>figur der „Historia“ von 1587 muss in ihrem Konzept als biblische Figur<br />

gesehen werden.<br />

Die Bibel darf zur Weltliteratur gezählt werden, die „Historia“ gewiss nicht, obgleich sie<br />

sich gut lesen lässt. Die „Historia“ ist von literaturwissenschaftlicher Bedeutung, nicht<br />

zuletzt ist sie eine Fundgrube.<br />

Wer sich zügig und unangestrengt über die „Teufelsglauberei“ jener Zeit informieren<br />

will, mit der „Historia“ kommt er auf seine Kosten. („Historia“ von D. Johann <strong>Faust</strong>en“,<br />

Reclam; die Nummer <strong>im</strong> Sort<strong>im</strong>ent lautet sinnigerweise „1516“.)<br />

Heutige Autoren bezweifeln, dass die lächerlich anmutenden Zaubereien, wie sie in der<br />

„Historia“ geschildert werden, das Fressen eines Heuwagens oder das Verzehren eines<br />

anderen Zauberers, von den Menschen damals wirklich geglaubt wurden. Es wurde<br />

geglaubt, Deutschland war in die Finsternis gefallen, ununterbrochen loderten die<br />

Feuerhaufen, es herrschte Hysterie. Man führe sich in diesem Zusammenhang den<br />

kruden Inhalt <strong>des</strong> Manlius-Textes vor Augen. Und die Autoren, die ununterbrochen ihre<br />

Überarbeitungen der „Historia“ lieferten, ihre Betriebsamkeit wäre wohl rasch erlahmt,<br />

hätte sich das Publikum nicht für die Zaubereien <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s interessiert.<br />

Pfarrer Gast wusste nichts von einer künftigen „Historia“, doch in seinen wenigen<br />

Zeilen – wohl aus einem pastoralen Reflex heraus formuliert – sind bereits die Grundzüge<br />

jener radikalen Instrumentalisierung enthalten, die <strong>Faust</strong> post mortem erfuhr.<br />

Gast eröffnet: „Als ich zu Basel mit <strong>Faust</strong> …“<br />

Bei Manlius heißt es: „Ich hab einen gekennet …“<br />

Auf „Mehrertheils auß seinen eygenen hinderlassenen Schrifften …“ beruft sich der<br />

Buchdrucker der „Historia“, Johann Spieß.<br />

Gast berichtet nicht, was er mit <strong>Faust</strong> gesprochen hat, Melanchthon gibt keine Details<br />

über <strong>Faust</strong> preis, wie sie sich aus einem Kennenlernen an sich hätten ergeben<br />

müssen, und auch Spieß verrät nichts; Inhalt und Verbleib der hinterlassenen Schriften,<br />

auch ob es sich um Bücher oder Handschriften handelte, es bleibt <strong>im</strong> Dunkel.<br />

Die in etwa identischen Eröffnungen dienen offenbar nur dem Nachweis, dass man<br />

autorisiert sei, da man <strong>Faust</strong> persönlich kannte bzw. sich auf seine Schriften stütze. Sie<br />

<strong>im</strong>plizieren, jede nachfolgende Zeile entspräche folglich der Wahrheit.<br />

Sodann wird das Treiben <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>us dargestellt. Gast vermeldet, dass der Teufel auf<br />

<strong>Faust</strong>s Geheiß in einem Kloster lärmte, Manlius präsentiert gleichsam Ausschnitte der<br />

<strong>Faust</strong>vita und die „Historia“ schlüsselt das Treiben <strong>Faust</strong>s in viele Kapitel auf.<br />

„Der Elende…“ tituliert ihn schließlich Gast.<br />

„Cloaca multorum diabolorum“ zitiert Manlius.<br />

In der „Historia“ sind der schwarzen Titulierungen reichlich.<br />

Auf den so erfolgten, stets eindeutigen „Urteilsspruch“ folgt das verdiente „Ende“.<br />

In der „Historia“ selbstredend breit, dazu melodramatisch dargestellt.<br />

Bei Manlius eher sachlich erwähnt, bei Pfarrer Gast in gekonnt grausiger Überhöhung:<br />

„… seine Leiche lag auf der Bahre <strong>im</strong>mer auf dem Gesicht, obgleich man sie fünfmal<br />

umdrehte.“<br />

<strong>Faust</strong> war also so sehr verböst, selbst noch sein Leichnam, vom Bösen und vom Willen<br />

zum Bösen derart durchseelt, entwickelte ein wil<strong>des</strong> Eigenleben.<br />

1548 bezieht Melanchthon den „sündigen <strong>Faust</strong>“ als warnenden Querverweis in seine<br />

sonntäglichen „Postillen“ mit ein. „<strong>Faust</strong>“ war also bereits sieben Jahre nach seinem<br />

Tod zu didaktischem Material unter akademischen Bedingungen avanciert, was nur<br />

erneut bestätigt, das „Bild“ <strong>des</strong> toten <strong>Faust</strong> war in den lutherischen Landstrichen<br />

weitgehend identisch mit jenem „Bild“, das sich die Menschen jener Landstriche bereits<br />

noch zu seinen Lebzeiten von ihm gemacht hatten.<br />

Dass Melanchthon <strong>Faust</strong>s Leben zur Glaubensunterweisung nutzte, ist eine Sache,<br />

dass er sich dabei, wie es scheint, mit den älteren Zuhörern einig wusste, eine andere.<br />

Ob man nun diese Einmütigkeit „in rebus faustibus“ (Kunst-Latein) als Beweis dafür<br />

sehen will, dass die Menschen bereits den lebenden <strong>Faust</strong> weniger als Faszinosum,<br />

sondern als wirklich teuflisch erlebt hatten oder als Hinweis dafür, wie schnell<br />

Menschen in der angespannten Situation <strong>des</strong> Glaubenstreits zusammenrücken und<br />

129


ihre persönlichen Eindrücke einer höheren Lehrmeinung und Autorität unterwerfen, das<br />

bleibe dahin gestellt.<br />

Doch offenbar gab es bereits zu <strong>Faust</strong>s Lebzeiten sowohl den einen und dann noch<br />

den anderen <strong>Faust</strong>, also „<strong>Faust</strong>. Und <strong>Faust</strong>“. Denn Begardi <strong>im</strong> katholischen Worms<br />

notierte – etwa ein Jahr vor <strong>Faust</strong>s Tod – in seinem „Index Sanitatis“ rein gar nichts von<br />

einem teuflischen <strong>Faust</strong>, er heißt ihn einen Betrüger.<br />

Die Protestanten sahen <strong>Faust</strong> nur noch durch eine ideologische Brille; der Manlius-Text<br />

von 1563 findet in keinem einzigen Punkt eine direkte Bestätigung durch die Quellentexte,<br />

es lassen sich nur einige Entsprechungen feststellen.<br />

Nach Manlius wurden dann erste „<strong>Faust</strong>abenteuer“ schriftlich gefasst, sie bildeten<br />

später das Ausgangsmaterial für den „Belehrungshammer“ von 1587, die „Historia“.<br />

Neben diesen <strong>Faust</strong>-Geschichten wurde weiteres Material mit hinein verwoben:<br />

Johannes Aurifaber: Tischreden D. Martin Luthers<br />

Johann Weier: De Praestigiis Daemonum<br />

Sebastian Brant: Das Narrenschyff<br />

Hartmann Schedel: Buch der Croniken<br />

Hans Sachs: Lobspruch der statt Nürnberg<br />

Elucidarius<br />

Augustin Lerche<strong>im</strong>er: Ein Christlich Bedencken vnnd Erjnnerung von Zauberey<br />

Johannes Manlius: Locorum Communium<br />

u. v. a. m., aufgeführt in Reclam „1516“.<br />

Dass die Inhalte <strong>des</strong> Trithemius-Briefes sowie <strong>des</strong> „Index Sanitatis“ dabei unterschlagen<br />

werden, dokumentiert zum einen, wie weit <strong>Faust</strong> bereits aller realen Bezüge<br />

entkleidet ist. Dass selbst das „Kundling“ <strong>des</strong> hochangesehenen Melanchthon ignoriert<br />

wird, <strong>Faust</strong> statt<strong>des</strong>sen seinen ersten Schrei in Roda bei We<strong>im</strong>ar tut, zeigt die<br />

Entschlossenheit <strong>des</strong> Autors, nun eine <strong>Faust</strong>figur zu formen, die gültig für jedermann<br />

und an welchem Ort auch <strong>im</strong>mer, theologisch zum Einsatz gebracht werden kann.<br />

Dass die Lutherische Kirche – der Drucker Johann Spies fertigte vornehmlich Schriften<br />

der lutherischen Kirche, dabei <strong>Faust</strong>s Geburt und Tod, aber auch sein Wirken an der<br />

Universität von Wittenberg, allesamt auf urprotestantischem Boden passieren lässt, hat<br />

als Ursache, dass sie über „<strong>Faust</strong>“ die Deutungshoheit beanspruchte.<br />

In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu wissen, ob die nachfolgenden Bearbeitungen<br />

der „Historia“ allein durch protestantische Autoren vorgenommen wurden,<br />

bzw. wie sich das Verhältnis protestantischer zu katholischen Autoren prozentual<br />

darstellt und wie sich dieser Prozentsatz in der Folgezeit veränderte.<br />

Zweifelsohne war der Autor der „Historia“ nicht nur ein gebildeter Mensch, er wusste<br />

auch einen literarischen Handlungsbogen zu spannen. Was die Philologen erstaunt, ist<br />

einmal, dass sie den Autor bis heute nicht identifizieren konnten, zum andern, dass sie<br />

unter den verwendeten Büchern kein Werk eines Autors der Antike nachzuweisen<br />

wussten. Bis auf die „Paktlehre“ – die Idolatrie <strong>des</strong> Kirchenlehrers Augustinus wurde<br />

auch von Luther übernommen, besteht der Ausgangsfundus aus deutschen Büchern.<br />

Der Erfolg der „Historia“ gründete wohl darauf, dass der Autor vielfältige Leserinteressen<br />

bediente. Er bescheinigte <strong>Faust</strong> eine ungewöhnliche Intelligenz, Voraussetzung,<br />

um eine erregende Fallhöhe zu schaffen. Über das „Buch der Croniken“ wird<br />

der Leser auf eine interessante Welt- und Bildungsreise mitgenommen, und was die<br />

Geschäfte <strong>des</strong> Teufels angeht, der Leser erhält einen schonungslos Einblick.<br />

Unfein ausgedrückt, die „Historia“ war neben anderem auch die amtlich zugewiesene<br />

Schmuddelkabine einer satanischen Peepshow.<br />

Freilich war sie auch ein „Beichtspiegel“, anhand <strong>des</strong>sen die Glaubenskinder sich vorab<br />

mit dem Metier vertraut machen konnten; für den Fall, dass sie eines Tages vor dem<br />

Hexenrichter standen, verfügten sie über gute Kenntnisse.<br />

1597 gibt Augustin Lerche<strong>im</strong>er eine erweiterte Ausgabe seines „Christlich Bedencken<br />

vnnd Erjnnerung von Zauberey“ zum Druck. Im eingefügten Kapitel beschwert er sich<br />

über die „Historia“. Jener, der sie in Umlauf gebracht habe, sei ein „Lecker“ (Windbeutel).<br />

Dass <strong>Faust</strong> in Roda bei We<strong>im</strong>ar geboren, in Wittenberg den Doctor Theologiae<br />

gemacht und <strong>im</strong> Dorf K<strong>im</strong>lich bei Wittenberg erwürgt wurde, das alles sei erlogen. Es<br />

130


wisse jeder, dass <strong>Faust</strong> nicht bei Wittenberg gestorben sein könne, da er sich dort nicht<br />

mehr blicken lassen durfte. „Er ist bürtig gewesen auß e<strong>im</strong> flecken / genant Knütling“.<br />

„War eine weile schulmeister vnder Frantz von Sickinge bey Creutznach …“<br />

Weiterhin klagt er, dass es nicht rechtens sei, aus Gründen der Belehrung, <strong>Faust</strong>s Tod<br />

auf einen Karfreitag zu legen. „Andere eitelkeit lügen vnd teufelsdreck <strong>des</strong> buchs lasse<br />

ich vngereget: …michs sehr verdreußt vnd betrübet / wie viele andere ehrliche leute …“<br />

Er beklagt weiter, dass Luther und Melanchthon sowie die hochberühmte Schule zu<br />

Wittenberg auf diese Weise geschändet würden. Es sei nicht neu, dass solche unserer<br />

evangelischen Kirche feindliche Schmähschriften in Umlauf kämen, aber es sei<br />

ungebührlich, dass Drucker diese Bücher unters Volk bringen dürften. Es laufe darauf<br />

hinaus, dass die Jugend verführt werde, das Teufelswerk selbst einmal auszuprobieren.<br />

Soweit die stark gekürzte und freie Wiedergabe <strong>des</strong> Kapitels „Zeugnisse zur<br />

zeitgenössischen Wirkung“ in Reclam „1516“.<br />

Lerche<strong>im</strong>er klagt unter anderem Faktentreue ein. Interessant, was er darunter versteht,<br />

er selbst hat in seinem Werk Abt Trithemius zum schwarzen Abt aufgerüstet und seine<br />

<strong>Faust</strong>histörchen sind nicht weniger phantastisch teuflisch als was die „Historia“ über<br />

<strong>Faust</strong> zu berichten weiß. Auch für Lerche<strong>im</strong>er ist das Teuflische also eine Realität, er<br />

klagt jedoch die korrekte Wiedergabe von realen Lebensumständen und Ortsangaben<br />

ein.<br />

Lerche<strong>im</strong>ers Angriff ist ein brisanter Vorgang.<br />

Vorbei sind die Zeiten, als um 1520 die Zensur bei einem überforderten Stadtschreiber<br />

lag, den die Buchdrucker an der Nase herumführten, als so manches „Schandwerk“<br />

unter die Leute kam. Die Prüfung von Schriften wird längst von Universitäten<br />

wahrgenommen und diese haben sowohl die „Historia“ als auch das Werk Lerche<strong>im</strong>ers<br />

abgesegnet.<br />

Mit seiner Klage greift Lerche<strong>im</strong>er jene Prüfstelle an, welche die „Historia“ begutachtet<br />

hatte; den Druck der „Historia“ zu billigen, sei eine Schädigung der evangelischen<br />

Kirche. Lerche<strong>im</strong>er stellt die „Historia“ auf die Ebene jener Schmähschriften, wie sie<br />

von katholischer Seite aus in reformierten Gebieten verbreitet werden.<br />

Und gewiss nicht zuletzt, Lerche<strong>im</strong>er besch<strong>im</strong>pft und beleidigt den Autor der „Historia“,<br />

er heißt ihn einen „Lecker“, was er geschrieben, sei „boeslich vnd buebelich erdichtet<br />

vnnd erlogen“; nach heutigem Sprachgebrauch: Der Autor sei ein Lügner und Lump.<br />

Er spricht von „viele andere ehrliche leute“, die ihm wohl bei seiner Attacke den Rücken<br />

steiften.<br />

Neid auf das erfolgreiche Werk oder eine andersartige Literaturauffassung sind als<br />

Ursache <strong>des</strong> Angriffs eher auszuschließen; Lerche<strong>im</strong>er wagt es, eine Prüfstelle anzugreifen.<br />

Der Ursachen für die Attacke sind jedenfalls einige denkbar.<br />

Gab es ein Unbehagen in gewissen Kreise; nicht was das Predigen gegen das Dämonische<br />

grundsätzlich anging, sondern dahin gehend, dass man bei der lehrhaft<br />

phantastischen Ausgestaltung der „Historia“ derart großzügig Luther, Wittenberg und<br />

auch Melanchthon miteinbezogen hatte?<br />

Sprich, dass man die Aufrüstung einer derart zeitnahen Person zu einer biblischen<br />

Figur als zu gewagt empfand; laut der „Historia“ muss <strong>Faust</strong> ein Zeitgenosse Luthers<br />

gewesen sein. War die Zeit bereits zu weit fort geschritten, dass einigen – Belehrung<br />

hin oder her – die „Qualmerei“ nun doch zu gewagt erschien?<br />

Hatten sich für einige Naturerscheinungen, die bisher metaphysisch erklärt worden<br />

waren, inzwischen rationale Erklärungen gefunden? Folgerten daraus einige der<br />

Gebildeten, dass ein Dutzend der „tollen Geschichten“ sich eines Tages nicht nur als<br />

Hirngespinste erweisen sollten, sondern die „Historia“ als Ganzes und somit die<br />

Evangelische Kirche beschädigen könnten?<br />

Der Leser möge diese frühe Kritik innerhalb der Protestanten, <strong>im</strong> Auge behalten, sie<br />

führt geradewegs ins nächste Kapitel.<br />

131


„Er ist bürtig gewesen auß e<strong>im</strong> flecken Knütling / ligt <strong>im</strong> Wirtemberger lande an der<br />

Pfältzischen grentze.“ hält Lerche<strong>im</strong>er selbstbewusst dagegen und fordert Faktentreue<br />

ein.<br />

Damit bestätigt er, was ohnehin anzunehmen ist und in „Melanchthon schweigt“ bereits<br />

angesprochen wurde:<br />

In ersten lutherischen Kreisen, zu denen auch Lerche<strong>im</strong>er gehörte, wusste man über<br />

die Eckdaten <strong>des</strong> historischen <strong>Faust</strong>s sehr gut Bescheid. Desweiteren hatte der<br />

Umstand, dass Knittlingen die He<strong>im</strong>at jenes Teufelsbündners gewesen war, gewiss<br />

auch zu Fragen und Meldungen <strong>des</strong> Pastors an seine Vorgesetzten geführt. Denn dass<br />

ein Pastor in Knittlingen seinen Dienst versah und ihm niemals „<strong>Faust</strong>geschichten“ zu<br />

Ohren gekommen wären, das anzunehmen, widerspräche aller Erfahrung<br />

menschlichen Zusammenlebens.<br />

Ebenso müssen der Kirchenleitung die Umstände seines Ablebens bekannt gewesen<br />

sein, Manlius liefert einen erstaunlich detaillierten Bericht. Dass die „Z<strong>im</strong>mersche<br />

Chronik“, 25 Jahre nach <strong>Faust</strong> Tod geschrieben, bis heute das einzige Indiz ist, das<br />

von <strong>Faust</strong> Tod bei Staufen spricht, bis 1869 in der Fürstenbergischen Bibliothek in<br />

Donaueschingen schlummerte, besagt nicht, dass die Lutherische Kirche es nicht<br />

bereits vorher wusste. <strong>Faust</strong> war eine hoch relevante Person, sozusagen eine VIP, er<br />

war der Mann, von dem behauptet wurde, dass er den hoch verehrten Martinus Luther<br />

verderben wollte. <strong>Faust</strong> war ein ranghoher Terrorist, Anführer einer Dämonenhorde,<br />

einer, über den man besser Bescheid wusste.<br />

Des Weiteren drängt sich grundsätzlich der Verdacht auf, von lutherischer Seite<br />

wurden <strong>Faust</strong>-Beweise auch unterdrückt. Spätestens mit Entstehung der „Historia“, als<br />

<strong>Faust</strong>belege gesammelt, sortiert und aussortiert wurden, wurden Belege, die dem<br />

theologischen Anliegen nicht dienlich waren, wahrscheinlich auch „weg geschöpft“.<br />

Nicht allein, weil beispielsweise nie jemand notierte, dass der Medicus <strong>Faust</strong> auch zu<br />

heilen verstand, es sei auch daran erinnert – selbst wenn es kein Beweis ist, von den<br />

zahlreichen Briefen, die Georg Schwarzerd nach Wittenberg oder der <strong>Faust</strong>-Freund<br />

Stibar an Camerarius schrieb, existiert kein einziger mehr. Und nicht genug, dass der<br />

Schriftverkehr Melanchthons sowie <strong>des</strong> Camerarius stark dez<strong>im</strong>iert wurde, die Widersprüche<br />

in den schriftlichen Zeugnissen über Luther sind derart, Autoren vermuten<br />

Eingriffe; angesichts der seinerzeitigen Teufels- und Zauberglauberei ist es auch wenig<br />

glaubhaft, dass in den „Reden bei Tisch“, über denen zum Leidwesen Käthes oft das<br />

Essen kalt wurde, der Doktor <strong>Faust</strong>us nur ein einziges Mal Erwähnung findet.<br />

Man sollte meinen, die derbsaftige, mehrseitige Kritik Lerche<strong>im</strong>ers hätte die Betreiber<br />

der „Historia“ unruhig gemacht – keine Spur! 1599 n<strong>im</strong>mt Georg Rudolf Widman eine<br />

beträchtliche Erweiterung der „Historia“ durch seine gelehrt orthodox-lutherischen<br />

Anmerkungen vor.<br />

Dass Lerche<strong>im</strong>er Knittlingen als Geburtsort und das Wirtenberger Land – nicht anders<br />

als Melanchthon, als jenen Landstrich bezeichnete, wo <strong>Faust</strong> ums Leben gekommen<br />

sei, es blieb ohne Wirkung auf <strong>Faust</strong>-Autoren. Neben den Orten Roda und K<strong>im</strong>lich in<br />

der „Historia“ sollten als Geburts- und Sterbeorte auch Köln, Waardenberg,<br />

Königsberg, Pratau an der Elbe in der Nähe von Wittenberg, oder Cappel <strong>im</strong> Lande<br />

Wusten an der Nordsee gehandelt werden. Nun daraus zu schließen, dass <strong>Faust</strong> zu<br />

seinen Lebzeiten diese Orte besuchte und „seinen namen jederman selbst bekannt<br />

gemacht“, die verschiedenen Autoren sich eventuell durch letzte Spuren örtlicher<br />

Überlieferungen autorisiert sahen, <strong>Faust</strong> mit jenen Orten in Verbingung zu bringen, ist<br />

hohe Spekulation. Auch führt sie in der Frage „Wer war <strong>Faust</strong>?“ nicht weiter.<br />

Was man dagegen unbeschwert folgern darf, <strong>Faust</strong> war Allgemeingut geworden, der<br />

Sünder <strong>Faust</strong> gehörte nun jedermann.<br />

Der Streit um die „Historia“ muss angedauert haben.<br />

Bereits 1624 urteilte Wilhelm Schickard, Professor für Hebraistik, in seinem Werk<br />

„Bechinath Happerusch<strong>im</strong>“ (Die Lichtkugel, eine Untersuchung rabbinischer<br />

Pentateuch-Kommentare), „die „Historia“ und auch <strong>Faust</strong>us (!), obgleich von ernst-<br />

132


haften Leuten für wahr gehalten, seien reine Dichtung, nur ersonnen, um das einfache<br />

Volk, das eine Neigung zu Aberglauben und magischen Künsten habe, probat<br />

abzuschrecken.“<br />

Zu welcher Kategorie „Mensch“ Schriftsteller auch gehören, sie ließen sich jedenfalls<br />

nicht abschrecken, sie fühlten sich vom phantastischen Stoff der „Historia“ magisch<br />

angezogen.<br />

*<br />

Geschichtsfälschung auf protestantisch<br />

Mit Drucklegung <strong>des</strong> „Hexenhammers“, er wurde in ganz Deutschland gut nachgefragt<br />

und laufend nachgedruckt, meldeten sich auch einzelne St<strong>im</strong>men, die sich gegen den<br />

„Hexenglauben“ wandten – und keinen Erfolg hatten.<br />

Bereits 1515 notierte der Jurist Ponzivibius in Piacenza in seinem Buch „De Lamiis“,<br />

Über Hexen, Hexen seien irre geleitete, verblendete Personen, für Hexerei könne es<br />

keine Beweise geben.<br />

Agrippa von Netteshe<strong>im</strong> vertrat um 1530 die Auffassung, Hexerei sei Betrug oder<br />

beruhe eben auf besonderen Kenntnissen der Natur.<br />

1515 wurde Johann Weier zu Grave in Brabant geboren, als Arzt veröffentlichte er<br />

1563 „De Praestigiis Daemonium“, von den Blendwerken der Teufel, sowie „De<br />

Pseudomonarchia Daemonum“, von der Scheinherrschaft der Dämonen.<br />

Weier vertrat die Ansicht, die angeblichen Hexen seien vom Teufel mit Melancholie<br />

geschlagen worden, die Frauen bedürften ärztlicher Behandlung. Weiers Bücher<br />

wurden mehrfach auf den Index gesetzt, ob er selbst Protestant oder Katholik gewesen<br />

war, ist unbekannt.<br />

Eine traurige Ausbeute an Engagement, aber <strong>im</strong>merhin, noch wagte man anderer<br />

Ansicht zu sein.<br />

Auch Regressansprüche waren Anfangs <strong>des</strong> 16. Jhdts. noch möglich:<br />

1508 verklagte eine Anna Spülerin aus Rückingen 23 Einwohner auf 2000 Gulden, da<br />

diese sie vor den Hexenrichter gebracht hätten.<br />

In den Jahrzehnten nach 1560 wurden Zweifel an der Hexerei als satanisch gebrandmarkt;<br />

Hagelschläge, die ganze Landstriche zerstörten, bewiesen die Hexenkunst.<br />

Das gleiche galt für Appelle an die Menschlichkeit; niemand sei unmenschlicher als die<br />

Hexen selbst. Die „Hexenjustiz“ nahm ein allumfassen<strong>des</strong> Notstandrecht in Anspruch,<br />

Folterknechte, Advokaten, Richter taten ihre Pflicht, Beamte und Stadträte wohnten<br />

den Verhandlungen ordnungsgemäß bei, Universitäten prüften die Urteile.<br />

Abgerechnet wurde zum Stückpreis.<br />

Am 11. Mai 1590 meldete auch die Fuggerzeitung, interessanter Weise zum ersten<br />

und zum einzigen Mal, Hexenverfolgungen, und zwar den Beginn Münchner<br />

Verfolgungen. Warum das „Handelsblatt“ es einer Meldung für würdig erachtete, ist<br />

nicht unmittelbar klar. Es berichtet von sechs „Tätern“: „Drey Herren von der Fürstlichen<br />

Cantzley, andrer drey Herren vom Rath“.<br />

Im Jahr 1631 wurde die „Cautio Cr<strong>im</strong>inalis“ oder „Rechtliche Bedenken wegen der<br />

Hexenprozesse“ – ohne die vorgeschriebene Druckerlaubnis – publiziert.<br />

Der Verfasser blieb nicht lang verborgen. Es war der Jesuit Friedrich von Langenfeld,<br />

genannt Friedrich von Spee. Dass er für sein Werk nicht belangt wurde, verdankt er<br />

seinen Ordensoberen. Das Werk brachte zwar kein Ende der Hexenverfolgungen, es<br />

setzte jedoch einen Denkprozess in Gang.<br />

Zwanzig Jahre später begannen sich die Zweifel am Wesen der Hexenprozesse<br />

allgemein zu mehren, noch mal später wurden schließlich Gutachten gefordert.<br />

Christian Thomasius in Halle schreibt in seinem Gutachten:<br />

„Dieser gegenwärtige casus wurde auch anno 1694 in unsere Facultät geschickt <strong>im</strong><br />

Monat September, und war ich damahls noch mit der gemeinen (allgemeinen)<br />

Meinung von den Hexen-Wesen so eingenommen, dass ich selbst dafür geschworen<br />

hätte… Ich hatte es so gehöret und gelesen, und der Sache nicht ferner nachgedacht.<br />

… Dieses waren die ersten Hexen-Acten, die mir Zeit Lebens waren unter die Hände<br />

133


gekommen, und also excerpierte ich dieselben mit <strong>des</strong>to größern Fleiß und attention<br />

… (Thomasius berichtet sodann von den Einwänden seiner Kollegen) Er fährt fort:<br />

§ 1 (So ich) …in vielen Schrifften, die von der Magie handeln, nachschlage; so muss<br />

ich mich nicht wenig verwundern, dass ich hin und wieder fast nichts als ein unnützes<br />

Geschwätz und Fabeln, nirgends aber was gründliches… (finde.)<br />

§ 2 Der berühmtesten Scribenten so wohl der Catholischen als Protestierenden<br />

Schrifften sind mit allerhand Fabeln von Zauberern und Hexen angefüllet.<br />

Zwar was die päpstlichen Scribenten, sonderlich den Torreblancam, Bodinum, Del Rio<br />

und andere anlanget, darf man sich freylich nicht wundern, dass diese die gelehrte<br />

und kluge Welt mit den abgeschmacktesten und verächtlichsten Mährlein, doch, wie<br />

es scheinet, vielmahl unvorsetzlicher Weise, betrogen …<br />

Zu wünschen wäre es nur, dass von den Scribenten Protestantischer Seiten nicht<br />

eben dieses könte gesaget werden.“ Nachzulesen und zu verifizieren in „Hexen und<br />

Hexenprozesse in Deutschland“ von Wolfgang Behringer, 5. Auflage 2001, S. 446.<br />

§ 4 … Dieweil aber der Kurfürst zu Sachsen einer von den vornehmsten Lutherischen<br />

Fürsten war … diese gemeine Phantasterey in andere Lutherische, ja auch Reformirte<br />

Länder fortgepflantzet worden ... weil Lutherus selbst noch mit vielen Vorurtheilen von<br />

der Macht <strong>des</strong> Satans … eingenommen … gleichwie aus seinen Schrifften …<br />

Tischreden erhellet. Oder weil Philippus Melanchthon nach <strong>des</strong> Lutheri Tod, die<br />

Scholastische (von Dogmen geprägte) Theologie und Philosophie auff den<br />

Protestierenden Academien wieder feste gesetzet … weil etliche Evangelische Lehrer<br />

damahls mit den herrlichen Nutzen (???), wodurch, wie droben gedacht, sich dieser<br />

Irrthum bei den Päbstlichen Theologis sehr beliebt gemacht, und der ihnen gleichfalls<br />

daraus zuwachsen konnte, schon zum voraus geschmecket, und sich solchen<br />

Gefallen lassen; Oder auch, weil die Lutherischen Rechts-Gelehrten ihre Bücher von<br />

den Peinlichen Processen gewohnt waren, als den Päbstlichen Scribenten<br />

gemeiniglich (allgemein) ohne Nachsinnen auszuschmieren und vollzumachen …“<br />

(Die „Carolina“ mit integriertem „Hexenhammer“, auf die sich Fürsten und Kaiser <strong>im</strong><br />

Jahr 1532 geeinigt hatten, besaß ungeachtet der verschiedenen Konfessionen<br />

Gültigkeit <strong>im</strong> gesamten Deutschen Reich.)<br />

§ 47 … so ist genung, dass durch die Cartesianische Philosophie … die nichtige<br />

Einbildung von dem Laster der Zauberei … auff vielen Universtäten … ausgemertzet<br />

worden, man hat auch so leicht nicht zu besorgen, dass sie (die Universitäten) in der<br />

Protestirenden Fürsten Landen zu ihrem vorigen Ansehen wiederum gelangen<br />

werden.“<br />

Ein in vielfacher Hinsicht aufschlussreiches Zeugnis, nicht das einzige in dieser Zeit,<br />

und freilich nicht für die Zeitungen, für die Untertanen gedacht, sondern angefertigt<br />

und untertänigst einer protestantischen Fürstensuite zugestellt.<br />

Im vorliegenden Fall sei insbesondere festgehalten, dass Thomasius 1695 berichtet,<br />

dass „die nichtige Einbildung von dem Laster der Zauberei … auff vielen Universtäten<br />

… ausgemertzet.“ Der Prozess verfügter „Reinigung“ ist also nahezu abgeschlossen,<br />

ein Vorgang, der gewiss nicht plötzlich passierte, sondern wohl um 1650 angedacht<br />

worden war. Interessant ist dabei, dass die „Ausmertzung“ an den Universitäten<br />

offenbar bis dato von hohen Juristen nicht wahrgenommen worden war.<br />

Juristen müssen in der Tat wertkonservative Menschen sein.<br />

Nun hat die Katholische Kirche in der öffentlichen Meinung bekanntlich ein Dauerabonnement<br />

für Mummenschanz und halborientalisches Gepränge, der lutherische<br />

Ableger ist davon – gemäß Vorurteil – frei. Protestanten tragen, Voltaire in Berlin und<br />

entsprechender preußischer Geschichtsschreibung sei Dank, das Attribut „aufgeklärt“.<br />

Derart präsentiert sich in etwa die heutige Sichtweise.<br />

Damals jedoch, nach 1650, in einer Zeit fortschreitendender Aufklärung, müssen in<br />

den evangelischen Chefetagen die Gesichter wohl nicht nur lang und länger geworden<br />

sein, Betroffenheit und eine ungute Ahnung mögen sich ausgebreitet haben. Nun gut,<br />

der Kurfürst von Sachsen, Luther und Melanchthon waren schließlich katholisch<br />

geprägt wesen, doch warum hatten nachfolgende Generationen den Hexenspuk so<br />

134


lange mitgetragen? Hätte die Hexenverfolgung in Deutschland nicht ein rasches Ende<br />

gefunden, falls die evangelische Seite sich verweigert hätte?<br />

Hatte man nicht auch, lange nach Luther, ein Machwerk finstersten Aberglaubens, die<br />

„Historia vom weitbeschreyten Zeuberer“, diesem „D. Johann <strong>Faust</strong>en“, unters Volk<br />

gebracht, jene „Historia“, die ohnehin intern umstritten war.<br />

Zwar ist das Gedächtnis kurz, doch leider machte diese alte „Historia“ keinerlei<br />

Anstalten aus den Köpfen zu verschwinden. Im Gegenteil, sie war lebendig und wurde<br />

mit zunehmender Aufklärung erneut richtig putzmunter. Nun sahen sich Autoren<br />

gereizt, für die seltsamen Abenteuer jenes <strong>Faust</strong>us rationale Erklärungen zu finden,<br />

die realen Hintergründe zu erkunden. Leider ist die „Historia“ ein abgeschmacktes<br />

Propagandawerk mit geringst möglicher Substanz. Ein Zeitpunkt, wo der erste Autor<br />

das Werk in die Ecke feuerte, ein zweiter sich über den evangelischen Aberglauben<br />

lustig machte, wenn nicht gar wesentlich übleres zu Papier brachte, schien möglich<br />

geworden, war vielleicht gar nicht mehr so fern.<br />

Könnte es sein, dass man sich Lerche<strong>im</strong>ers Empfehlung erinnerte, sich mehr an die<br />

Fakten zu halten?<br />

Die Erkenntnis, einmal durch die „Historia“ den Hexenglauben befördert, sodann aktiv<br />

an der Ermordung Tausender von Menschen beteiligt gewesen zu sein, sie muss wohl<br />

in den Köpfen der Verantwortlichen einiges ausgelöst haben.<br />

Am 13. Dez. 1714 erklärte jedenfalls Friedrich Wilhelm I. seine Skepsis gegenüber den<br />

Hexenprozessen. Trotz dieser Skepsis, das sei gesagt, pflegte er einen gewissen<br />

Aberglauben, eine schwarze Katze oder drei Frauen am Wegrand veranlassten ihn,<br />

eine Kutschfahrt abzubrechen.<br />

Die geäußerte Skepsis bedeutete kein sofortiges Ende der Hexenprozess in Preußen,<br />

doch be<strong>im</strong> letzten Prozess <strong>im</strong> Jahr 1728, wird die 22-jährige, eine Geistesschwache,<br />

wegen liederlicher Lebensführung zur Arbeit verurteilt und in das Spinnhaus von<br />

Spandau gebracht. (In Bayern dauern die Hexenprozesse ein halbes Jahrhundert fort.<br />

In Spanien gar gedachte man noch um 1830 die Hexenprozesse wieder zu beleben –<br />

um die Liberalen zu bekämpfen.)<br />

Die „Historia“ aus der Welt zu reden, war nicht möglich. Den Autoren ihren <strong>Faust</strong> zu<br />

verbieten, war zwar per Zensur möglich, es hätte jedoch zu Fragen geführt; zu groß<br />

war das Interesse an diesem Dr. <strong>Faust</strong>us.<br />

Ist es denkbar, dass die evangelische Kirchenleitung sich in der zweiten Hälfte <strong>des</strong> 17.<br />

Jahrhunderts dafür entschied, das Umfeld der „Historia“ sowie die Autoren mit etwas<br />

„Substanz“ zu füttern, die abergläubischen Märlein mit etwas Realität aufzurüsten, um<br />

sich zumin<strong>des</strong>t ein wenig aus dem Dunstkreis tiefsten Aberglaubens zu entfernen, ein<br />

Stück näher an die historische Realität zu rücken?<br />

Gesetzt den Fall, dass man sich tatsächlich Gedanken um die Folgen der „Historia“<br />

machte, so sollte sich zeigen, derartige Bedenken waren berechtigt.<br />

1704 rief der Jurist Johann Reiche dem 1653 verstorbenen Pariser Bibliothekar<br />

Gabriel Naudé nach: er sei „so närrisch und einfältig gewesen / solches in der That zu<br />

glauben … die törichten Fratzen und Fabeln / von D. <strong>Faust</strong>en / … womit sich itzo die<br />

Kinder-Muhmen und Mägde in den Spinn-Stuben schleppen (belasten).“<br />

1716 äußerte der Magie-Historiker Franciscus de Cordua: „D. <strong>Faust</strong>en betreffend / so<br />

ist noch lange nicht erwiesen / ob jemahls ein Mann dieses Nahmens gelebt / und der<br />

so ein beschriebener Hexenmeister gewesen seyn solle … Das zusammen<br />

geschmierte Leben <strong>des</strong> D. <strong>Faust</strong>s beweiset <strong>des</strong>sen Existenz noch lange nicht / weil<br />

dieses Buch aus nichts / als lauter albern Fratzen bestehet / die ein jeder Vernünfftiger<br />

sonder alle Mühe / mit Händen greifen kann … wird kein gescheuter Mann glauben...“<br />

1737 schrieb der Kanzleirat Johann Benedict Scheibe: „ Die Geschichte vom Doct.<br />

<strong>Faust</strong>en … halte ich vor Fabel und Erfindung eines verwirrten und albern Kopffes.“<br />

Könnte es sein, dass das „Verzeichnis der Maulbronner Äbte“ mit dem eingefügten<br />

Passus: „iß Dr. <strong>Faust</strong>en deß Zeuberers Collega gewesen, welcher diesen Abbt zu<br />

Maulbronn besucht.“ ein dementsprechender Fake, ein lancierter <strong>Faust</strong>beleg ist?<br />

Erklärt sich auf diese Weise die „Verspätung“ dieser „Vermeldung“?<br />

135


Alexander Tille hat <strong>im</strong> Jahr 1900 das Verzeichnis auf 1720 datiert; dieses Jahr wird <strong>im</strong><br />

Allgemeinen als gesichert angesehen und dementsprechend verwendet.<br />

Laut Mahal dagegen, in „<strong>Faust</strong>. Und <strong>Faust</strong>“: „das „abgesehen von der aufklärerischen<br />

Randglosse „Sancta S<strong>im</strong>plicitas!“, einem Notat <strong>des</strong> Archivars Philipp Jacob Zeitter aus<br />

dem 17. Jahrhundert entspricht.“<br />

Philipp Jacob Zeitter, 1634 – 1691, war Württembergischer Hofregistrator.<br />

Der Zeitpunkt der Entstehung <strong>des</strong> Äbte-Verzeichnisses fügt sich in den zeitlichen<br />

Bedarfsrahmen. Der Inhalt der Einfügung entspricht den Erfordernissen, wie sie sich<br />

mit Blick auf die <strong>Faust</strong>thematik ergaben; nicht viel an Substanz, jedoch Authentizität<br />

heischend, also mittelalterlich verdreht, verschwiemelt und angesch<strong>im</strong>melt.<br />

Da die Einfügung in einem Archiv vorgenommen wurde, stellen sich Fragen:<br />

Wo ist die Originalvorlage <strong>des</strong> Äbteverzeichnisses abgeblieben? Die Protestanten<br />

führten in Maulbronn spätestens ab 1556, mit Einrichtung eines evangelischen<br />

Seminars, ein ordentliches Archiv – man entsorgt kein Original.<br />

Ein Archivar fertigt eine Abschrift an und n<strong>im</strong>mt dabei eine Einfügung vor. Ein Archivar<br />

ist in der Regel ein penibler Mensch. Er ist mit dem Urkundenwesen umfassend<br />

vertraut, so er eine Erweiterung vorn<strong>im</strong>mt, verweist er auf die Quelle der Erweiterung.<br />

Warum hat er zudem das Verzeichnis nicht unterschrieben und das Datum der<br />

Anfertigung nicht festgehalten? Das sind grundlegende Dinge einer jeden Archivarbeit.<br />

Nicht allein, es unterläuft ihm dabei ein Zahlendreher (1521 / 1512), ebenfalls<br />

ungewöhnlich für einen Archivar. Dazu ist die eingefügte „Meldung“ derart dümmlich,<br />

dass ein Unbekannter sich gereizt sah, ein freches „Sancta S<strong>im</strong>plicitas“ daneben zu<br />

kritzeln.<br />

Ein Archiv ist kein Tollhaus, es ist die Verwahrstelle von Dokumenten, wie sie für<br />

Rechtsstreitigkeiten um Besitz und Ansprüche erforderlich sind. Archivar zu sein,<br />

bedeutet eine Vertrauensstelle inne zu haben, der Kreis jener, die zu einem Archiv<br />

Zugang haben ist eng begrenzt.<br />

Damit nicht genug! Die Information „iß Dr. <strong>Faust</strong>en deß Zeuberers Collega gewesen,<br />

welcher diesen Abbt zu Maulbronn besucht.“ findet sich wortgleich in einer weiteren<br />

Quelle, allerdings gleich mit zwei falschen Jahresangaben behaftet. Der Amtsantritt<br />

Entenfuß` ist auf 1516 verlegt, sein To<strong>des</strong>jahr ist mit 1547 angegeben. Besagte Quelle<br />

– Historikern dürfen die Haare zu Berge stehen – ist keine geringere als das „Fürstlich<br />

württembergische Dienerbuch vom IX. bis zum XIX. Jahrhundert“. Verantwortlicher<br />

Archivar war jener Württembergische Hofregistrator Philipp Jacob Zeitter.<br />

Abgesehen von den falschen Jahresangaben, mag sein, dass damalige <strong>Faust</strong>-Autoren<br />

ihre Werke, weil werbeträchtig, noch <strong>im</strong>mer mit „Zeuberer <strong>Faust</strong>“ überschrieben, doch<br />

dass ein amtliches Archiv in einer Zeit, da die Aufklärung bereits gut fortgeschritten ist,<br />

einen „Zeuberer“ notiert, ist ein erstaunlicher Vorgang.<br />

Wie verlässlich sind Archive? In Sachen „<strong>Faust</strong>“ sind die Grundlagen ordentlicher<br />

Archivarbeit jedenfalls außer Kraft gesetzt.<br />

Fragen und Ungere<strong>im</strong>theiten, die der Klärung bedürfen, die sich allerdings, einen<br />

konstruierten <strong>Faust</strong>beleg zu Grunde gelegt, nahezu selbsttätig erklären.<br />

Die verschwurbelte Formulierung <strong>des</strong> Einschubs <strong>im</strong> Verzeichnis, der Lapsus eines<br />

Zahlendrehers, sowie der Zusatz „Sancta S<strong>im</strong>plicitas!“ – handelt es sich dabei um eine<br />

schlaue Mogelpackung mit oberschlauem Verwirrspiel?<br />

Davon ausgehend, stellt sich die Frage, warum dieser „<strong>Faust</strong>nachweis“ ausgerechnet<br />

Maulbronn <strong>im</strong>plantiert wurde, die protestantischen Fürsten als auch ihre Kirche haben<br />

von der katholischen Kirche schließlich Hunderte von Klöstern und Kirchen geerbt.<br />

Quer durch Norddeutschland und nicht nur dort, lagen zahllose Äbteverzeichnisse und<br />

Kirchenbücher bereit, sie alle konnten abgeschrieben und zweckdienlich angereichert<br />

werden.<br />

Dass die Wahl auf Maubronn fiel, dafür bieten sich mehrere Gründe an.<br />

Wie unterstellt, sah sich die evangelische Kirche eventuell geneigt, ein wenig in<br />

Richtung Wahrheit, in Richtung Knittlingen zu rudern. Denn Knittlingen, als <strong>Faust</strong>s<br />

136


He<strong>im</strong>at angenommen, muss der Kirchenleitung, wie in „Eine Instrumentalisierung“ dargestellt,<br />

bekannt gewesen sein.<br />

Wissen und Absicht der Kirchenleitung zu Grunde gelegt, macht der „verspätete<br />

<strong>Faust</strong>nachweis“ in Knittlinger Nachbarschaft durchaus Sinn.<br />

Die neben dem Manlius-Text in der Öffentlichkeit bekannten Textstellen: „Er ist bürtig<br />

gewesen auß e<strong>im</strong> flecken / genant Knütling “ bei Lerche<strong>im</strong>er oder bei Dieterichs:<br />

„Johann <strong>Faust</strong>en / der endtlich / da er lang gekünstlet / vom Teuffel an Stucken in se<strong>im</strong><br />

Heymath bei Knittlingen zerrissen“, hatten somit ein Bankert-Brüderchen bekommen.<br />

Möglicher Weise ist aber die Ansiedlung <strong>des</strong> Märleins in der Nähe von Knittlingen ein<br />

Zufall. Nicht Knittlingen hatte den Ausschlag gegeben, sondern der Umstand, dass in<br />

Maulbronn ein Abt „wegen üblen Hausens“, passender Weise in einem zu <strong>Faust</strong><br />

relevanten Zeitraum, vertrieben worden war. Die überlieferte Breitbandbegründung<br />

„wegen üblen Hausens“, sprich die Vernebelung der Vorgänge um Abt Entenfuß,<br />

mochte den Urhebern gefallen haben, sie bewegten sich auf sicherem Grund,<br />

schließlich hatte es einst auch diesen schwarzmagischen Abt Trithemius gegeben.<br />

Und <strong>des</strong>sen rabenschwarzer Brief, hochrangiger Beweis für jenen sündhaften <strong>Faust</strong>,<br />

war ebenso allgemein bekannt, wie das sündige Treiben <strong>des</strong> Trithemius <strong>im</strong> Kloster<br />

Sponhe<strong>im</strong>. Die Vorgänge in Sponhe<strong>im</strong> waren auch Thema an Luthers Tisch gewesen;<br />

Johannes Aurifaber notierte in Sachen „Abt Trithemius“: „ein Zeuberer und<br />

Schwarzkünstiger.“<br />

Oder verhält es sich gar so, dass mit dieser Texterweiterung erstmalig und bedachtsam<br />

an einem Bronnen Maulbronner Überlieferungen geschöpft wurde? Gab es zwischen<br />

<strong>Faust</strong> und Maulbronn tatsächlich eine Verbindung, die man bis dahin unter Verschluss<br />

gehalten hatte, und die nun erstmalig in deformierter Form, an die Öffentlichkeit<br />

gelangen sollte? Dass <strong>Faust</strong>, als Knittlinger, von Kin<strong>des</strong>beinen an mit Maulbronn<br />

vertraut war, daran sollte grundsätzlich kein Zweifel bestehen. Doch welcher Art und<br />

Intensität dieses Vertrautsein war, darüber darf spekuliert werden; denn anders als in<br />

Knittlingen, gibt es in Maulbronn nicht einmal den Morast einer Sagenquelle, die auf<br />

einen Maulbronner <strong>Faust</strong> schließen ließe. Maulbronn hatte prominente Schüler, den<br />

Astronomen Kepler, den Dichter Hölderlin, sie berichteten in ihren Schülerbriefen nichts<br />

über eine Maulbronner <strong>Faust</strong>saga. Zwar sind aus der Zeit um 1600 aus dem nahen<br />

Großsachsenhe<strong>im</strong> eine herzogliche Alchemisten-Kolonie, und in Maulbronn um 1650<br />

ein Hexenturm und ein Spuk überliefert, jedoch stets ohne Bezugnahme auf <strong>Faust</strong>.<br />

In der Autorenszene selbst wurde in der Folgezeit nur ein einziges Mal auf das<br />

Äbteverzeichnis Bezug genommen. 1752 schreibt Christian Friederich Sattler in<br />

„Historische Betrachtung <strong>des</strong> Herzogthums Würtemberg“: „dass der Abt Johannes<br />

Entenfuß zu Maulbronn eines D. <strong>Faust</strong>en Landsmann und guter Freund gewesen, wie<br />

er ihn dann vermög guter Nachrichten um das Jahr 1516 in dem Closter Maulbronn<br />

besucht hat.“<br />

Man bemerke: Aus dem Kollegen ist ein Freund geworden, als Besuchsjahr wird nun<br />

bereits „um das Jahr 1516“ gehandelt. Die Bezeichnung „Landsmann“ ist dagegen<br />

richtig, Entenfuß stammte aus Unteröwishe<strong>im</strong>.<br />

Die Drucklegung <strong>des</strong> Goetheschen Urfaust <strong>im</strong> Jahr 1790 sowie die Romantik brachten<br />

das schwäbische Dichterblut mächtig in Wallung. Es galt die Schätze der<br />

Vergangenheit zu bergen; alte Sagen erfuhren eine Wiederbelebung, Ruinen, Türme<br />

und alte Gebäude wollten mit Geschichten gefüllt werden. Die Liste der beteiligten<br />

Dichter und Autoren ist schier endlos: Kerner, Lenau, von Arn<strong>im</strong>, Mörike, Görres …<br />

Von Görres stammt übrigens die Bezeichnung „Volksbücher vom Doktor <strong>Faust</strong>“.<br />

Erstaunlich, die Menage Abt Entenfuß / <strong>Faust</strong> erfuhr dabei keine dichterische<br />

Bearbeitung.<br />

Doch am 14. November 1840 erscheint in der Artikelserie „Das Oberamt Maulbronn“<br />

ein anonymer Beitrag. Wenige Monate später wird der Artikel erneut gesetzt, nun<br />

allerdings mit Angabe <strong>des</strong> Verfassers. Nach Mahal verbirgt sich hinter dem Anonymus<br />

<strong>des</strong> ersten Artikels kein anderer als eben jener angegebene Verfasser <strong>des</strong><br />

137


Folgeartikels vom Jahr 1841: der Stuttgarter Gymnasialprofessor Albert Schott; er<br />

hätte 1832/33, in seiner Zeit als Repetent am Maulbronner Evangelischen Seminar<br />

den Zugang zu Informationen gehabt.<br />

Im anonymen Artikel vom 14. November 1840 steht zu lesen:<br />

„… <strong>im</strong> Jahre 1516 hatte Maulbronn einen Mann beherbergt, den zuerst die Volkssage<br />

und nachher eine lange Reihe deutscher Dichter der Wirklichkeit entrückt … der<br />

gelebt … Dr. Johannes <strong>Faust</strong> aus Knittlingen… Nach der Erzählung, die in Maulbronn<br />

noch geht … hat er hier zuletzt eine Freistätte gefunden… und wirklich bemerkt ein<br />

altes Verzeichniß der Aebte zu dem Namen <strong>des</strong> Abtes Johannes Entenfuß … dieser<br />

seinem Landsmann Unterschlauf gegeben. Entenfuß und seine Vorgänger waren<br />

Freunde von prachtvollem Bauwesen… möglich, dass ihm <strong>Faust</strong> Hoffnung machte, die<br />

leeren Geldkisten … durch Goldmachen gefüllt zu sehen. Zwischen dem Rebenthal<br />

und jetzigem Oberamtsgericht … ein zugemauertes Laboratorium … die <strong>Faust</strong>küche.<br />

Auf dem östlichen Eckthurm <strong>des</strong> Klosterzwingers soll er sein Ende gefunden haben…<br />

obgleich Schriftsteller seiner Zeit berichten, dass er zu Knittlingen mit umgedrehten<br />

Halse todt sei gefunden worden.“<br />

Das ist starker Tobak! Bis auf die sehr freie Bezugnahme auf Thomas Birck und<br />

Cunrad Dieterichs <strong>im</strong> letzten Satz ist alles frei erfunden: Das <strong>im</strong> Äbteverzeichnis<br />

behauptete „Gästez<strong>im</strong>mer“ ist zur Freistätte mit Labor zwecks Goldmachen umgebaut,<br />

als Abschussrampe Richtung Hölle wird dem Leser ein Turm gereicht.<br />

Anonym publiziert, doch unter „Das Oberamt Maulbronn“, und damit quasi halbamtlich.<br />

Der Zweck der sagenhaften Schreibübung findet sich <strong>im</strong> Text: <strong>Faust</strong> „den zuerst die<br />

Volkssage und nachher eine lange Reihe deutscher Dichter der Wirklichkeit entrückt“.<br />

Die „Historia“, Auslöser einer langen Reihe, hat es also gleichsam nie gegeben.<br />

Nicht zu vergessen, ein Gymnasialprofessor setzt als Anomymus unter dem Prädikat<br />

„Oberamt“ Zeitungsenten in Umlauf, das „Oberamt“ schaut zu und die sonst so<br />

pfiffigen Zeitungsfritzen denken sich rein gar nichts, als ein anonymer Artikel gesetzt<br />

wird. Nun fehlt nur noch derjenige, der das alles für einen gewöhnlichen Vorgang hält.<br />

<strong>Faust</strong> war für die evangelische Kirche fraglos eine VIP, aber eine, die man behutsam<br />

wieder dorthin zurückruderte, wo sie vor der „Historia“ gewesen war, in den<br />

Volksmund. Das Stück ist wohl geraten, <strong>Faust</strong> ist wieder dahe<strong>im</strong>.<br />

Die Maulbronner <strong>Faust</strong>sage stützt sich also letztlich auf Thomas Birck, jenen<br />

Schreiber, der <strong>im</strong> Jahre 1606 den Lerche<strong>im</strong>er-Text falsch verstand und <strong>Faust</strong>s Sterben<br />

„nicht weit von Knitlingen“ geschehen ließ. 1869 wurde in der Fürstenbergischen<br />

Bibliothek in Donaueschingen die „Z<strong>im</strong>mersche Chronik“ gefunden, 25 Jahre nach<br />

<strong>Faust</strong>s Tod geschrieben, berichtet sie von <strong>Faust</strong>s Tod bei Staufen. Man sollte meinen,<br />

der Fund hätte der Maulbronner <strong>Faust</strong>sage den Garaus gemacht. Keineswegs, die<br />

Person <strong>des</strong> Doktor <strong>Faust</strong> beflügelt die Phantasien derart, Wahrheit und „Wahrheit“<br />

leben bis heute gleichberechtigt nebeneinander.<br />

Die Maulbronner Fußtruppen werden freilich nicht warten, bis die Akademie den<br />

möglichen Casus fortgesetzter Geschichtsklitterung beäugt und sich eventuell darüber<br />

eins geworden ist, ob sie den Fall <strong>des</strong> Nachdenkens für wert befindet.<br />

Die Amateure wähnen sich auf sicherem Boden, Schott schöpfte am Maulbonner<br />

Sagenborn. Sie berufen sich auf Herrmann Kurz.<br />

Wer sich für die Bildung von Sagen interessiert, nun kommt er auf seine Kosten.<br />

Kurz hatte als Internatsschüler mit seinen Spezis eine durchaus riskante Kletterpartie<br />

auf den Dächern <strong>des</strong> Klosters unternommen, war dabei in einen vermauerten Raum<br />

eingestiegen und hatte an einer Wand eine rötliche Verfärbung (vermutlich<br />

mineralischen Ursprungs) entdeckt. Er schreibt darüber an seine Mutter, das<br />

Antwortschreiben vom 16. Februar 1828 blieb erhalten. „Euer Abentheuer ist zum<br />

Todlachen … ich gienge nicht mehr hinauf, ihr entdekt doch nichts, ich glaube es<br />

gewiß nicht dass der Teufel den <strong>Faust</strong> holte.“ Man kann es sich ausmalen, wie der<br />

Bericht, dass man auf einen vermauerten Raum und einen „Blutfleck“ gestoßen sei,<br />

die Fantasie der Internatsschüler beflügelt haben muss. Selbst ohne romantisieren<strong>des</strong><br />

Umfeld, die Sache wäre auch heute noch für Jugendliche spannend.<br />

138


1836 veröffentlicht Herrmann Kurz seine „Gedichte“.<br />

Dem sagenhaften Abenteuer sind gerade mal zwei Zeilen gewidmet:<br />

„Noch gedenk` ich, wie wir stiegen zum Gemach, wo Doktor <strong>Faust</strong><br />

Bis zu seinem blutig an die Wand geschriebenen Tod gehaust.“<br />

Gewiss nicht unerheblich, 1837 wird in Knittlingen der „Zauberschrank“ geborgen.<br />

1838 schreibt Kurz in der 13. Ausgabe der Literaturzeitschrift „Der Spiegel“ zur<br />

<strong>Faust</strong>sage: „Merkwürdig st<strong>im</strong>mt hier eine Sage vom Kloster Maulbronn zu, welche den<br />

Hexendoktor in einer abgelegenen Zelle <strong>des</strong>selben vom Satan holen lässt:<br />

Augenzeugen wollen sie mühselig, da der Eingang halb verschüttet sey, bestiegen<br />

und braunrothe, blutähnliche Spuren an der Wand gesehen haben.“ Kurz gibt hier<br />

seine Kletterpartie wieder, mehr jedoch nicht.<br />

1840 / 41 werden die relevanten Artikel „Das Oberamt Maulbronn“ publiziert.<br />

1858 lässt Kurz seine „Jugenderinnerungen“ verlegen. Jeder, der selbst schreibt, wird<br />

es bestätigen, Ereignisse, die dreißig Jahre zurück liegen, werden zum einen nicht<br />

mehr mit dem Blickwinkel eines 15-Jährigen geschrieben, zum andern werden sie<br />

geradezu zwangsläufig mit den Erfahrungen späterer Jahre aufgerüstet, dazu auch<br />

aktualisiert und interessant gemacht.<br />

In den „Jugenderinnerungen“ findet sich der Inhalt aus „Das Oberamt Maulbronn“<br />

punktgenau wieder; Herrmann Kurz hatte seine Kletterpartie aufgerüstet.<br />

Des Pudels Kern waren also begeistert ins Kraut schießende Schülerfantasien. Albert<br />

Schott, als Repetent 1832/33 vor Ort, nicht zu vergessen, seine „Zauberkollegen“,<br />

ließen sich inspirieren und haben die Sache obendrein kräftig aufgeblasen.<br />

Der anonyme Zeitungsartikel war ein Richtschuss. Die 1841 publizierte „Beschreibung<br />

<strong>des</strong> Oberamtes Maulbronn“ mit einem respektablen Gymnasialprofessor als Autor, war<br />

die amtliche Beglaubigung.<br />

„Ja, aber…“<br />

Jetzt kommt die Bauwut, sprich Goldnot, <strong>des</strong> Abts Entenfuß zur Sprache.<br />

Herzog Ulrich von Württemberg ermordete Hans von Hutten, den Vetter <strong>des</strong> Dichters<br />

und aufrührerischen Ritters Ulrich von Hutten. Die 1516 vom „schwäbischen Bund“<br />

verhängte Strafe von 27000 Gulden, das entsprach 9000 fetten Ochsen oder auch<br />

1500 Söldnern mit dem üblichen Halbjahreskontrakt, bürdete Ulrich u. a. dem Kloster<br />

Maulbronn auf. Das Kloster ging <strong>des</strong>halb nicht am Bettelstab, <strong>im</strong> Kloster wurde<br />

gebaut. Es wurde in der Zeit vor Abt Entenfuß gebaut, es wurde in der Zeit danach<br />

gebaut. In den Auseinandersetzungen zwischen Herzog Ulrich und dem<br />

„Schwäbischen Bund“ kam 1519 Franz von Sickingen mit seinen Mannen in das<br />

Salzachtal, was er dort wollte, ist unbekannt – das Archiv <strong>des</strong> Klosters ist angeblich<br />

vernichtet – Mahal vermutet, dass er auf „Inkassotour“ gewesen sei, bei den „unnützen<br />

Mönchen“ in Maulbronn die Klosterkasse visitiert hätte, denn anschließend sackte er<br />

<strong>im</strong> nahen Neuenburg Stadt und Amt ein.<br />

„Übles Hausen“, ein weiter Begriff, doch ruinöse Bauwut kann nicht gemeint sein.<br />

Trithemius, Abt der Benediktiner, konnte schalten und walten, ein Abt der Zisterzienser<br />

konnte das nicht. Ein Zisterzienserkloster war ein Agrarkonzern, der Konvent bildete<br />

den Vorstand, der Abt führte den Vorsitz.<br />

Einen Abt Entenfuß, der sich in Maulbronn einst ungestört der Baulust ergab, kann es<br />

so nicht gegeben haben, dafür ließen die Ordensregeln keinen Raum. Das sollte, darf<br />

man annehmen, auch Gymnasialprofessor Albert Schott bekannt gewesen sein.<br />

Dass von katholischer Seite, die gewöhnlich die Gründe für den Verlust einer<br />

Abtswürde genau beschreibt, die Umschreibung „übles Hausen“ gewählt wurde, lässt<br />

den Schluss zu, Abt Entenfuß muss sich in der Tat etwas Besonderes geleistet haben;<br />

eventuell sogar etwas ganz Ausgefallenes, vielleicht eine Sache, für die damals<br />

letzlich nur einer, nämlich <strong>Faust</strong> zuständig war.<br />

Anders gesagt: <strong>Faust</strong> in Maulbronn? Gerne! Aber nicht als Blutfleck!<br />

Das, als vorläufiges Friedensangebot für alle rauflustigen Maulbronner.<br />

*<br />

139


„Übles Hausen“ / Gehe<strong>im</strong>niskrämerei um Abt Entenfuß<br />

Nicht wenige <strong>Faust</strong>forscher versuchten das „üble Hausen“, die Umstände der<br />

Degradierung <strong>des</strong> Abts Entenfuß über das Mutterkloster in Citeaux zu klären,<br />

erfolglos. Sämtliche Unterlagen seien verschwunden, so die stereotype Antwort, als<br />

Erklärung wird auf die Ereignisse der Französischen Revolution verwiesen.<br />

Diese Auskunft ist nicht glaubhaft. Maulbronn ging geordnet in die Hände der<br />

Lutheraner über, die jahrhunderte alten Dokumente, Urkunden und Unterlagen wurden<br />

vollständig nach Citeaux verbracht.<br />

Und die Ereignisse der Französischen Revolution, so chaotisch und blasphemisch sie<br />

auch gewesen waren, die Radikalisierung <strong>des</strong> Pariser Konvents erfolgte keineswegs<br />

derart überraschend, als dass man in Citeaux nicht gewusst hätte, was zu tun war;<br />

wichtige Dokumente wurden in einem Raum zusammengetragen, anschließend wurde<br />

der Raum vermauert. In diesen Unterlagen finden sich die Vorgänge um Abt Entenfuß<br />

dokumentiert. Auch war die Amtsenthebung <strong>des</strong> Abtes nicht die alleinige Angelegenheit<br />

Maulbronns, sie wurde auch in Citeaux aktenkundig, sie musste durch Citeaux als<br />

Mutterkloster bestätigt werden.<br />

Dass man in Citeaux so beredt zu schweigen weiß, bedeutet nicht zwingend, dass es<br />

<strong>Faust</strong> gewesen sein muss, der den Abt in die Bredouille brachte, auch wenn bei <strong>Faust</strong>,<br />

dem offenbar selbst Prior Leib nichts entgegenzusetzen wusste, nichts unmöglich<br />

scheint.<br />

Das Schweigen legt jedoch die Vermutung nahe, dass die Verfehlung <strong>des</strong> Abts wohl<br />

weniger mit Verschwendung zu tun hat - wer hätte sich damals darüber noch aufgeregt,<br />

als mit anderer Art von großer „Sündhaftigkeit“.<br />

Und wenig wäre wohl schmerzlicher gewesen als in den Jahren vor Luther, da die<br />

Kirche derart in der Kritik stand, der Welt über Abt Entenfuß den nächsten „Abt und<br />

Schwarzkünstigen“ zu präsentieren.<br />

*<br />

Eine Straße für ein Leben – Knittlingen an der Heerstraße<br />

Die Gegend um Knittlingen ist ein altes Siedlungsgebiet, die gefundenen Tonscherben<br />

<strong>im</strong> „Bergfeld“ verweisen auf die Zeit um 4500 v. Chr., sie sind die ältesten <strong>im</strong> Raum<br />

Württemberg, die Funde der nachfolgenden Zeit belegen eine durchgehende<br />

Besiedelung der Umgebung von Knittlingen. Im Ort selbst, am Zusammenfluß von<br />

Weissach und Esselbach auf einem bescheidenen Höhensporn gelegen – er diente<br />

den Menschen wohl von alterhers als Fluchtburg, wurden keine Funde gemacht; sie<br />

wurden vermutlich be<strong>im</strong> Bau der Weinkeller entsorgt.<br />

Der Name Knittlingen geht wahrscheinlich auf einen alemannischen Sippenhäupling<br />

namens Knutila aus dem 5. Jahrhundert zurück, urkundlich belegt ist Knittlingen allerdings<br />

erst mit dem Jahr 843.<br />

Eine besondere Situation für das „stettlein“ Knittlingen war seine Anbindung an eine der<br />

wichtigsten Handelsstraßen Deutschlands; man n<strong>im</strong>mt an, dass diese Straße in Teilen<br />

bereits in keltischer Zeit bestand und unter Kaiser Claudius in die „Via Claudia“<br />

integriert wurde.<br />

Im Mittelalter war sie gemäß den überkommenen Urkunden eine durch Geleit<br />

geschützte Reichsstraße, betuchte Reisende konnten also einen Begleitschutz mieten,<br />

<strong>des</strong> weiteren war sie eine zollpflichtige Reichsstraße. Geleit und Zoll bedeuteten für<br />

den Grundherrn, das Kloster Maulbronn, erhebliche Einnahmen, allerdings musste das<br />

Kloster dafür Sorge tragen, dass die Straße in Stand gehalten wurde. Ein neuralgischer<br />

Streckenabschnitt war dabei die „Knittlinger Steige“ mit stolzen 12% Steigung, nach<br />

starken Regenfällen musste stets neu geschottert werden, auch verlockte die Steigung<br />

Räuber zu Überfällen und bei kriegerischen Auseinandersetzungen zog sie das<br />

Augenmerk der streitenden Parteien auf sich; eine Steigung ist leicht zu sperren.<br />

Bereits zur Zeit <strong>Faust</strong>s bestanden rechts und links der Steigung kleine Wallanlagen.<br />

140


Das Schutzkommando, wie auch die Arbeiter der Straßeninstandhaltung, hatten in<br />

Knittlingen <strong>im</strong> so genannten Pfleghof ihr Quartier.<br />

In den Auseinandersetzungen zwischen Kurpfalz und Württemberg betonte der<br />

württembergische Kanzler Ludwig Fergenhaus <strong>im</strong> Jahr 1487 die Besonderheit dieser<br />

Straße: „Es sei lan<strong>des</strong>kundig, dass <strong>des</strong> hl. Reiches Straße von Stuttgart durch<br />

Vaihingen gegen Bretten und da den Rheinstrom hinab gehe. Eine solche königliche<br />

Straße habe wichtige Freiheiten:<br />

1. Durch wessen Land sie auch führt – es sei Fürst, fürstenmäßiger Herr oder<br />

Kommune – sie ist nieman<strong>des</strong> Eigentum, sondern sie habe öffentlichen Charakter, so<br />

dass jedermann, ob Christ oder Jude, sie frei benutzen könne.<br />

2. Fürst, fürstenmäßiger Herr oder Kommune, durch deren Fürstentum oder Land die<br />

Straße geht, sind verpflichtet, ihre Sicherheit zu gewährleisten. Deshalb seien das<br />

Geleit und die Sicherheiten erfunden worden.<br />

3. Es darf an einer solchen Straße außer in Kriegszeiten keine Änderung vorgenommen<br />

werden, die ihre freie Benutzung beeinträchtigt und Dritten zum Schaden<br />

gereicht.“ (aus „Knittlingen / Versuch einer Spurensicherung“ von Günter Mahal)<br />

Die Kurpfalz räumte darauf hin ein, dass die Straße nicht „verzäunt und verschlagen“<br />

werden dürfe.<br />

Über diese Straße wurden die Messen in Speyer und Frankfurt beschickt; mal wurde<br />

sie „Untere Nürnberger Straße“ genannt, mal „Frankfurter Poststraße“. Hier zogen die<br />

Heere zwischen Schwarzwald und Odenwald, und ab 1490 lief über Knittlingen auch<br />

der erste Kurs der Postreiter von Brüssel nach Augsburg und weiter auf der Salzstraße<br />

über München nach Innsbruck. Den reitenden Kurieren der Herren von Thurn und<br />

Taxis standen innerhalb Württembergs vier Poststationen zur Verfügung: Knittlingen,<br />

Enzweihingen, Cannstadt und Ebersbach. Die vorgeschriebene Reisegeschwindigkeit<br />

der Reiterstafette betrug 180 Kilometer am Tag. Selbstredend waren die Reiter<br />

bewaffnet, die Briefe trugen sie in silbernen Kapseln bei sich, und nur sie allein durften<br />

ein Horn führen.<br />

„Die Boten müssen allerhand Beschwerung ausstehen“ heißt es in einem Bericht, „von<br />

Banditen, Räubern, Spitzbuben, Mördern, item von Wasserfluten, zerbrochenen<br />

Brücken, Ungewitter, Regen, Koth, Hitze, Frost, Schnee, Wind. Im Sommer<br />

tausenderley Unfall zu ihrem und der Kaufleute großen Verdruß und Schaden. Doch<br />

findet man auch ihr Mängel (der Postreiter) an etlichem und manchem, der irre gehet,<br />

wenn es an einem Galgen fürbei gehet.“<br />

Die Vorgänge auf dieser Straße müssen für die Knittlinger Kinder spannend gewesen<br />

sein. Waren aller Art, Schweine, Rinder, exotische Tiere, und natürlich Reisende:<br />

Händler, Komödianten, Pilger, Studenten, ein Bischof mit Vortrab und Gefolge, ein<br />

Magier, ein Arzt, Handwerker, Taglöhner, He<strong>im</strong>atlose, Pfannenflicker. Nicht zuletzt die<br />

Schauerbilder der Kriegstrosse: Gespanne, nackte Trossbuben, Verwundete, freche<br />

Huren, dreiste Söldner.<br />

Wie auf ein Fließband gestellt, rollte die Welt vorbei. Und nicht selten machte sie auch<br />

Halt. Zwar sind die Dokumente aus der Zeit unseres <strong>Faust</strong>s mehrheitlich vernichtet,<br />

doch man darf annehmen, dass Knittlingen sich mit Gaststätten, Herbergen sowie<br />

verschiedenen Handwerksstätten auf Reisende und Fuhrleute eingestellt hatte.<br />

Eine bescheidene Wallanlage und Stadtmauer bot dazu Schutz – nicht <strong>im</strong> Kriegsfall –<br />

jedoch vor nächtlichen Räubern. Und mit jedem Fuhrwerk kamen Nachrichten, längst<br />

hatte jenes Jahrhundert begonnen, das später Engels als das revolutionärste<br />

Jahrhundert der Deutschen bezeichnen wird.<br />

Nicht weniger aufregend, was an Kunde aus der weiten Welt angespült wird.<br />

Einige der Nachrichten, die in Knittlingen allein in <strong>Faust</strong>s Geburtsjahr für Gesprächsstoff<br />

gesorgt haben mögen:<br />

„Am Monte Viso <strong>im</strong> Piemont wird mit dem ersten Alpentunnel begonnen!“<br />

„In Wien stellt ein Karl Zöllner jetzt gezogene Gewehrläufe her!“<br />

„Der Leonardo da Vinci hat einen Fallschirm gebastelt!“<br />

Es gab auch Nachrichtenbringer, die weniger gern gesehen waren, sie verführten die<br />

Leute zum Müßiggang: Söldner auf Urlaub. Über Wochen hinweg lärmten sie in den<br />

141


Wirtshäusern, verprassten Sold und Raubgut, schwangen wilde Reden, während die<br />

Knittlinger Maulaffen feil hielten. Auch eine Art von Nachrichten, zu hören, dass die<br />

Niederlande in Aufruhr lebten, weil in den habsburger Erblanden die Steuern noch viel<br />

höher waren, weil der Kaiser soviel Geld für seine Kriege brauchte.<br />

Zu erfahren, dass <strong>des</strong>halb die Steuern von Albrecht von Sachsen, einem Condottiero,<br />

eingetrieben wurden, der mit seinen Söldnern die Niederländer in Angst und Schrecken<br />

hielt. Aber auch zu hören, dass Max<strong>im</strong>ilian, seines Zeichens <strong>im</strong>merhin Kaiser, <strong>im</strong> Kreis<br />

begeistert johlender Landsknechte den Ausfallschritt mit der Lanze geprobt hatte.<br />

Mochten einige Knittlinger über soviel Eitelkeit den Kopf schütteln, andere freuten sich,<br />

weil ihr Kaiser so stark war, dass er eine Waffe von derart stolzer Länge zu handhaben<br />

wusste. (Schaft: 5,2 m, Eisenspitze: 0,4 m)<br />

Das kleine Knittlingen, scheinbar unbedeutend in verträumter Waldlandschaft gelegen,<br />

es hatte seine Nase <strong>im</strong> Wind. Wer keine Scholle, keine Werkstatt und kein Amt zu<br />

erben hatte, machte sich leichten Herzens auf den Weg. Diese Straße weckte<br />

Wünsche.<br />

*<br />

Bilder aus dem Unterbewusstsein – die Welt <strong>des</strong> Übersinnlichen<br />

Wahrschau, Hellsehen, Intuition, Instinkt, Wahrträume, Praecognition, Déjà Vu, kurz<br />

das gesamte Feld der Para-Phänomene – sobald sich damit die diffuse Annahme einer<br />

wunderbaren Fähigkeit oder gar einer „höheren Gabe“ verbindet, sollte man allen<br />

diesbezüglichen Geschichten und Berichten äußerst skeptisch gegenüber stehen.<br />

Heute haben sich wieder Kreise etabliert, die dem Glauben an diese „höhere Gabe“<br />

huldigen, auch die Vorstellung pflegen, bei den Menschen der Vorzeit wären die<br />

wunderbaren Gaben stärker ausgeprägt gewesen; schließlich lebten jene Menschen<br />

noch unverfälscht <strong>im</strong> Einklang mit der Natur.<br />

Wie weit die Annahme von der besonderen Gabe, bzw. der Glaube an sie, in der<br />

Gegenwart wieder gediehen ist, darüber ließe sich bereits ein dickes Buch schreiben.<br />

Die aktuelle Esoterikszene hat ihre verzweigten Wurzeln in den Jahren nach 1970, sie<br />

tätigte <strong>im</strong> Jahr 2010 einen bun<strong>des</strong>weiten Umsatz von etwa 22 Milliarden Euro. Neben<br />

Klamotten, Acessoires und Büchern sind auch Kurse, Sitzungen, Konzerte und<br />

„Erlebnisse“ zu haben, selbsternannte Schamanen bieten ihre Dienste an. Ob Abzocke<br />

oder Scharlatanerie oder tatsächliche Hilfe und Bewusstseinserweiterung, es ist eine<br />

Grauzone, in der sich mehrheitlich jene tummeln, die sich laut „Agentur für Arbeit“ ein<br />

zweites berufliches Standbein schaffen wollen. Jüngst stellte ich in einer Runde die<br />

Frage, woran man denn eine Heilerin, einen Schamanen erkennt. „Daran, dass die<br />

betreffende Person über ihre Fähigkeiten nicht spricht!“ lautete die wohl interessanteste<br />

Antwort. Die Szene hingegen will sich austauschen, längst hat sie eine eigene<br />

„Fachterminologie“ entwickelt. Der Antrieb der Szene ist ein Amalgam aus Neugier,<br />

Sinnstiftung und Kompensation der Ohnmacht gegenüber der realen Welt. Man lebt ein<br />

für Außenstehende undurchschaubares Lebensgefühl der Einbildung an einer<br />

exclusiven Überwelt teilzuhaben. Gelegentlich zu Preisen, die gesalzen sind:<br />

„Viertägige Wandlung und Erneuerung in den Vogesen zum Preis eines lichtvollen<br />

Ausgleichs von 1499 € pro Paar“. Wie sorglos unbeschlagen man dabei ist, zeigt der<br />

Auftritt einer Vortragenden bei einem einschlägigen, gut bürgerlich besuchten<br />

Symposium. Sie trug einen Text vor und erklärte unbeschwert, Jesus habe ihr diesen<br />

Text „gechannelt“; sprich, eingegeben. Niemand <strong>im</strong> Publikum lachte, es regte sich auch<br />

kein Widerspruch. Man schien auch kaum erstaunt, vielmehr war man wohlwollend<br />

bereit, ein solches Channeling durch Jesus für wahr zu halten.<br />

Tage darauf erzählte ich davon einem Psychologen, er lachte: „Da sind die Neurologen<br />

aber weiter!“<br />

Was Selbstbetrüger nicht davon abhalten wird, auf der neuen Welle aufzureiten und<br />

sich mit ihren paranormalen Fähigkeiten interessant zu machen, beziehungsweise <strong>im</strong><br />

Internet entsprechende Texte zu präsentieren und sich dabei an einem „Jenseitigen“<br />

oder auch „helfendem Engel“ zu erbauen.<br />

142


Berichte über „höhere Gaben“ sind so alt wie die Menschheit selbst, und auch die<br />

Betrugsgeschichten. So mancher Stern- und Traumdeuter wurde auf königlichen Befehl<br />

einen Kopf kürzer gemacht.<br />

Weniger drastisch waren die <strong>im</strong> Badischen Polizeistrafgesetzbuch von 1864 vorgesehenen<br />

Strafen.<br />

„Gauckelei, § 68:<br />

Wer gegen Lohn oder zur Erreichung eines sonstigen Vortheils sich mit sogenannten<br />

Zaubereien oder Geisterbeschwörungen, mit Wahrsagen, Kartenschlagen, Schatzgraben,<br />

Zeichen- und Traumdeuten oder anderen dergleichen Gauckeleien abgiebt,<br />

wird mit Gefängniß bis zu 14 Tagen oder Geld bis zu 50 Gulden bestraft.<br />

Die zur Verübung solcher Polizeiübertretungen best<strong>im</strong>mten besonderen Werkzeuge,<br />

Anzüge und Geräthschaften unterliegen der Konfiskation.<br />

In Wiederholungsfällen kann auf Gefängniß bis zu 28 Tagen, wobei Schärfung zulässig<br />

ist, erkannt werden.“<br />

Der Gaukel-Paragraph ist abgeschafft. Die Faszination der Para-Phänomene ist bis<br />

heute ungebrochen. Und auch ich, trotz meiner Skepsis, bin derartigen Geschichten<br />

gegenüber sehr aufgeschlossen, schließlich bin ich Autor; „Jeder Autor ist ein Spion!“<br />

stellte Thomas Mann fest.<br />

Ich persönlich halte es für möglich, dass Sterbende oder Menschen in äußerster Not<br />

einen starken Impuls aussenden, der von Menschen, die mit dem „Sender“ in starker<br />

emotionaler Beziehung stehen, empfangen werden kann. Damit der „Empfänger“ das<br />

Signal identifizieren kann, baut das Unterbewusstsein eine „Imagination“ auf. Der<br />

„Sender“ steht „leibhaftig“ <strong>im</strong> Raum, oder „kommt“ die Treppe herauf.<br />

Eine andere Variante bilden Spiegel und Gläser, die in Verbindung mit einem Ereignis<br />

in der Ferne plötzlich zerbrechen.<br />

„Plötzlich war sie zusammengezuckt, <strong>im</strong> selben Augenblick zerbrach das Glas auf der<br />

Anrichte, zeitgleich war sie sicher, dass ihrem Sohn ein Unglück geschehen sei. Sie<br />

zog den Mantel an, setzte sich ins Auto und raste los. Sie fuhr nicht zur Schule, sie<br />

fuhr zum Krankenhaus. Wenige Minuten später wurde ihr Sohn eingeliefert.“<br />

Hier wird <strong>im</strong> Allgemeinen angenommen, dass die „Botschaft“ <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> das Glas<br />

platzen ließ. Richtig ist, dass die Frau das „Signal“ erhielt, worauf ihre Erregung auf<br />

Grund der intensiven emotionalen Bindung derart heftig war, dass sie es war, die das<br />

Glas zum Zerspringen brachte.<br />

Neben diesem „Signal“, Produkt einer Extremsituation wohlgemerkt, halte auch ich es<br />

für glaubhaft, dass es telepathisch begabte Menschen gibt.<br />

Nicht zu verwechseln mit der so genannten Gedankenübertragung, wie sie zwischen<br />

Menschen, die sich lange kennen, geradezu üblich ist; sie bemerken etwas in ihrer<br />

Umgebung und denken beide das gleiche.<br />

Gérard Croiset steht für mich beispielhaft für einen telepathisch begabten Menschen.<br />

Doch diese Ausage, so harmlos sie klingt, reicht bereits aus, um unter Fachleuten eine<br />

Diskussion auszulösen. Croiset selbst betrachtete sich als Magnetopath, er sagte,<br />

dass er Menschen durch Handauflegen heilen könne. Wissenschaftler wiederum sind<br />

sich nicht einig, ob er nun eher telepathisch oder cognitiv oder praecognitiv begabt<br />

war. Damit nicht genug, einige Fachleute sind der Meinung, dass seine Begabung die<br />

einzelnen medialen Bereiche gelegentlich wechselte. Und weil die ganze Geschichte<br />

noch nicht kompliziert genug ist: Croiset erzielte erstaunliche Treffer und hatte nicht<br />

weniger erstaunliche Nieten; sprich, zeitweise verfügte er über keine Begabung.<br />

Der Wechsel innerhalb der medialen Bereiche, das Kommen und Verschwinden der<br />

Gabe, das alles wird sehr wahrscheinlich durch Umwelteinflüsse sowie durch die<br />

St<strong>im</strong>mung <strong>des</strong> Begabten beeinflusst.<br />

Gewiss sind mehr Menschen medial begabt als allgemein angenommen wird, doch die<br />

meisten der Begabten sind sich ihrer Gabe in keiner Weise bewusst. Zum einen, weil<br />

die Gabe sehr schwach ausgeprägt ist und abhängig von Umwelt und Gemütslage nur<br />

gelegentlich auftritt und bestenfalls ein irritiertes Stirnrunzeln erzeugt. Oder weil sie als<br />

kurzer heftiger Schub auftritt, der den Begabten verduzt, wenn nicht sogar erschreckt.<br />

143


Da der Schub, ob nun schwach oder heftig, nur sporadisch auftritt, löst er kein<br />

Nachdenken darüber aus, die Begabten nehmen vielmehr an, das Unterbewusstsein<br />

spiele ihnen einen Streich. Andere wissen sehr wohl, dass sie begabt sind, durch<br />

Selbstbeobachtung ist ihnen allerdings auch bewusst, dass ihre Begabung nur<br />

gelegentlich vorhanden ist. Vorraussetzung für das gelegentliche Auftreten der Gabe<br />

sind hohe emotionale Belastungen, die freilich gar nicht angenehm und auch nicht<br />

steuerbar sind.<br />

Croiset unterwarf sich vielen wissenschaftlichen Untersuchungen und Testreihen,<br />

auch arbeitete er mit der Polizei zusammen. Über Gèrard Croiset liegen Bücher und<br />

Berichte vor, wer sich dafür interessiert, findet reichlich an Material; er wird vertraut mit<br />

den einzelnen „Fachbereichen“ der Telepathie, er erfährt von gescheiterten<br />

Feldversuchen und von der Problematik der Telepathie be<strong>im</strong> praktischen Einsatz.<br />

Gèrard Croiset ist kein Einzelfall, dennoch bleibt er ein Sonderfall. Im letzten Jahrhundert<br />

wurden europaweit keine fünf Personen bekannt, die sich mit seinen Fähigkeiten<br />

messen konnten.<br />

Kurz, es gibt die „wunderbare Gabe“, in ausgeprägter Form ist sie allerdings wenigen<br />

vorbehalten, der Rest der Menschheit hat auf dem Teppich zu bleiben. Selbstredend<br />

passt das einigen wieder nicht, sie verweisen auf diverse Begebenheiten:<br />

Ein Aussteiger hielt sich ein Jahr lang in der Nähe einer indianischen Siedlung in<br />

Kanada auf. Ein älterer Indianer sagte, dass ein besonders harter Winter bevorstehe,<br />

worauf die übrigen Indianer sich neben anderem auch mit Holzvorräten darauf einrichteten.<br />

„Woher weiß er das?“ wollte der Besucher wissen. Die Indianer lachten,<br />

zuckten die Schultern. „Er weiß es <strong>im</strong>mer! Er hat Träume!“<br />

Man kann diesen Indianer als prophetisch begabt sehen, man kann aber auch Fragen<br />

stellen: Was hat dieser Indianer an Besonderheiten aktiv bemerkt, welche<br />

andersartigen Veränderungen in diesem Herbst hat sein Unterbewusstsein<br />

wahrgenommen? Vielfältige, kleinste Wahrnehmungen, die schließlich in einen so<br />

genannten Wahrtraum verpackt, einer geträumten Geschichte oder einem Traumbild,<br />

zu einer Aussage, zu einer Handlungsanweisung führten.<br />

Eine Autofahrerin befuhr eine Landstraße, plötzlich sah sie einen übergroßen<br />

Schutzmann, sie trat auf die Bremse. Im selben Augenblick kam aus einer Baustelle<br />

ein Lkw-Anhänger gerollt, querte die Straße, in einer Tannenschonung kam er zum<br />

Stehen. Der Anhänger hatte sich selbsttätig in Bewegung gesetzt, ein nicht alltäglicher,<br />

aber erklärbarer Vorgang. Unerklärlich war dagegen das plötzliche Auftauchen<br />

<strong>des</strong> Schupos, der nun spurlos verschwunden war.<br />

Was hatte die Frau – ohne dass es ihr unbedingt bewusst war – gesehen, gehört,<br />

bemerkt? Das Schrecksignal, den Schreckruf eines Arbeiters, eine erschreckte<br />

Körperbewegung und gleichzeitig die Bewegung der Kippermulde?<br />

Eine Summe kleinster Informationspartikel war blitzschnell verarbeitet und über die<br />

„Imagination“ <strong>des</strong> Verkehrspolizisten zu einer Anweisung aufgebaut worden.<br />

Derartige Geschichten sind Dutzendware, sie sind nicht Beleg <strong>des</strong> Übersinnlichen,<br />

sondern Beweis eines wunderbaren „Bordcomputers“. Ich habe einen Neurologen<br />

gefragt, wo dieser „Computer“ <strong>im</strong> menschlichen Gehirn untergebracht sei.<br />

Seine Antwort: „Im l<strong>im</strong>bischen System. Das sind die ganz alten, archaischen<br />

Bestandteile <strong>des</strong> Hirns, auf denen sich später das Großhirn ansiedelte!“<br />

Die alten, archaischen Bestandteile <strong>des</strong> Gehirns verrichten also noch <strong>im</strong>mer verlässlich<br />

ihre Aufgabe. Das Problem <strong>des</strong> heutigen Menschen ist nicht, dass er nicht mehr<br />

das mühselige Leben am Busen der Natur lebt, sondern dass seine Festplatte mit<br />

Wahrnehmungen überladen ist, dass die Schnittstellen mit Daten und Bildermüll<br />

verkleistert sind.<br />

Weitere Bestätigung für das „Wunderbare“ sind Geschichten, die Touristen mit nach<br />

Hause bringen.<br />

Im Herzen Südamerikas gibt es eine Landschaft, den Chaco. In einem Jahr war es<br />

besonders trocken; in den Becken der Tachamare fand sich selbst kein stinken<strong>des</strong><br />

Brackwasser mehr, den Rinder stachen die Knochen derart durch das Fell, man<br />

konnte seinen Hut auf deren Hüftknochen hängen. In einem erbärmlichen Hüttendorf<br />

144


estürmten die Bewohner seit Wochen ihren „Machico“, Regen zu zaubern – die<br />

Menge der Geschenke und abgelieferten Hühner war beträchtlich. Eines Morgens<br />

erklärte er unvermittelt, er werde in drei Tagen den Regen rufen, sogar ungeheuer viel<br />

an Regen. Am vierten Tag begann es zu regnen, es regnete derartig, die erschöpften<br />

Rinder ersoffen und die Menschen saßen auf den Dächern.<br />

Was der menschenfreundliche Magier für sich behielt, war seine Beobachtung, dass<br />

die Termiten begonnen hatten, die Löcher ihrer Bauten zu vermörteln.<br />

In einem afrikanischen Dorf hatte ein Bewohner den Magier um einen „höheren Rat“<br />

gebeten. Der Medizinmann schlachtete ein Huhn, formte aus Lehm vier daumenlange<br />

Kegel und steckte in die Spitzen der Kegel jeweils eine handlange Hühnerfeder. Die<br />

Kegel legte er flach auf den Boden. Sodann stülpte er eine Kalebasse, eine Schüssel,<br />

über die vier Kegel und begann mit den Händen den Boden der Kalebasse zu<br />

betrommeln. Natürlich hat er auch gesungen und dazu Faxen gemacht.<br />

Nach einer Weile stellte er das Trommeln ein, hob die Schüssel ab, und siehe da, die<br />

Kegel standen senkrecht.<br />

Es muss den Magier, sein sinnig-verlegenes Lächeln auf dem Foto lässt keinen<br />

anderen Schluss zu, diebisch gefreut haben, dass die Touristen keinen Kakerlak<br />

schlauer waren als seine Dorfbewohner.<br />

Trommelschläge lassen die Federn vibrieren, bei stärkerem Trommeln richten sich die<br />

Kegel auf; der extreme Schwerpunkt der Kegel begünstigt den Vorgang.<br />

Die beiden Magier sind Betrüger, sie besitzen – wie bereits Agrippa von Netteshe<strong>im</strong><br />

wusste, besondere Kenntnisse der Natur.<br />

Weiterhin kursieren Geschichten, in welchen ein Verstorbener wiederkehrt.<br />

Dante Alighieri starb 1321 in Ravenna. Nach seinem Tod entdeckte man, dass in der<br />

„Göttlichen Komödie“ der 13. Gesang fehlte. Sein Sohn war darüber sehr traurig, er<br />

grämte sich. Eines Nachts träumte er, sein Vater sei ins Z<strong>im</strong>mer getreten. Der<br />

wiedergekehrte Vater zeigte auf das Regal neben seiner einstigen Bettstatt.<br />

Der Vater verschwand wieder, und als der Sohn am nächsten Morgen das Regal auf<br />

<strong>des</strong>sen Inhalt prüfte, fanden sich die gesuchten Verse.<br />

Die Trauer <strong>des</strong> Sohnes hatte dem „Bordcomputer“ einen „Suchbefehl“ aufgezwungen,<br />

der Computer hatte sich durch die abgespeicherten Erinnerungen an den Vater<br />

geblättert und das „Versteck“ entdeckt. Nun musste er nur noch einen Weg finden,<br />

sein Ergebnis mitzuteilen.<br />

Jüngere Geschichten dieser Art ranken sich um Pater Pio. Vor lauter Begeisterung,<br />

dass Pater Pio erschienen sei, wurden die Geschichten sofort aufgeschmückt; so<br />

zeitnah sie sind, sie sind bereits entstellt. So erbaulich diese „wahrhaften Begebenheiten“<br />

sich präsentieren, sie sind mit der gleichen Vorsicht zu genießen, wie Pater Pio<br />

selbst. Es gibt Hinweise, dass er mit einer ätzenden Salbe sich die Wundmale selbst<br />

beibrachte und unter den Verbänden auch offen hielt. Was allerdings nichts daran<br />

ändert, dass gläubige Menschen ihren Glauben an seiner Person festmachen, auf<br />

diese Weise körpereigene Heilkräfte aktivieren und ein Wunder erleben können.<br />

Interessant ist die identische Lebenssituation von Mädchen, die Marienerscheinungen<br />

hatten. Sie sind in der Pubertät, also labil, in diesem Alter übrigens auch stärker<br />

medial begabt, und leben in ärmlichen Verhältnissen.<br />

In Zeiten, da verstärkt Befürchtungen über eine weitere Verschlechterung oder gar<br />

kommende Katastrophen kursieren, <strong>im</strong>aginiert das Unterbewusstsein eine Helferin.<br />

Da die Mädchen auch überaus religiös sind, tritt die Helferin als Maria auf.<br />

Unter den Para-Phänomenen ist die Telepathie jenes Feld, auf das sich das Interesse<br />

der Wissenschaft heute <strong>im</strong> Besonderen richtet, nicht zuletzt <strong>des</strong>halb, weil Telepathie<br />

offenkundig über größere Entfernungen hinweg funktioniert.<br />

Massai-Krieger hatten die Verfolgung einer Herde aufgenommen. Nachdem sich die<br />

Staubwolke gelegt hatte, vergingen drei ereignislose Tage. Plötzlich liefen die Frauen<br />

lachend aus den Hütten, ein Festmahl zu bereiten. Fünf Tage später kehrten die<br />

Männer mit reicher Jagdbeute zurück.<br />

Die Freude der Männer hatte sich den „lauschenden“ Frauen mitgeteilt.<br />

145


Mädchen, die mit „Liebeszauber“ die Gedanken <strong>des</strong> Geliebten auf sich zwingen, ist<br />

der Vorgang nicht unbekannt.<br />

An dieser Stelle ist kein Raum, der Welt <strong>des</strong> Übersinnlichen auch nur entfernt gerecht<br />

zu werden. Mein bescheidener Streifzug soll lediglich dazu anregen, weniger an<br />

„Gaben“ zu glauben, sondern den eigenen Sportsgeist mit dem Ergründen der realen<br />

Ursachen und Hintergründe der „unerklärlichen Vorgänge“ zu erfreuen.<br />

In Freiburg gibt es das Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene,<br />

www.igpp.de . Die dort anlandenden Meldungen „ungewöhnlicher Vorgänge“ lassen<br />

das Herz eines jeden Schwarzmagiers und seiner Fan-Gemeinde höher schlagen.<br />

Spuk wird gemeldet, also Klopfen, Schritte, Lichterscheinungen, Verschwinden und<br />

Auftauchen von Gegenständen. Sodann die Unfähigkeit, den Körper zu bewegen, aber<br />

auch Energieströme oder Hören von St<strong>im</strong>men. Weitere Fälle betreffen automatisches<br />

Schreiben, Channeling sowie Hellsehen, Gedankenlesen u.v.a.m.<br />

70% der „Fälle“ betreffen Frauen.<br />

Wusste man es doch, Frauen sind medial begabter als Männer, Frauen besitzen mehr<br />

Sensibilität, sind schlicht einfühlsamer.<br />

Die etwa 250 jährlichen Fälle lassen sich aufschlüsseln wie folgt: 70% Frauen, Durchschnittsalter<br />

43 Jahre, 53% haben die Fachhochschulreife, 22% haben einen Hochschulabschluss,<br />

60% sind ledig, geschieden oder verwitwet, 45% wohnen allein, 44%<br />

haben keine festen Partner, 39% sind arbeitslos oder bereits in Rente.<br />

Kurz, nicht nur das Ausbildungsniveau ist hoch, auch die Isolation. Stress der verschiedensten<br />

Ursachen tritt hinzu, das Phänomen wird ausgelöst. Dieser Stress kann<br />

resultieren aus Mobbing, Ausgrenzung, Sorgen, bedrückenden Erinnerungen,<br />

belastendem Wissen, einer Reihe von To<strong>des</strong>fällen <strong>im</strong> Bekanntenkreis, Befürchtungen,<br />

Ängsten u.a.m.<br />

Es handelt sich bei den „Begabten“ also um Patienten. Sie werden psychologischer<br />

und psychotherapeutischer Behandlung zugeführt bzw. Beratern der psychosozialen<br />

Versorgung anvertraut.<br />

Nur wenige der Patienten haben die Phänomene durch Meditation, Gläserrücken und<br />

was der okkulten Praktiken mehr, selbst ausgelöst. Nicht minder interessant, die<br />

wenigsten von ihnen kommen aus der Esoterikszene.<br />

Ohne Gérard Croiset nahe zu treten, seine Fähigkeiten resultierten aus einer<br />

Fehlfunktion <strong>des</strong> Gehirns, er war stresskrank.<br />

Und auch das Phänomen <strong>des</strong> Déjà Vu beruht auf einer Fehlfunktion. Der Bereich der<br />

„Zeiterfassung“ hat einen Ausfall, der Mensch weiß den Vorgang oder das Bild zeitlich<br />

nicht mehr einzuordnen, er vermeint, es bereits gesehen zu haben.<br />

Die Arbeit <strong>des</strong> Instituts lässt die unterstellten „wunderbaren Fähigkeiten“ und auch das<br />

Leben, als die Menschen noch „<strong>im</strong> Einklang mit der Natur“ lebten, in einem gar nicht<br />

günstigen Licht erscheinen.<br />

Wobei man nicht das „Kind mit dem Bad“ ausschütten muss.<br />

Die „gesunden Seiten“, die Produkte <strong>des</strong> „Bordcomputers“, also Wahr- und Warnträume<br />

sowie die „Handlungsanweisungen“, irreführender weise als Para-Phänomene<br />

bezeichnet, sollten auch weiterhin hinterfragt und gepflegt werden. Freilich ohne dabei<br />

zu übertreiben. Sich in die Isolation einer Einsiedelei zu flüchten, ist nicht notwendig.<br />

Doch deutlich Distanz zur Welt und ihrem Reizmüll zu halten, kann dabei offenkundig<br />

nicht schaden. „Träume sind Schäume“ lautet ein altes Sprichwort. In der Tat, ein<br />

„Anfänger“ braucht Jahre, um nicht seinen Träumen aufzusitzen, nicht zum Narren<br />

seiner Wunschträume oder jener Träume zu werden, in welchen Film-, Fernseh- und<br />

Tagesereignisse in wirren Handlungen durcheinander purzeln. Traumschulung und<br />

auch das Training der Intuition sind keine Inhalte von Schulwissenschaften, ein jeder<br />

Mensch „funktioniert“ anders. Jeder, der diese Anlage ausbilden will, muss den ganz<br />

persönlichen, aber auch langen Weg der Selbsterfahrung bei der Bewertung und<br />

Ausdeutung seiner Träume, seiner Intuition gehen.<br />

Die erste Wissenschaft, quasi die Urwissenschaft, das Leben zu analysieren, sind<br />

Träume.<br />

146


Das viel zitierte Wissen der weisen Frauen, das angeblich mit der Hexenverfolgung<br />

vernichtet werden sollte, ist ein ideologisches Märlein. Die Antriebskräfte der Verfolgung<br />

war ein Amalgam von Banalitäten: Machterhalt, Frauenverachtung, Geldgier,<br />

Verblendung … Das besagte Wissen wiederum war kein allgemeines Wissen, sondern<br />

die ganz individuelle Frucht persönlicher Selbsterkundung, der Traumerfahrungen, der<br />

Intuition und der Selbstdisziplinierung.<br />

Das faktische Wissen selbst, wie in „Medicus <strong>Faust</strong>“ umfassend dargestellt, war<br />

gering, der Verlust oder auch das Vergessen von Riten und Sprüchen ist<br />

unbedeutend. Sympathetischer Heilzauber lebt von den trainierten Eigenqualitäten<br />

sowie vom Glauben. Sprüche und Handbewegungen sind austauschbar.<br />

Lesetipp: Wer sich abseits <strong>des</strong> Soft-Schamanismus der Gegenwart über diese alte<br />

„Kunst“ informieren möchte, dem sei das Buch „Grenzwelten“ von Claus Priesner<br />

empfohlen. Was der Autor darüber <strong>im</strong> Kapitel „Das schamanistische Weltbild oder die<br />

wunderbare Welt“ berichtet, ist weniger wunderbar, als vielmehr erschreckend.<br />

*<br />

„Grüß Gott! Ich bin der Teufel!“<br />

„Herr, steh auf! Der Jüngste Tag ist da, denn die ganze Welt ist voller Heuschrecken!“<br />

Der spätere Kaiser Karl IV. setzte sich aufs Pferd, ritt eine Tagesweite und vermochte<br />

das Ausmaß <strong>des</strong> Schwarms nicht festzustellen. Man schrieb das Jahr 1338.<br />

Wiederholt fallen riesige Heuschwärme in diesen Jahren über die Landschaften her, sie<br />

bringen den Hungertod. Zu Anfang <strong>des</strong> Jahrhunderts waren bereits Missernten in Folge<br />

aufgetreten, die Ursache war – wie heute bekannt, ein Vulkanausbruch <strong>im</strong> Jahr 1258 in<br />

den Tropen gewesen; in Europa hatte eine kleine Eiszeit begonnen. Am 9. 9. 1302<br />

erfroren <strong>im</strong> Elsaß die Reben, am 2. 5. 1303 standen die Bauern in Deutschland vor<br />

ihren erforenen Saaten. Drei Körner auf ein Saatkorn war eine schlechte Ernte, vier<br />

Körner galten als gute Ernte, in den Jahren nun aufeinander folgender Missernten<br />

erhalten die Bauern nicht einmal ihr Saatgut zurück.<br />

Heute sind 24 Körner auf ein Saatkorn möglich.<br />

Es liegt nahe, dass nachfolgend die Viehwirtschaft forciert wurde, womit die bis dahin<br />

geübte schonende Bodennutzung durch die Dreifelderwirtschaft von Acker-Brache-<br />

Weide aufgegeben wurde, mit der Folge, dass die Böden an Pflanzennährstoffen<br />

verarmten. Die daraus wieder resultierende Folge waren Gräser, die arm an Eiweiß<br />

sind, die jedoch – merkwürdiger Weise, von Heuschrecken bevorzugt werden; ein<br />

Teufelskreislauf war in Gang gekommen.<br />

Und neben dem Hungertod wütet der schwarze Tod, die Pest. Sie packt Arme wie<br />

Reiche, Priester und Beamte. Die Verwaltung bricht zusammen, <strong>Faust</strong>recht herrscht.<br />

Es wird geschätzt, dass in Deutschland etwa 3 Millionen Menschen an der Pest<br />

starben; ein Drittel der Bevölkerung. Weite Ackerflächen, die zwischen 1200 und 1300<br />

unter den Pflug genommen wurden, sowie die dazu gehörenden Siedlungen werden<br />

wieder aufgegeben. Historiker sprechen von Wüstungen.<br />

Zu allem Entsetzlichen kommt es zu mehreren Erdbeben. Villach in Österreich wird<br />

zum Grab seiner Bewohner, mitten in der Stadt spaltet sich die Erde, die einstürzenden<br />

Häuser begraben 6 000 Menschen. Noch schrecklicher ist das Basler Beben <strong>im</strong> Jahr<br />

1336, seine Zerstörungsgewalt reicht bis in das Gebiet um den Kaiserstuhl.<br />

Dass es den Teufel gibt, das wusste man schon seit undenklichen Zeiten. Doch<br />

während <strong>im</strong> Neuen Testament dem Teufel nur ein einziger Auftritt gestattet ist, fasst in<br />

diesem halben Jahrhundert grauenhafter Ereignisse die Anschauung Fuß, der Teufel<br />

treibe auf der Welt sein allumfassen<strong>des</strong> Unwesen. Der Teufel wird zum zentralen<br />

Schlüssel, über den sich alles Elend und Schrecken, die furchterregenden Ereignisse,<br />

die Welt als ganzes, erklären lässt.<br />

147


Nicht allein die Naturkatastrophen und ihre Folgen finden von nun an ihre Erklärung<br />

durch das Wüten <strong>des</strong> Teufels, auch die Ereignisse auf der politischen Weltbühne<br />

werden nun durchschaubar.<br />

1315 besiegen Schweizer Bauern ein Habsburgisches Ritterheer bei Morgarten. Dafür<br />

gibt es für die Menschen nur eine Erklärung: Die Schweizer haben sich mit dem Teufel<br />

verbündet; der Teufel hat ihnen verraten, wie sie als Fußsoldaten die Panzerreiter<br />

besiegen können.<br />

Selbstredend wissen die Menschen, dass es der französische König ist, der den Papst<br />

zwingt, Rom zu verlassen und in Avignon zu residieren, doch dass diese „Babylonische<br />

Gefangenschaft der Kirche“ – sie dauerte von 1309 bis 1377 – überhaupt geschieht,<br />

dahinter steckt der Teufel.<br />

Kaum ist der Papst nach Rom he<strong>im</strong>gekehrt, entsteht das Schisma; in Avignon residiert<br />

ein zweiter Papst. Zwei Päpste, zwei Stellvertreter Christi auf Erden? Der nächste<br />

Anschlag <strong>des</strong> Teufels gegen die Kirche. Die Menschen sind verwirrt, bei allem<br />

Missfallen an den kirchlichen Zuständen, die Kirche ist ihnen wichtig, noch <strong>im</strong>mer steht<br />

der Heiland hinter der Kirche, und der Heiland lebte einst nicht anders wie sie selbst.<br />

Das Schisma – es dauerte von 1378 bis 1417 – beendet zu sehen, wird zum zentralen<br />

Anliegen der Menschen; sie sehen ihre täglichen Sorgen <strong>im</strong> Großen gespiegelt. Wie<br />

soll es <strong>im</strong> Kleinen besser werden, wenn selbst dem Großen so übel mitgespielt wird.<br />

Die Bauernunruhen, die ab 1420 durch die Lande laufen, werden als Werk <strong>des</strong> Teufels<br />

erklärt. Der Teufel ist es, der den Sinn der Menschen gegen die Ordnung rebellisch<br />

macht. Und auch Luther, hundert Jahre später, wird als Werkzeug <strong>des</strong> Teufels erklärt.<br />

„Da ist gewiss der Teufel <strong>im</strong> Spiel!“ Eine allfällige Erklärung, handsames Wissen für<br />

jedermann, ob ungebildet oder hochgeboren. Überall war irgendwie der Teufel <strong>im</strong> Spiel.<br />

Im fernen Donnergrollen, <strong>im</strong> Knistern der Flammen, unter dem Esstisch; ein Kerl, an<br />

den man sich gewöhnt hatte, der gleichsam zur Familie gehörte. Warum auch nicht, wo<br />

er doch ebenso Lustiges zustande brachte; wenn er dem „Nebulo“ half, aus einem<br />

Stein ein Mäuslein zu zaubern oder Nudeln aus den Ohren eines Zuschauers zu<br />

ziehen.<br />

„Der Teufel in Person treibt sein Unwesen!“ Eine Erkenntnis, <strong>im</strong>mer wieder bestätigt<br />

durch die Ereignisse zwischen 1300 und 1400, wird zum festen Bestandteil allgemeinen<br />

Wissens; ein Baugrund, so solide wie der Baugrund der Bibel; zwei Ebenen,<br />

die um eine dritte Ebene erweitert werden: Um 1300 erreichen über arabische Gelehrte<br />

die Schriften antiker Autoren wieder Italien. Und aus diesen geistigen Impulsen heraus<br />

beginnt, wunderbar genug, <strong>im</strong> Schoß Jahrzehnte währender Schrecken, die<br />

Renaissance, die Wiedergeburt, bzw. die Rückbesinnung auf die Leistungen der<br />

Antike. Es entwickeln sich die Ansätze der modernen Wissenschaften.<br />

Ihre Vertreter gewinnen rasch an Selbstbewusstsein. Sie glauben sich frei vom Aberglauben<br />

<strong>des</strong> Volkes. Sie wähnen sich über das Volk einfacher Gläubigkeit erhaben.<br />

Schließlich begreifen sie die Welt über den Intellekt, und mit dem Griff zu antiken<br />

Schriften leben sie fortan in einer Geisteswelt, größer als die der Bibel. Wo das Volk<br />

sich der Kraft <strong>des</strong> Mon<strong>des</strong> bewusst ist, beobachten sie den Lauf der Gestirne, wo das<br />

Volk ein Kauderwelsch von Beschwörungsformeln praktiziert, wissen sie um die<br />

Bedeutung der einzelnen Geister und was bei Anrufung derselben zu beachten ist.<br />

Die Möglichkeit, nach „drüben“ zu greifen, mit dem „Drüben“ zu paktieren, sie wird nicht<br />

in Zweifel gezogen. Dazu besteht auch kein Anlass. Damals wie heute gab es das, was<br />

allgemein mit dem Begriff Para-Phänomene bezeichnet wird. Diese Phänomene traten<br />

damals auf Grund der schwierigen Lebensumstände vermutlich wesentlich häufiger auf<br />

und waren entschieden ausgeprägter. Sie waren die „Beweise“ für eine gehe<strong>im</strong>nisvolle<br />

Welt, die einem noch gehe<strong>im</strong>nisvolleren Regelwerk zu unterliegen schien.<br />

Dante Alighieri schrieb um 1310 die „Commedia“. Für uns heute ist es Hohe Literatur,<br />

die „Göttliche“, wie Boccacio damals feststellte. Doch nicht allein der sprachliche<br />

Ausdruck, der uns auch heute noch beeindruckt, ebenso und noch viel mehr, waren<br />

damals die Inhalte der „Commedia“ wichtig.<br />

Das „Drüben“, der „Weg nach Drüben“ ist eines der Themen der „Göttlichen Komödie“.<br />

148


Dante, „Läuterungsberg“, XVIII Gesang, 88-123:<br />

„Denn der hier lebt, und das ist keine Lüge,<br />

will steigen, wenn die Sonne wieder wallt;<br />

Drum sagt uns, wo das Loch ist und die Stiege!<br />

Das waren Worte, die mein Herr geschallt;<br />

Von einem Geist hab ich darauf vernommen:<br />

Wenn du uns folgst, so fin<strong>des</strong>t du den Spalt!“<br />

Die Erde, die Planeten, das Universum, das alles ist Gottes Werk. Da Gott nichts<br />

Unnützes hervorbringt, stehen alle diese Komponenten in sinnvoller Beziehung<br />

miteinander, sie haben eine Aufgabe.<br />

Zu dieser Vorstellung einer allumfassenden Schöpfung gehörten Gott und seine Heerscharen,<br />

der Satan und seinen Dämonen sowie die Hölle, und natürlich der Mensch.<br />

Um dieses komplexe Weltbild zu ordnen, um die vermuteten Kräfte sich dienstbar zu<br />

machen, steht ein „Ordnungssystem“ zur Verfügung: Die Hl. Schrift, der Teufel, das<br />

Wissen der Antike, die Annahme von wirkenden Geistern, dazu die Lehre von<br />

metaphysischen Kräften.<br />

Und da der Bocksfüßige es gar so wild treibt, wer will es Luther verübeln, dass ihm der<br />

Kragen platzte und er – damals also durchaus akademisch – dem Teufel ein Tintenfass<br />

an den Kopf schmetterte. Er muss ihn hart getroffen haben – die Übersetzung <strong>des</strong><br />

Neuen Testaments wurde nicht nur fertig, sie ist ein schönes Stück Literatur – die<br />

Deutschen wurden zum lesenden Volk.<br />

*<br />

Kurzinformation zur Luther-Bibel<br />

Die Auffassung, dass Luther sich bei der Übersetzung <strong>des</strong> Neuen Testaments auf den<br />

griechischen Urtext stützte, den Erasmus von Rotterdam <strong>im</strong> Jahr 1516 in Basel herausgegeben<br />

hatte, ist inzwischen überholt. Als Luther sich <strong>im</strong> Jahr 1521 auf der Wartburg<br />

an die Übersetzung begab, lag ihm die erste Fassung <strong>des</strong> lateinischen „Textus<br />

receptus“ von Erasmus von Rotterdam vor. Luther bestätigt es: „ … gut deutsch<br />

geredet, <strong>des</strong>sen ich mich beflissen und leider nicht alle Wege erreicht noch getroffen<br />

habe, denn die lateinischen Buchstaben hindern uns dermaßen sehr, gut deutsch zu<br />

reden …“ Und eben in dieser Überwindung der lateinischen Sprachstruktur, liegt auch<br />

Luthers literarischer Verdienst; Latein unterscheidet sich bereits <strong>im</strong> Satzbau erheblich<br />

vom Deutschen, Übersetzungen geraten grundsätzlich eckig und steif. Daneben stellte<br />

sich das Problem einer jeden Übersetzung: wie viel an übersetzerischer Freiheit ist<br />

erlaubt aber auch notwendig und dabei dennoch dem Inhalt treu zu bleiben. Dazu<br />

Luther in der Rückschau auf seine Übersetzung: „Ex abundantia os loquitur (spricht<br />

Jesus) … aus dem Überfluss <strong>des</strong> Herzens redet der Mund. Sage mir: ist das deutsch<br />

geredet? Welcher Deutsche versteht solches? Was ist Überfluss <strong>des</strong> Herzens für ein<br />

Ding? … so wenig als das deutsch ist: Überfluss <strong>des</strong> Hauses, Überfluss <strong>des</strong><br />

Kachelofens, Überfluss der Bank, sondern also redet die Mutter <strong>im</strong> Haus und der<br />

gemeine Mann: „Wes das Herz voll ist, <strong>des</strong> gehet der Mund über.“<br />

Übersetzungen auf Grundlage der „Vulgata“, der „amtlichen“ lateinischen Bibel, gab es<br />

bereits vor Luther Deren Urheber hatten sich allerdings derart sklavisch an den<br />

lateinischen Text gehalten, ein hässliches, auch missverständliches Deutsch war das<br />

Ergebnis gewesen.<br />

Über sein Deutsch gibt Luther folgende Auskunft: „Ich habe keine sonderlich eigene<br />

Sprache … Ich rede nach der sächsischen Kanzlei, welcher nachfolgen alle Fürsten in<br />

Deutschland; alle Reichsstädte, Fürstenhöfe schreiben nach der sächsischen und<br />

unseres Fürsten Kanzlei … Kaiser Max<strong>im</strong>ilian und Kurfürst Friederich (der Weise)<br />

haben <strong>im</strong> römischen Reich die deutschen Sprachen also in eine Sprache gezogen.“<br />

149


Die Einebnung der verschiedenen regionalen Schriftsprachen, die bereits vor Luther in<br />

Gang gekommen war, erfuhr durch die Verbreitung und Akzeptanz seiner Übersetzung<br />

eine derartige Beschleunigung, die Sprache der Lutherbibel hat die übrigen deutschen<br />

Schriftsprachen gleichsam aufgefressen.<br />

Das lutherische Neue Testament kostete 1½ Gulden; der Jahreslohn einer Magd.<br />

Über die Wirkung der Lutherbibel schreibt Johannes Cochläus, ein erbitterter Gegner<br />

der Reformation:<br />

„Ehe denn Emsers Arbeit an den Tag gegeben, war Luthers Neues Testament durch<br />

die Buchdrucker dermaßen gemehrt und in so großer Zahl ausgesprengt, also dass<br />

auch Schneider, Schuster, ja auch Weiber und andere einfältige Leute, soviel deren<br />

dies neue lutherische Evangelium angenommen, wenn sie auch nur ein wenig Deutsch<br />

auf einem Pfefferkuchen lesen gelernt hatten, dasselbe gleich als einen Bronnen aller<br />

Wahrheit mit höchster Begierde lasen. Etliche trugen dasselbe mit sich <strong>im</strong> Busen<br />

herum und lernten es auswendig. Daher maßen sie sich in der Folgezeit innerhalb<br />

weniger Monate soviel Geschicklichkeit und Erfahrung selber zu, dass sie keine Scheu<br />

trugen, nicht allein mit den katholischen gemeinen Laien, sondern auch mit Priestern<br />

und Mönchen, ja selbst mit Magistern und Doktoren der Heiligen Schrift vom Glauben<br />

und Evangelium zu disputieren. Ja es fanden sich auch armselige Weiber, die sich mit<br />

den offenen ausgegangen deutschen und fürgestellten Propositionen aus geiler<br />

Verachtung der angeblichen Unwissenheit der Männer nicht allein mit Laien und<br />

anderen Privatpersonen, sondern auch mit Lizenziaten, Doktoren und ganzen Universitäten<br />

austaten, sich in Disputationen einzulassen, wie es sich an Argula von Staufen,<br />

einer von Adel, deutlich gezeigt … Also geschah hieraus ferner, dass der lutherische<br />

Haufen viel mehr Fleiß fürwandte, die auf diese Weise verdolmetschte Schrift äußerlich<br />

zu lernen, denn die Katholischen selbst … Daher pflegeten sie, ohne sich zu bedenken<br />

mehr Schrift zu zitieren, als wohl die katholischen Mönche und Priester.“<br />

*<br />

„Canon Episcopi“<br />

Der Ancyrenische Canon Episcopi entstand um 900, darin heißt es:<br />

„Es gibt verbrecherische Weibsleute, welche, durch die Vorspiegelung und<br />

Einflüsterung <strong>des</strong> Satans verführt, glauben und bekennen, dass sie zur Nachtzeit mit<br />

der heidnischen Göttin Diana oder der Herodias und einer unzählbaren Menge von<br />

Frauen auf gewissen Tieren reiten, über vieler Herren Länder he<strong>im</strong>lich und in aller Stille<br />

hinwegeilen, der Diana als ihrer Herrin gehorchen und in best<strong>im</strong>mten Nächten sich zu<br />

ihrem Dienst aufbieten lassen.<br />

Leider haben nun diese Weibleute ihre Unheil bringende Verkehrtheit nicht für sich<br />

behalten; vielmehr hat eine zahllose Menge, getäuscht durch die Meinung, dass die<br />

Dinge wahr seien, vom rechten Glauben sich abgewendet und der heidnischen Irrlehre<br />

sich hingegeben, indem sie annehmen, dass es außer Gott noch eine übermenschliche<br />

Macht gebe.<br />

Daher sind die Priester verpflichtet, ihren Gemeinden einzuschärfen, dass alles dies<br />

Blendwerk sei, welches nicht vom Geiste Gottes, sondern vom Bösen herrühre.<br />

Der Satan sich nämlich in die Gestalt eines Engels verkleiden könne, wenn er sich<br />

eines Weibleins bemächtige, so unterjochte er es, indem er es zum Abfall vom Glauben<br />

bringe, nehme dann sofort die Gestalt verschiedener Personen an und treibe mit ihnen<br />

<strong>im</strong> Schlafe sein Spiel, indem er ihnen fernab bald heitere, bald traurige Dinge, bald<br />

bekannte, bald unbekannte Personen vorführe. Dabei bilde sich dann der ungläubige<br />

Sinn <strong>des</strong> Menschen ein, während der Geist dies erleide, dass dieses nicht in der<br />

Vorstellung, sondern in der Wirklichkeit geschehe. Wer aber ist <strong>im</strong> Traum noch nicht<br />

aus sich heraus gefahren, dass er vieles zu sehen geglaubt hat, was er <strong>im</strong> wachen<br />

Zustand noch niemals gesehen hat?<br />

Daher ist allen Leuten laut zu verkünden, dass derjenige, der dergleichen Dinge glaubt,<br />

den Glauben verloren hat. Wer aber den wahren Glauben verloren hat, der gehört nicht<br />

Gott, sondern dem Teufel an.“<br />

150


Es sei angemerkt, nach kirchlicher Auffassung gibt es den Teufel und Dämonen, diese<br />

handelten zwar mit Gottes Erlaubnis, jedoch könne man sich durch das Gebet vor<br />

ihnen schützen.<br />

*<br />

„Du bist in widerzeme / Hegxe gar ungeneme.“<br />

Neben dem Teufel und seinen diversen Dämonen, die sich <strong>im</strong> Denken der Menschen<br />

eingenistet hatten und sich ungeniert in allen Ecken und Baumkronen tummelten, war<br />

die Welt, wie in „Medicus <strong>Faust</strong>“ beschrieben, von den verschiedenen guten und<br />

bösen Geistern der Heilkunde belebt.<br />

Freilich gab es auch Personen, die nichts mit Heilkunde oder Alchemie <strong>im</strong> Sinn hatten,<br />

sondern die zu Geistern und Dämonen Verbindung aufzunehmen suchten, allein um zu<br />

zaubern.<br />

Und selbst hier gab es eine Grauzone. Man kann das schlechte Wetter herbei hexen,<br />

man kann es aber auch weg hexen. Die Annahme, dass Hexerei oder Zauberei<br />

möglich sei, nennt man Aberglauben oder auch Volksmagie.<br />

Nachfolgend ist das ungebrochene Fortbestehen der Volksmagie vom Jahr 1000 bis in<br />

die Zeit nach <strong>Faust</strong> dargestellt. Der volle Wortlaut der zitierten Quellen kann in „Hexen<br />

und Hexenprozesse in Deutschland“ von Wolfgang Behringer nachgelesen werden.<br />

Um 1230 bezweifelt der Minnesänger Stricker die Wirkung von Zauber sowie den<br />

Hexenflug: „…daz geloube ich niht, swer daz seit, und ist ein verlorniu arbeit…“<br />

Die „Legenda aurea“ von 1264 berichtet, dass den fahrenden Hexen für ihren<br />

nächtlichen Besuch der Tisch gedeckt werde.<br />

Hugo von Langenstein singt <strong>im</strong> Jahr 1290 in seiner „Martina“ von Zauberinnen.<br />

„… Si wolt uns ubirschalken<br />

Mit zobircraft erwalken<br />

Und machen uns ze affen …“<br />

Im Alemannischen Beichtbuch von 1320 wird nach dem Umgang mit der „Hecse“<br />

gefragt.<br />

Selbstredend pflegte auch der Adel zauberische Praktiken. Vor der Schlacht bei<br />

Mühldorf <strong>im</strong> Jahr 1322 legte Friedrich der Schöne von Österreich seinen Ring, der<br />

angeblich aus dem Gold der heiligen drei Könige geschmiedet war, neben eine<br />

konsekrierte (geweihte) Hostie, um ihn Glück bringend aufzuladen; ein Beispiel für<br />

Weiße Magie.<br />

Er verlor die Schlacht und wurde gefangen gesetzt. Nun kam Schwarze Magie zum<br />

Einsatz: Mit zauberischen Handlungen suchte man die Türriegel <strong>des</strong> Turms, in dem er<br />

gefangen gehalten wurde, zu sprengen; vergeblich, er blieb bis zur Zahlung <strong>des</strong><br />

Lösegelds drei Jahre gefangen.<br />

In einem Nachtgebet <strong>im</strong> „Codex latinus monacensis“ um 1350, findet sich eine<br />

umfassende Aufzählung von Geistern, „Truttan unde wutan“ (Druden und der Wotan),<br />

vor deren nächtlichem Besuch man sich durch dieses Gebet zu schützen suchte.<br />

Predigten in Zürich um 1380 thematisieren analog zum Canon Episcopi den Hexenflug.<br />

Um 1420 wehrt sich ein Hans Vintler gegen die Macht der Hexen: „si nemen mit<br />

gewalt / an sich chatzengestalt… die den leuten den wein / trinken aus den kellern<br />

verstollen…“<br />

Ein süddt. Beichtspiegel um 1450 fragt: „…ob man ein kind oder ein gewandt opfert zu<br />

aym pilbispawm (Pürbeßbaum) und da selbst lugel (schauen) machen.“<br />

Wie es scheint wurden Totgeburten unter einem Baum begraben, der Baum selbst mit<br />

Kinderkleidung behängt. Die Frauen fanden wohl Trost in der Annahme, dass das Kind<br />

als guter kleiner Geist weiter existiere. Genaueres ist über den Pürbess-Brauch nicht<br />

bekannt.<br />

In der katechetischen Literatur um 1450 wird Zauber definiert. Unter anderem heißt es:<br />

151


Glaube an „warsager… not wurckende planeten… den krancken zawberliche lieder<br />

singen… stern sehen… dj poßen gaist anruffen… die auf dem sail gen.“<br />

„…Etlich glaben daz kline kind / Zu pillweissen (Pürbeß?) verwandelt sind…heißt es in<br />

Michael Beha<strong>im</strong>s Meistergesang von 1460.<br />

Auch ein Lübecker Beichtspiegel von 1480, <strong>Faust</strong>s Geburtsjahr, bestätigt den<br />

Volksglauben:<br />

„Hast du gezaubert oder lassen zaubern, gewicket oder lassen wicken?<br />

Hast du geglaubt an die guten Hulden und an die Wichtelmännchen?<br />

Hast du nicht geglaubt an Wetterwicken?<br />

Hast du keinen Unglauben gehabt, dass die Kinder wären gewechselt? (Pürbeß?)<br />

Hast du einigen Wind gekauft von einer Zauberin?<br />

Hast du den Leuten Schaden getan mit teuflischer Kunst?<br />

Hast du Zauberei oder Wickerei getrieben mit dem heiligen Sacrament?<br />

Hast du geglaubt, dass die Leute zu Wehrwölfen werden?<br />

Hast du geglaubt an die guten Hulden?<br />

Hast du geglaubt an die Zwerge, dass sie die Kinder weg tragen?<br />

Hast du geglaubt, dass die Leute fahren mit Leib und Seele bei Nachtzeit in<br />

ein fernes Land und werden dort untereinander wohl (Sex) bekannt?<br />

Hast du geglaubt, dass Leute kommen <strong>des</strong> Nachts und bedrücken andere <strong>im</strong> Schlaf?<br />

Ein jeglicher Mensch mag sich wohl bedenken und es seinem Beichtvater offenbaren.<br />

Hast du geglaubt an die guten Hulden, oder dich die Nachtmar ritten, oder du<br />

auf einer Ofengabel auf den Blocksberg rittest?<br />

Lieber Bruder, diese Stücke sind schwere Todsünden, und wer darin stirbt, bringt seine<br />

Seele in die ewige Verdammnis; denn den heiligen Glauben darf man nicht<br />

besch<strong>im</strong>pfen.“<br />

Um das Jahr 1500 hat der Drudenfuß nahezu den gleichen Stellenwert wie das Kreuz.<br />

Paracelsus hält 1531 Vorlesungen über das Erkennen und Behandeln von angehexten<br />

Krankheiten: „Weiter geschiehts auch oft, dass ein Mensch… blind… krumm oder gar<br />

getötet wird, was alles durch Gottes Verhängnis durch solche Erzzauberer geschieht.<br />

Welches alles magische Eingriffe sind, die durch die Ascendenten geschehen und<br />

vollbracht werden.<br />

Darauf sollen nun die Ärzte achten … wo sich solche übernatürlichen … Krankheiten<br />

zutragen, … nicht ihre apothekerische Arznei dazu brauchen … und zu Spott …<br />

werden … dann die Ausrede gehabt: es ist ein … Straf von Gott, da kann kein Arzt<br />

helfen …“ Es folgt ein Katalog von Anweisungen, um festzustellen, ob es sich um eine<br />

angehexte Krankheit handelt.<br />

„Ist der Mensch aber dermaßen bezaubert, dass er sorgt … er werde stumm, krumm,<br />

lahm … so soll er in festem Glauben ein ganzes Bild von Wachs machen, und die<br />

Imagination stark in das Bild gesetzt und <strong>im</strong> Feuer nach rechter Ordnung verbrannt.<br />

Lasst euch nicht verwundern, dass einem verzauberten Menschen so leicht zu helfen<br />

sei … der medicus nicht alles … auf den Hohen Schulen lernt, … sondern muss … zu<br />

alten weibern, Zigeunern, Schwarzkünstlern, Landfahrern, alten Bauersleuten in die<br />

Schul gehen und lernen … die haben mehr Wissen … denn alle Hohen Schulen.“<br />

Hermann Witekind zu Heidelberg macht 1585 die lange praktizierten katholischen<br />

Messrituale dafür verantwortlich, dass (trotz der Hexenverfolgungen) das heidnische<br />

Brauchtum noch <strong>im</strong>mer so stark in den evangelischen Landstrichen sei; die Zauberei<br />

und die verschiedenen Segnungen der „pfaffen“ hätten viel gemeinsam gehabt.<br />

1587 geht dann auch die „Historia“ in Druck.<br />

Eine bayerische Quelle von 1594 berichtet von Wallfahrten zum „Pürbeß Paum“.<br />

Mit dem Jahr 1600 sei die Auflistung von Nachweisen eines ungebrochenen<br />

Volksglaubens beendet. Als Abschluss ein Blick in das Verhörprotokoll <strong>des</strong> in Haft<br />

gekommenen Pustertaler Volksmagiers Christoph Gostner von 1595 und in die Liste<br />

der konfiszierten Utensilien.<br />

152


Neben Gebetsbüchlein finden sich auch ein „buechl … mit 15 beschwerungen alles den<br />

reichtumb anbelangt“ und „ein zetele vor schießen, schlagen und vor gefenckhnuß“<br />

(Inhaftierung).<br />

Man beachte wie ordentlich bei einem Hexenprozess Protokoll geführt wurde: Als Nr.63<br />

unter 65 aufgeführten Gegenständen wird ein gestricktes „sackhl“ genannt, darin:<br />

„Ain kuglete cristallen, prilenstein, dreieggete cristallen“, Gostner sagte dazu, dass er<br />

darin nichts gesehen und auch nichts damit ausrichten konnte.<br />

Ein Kettenglied, vermutlich von einer Galgenkette. Gostner sagte, die kann man zu<br />

Sporen schmieden, dann laufen die Rosse schneller.<br />

In einem „söckhele etliche würmb“, die er selbst gebannt hat. Gostner sagte, dass er<br />

sie in Verbindung mit einem Spruch anwendet: „Osia, osia, osia, du schalckhafftige<br />

schlang, steh still, wie der Jordan stuend, da Sankt Joannes unsern lieben herren<br />

getaufft hat in namen Gottes vatters, sohns und heiligen geists!“<br />

Des Weiteren „Ain strickhl, daran einer gehangen.“ Sodann ein „kreiterbuch“.<br />

Eindrucksvoll, wie er gleichsam als Handwerker in größter Selbstverständlichkeit,<br />

gemäß dem Protokoll auch mit Erfolg, das schl<strong>im</strong>me Wetter weg hext, die Menschen<br />

von Krankheiten befreit und Ratschläge erteilt.<br />

Christoph Gostner, ein christlichgläubiger Hexer, der durch das Vertrauen der Rat und<br />

Hilfe suchenden Menschen Macht und Einfluss besaß und dafür sterben musste.<br />

Christ zu sein, inmitten von Teufelsqualm und Geisternebeln, die Menschen zur Zeit<br />

<strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s, sie brachten es mühelos unter einen Hut. Das voraus zitierte Gostner-<br />

Verhörprotokoll zeigt einen Zauberer, der gleichsam auch ein Pfarrer war: „Osia, osia,<br />

osia, du schalckhafftige schlang, steh still, wie der Jordan stuend, da Sankt Joannes<br />

unsern lieben herren getaufft hat in namen Gottes vatters, sohns und heiligen geists!“<br />

*<br />

„Exorzist spricht von Teufelsangriff auf Papst“<br />

Unter dieser Überschrift zeigt BILD-BUNDESAUSGABE -11.März 2010 drei Fotos:<br />

Kleines Rundfoto, „Papst Benedikt XVI.“. Sodann ein unscharfes Foto von Besuchern<br />

einer Messe, der Text dazu lautet: „Schrecksekunde bei der Christmette: Angreiferin<br />

Susanna Maiolo (25, roter Anorak) stürzt sich auf Papst Benedikt XVI. (82)“. Das dritte<br />

Foto zeigt das Konterfei eines älteren Kirchenmannes, <strong>im</strong> begleitenden Bildtext heißt<br />

es dazu: „Gabriel Amorth (85), Chefexorzist der Diözese Rom, hat 70 000<br />

Teufelsaustreibungen durchgeführt.“<br />

Der Hauptartikel von A. Englisch lautet:<br />

„Rom. – Pater Gabriel Amorth (85) ist Chefexorcist <strong>im</strong> Vatikan. Mehr als 70 000<br />

Mal befreite er Besessene vom Teufel und Dämonen. Jetzt warnt der Pater in der<br />

italienischen Zeitung „La Repubblica“: „Der Teufel wohnt <strong>im</strong> Vatikan! Es gibt Kardinäle,<br />

die nicht an Gott glauben, Bischöfe, die mit dem Teufel <strong>im</strong> Bund sind. Die<br />

Kinderschändungen durch Geistliche sind ebenfalls Werke <strong>des</strong> Teufels.“<br />

Der Exorzist berichtet auch von einem Angriff <strong>des</strong> Bösen auf Papst Benedikt XVI. (82):<br />

„Am Weihnachtsabend kämpfte der Papst mit dem Teufel. Satan warf ihn zu Boden.“<br />

Der Pontifex war damals von einer geistig verwirrten Frau zu Boden gerissen worden<br />

(BILD berichtete). Nach der Attacke hatte der Heilige Vater die Christmette fortgesetzt.<br />

Das Gute triumphiert …“ (Ende <strong>des</strong> Artikels)<br />

(Mit den Kinderschändungen sind die aktuellen Meldungen über Vorgänge an Klosterschulen<br />

in Deutschland gemeint. Die Teufelsaustreibungen beziehen sich dagegen auf<br />

Italien, dort wird bis heute viel über den Teufel gemunkelt; ist die Einbildungskraft groß<br />

genug, zeigen Menschen tatsächlich jene Symptome, die Besessenen nachgesagt<br />

werden.) *<br />

153


Mit Platon auf dem Kutschbock<br />

Wo wurde <strong>Faust</strong> ausgebildet, eine der großen ungeklärten Fragen der <strong>Faust</strong>forschung.<br />

<strong>Faust</strong> war <strong>des</strong> Lesens und Schreibens kundig, Philipp Begardi notierte:<br />

„Sich … erfarnen meyster bekant vnnd geschrieben. Hat auch selbs bekannt …, dass<br />

er … heyß <strong>Faust</strong>us, domit sich geschriben Philosophum Philosophorum.“<br />

<strong>Faust</strong> war auch <strong>des</strong> Lateinischen mächtig; er war Astrologe, die entsprechenden<br />

Bücher waren um 1510 noch in Latein verfasst.<br />

<strong>Faust</strong>s Auftreten ist erstmalig <strong>im</strong> Trithemius-Brief geschildert. <strong>Faust</strong> ist gerade um die<br />

27 Jahre alt, doch sein Auftreten ist in keiner Weise das eines jungen Mannes, es lässt<br />

an einen Mann von vierzig Jahren denken. Dieser junge <strong>Faust</strong> ist eine Persönlichkeit,<br />

wenngleich eine wilde. Sein Auftreten verrät Welterfahrung, auch ist er frech und<br />

anmaßend, sehr selbstbewusst und offenkundig überaus routiniert; Trithemius<br />

berichtet, <strong>Faust</strong> habe sich zwe<strong>im</strong>al durch Flucht entzogen.<br />

<strong>Faust</strong> macht nicht annähernd den Eindruck eines armen Scholaren, der zwar<br />

irgendwann auch einmal eine Lateinschule besuchte, doch längst in einem Gewand<br />

durchs Leben irrt, das so dünn und fadenscheinig ist wie sein Wissen.<br />

Um be<strong>im</strong> Bamberger Fürstbischof zu weilen oder um gegenüber einem hoch gebildeten<br />

und lebenserfahrenem Mann wie Prior Leib zumin<strong>des</strong>t für die Dauer <strong>des</strong> Gesprächs als<br />

Komtur aufzutreten, ohne dass der ihn offen als Schwindler bezeichnen konnte, dafür<br />

brauchte es viel an Wissen und ein gutes Gewand.<br />

Es hat sich kein Hinweis darauf gefunden, dass <strong>Faust</strong> eine Universität besuchte.<br />

Andererseits bezeichnet ihn Kammermeister Müller <strong>im</strong> Rechnungsbuch <strong>des</strong><br />

Fürstbischofs Georg III. von Bamberg als „Doctor <strong>Faust</strong>us ph(ilosoph)o“, als<br />

Gebildeten. Und ohne Einschränkung schreibt Philipp von Hutten in seinem Brief von<br />

„Philosophus <strong>Faust</strong>us“.<br />

Dass diesen „Empfehlungsschreiben“ auch Quellentexte gegenüber stehen, deren<br />

Verfasser <strong>Faust</strong>s akademische Titel in Zweifel ziehen, ändert nichts an der Tatsache,<br />

<strong>Faust</strong> wurde zumin<strong>des</strong>t von einigen Angehörigen der Oberschicht als ein gebildeter<br />

Mensch betrachtet.<br />

Die von Teilen der <strong>Faust</strong>forschung gehandelte Annahme, dass <strong>Faust</strong>, eben weil er<br />

hochintelligent gewesen wäre, nicht einmal eine Schule besuchte, sich sein gesamtes<br />

Wissen selbst beigebracht hätte, also der typische Autodidakt sei, wie er „aus der Mitte<br />

gesunden Volkstums heranwachse“, ist keine befriedigende Antwort.<br />

Unbestritten gab es damals Menschen, die sich in privaten Studien gebildet hatten und<br />

als Philosophus getitelt wurden. Private Studien setzten allerdings voraus, dass der<br />

Lebensunterhalt zumin<strong>des</strong>t teilweise gesichert war. Mochte in den ersten Jahren eine<br />

Erbschaft die Grundlage sein, hatte der Betreffende später ein Amt und war besoldet<br />

oder hatte eine mit dem Amt verbundene Pfründe inne.<br />

Man liegt vermutlich nicht falsch, <strong>Faust</strong>, wie <strong>im</strong> Trithemius-Brief geschildert, eine<br />

Straßen-Erfahrung von fünf Jahren zu unterstellen. Das bedeutet, dass <strong>Faust</strong> sich ein<br />

gutes Stück seines „akademischen Wissen“ etwa zwischen dem 15. und 22.<br />

Lebensjahr selbst angeeignet hätte. Wie sollte das möglich sein? Es gibt keinen<br />

Hinweis, dass er aus einem wohlhabenden Haus stammt. Im Gegenteil, fünfzig Jahre<br />

nach seinem Tod schreibt Augustin Lerche<strong>im</strong>er, Schüler <strong>des</strong> Phillip Melanchthons,<br />

<strong>Faust</strong> wäre ein Kind aus ärmsten Verhältnissen gewesen. Wie bestritt der Schüler<br />

<strong>Faust</strong> dann seinen Lebensunterhalt? Es mag noch angehen, dass ein wissbegieriger<br />

junger Mensch sich nach der Arbeit das Schreiben und Lesen beibringt, doch Latein<br />

erfordert bereits eine intensive Unterweisung. Wie finanzierte er die notwendigen<br />

Bücher? Wer leitete ihn später an, die astrologischen und philosophischen Schriften zu<br />

verstehen?<br />

Der Fragen, die sich hier stellen, sind schlicht zu viele. Die schnelle Antwort, <strong>Faust</strong><br />

hätte sich das Gros seines akademischen Wissens selbst beigebracht, braucht ein<br />

gehöriges Maß an konstruierenden Spekulationen.<br />

154


Nun eine Knittlinger „Grundschule“ ins Bild zu stellen, wo er zumin<strong>des</strong>t Lesen und<br />

Schreiben gelernt hätte, sodann zu vermuten, dass ihm ein fahrender Magier ein Buch<br />

überlassen, oder ein Pater <strong>des</strong> Klosters Maulbronn ihm Bücher geliehen hätte, ist<br />

bestenfalls nett. Ein Buch entsprechenden Inhalts kostete damals, trotz der Erfindung<br />

<strong>des</strong> Papiers und <strong>des</strong> beweglichen Buchdrucks, noch <strong>im</strong>mer ein Drittel <strong>des</strong> Preises<br />

eines von Hand geschriebenen Buches.<br />

Das min<strong>des</strong>te, was man <strong>Faust</strong> zugestehen muss, ist ein „Lehrer“, ein wie auch <strong>im</strong>mer<br />

gearteter „Unterweiser“. Folgerichtig wird ein „Fahrender Arzt und Nebulo“ angeboten,<br />

bei dem <strong>Faust</strong> nach Beendigung seiner Schulzeit einst auf dem Kutschbock Platz<br />

genommen, die Welt kennen gelernt und sich Wissen angeeignet hätte.<br />

Es liegt auf der Hand, der „Fahrende Magier“ versprach sich von seinem jungen<br />

Begleiter einige Vorteile. Der junge <strong>Faust</strong> muss sich neben seiner bescheidenen Schulbildung<br />

auch durch bereits erkennbare Talente und rechte Pfiffigkeit empfohlen haben;<br />

gewitzt waren sie damals schließlich alle, die sie täglich das Leben probten. Bedenkt<br />

man jedoch, wie umständlich und beschwerlich das Reisen mit einem Pferdewagen<br />

war, dann erscheint es als wenig wahrscheinlich, dass <strong>Faust</strong> sich nebenbei Latein<br />

beigebracht hat. Es sollte kein Zweifel bestehen, der vermutete „fahrende Magier“<br />

drückte seinem jungen Gehilfen nicht nur die Zügel in die Hand, er bürdete ihm auch<br />

die übrigen Arbeiten auf; das Füttern und Versorgen <strong>des</strong> Pferds, das Aufschlagen <strong>des</strong><br />

Quartiers, Boten- und Erkundungsgänge, das Wasserholen und natürlich auch das<br />

Kochen.<br />

Ein Auftritt <strong>des</strong> Magiers bedeutete dann gesteigerten Einsatz. Wenn abends die Kasse<br />

nicht st<strong>im</strong>mte, gab es nichts zu essen, sondern Fußtritte. Viele der überlieferten<br />

Kunststücke klingen selbst noch heute erstaunlich; letztlich sind sie nur durch einen<br />

he<strong>im</strong>lichen Helfer erklärbar. Keinem arglosen Zuschauer läuft unvermutet Wein aus der<br />

Nase, und ein Teufelskerl, der sich fesseln, in einen Sack stecken und von der Brücke<br />

werfen lässt, um keine Minute später „mit einem Polz aus dem Wasser zu schießen“,<br />

hat wahrscheinlich nicht nur einen Zwillingsbruder, sondern gleich mehrere stille Helfer.<br />

Freilich waren auch genug Vertreter dieser bunten Zunft allein zu Pferd unterwegs. Wer<br />

dem Publikum dagegen mehr bieten wollte, brauchte einen Wagen. Ein Helfer war<br />

dann unerlässlich, er bewachte Pferd und Wagen, er half be<strong>im</strong> Radbruch und agierte<br />

be<strong>im</strong> Auftritt <strong>des</strong> Nebulos. Nicht allein bei aufregenden Effekten, auch als Stichwortgeber<br />

aus der Mitte der Zuschauer und nicht selten als hinterlistiger Beutelschneider.<br />

Bei allem Respekt vor der unterstellten Wissbegierde, doch wo andere Abend um<br />

Abend ermüdet ins Stroh fielen, müsste <strong>Faust</strong> eine geradezu unbändige Energie<br />

besessen haben, um auch noch Latein zu lernen. Latein kann jeder lernen, doch es<br />

braucht seine Stunden, es ist ein Fleißfach. Und selbst wenn er es geschafft hätte,<br />

Latein bildete erst den Grundstock, um sich jenes Maß an Wissen und Bildung<br />

anzueignen, über welches <strong>Faust</strong> dem Anschein nach verfügt haben muss; er verkehrte<br />

in Augenhöhe mit Gebildeten. Belegt sind sein persönlicher Kontakt mit dem<br />

Fürstbischof von Bamberg und Prior Kilian Leib, es liegt nahe, er verkehrte auch mit<br />

Daniel Stibarius und Philipp von Hutten nicht allein über Briefe.<br />

Einen fahrenden Nebulo, Spassmacher, Gaukler oder Magier, als <strong>Faust</strong>s Unterweiser<br />

ins Spiel zu bringen, überzeugt auch <strong>des</strong>halb nicht so recht, da <strong>im</strong> allgemeinen keiner<br />

von ihnen in der Astrononomie und der Astrologie beschlagen war.<br />

Nun einen Wanderastrologen als Unterweiser für möglich zu halten, führt auch zu<br />

nichts, da dieser in der Regel keinen Helfer brauchte. Auch war er bereits vollauf damit<br />

beschäftigt, allein sich selbst durchs Leben zu bringen.<br />

Es liegt nahe, <strong>Faust</strong> hat zumin<strong>des</strong>t an einer Lateinschule jenes Fundament an Bildung<br />

erhalten, um darauf aufbauend sich weitere Bildung anzueignen.<br />

Es ist gesichert, dass damals in Bretten, sechs Kilometer von Knittlingen entfernt, eine<br />

Lateinschule existierte. Nun anzunehmen, weil eine Lateinschule in Knittlingen nicht<br />

belegt ist, dass es in Knittlingen keine Lateinschule gab, ist nicht schlüssig. Auch wenn<br />

Kinderarbeit Bestandteil der Arbeitswelt war, es gab wohlhabende Familien – es wurde<br />

Weinbau betrieben – sie legten Wert auf die Ausbildung ihrer Söhne.<br />

155


Ungeachtet ihres Alters saßen die Buben in einem Raum. Lediglich 20 Familien zu<br />

Grunde gelegt, die nur jeweils ein Kind unterrichten ließen, in Anbetracht der Situation,<br />

dass Tausende von Scholaren damals bereit waren, für ein kleines Entgelt Unterricht<br />

zu erteilen, dann darf man durchaus sagen, die Kosten <strong>des</strong> Schulbesuchs waren unerheblich.<br />

Bedenkt man <strong>des</strong> Weiteren, dass Knittlingen damals wesentlich bedeutsamer<br />

als Bretten war, dann wäre es sogar höchst verwunderlich, falls in Knittlingen keine<br />

Lateinschule existiert hätte.<br />

Abgesehen von der Knittlinger Situation, Philipp Melanchthon konnte seine<br />

Vorstellungen vom Unterricht humanistischer Lehrinhalte auch <strong>des</strong>halb so schnell<br />

zwischen 1526 und 1530 in die Praxis umsetzen, weil bereits ein dichtes Netz von<br />

Lateinschulen in den Landschaften existierte.<br />

Zur Ausbildung einer Lateinschule gehörten Lesen, Schreiben, ein wenig Rechnen und<br />

Latein; Latein war gleichsam die erste Schriftsprache. Die Ausbildung war mit dem<br />

zwölften Lebensjahr beendet. Mit Latein, der internationalen Gelehrtensprache, stand<br />

<strong>Faust</strong> zumin<strong>des</strong>t theoretisch alles offen, was damals unter Bildung verstanden wurde.<br />

Erasmus von Rotterdam (1466? – 1536), eine Generation älter als <strong>Faust</strong>, schrieb nur in<br />

Latein, Deutsch als Buchsprache wurde erst mit Luthers Schriften um 1520 üblich.<br />

„Aber der kleine <strong>Faust</strong>, … das war doch ein Gerlach-Bankert!“<br />

Abgesehen davon, dass <strong>des</strong> Lebens Pfade verschlungen genug sind, um entgegen der<br />

Regel selbst einem unehelichen Kind den Besuch einer Lateinschule zu gewähren, die<br />

Etikettierung „Gerlach-Bankert“ basiert auf einer Annahme. Sie gründet auf die<br />

Auffindung <strong>des</strong> merkwürdigen „Giftschranks <strong>des</strong> Doktor <strong>Faust</strong>us“ auf der einstigen<br />

Hofstelle der Gerlachs. Solange die Umstände <strong>des</strong> Schranks nicht geklärt sind, ist die<br />

Annahme, <strong>Faust</strong> sei ein Gerlacher gewesen, eine grundlose Spekulation.<br />

Es ist denkbar, dass <strong>Faust</strong> einer Liebelei zwischen Magd und Knecht entstammte.<br />

Ebenso ist denkbar, <strong>Faust</strong> kam aus einer ärmlichen Familie. Für den Fall, dass Vater<br />

<strong>Faust</strong> kein Bauer war und auch keine Werkstatt betrieb, das Städtchen bot<br />

Möglichkeiten <strong>des</strong> Broterwerbs: Eine Tätigkeit <strong>im</strong> Gerichtswesen, in der Stadtverwaltung<br />

oder als Bediensteter <strong>des</strong> Pfleghofes, auch Kameralamt genannt. Das<br />

Kloster Maulbronn ließ über den Pfleghof die Frondienste verwalten, die Steuern und<br />

den Zehnten einziehen. Im Pfleghof waren auch das Schutzkommando und der<br />

Straßendienst untergebracht. Auf die Einrede, dass eine ärmliche Familie den Sohn<br />

wohl kaum auf eine Lateinschule schickte, sind wiederum ein Dutzend Antworten<br />

möglich.<br />

Gerade weil der Vater eventuell <strong>im</strong> Pfleghof nur eine unbedeutende Arbeit hatte, wird<br />

er seinem Sohn etwas Besseres für <strong>des</strong>sen Zukunft gewünscht haben. Wer weiß, wie<br />

emsig der Vater sich genehm zu machen wusste, wie er das freundliche Gespräch mit<br />

seinen Vorgesetzten, mit den Vertretern <strong>des</strong> Klosters, suchte, um diese eine Vergünstigung<br />

für seinen Sohn herauszuschlagen.<br />

Und gesetzt den Fall, <strong>Faust</strong> wäre tatsächlich der uneheliche Sohn eines betuchten<br />

Bürgers gewesen, dass dieser Vater seinen zur linken geborenen Sprössling unterrichten<br />

ließ, hat seine Plausibilität auf der psychologischen Schnittlinie von Erzeugerstolz<br />

und schlechtem Gewissen. Es ist ein Wiedergutmachen und zugleich Kniefall vor<br />

der Macht eigener außerehelicher Lendenlust. Auch galt es einen Ansehensverlust<br />

wettzumachen.<br />

Bei dem damals gepflegten autoritären Unterrichtsstil könnten die Lateinkenntnisse mit<br />

Ende <strong>des</strong> Besuchs der Lateinschule durchaus gediegen gewesen sein.<br />

So viele Antworten denkbar sind, wie ein kleiner armer Johann Georg <strong>Faust</strong> entgegen<br />

den damaligen Gepflogenheiten dennoch in den Genuss einer Lateinschule kam,<br />

spätestens mit Ende <strong>des</strong> Besuchs einer Lateinschule tut sich ein „schwarzes Loch“ auf.<br />

Ein Student musste damals, um überhaupt sein eigentliches Studium aufnehmen zu<br />

dürfen, zunächst den Fächerkanon <strong>des</strong> Trivium pauken. Das Trivium schloß mit<br />

Prüfungen in Dialektik, Grammatik und Rhetorik. Sodann folgte das Quadrivium mit den<br />

Studien der Geometrie, Arithmetik, Musik und Astronomie. Sobald ein Student auch in<br />

156


diesen Fächern seine Prüfungen bestanden hatte, konnte er, in diesem Fall also <strong>Faust</strong>,<br />

endlich mit dem ersehnten Studium der Astrologie beginnen.<br />

Auch wenn <strong>Faust</strong> sich später in der Todsünde der Astrologie übte, er „gefischte<br />

Informationen“ in seine astrologischen Ausdeutungen einfließen ließ, be<strong>im</strong> Verfassen<br />

der Horoskope hatte er sich an die Fachterminologie zu halten. Ebenso wenn er mit<br />

seinen Kunden die Bedeutung von Planetenkonfigurationen erörterte; quer durch die<br />

Oberschicht hatte er mit Menschen zu tun, die zumin<strong>des</strong>t über Grundkenntnisse der<br />

Astrologie verfügten. Auch werden einzelne Kunden die ausgearbeitete Prognostikation<br />

gelegentlich mit einem anderen Astrologen erörtert haben.<br />

Wenngleich von der heutigen Situation eines Astrologen sich nur schwer die Situation<br />

<strong>im</strong> späten Mittelalter erschließen lässt, der Astrologe von heute spricht von einer<br />

Ausbildungszeit von min<strong>des</strong>tens drei Jahren.<br />

Abgesehen von der Frage, wie oder wer finananzierte das Studium, man halte dabei <strong>im</strong><br />

Auge, <strong>Faust</strong> hat nachweislich keine Universität besucht.<br />

Kontakt zur Oberschicht der damaligen Feudalgesellschaft, zu Heerführern, zu hohen<br />

Beamten, zur gehobenen Geistlichkeit, bedeutete außerdem den Umgang mit<br />

Menschen, die in höchstem Maße den Dünkel pflegten.<br />

Gebildete dieser Zeit konnten die Bibel passagenweise auswendig, sie hatten Plinius,<br />

Tacitus, Platon, Aristoteles … kurz, die philosophischen Schriften gelesen, diskutiert<br />

und deren Inhalte auch parat. Vieles davon braucht zum Verstehen eine Anleitung und<br />

zur Festigung den Disput. Der Disput unterlag Regeln. Menschen, die sich eine derart<br />

breit gefächerte Bildung angeeignet hatten, waren nicht nur an ihren Manieren, sondern<br />

auch an ihrer geschliffenen Sprache erkennbar. Eine Sprache, die freilich auch dazu<br />

diente, sich vom Volk abzugrenzen, sich in Anspielungen auf Textstellen zu üben, die<br />

es dem „gemeinen Mann“ unmöglich machten, den tieferen Sinn <strong>des</strong>sen zu verstehen,<br />

was da soeben geredet worden war. Dazu wollen Gebildete untereinander glänzen, je<br />

geistreicher und verschlungener man sich auszudrücken weiß, <strong>des</strong>to besser; je<br />

treffender mit Zitaten gewürzt, <strong>des</strong>to schöner. Selbstredend <strong>im</strong> Wechselsprung, vom<br />

Lateinischen ins Deutsche und wieder zurück.<br />

Und <strong>Faust</strong> verkehrte mit ihnen auf Augenhöhe. Er muss den Stallgeruch der Oberschicht<br />

besessen, er muss einen irgendwie gearteten universitären Schliff gehabt<br />

haben.<br />

*<br />

Ein Klosterschüler?<br />

Da <strong>Faust</strong> offenbar nie eine Universität besuchte, ist es grundsätzlich denkbar, dass ihn<br />

ein Ziehvater, ein Privatgelehrter oder Dozent, ausbildete. Bildungsbeziehungen dieser<br />

Art waren nichts ungewöhnliches, Joach<strong>im</strong> Camerarius wurde als Dreizehnjähriger dem<br />

Humanisten Georg Helt in Leipzig anvertraut; Helt war sein Lehrer, dazu sein Betreuer.<br />

Von einer derartigen Lehrbetreuung <strong>Faust</strong>s ist allerdings nichts bekannt. Die Gelehrtenschar<br />

jener Zeit ist überschaubar; es handelte sich um etwa zweihundertfünfzig<br />

Häupter. Viele von ihnen kannten sich persönlich, mit anderen pflegten sie regen Briefverkehr,<br />

ein Hinweis, dass <strong>Faust</strong> von einem dieser Männer über drei oder vier Jahre<br />

hinweg unterrichtet wurde, existiert nicht, noch lässt es sich erschließen.<br />

Das große Rätsel, wo <strong>Faust</strong> ausgebildet wurde, scheint sich jedoch buchstäblich in<br />

Wohlgefallen aufzulösen, sobald man das nahe gelegene Kloster Maulbronn in die<br />

Überlegungen mit einbezieht.<br />

Einige <strong>Faust</strong>forscher schließen eine Verbindung zwischen <strong>Faust</strong> und dem Kloster kategorisch<br />

aus, nicht zu Unrecht, außer jenem merkwürdigen Äbteverzeichnis aus dem<br />

17. Jahrhundert, gibt es keinen Hinweis auf eine Verbindung.<br />

Der gediegenen Spekulation diametral entgegengesetzt anzunehmen, <strong>Faust</strong> wäre in<br />

keiner Weise mit dem Kloster in Berührung gekommen, bedeutet die Faktentreue zu<br />

übertreiben.<br />

157


Dass dieses reiche Kloster und zugleich Feudalherr, das mit Rechts- und Zehntgeschäften<br />

die Geschehnisse über Hunderte von Kilometern in das Land hinein<br />

best<strong>im</strong>mte, nicht in vielfältigsten Beziehungen zu den Menschen stand, nicht einmal<br />

das Denken <strong>im</strong> nahe gelegenen Knittlingen bewegt hätte, es hieße, die Geschichte <strong>des</strong><br />

Mittelalters neu zu schreiben.<br />

Um 1150, weniger als hundert Jahre nach der Gründung, besaß das Kloster einen<br />

Streubesitz in bereits mehr als hundert Orten, selbst auf der anderen Rheinseite hatte<br />

es in zwölf Dörfern Fuß gefasst. Es profitierte dabei <strong>im</strong> Wesentlichen von vier Faktoren:<br />

Der Adel machte für seine Seelenheil Schenkungen, auch lebte er über seine<br />

Verhältnisse, er musste laufend Teile seiner Herrschaft verkaufen. Das finanzkräftige<br />

Kloster nahm <strong>des</strong> Weiteren konsequent jede Möglichkeit eines sich bietenden Zukaufs<br />

wahr. Und in Not geratene freie Bauern konnten sich in die Leibeigenschaft <strong>des</strong><br />

Klosters retten; der Hof wurde klösterlicher Besitz, der Bauer betrieb die Hofstelle<br />

weiter.<br />

Die jeweilige Verwaltung und Bewirtschaftung in den Klosterorten wurde durch<br />

Pfleghöfe unter Führung eines Laienbruders betrieben. Der Zehnte, die Abgaben und<br />

auch Steuern, soweit in Naturalien abgeführt, mündeten in den Handel mit<br />

Agrarprodukten.<br />

Die Lagerung und die damit verbundenen Überlegungen über den gewinnträchtigsten<br />

Zeitpunkt <strong>des</strong> Verkaufs bedeuteten zwangsläufig auch Warenspekulation.<br />

Gegen 1420 war der Streubesitz zu einem nahezu geschlossenen Besitz zusammengewachsen.<br />

Eine weitere Ausdehnung war nicht möglich, nicht weniger zielstrebige<br />

Territorialherren standen nun mit ihren Grenzen dagegen.<br />

Das Kloster, weniger ein geistlicher als ein wirtschaftlicher Mittelpunkt, stand <strong>im</strong><br />

Zentrum <strong>des</strong> Denkens und Redens der Menschen.<br />

Falls es zuträfe, dass <strong>Faust</strong> unehelich war, so war es durchaus üblich, dass man als<br />

mögliche Lebensperspektive ein Klosterleben in Erwägung zog. Der fleischgewordene<br />

Schandfleck väterlichen Fehltritts als kommender Zisterziensermönch; nach Jahren<br />

aller Welt sichtbaren Ehebruchs, nun die völlige Umkehrung <strong>des</strong> Sachverhalts, die<br />

beschmutzte Familie plötzlich mit eigenem Türklopfer zur zentralen irdischen Macht<br />

und per Stellvertreter in stündlichem Gebetskontakt mit Gottes Allmacht – das sich<br />

auszumalen, es muss einem betuchten Erzeuger behagt haben.<br />

Neben dem Gedanken, <strong>Faust</strong> wäre der uneheliche Sproß eines reichen Knittlingers<br />

gewesen, ist auch die Situation denkbar, dass <strong>Faust</strong>s Vater <strong>im</strong> Dienst <strong>des</strong> Schutzkommandos<br />

ums Leben kam und das Kloster dem Waisen unter die Arme griff.<br />

Zu dieser Zeit hatte das Kloster nachweislich Nachwuchsmangel. Möglichen Nachwuchs<br />

früh heranzuziehen ist klug, auch gehört das Unterrichten zum kirchlichen<br />

Selbstverständnis, besonders wenn es sich um Knaben handelt, von denen man<br />

bereits gehört hat, dass sie deutlich gewitzter als andere sind; „Witze“ steht <strong>im</strong><br />

Mittelhochdeutschen für Verstand.<br />

Ein Kloster, und ganz besonders Maulbronn, hatten viele Aufgaben zu vergeben.<br />

<strong>Faust</strong>, eventuell gerade zwölf Jahre alt, er hat bei diesen Plänen wohl gerne mitgespielt.<br />

Die Vorstellung, ein angesehener Zisterzienser, eine Respektperson zu<br />

werden, es muss seine Fantasie beflügelt haben.<br />

Ein Kloster besitzt auch heute noch für Kinder und Jugendliche eine hohe<br />

Anziehungskraft. Die Eigenheiten der Mönchsgemeinschaft, die Stille, die gehe<strong>im</strong>nisvollen<br />

Klausurbereiche, und wenn Mönche, die Kapuzen über den Kopf geschlagen,<br />

mit brennenden Kerzen, unter Gewölbe füllenden Gesängen in pechschwarzer Nacht in<br />

die Kirche ziehen, dann kann Anziehungskraft zur Faszination werden.<br />

Es ist eine Besonderheit der Zisterzienser, die Patres wohnen innerhalb <strong>des</strong> Klosters in<br />

einem abgeschlossenen Gebäude. Das Betreten dieses Gebäu<strong>des</strong> ist selbst den<br />

Fratres untersagt.<br />

Wenn überhaupt, dann war die Handvoll junger Kandidaten bei den Fratres untergebracht.<br />

Den Tagesablauf best<strong>im</strong>mten die Ordensregeln. Um vier Uhr früh<br />

versammelte man sich zur Morgenandacht, anschließend Frühstück, dann Latein,<br />

158


Rethorik, Aristoteles, Putzdienst, Messe, Mittagessen, Küchendienst, Ruhepause,<br />

Glaubenslehre: „Heute der hl. Augustinus, die Lehre vom Dämonenpakt: Wer ad<br />

exemplum ein Amulett benutzt, geht allein durch Gedanken bereits einen Pakt ein. Erst<br />

durch Gedanken erhält es seinen Wert, entfaltet es seine Wirkung. Der hl. Thomas von<br />

Aquin unterscheidet dazu: „pacta expressa“, also durch Worte, und „pacta tacita“, das<br />

heißt durch Gedanken, die mit Gottes Erlaubnis handelnden Dämonen können dann<br />

alles bewirken. Auch ein unbewusster Pakt ist möglich: „pactum tacitum“…“<br />

Wer möchte bezweifeln, dass nur wenige Jahre eines derart streng reglementierten<br />

Lebens einem Menschen einen deutlichen Schliff geben?<br />

Und hier könnte sich auch erstmalig der Lebensweg <strong>des</strong> künftigen Teufelsbündners<br />

Johann Georg <strong>Faust</strong> mit dem <strong>des</strong> künftigen Abtes Johannes Entenfuß gekreuzt haben.<br />

Letzterer stammte ebenfalls aus einem Nachbarort, aus Öwishe<strong>im</strong>.<br />

Zur Welt eines Klosters gehörte auch ein Kräutergarten. Mönche waren bekanntlich<br />

nicht nur Feinschmecker, sie verstanden auch etwas von Heilpflanzen, deren Aufbereitung<br />

und Anwendung. <strong>Faust</strong> war auch Arzt gewesen, in Maulbronn könnte er erstes<br />

Wissen dafür erworben haben.<br />

Die Bezeichnung „Philosophus“ sowie <strong>Faust</strong>s Behauptung, „dass er in der Alchemie<br />

von allen, die je gewesen, der Vollkommenste sei“, sie könnten bedeuten, <strong>Faust</strong> war<br />

auch an der Alchemie interessiert.<br />

Es ist nicht auszuschließen, dass man sich <strong>im</strong> Kloster auch mit alchemistischen<br />

Exper<strong>im</strong>enten beschäftigte.<br />

Der Begriff „Alchemie“ ist heute durch das „Goldmachen“ verrufen. Dabei ging es in der<br />

Alchemie in erster Linie um Materialforschung. Al-chumeia heißt auf Arabisch: Lehre<br />

von den Erden, Al-chumeia lässt folgerichtig an „Humus“ denken, das Wort „Homo“<br />

liegt in unmittelbarer Nähe. Das chemische Wissen <strong>im</strong> heutigen Sinn war dabei gering,<br />

geforscht wurde auf exper<strong>im</strong>enteller Basis; wenn der Kessel zum zweiten Mal<br />

explodiert war, wusste man, der gedachte Weg ist definitiv falsch. Man exper<strong>im</strong>entierte<br />

mit neuen Metallmischungen, suchte nach Ersatzstoffen für teure Materalien, man<br />

testete Färbemittel für Textilien, Holz und Glas. Die ersten Glashütten in Deutschland<br />

wurden von den Klöstern betrieben, Klöster verfügten über Kapital, Arbeitskräfte und<br />

Organisationsstrukturen.<br />

Die Alchemie war nicht nur eine eine teure Forschung, sie brauchte auf Grund der<br />

gewaltigen Öfen auch entsprechende Räumlichkeiten, wie sie anfänglich nur in<br />

Klöstern vorhanden waren.<br />

Ob nun <strong>im</strong> Kloster Maulbronn die Mönche sich mit der Alchemie beschäftigten, wir<br />

wissen es nicht, denkbar wäre es; die Interessen der Mönche waren weit gespannt.<br />

Im Kloster Maulbronn gab es auch jene Bücher, mit deren Inhalten die Gebildeten jener<br />

Zeit vertraut waren. Dazu gab es Anleitung sie zu verstehen sowie die Übung <strong>des</strong><br />

Disputs.<br />

Wie viele Bücher die Bibliothek umfasste ist unbekannt. Bücher waren teuer, der<br />

Buchbestand eines Klosters umfasste damals in der Regel etwa vierzig Bücher.<br />

Wie die Vorgänge um Abt Trithemius <strong>im</strong> Kloster Sponhe<strong>im</strong> zeigen, beschäftigte man<br />

sich in klösterlichen Kreisen auch mit den „Gehe<strong>im</strong>en Wissenschaften“. Bereits das<br />

theoretische Studieren der Weißen Magie musste zwangsläufig die Grenzen der<br />

verbotenen Schwarzen Magie berühren.<br />

Und Kenntnisse der Metaphysik waren für jeden Wissbegierigen ohnehin zwingend.<br />

Das Metaphysische war der Kitt, der die Welt <strong>des</strong> Wissens zusammenhielt, die<br />

Erklärung für die rätselhaften Vorgänge in der Physik und der Alchemie, der wabernde<br />

Ersatzstoff für das fehlende Wissen in nahezu allen Bereichen.<br />

Nicht zuletzt, man denke an die Notiz <strong>des</strong> Rebdorfer Priors vom Juli 1528, beschäftigte<br />

man sich mit jener Kunst, die damals en vogue war, mit der Astrologie.<br />

<strong>Faust</strong>s Aussage „wann Sonne und Jupiter <strong>im</strong> gleichen Grad eines Sternzeichen<br />

stehen“ macht nur Sinn, wenn sein Gesprächspartner in der Astrologie ein wenig<br />

beschlagen war. Dass der Prior, der zu jenen zählte, die an der Aussagekraft der<br />

Astrologie zweifelten, dennoch beschlagen war, zeigt sein Nachtrag für den Juni <strong>im</strong><br />

159


Wettertagebuch. Er hatte zwar nicht behalten, ob <strong>Faust</strong> sich als Lehrer oder Komtur<br />

vorgestellt hatte, die Planetenkonstellation hatte er sich jedoch gemerkt<br />

Astrologie setzte Kenntnisse der Astronomie voraus, sie brauchte Kenntnisse <strong>des</strong><br />

Sternenh<strong>im</strong>mels und der Planetenbewegungen, es bedeutete den Umgang mit<br />

Tabellen, mit verschiedenen Recheninstrumenten. Und schließlich die Interpretation,<br />

die Ausdeutung der Geneigtheit der Sterne, die Findung der „wahren Aussage“.<br />

Auch wenn man einer Klostergemeinschaft angehörte, weltfremd man war <strong>des</strong>halb<br />

nicht; man konnte es sich auch gar nicht leisten. Die Astrologie schärfte nicht zuletzt<br />

den Verstand, und der war bei einem künftigen Pater <strong>des</strong> Klosters Maulbronn das<br />

wichtigste überhaupt, nicht nur anspruchsvolle Verwaltungsaufgaben erwarteten ihn,<br />

das Kloster befand sich in nicht mehr überschaubaren Schwierigkeiten.<br />

Noch fehlen zwanzig Jahre bis Luther und keine dreißig Jahre bis zum Bauernkrieg, die<br />

Luft brennt aber bereits. Sabotage, Spott, Pfandbruch, Schlägereien, Pöbeleien und<br />

Missachtung <strong>des</strong> Gerichts sind alltäglich geworden. Dieser Unruhe ist weder <strong>im</strong> Guten<br />

noch mit Härte beizukommen. Man kann es geradezu greifen, da draußen braute sich<br />

etwas zusammen.<br />

In Vorbereitung auf die vielfältigen Aufgaben, nicht zuletzt, weil es den Personalkörper<br />

entlastete, wurden die Kandidaten eventuell auch mit ersten Verwaltungsarbeiten<br />

betraut. Es mussten Bestandslisten übertragen, die von den Pfleghäusern hereingereichten<br />

Zahlenkolonnen gegengerechnet werden und anderes mehr.<br />

Ein deutlicher Hinweis, dass <strong>Faust</strong> nicht nur mit der Außenansicht eines Klosters<br />

vertraut war, sondern sich auch gut mit <strong>des</strong>sen Innenleben auskannte, findet sich in<br />

dem vorgenannten Wettertagebuch <strong>des</strong> Priors: „Er versicherte, dass er Komtur oder<br />

Lehrer eines kleinen Ordenshauses der Johanniter an der Grenze Kärntens gelegen<br />

sei, namens Hallestein.“<br />

Ob sich nun <strong>Faust</strong> als Lehrer oder gar als Komtur in einem Ordenshaus der Johanniter<br />

ausgegeben hatte, in beiden Fällen bedeutete es für seinen Gesprächspartner, dass<br />

<strong>Faust</strong> zumin<strong>des</strong>t die niederen kirchlichen Weihen besaß. Das heißt nichts weniger, als<br />

dass <strong>Faust</strong> mit dem Gros der Fachbegriffe sowohl der Theologie, als auch <strong>des</strong><br />

kirchlichen Lebens vertraut war. Offenkundig sah <strong>Faust</strong> kein Problem darin, dass er in<br />

ein Gespräch über theologische oder kirchlich-organisatorische, eventuell sogar über<br />

disziplinarische Fragen verwickelt wurde.<br />

Dass er sich mit den Ordensregeln der Johanniter auskannte, ist ein weiterer<br />

Fingerzeig auf Maulbronn. Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten mönchischen<br />

Lebens, dass man über die Regeln anderer Orden Bescheid weiß. Man weiß um deren<br />

Zustandekommen, man unterhält sich über deren Vor- und Nachteile.<br />

Auch <strong>Faust</strong>s Wissensbereiche, wie sie aus den Quellen ersichtlich werden, st<strong>im</strong>men<br />

punktgenau mit dem Wissensangebot eines bedeutungsvollen Klosters jener Zeit<br />

überein und auch in dem, was <strong>Faust</strong> nicht beherrschte. Der Gebildete seiner Zeit<br />

beherrschte bis zu fünf Fremdsprachen und mehr, <strong>Faust</strong> sprach Deutsch und Latein.<br />

Ein Schüler, der für ein Wirken in Maulbronn vorgesehen war, brauchte keine<br />

Fremdsprachen. Das wäre unnötige Weltläufigkeit gewesen. Dass er am Ende doch<br />

davon und in die Welt lief, vielleicht war es ihm langweilig geworden. Gutmöglich auch,<br />

dass die Patres diesen „Ausbund“ eines Tages vor die Tür setzten und damit auf ihre<br />

Weise dazu beitrugen, dass <strong>Faust</strong> zum Teufelsbündner wurde. Dass völlige Abkehr auf<br />

starke Anziehung folgen kann, dafür gibt es prominente Beispiele.<br />

Und <strong>Faust</strong>? Ihm war das nur egal. Er war siebzehn Jahre jung und verrückt nach<br />

Leben. Erstmal bei der Bocke Madel vorbeischauen und dann …<br />

Man könnte geneigt sein, das Kloster Maulbronn als <strong>Faust</strong>s Bildungsstätte zu sehen.<br />

Für diesen Fall stellt sich allerdings eine Frage völlig anderer Art.<br />

Es wurde bereits angesprochen, die lutherische Kirchenleitung muss über <strong>Faust</strong> gut<br />

informiert gewesen sein. Falls <strong>Faust</strong> einige Jahre <strong>im</strong> Kloster Maulbronn zugebracht<br />

hatte, dann war das in Knittlingen jedermann bekannt, also auch später der<br />

Lutherischen Kirche, zuvorderst aber Philipp Melanchthon.<br />

Führt man sich den erbitterten Streit zwischen Lutheranern und Katholiken vor Augen,<br />

die höhnischen Flugschriften, die vor Spott tropfenden Schmähartikel, dann ist schlecht<br />

160


vorstellbar, Lutheraner hätten auf diese propagandistische Delikatesse verzichtet: „Der<br />

Erzsünder <strong>Faust</strong>, der Teufelshurer, war ein Klosterbruder. Da hat er die Zauberei<br />

gelernet!“<br />

Alles in allem betrachtet, die Frage, wo <strong>Faust</strong> seine Ausbildung erhielt, sie lässt sich<br />

nicht beantworten.<br />

*<br />

Hexen und Heiler<br />

Man war <strong>im</strong> letzten Jahrhundert der Ansicht, dass es sich bei den magischen<br />

Volksreligionen um einen Ersatz für fundiertes Wissen gehandelt haben muss; einige<br />

glaubten, sie wären wissend, während die Mitmenschen es ihnen geglaubt hätten.<br />

1998 legte Stuart Clark jedoch dar, dass es sich bei den magischen Volksreligionen um<br />

alternative Weltanschauungen handelte.<br />

Das heißt für unsere Zeit, die moderne magische Volkskultur aus „neuen Religionen“,<br />

Esoterik, New Wave u.a. irritiert und stört die bestehende Ordnung, bei entsprechender<br />

Entwicklung wird sie die alte Ordnung ersetzen. Keltenkreuzchen, Drudenfüße,<br />

Amulette, Schamanengaudi, Hexentänzchen, und was aktuell dergleichen mehr <strong>im</strong><br />

Schwang ist, reichen dafür freilich nicht aus.<br />

Unter den Menschen müssten sich Verunsicherung, pess<strong>im</strong>istische Erwartungen und<br />

dunkle Ahnungen ausbreiten, in deren Gefolge sich verstärkt metaphysisches „Wissen“<br />

und Aberglaube behe<strong>im</strong>ateten. Gleichzeitig brauchte es charismatische und, bedingt<br />

durch das Metier, auch medial begabte / belastete Persönlichkeiten.<br />

Seherinnen und Zauberer der vorchristlichen Zeit, bildeten in Zusammenwirken mit den<br />

Priestern sowie den Häuptlingen und Stammesführern die einstige „Staatsmacht“. Sie<br />

waren die Autoritäten, ihr Wort war Gesetz.<br />

Mit dem Eindringen <strong>des</strong> Christentums in ihren Machtbereich verloren sie nach und<br />

nach an Autorität, sie wurden aus der Mitte der Menschen an den Rand der<br />

Gesellschaft gedrängt. Das Vordringen <strong>des</strong> Christentums lässt auf eine Glaubenskrise<br />

schließen, andernfalls hätte niemand zugelassen, dass der heilige Bonifatius sein Beil<br />

in die heilige Wotanseiche schlug.<br />

Die Sage vom Zauberer Merlin endet damit, dass Merlin in einer Weißdornhecke<br />

verschwindet. Weißdornhecken finden sich nicht in den Dörfern, sie wachsen entlang<br />

der den Dörfern abgewandten Feldränder. Die Bezeichnung Hexe kommt von Hecke.<br />

Der Begriff Hexe ist folglich erst entstanden, als das Christentum bereits derart mächtig<br />

war, dass die „weisen Frauen“ nicht mehr Teil der Oberschicht waren, auch nicht mehr<br />

in der Mitte der Bevölkerung wirkten, sondern ihre Kunst abseits in den Hecken übten.<br />

Noch deutlicher wird die „Auswilderung“ der alten Religionen am Not-Alphabet der<br />

Wikingerrunen ab dem 8. Jhdt. Wie Hermann Wenzel in seinem Aufsatz „Rückzugsgefechte<br />

bis zur Taufe Dänemarks“ schreibt, wurden von den Runenmeistern jene<br />

Runenzeichen aufgegeben, welche für Sesshaftigkeit und Wohlstand stehen:<br />

Fruchtbarkeitsgott, Obstbaum, Gabe, Wonne, Erbbesitz, gutes Jahr, Tag und Pferd.<br />

Weiter verwendet wurden die Runen für: Riese, Ase, H<strong>im</strong>melsgott, Birkenreis, Lauch,<br />

Eibe, Vieh, Sonne, Großer Wagen, Mensch, Auerochs, Elch, Hagel, Eis, Not und<br />

Geschwür.<br />

Wenn auch die Hexen ihre unmittelbare Macht abgeben mussten, sie sind als<br />

säkuläres, also weltliches Priestertum anzusehen. Ohne, dass man sich genormten<br />

Glaubensgrundsätzen unterwerfen musste, leisteten sie nach persönlicher Aussprache<br />

individuelle, passgenaue Hilfe für die Sorgen und Bedürfnisse der realen Welt. Und<br />

zwar ohne Legit<strong>im</strong>ation durch die bestehende Ordnung.<br />

Wie die Geschichte vom heiligen Korbinian in Freising belegt, hielt es der Adel sowohl<br />

mit Zauberinnen als auch mit christlichen Priestern. Und wie der Fall <strong>des</strong><br />

Friesenhäuptlings Radbold zeigt, allein die Armen um sich zu scharen, es führte die<br />

Kirche zu keinem rechten Erfolg. (Näheres dazu in „Menschenopfer“)<br />

161


Als die Kirche die Kinder <strong>des</strong> Adels aber zu Amtsträgern machte, der Adel seinen<br />

überschüssigen Nachwuchs mit adäquaten Würden untergebracht sah, zog die Kirche<br />

den Adel auf ihre Seite, während der Adel seinerseits die Kirche durchdrang.<br />

Es entstand die Adelskirche. Hohe Geistlichkeit, Abt und Äbtisin verhandelten nun mit<br />

ihren weltlichen Verwandten auf Augenhöhe. Da die Kirche den Weg über den Adel<br />

nahm, übernahm sie auch <strong>des</strong>sen Auftreten und Prunk, sie entfremdete sich dem Volk.<br />

Der Adel seinerseits machte sich die feindliche Haltung der Kirche gegenüber über den<br />

Hexern und Heilerinnen zu Eigen. Damit war die Voraussetzung geschaffen, dass die<br />

Kirche gestützt auf den weltlichen Arm gegen Hexen und Heiler vorgehen konnte.<br />

Zeitgleich mit dieser Entwicklung in Deutschland, an der Scheidelinie zwischen dem<br />

frühen und dem hohen Mittelalter, ist auch die Entwicklung zur Feudalgesellschaft, also<br />

auch die Abriegelung nach unten abgeschlossen.<br />

Zauberer und Hexen wurden ab dem Jahr 1000 von kirchlicher wie auch weltlicher<br />

Seite als Untergrabung der eigenen Autorität, als Störung der Hierarchie und der<br />

Ordnung wahrgenommen. Kirche und weltliche Herren sahen sich durch das<br />

Heidentum bedroht. Sie nahmen den Fehdehandschuh auf.<br />

War die Kirche bis zum Jahr 1000 darauf bedacht, wilde Hexenverbrennungen durch<br />

das Volk zu unterbinden, werden in der Gesetzgebung <strong>des</strong> ungarischen Königs<br />

Stephan I. (997-1038) Hexen erstmalig mit dem Tod bedroht. Im Gesetzestext heißt es:<br />

„… Be<strong>im</strong> dem dritten Betretungsfall solle sie einem weltlichen Gericht übergeben<br />

werden.“ Das bedeutete in der Praxis, den Tod, später um 1200, den Feuertod.<br />

Man darf von einer erfolgreichen heidnischen Missionierung der Kirche sprechen; was<br />

freilich nicht mehr als ein Bonmot sein kann.<br />

Gut belegt sind die Vorgänge um Kunigund Hirtin, „die Zauberin von Dormitz“. Sie<br />

setzte um 1530 den Stadtrat von Nürnberg in Aufregung. Sie hatte einen derartigen<br />

Zulauf, ein derartiges Ansehen und damit zwangsläufig auch Macht, sie brachte die<br />

Autorität <strong>des</strong> Rates ins Wanken. Nicht allein, dass angesessene Ärzte und Apotheker<br />

brotlos wurden, auch eine Witwe, die man vielleicht zum Verkauf ihres Hauses gegen<br />

Leibrente überreden wollte, erklärte nach wochenlangen Verhandlungen, dass sie erst<br />

mal nach Dormitz müsse und die Hirtin fragen. Streitsachen, eine erhebliche<br />

Gebührenquelle, wurden nicht mehr vor Gericht geklärt, man trug den Fall der Hirtin<br />

vor. Zwei Streitparteien waren mit dem Gerichtsurteil unzufrieden, sie baten die Hirtin<br />

um eine Entscheidung und missachteten den Gerichtsentscheid.<br />

Wie eingangs gesagt, die Hexe repräsentierte eine alternative Weltanschauung, sie<br />

störte oder untergrub gar die existierende Ordnung. Mit dem deutlichen Ausbau der<br />

fürstlichen Macht zur Zeit <strong>Faust</strong>s, verbunden mit Entmündigung, Entrechtung und<br />

steuerlicher Bedrückung der Bevölkerung, wurden Hexen und Zauberer wieder<br />

verstärkt zu Ansprechpartnern <strong>des</strong> Volkes. Als Rat- und Trostspender wurden sie<br />

zwangsläufig zu Kristallisationspunkten von Aufsässigkeit und möglicher Revolte.<br />

Die großen Hexenverbrennungen nach <strong>Faust</strong> sollten nicht allein die Menschen<br />

bedrohen und verwirren, es galt zuvorderst diese Hexen und Heiler zu vernichten.<br />

Dieser Sachverhalt wird um 1600 in England offen be<strong>im</strong> Namen genannt. William<br />

Perkins schreibt in „A Discourse of the Damned Art of Witchcraft“: „Der übelste Verräter<br />

und Rebell, den man sich denken kann, ist die Hexe.“<br />

Schottische Royalisten äußern 1661: „Rebellion ist die Mutter der Hexerei.“<br />

Auf „Zwietracht, Häresie, Hexerei, Rebellion und Verrat“ lautete die Anklage gegen<br />

einen gewissen Thomas Larkham.<br />

Der Begriff „Hexenjagd“ steht heute für die Jagd auf politisch Missliebige.<br />

Zu den voraus genannten Zeichen der „Neuen Religionen“ gehörte an sich auch das<br />

Hakenkreuz, was freilich nicht angeht. Es ist durch das NS-Reg<strong>im</strong>e nachhaltig<br />

beschädigt, es wird weltweit dem NS-Reg<strong>im</strong>e zugeordnet, nicht zuletzt wird es von<br />

gegenwärtigen Wiedergängern der Geschichte in diesem Sinne wieder verwendet.<br />

162


Das Hakenkreuz findet sich quer über alle Kontinente bei nahezu allen Völkern; das<br />

älteste, auf 14 000 v. Chr. datiert, ist in Irland in einen Steinblock geschlagen; es hat<br />

drei Strampelbeinchen. Das Hakenkreuz ist vermutlich ein vereinfachtes Symbol, eine<br />

Art Piktogram, das für den „fliegenden“ Schamanen bzw. die „fliegende“ Schamanin<br />

steht; näher am „Fluggerät“ liegt wahrscheinlich das vielbeinige Spinnenrad. Dass das<br />

Zeichen den germanischen Stämmen gehörte oder auch das Sonnenzeichen der<br />

Indogermanen gewesen sei, sind Annahmen, die sich zu Wahrheiten verdichteten, da<br />

es in vielen Büchern so geschrieben steht.<br />

*<br />

Gegendarstellung<br />

Es wurde in „<strong>Faust</strong> - <strong>im</strong> <strong>Visier</strong> <strong>des</strong> Gehe<strong>im</strong>dienstes “ angesprochen, der Autor<br />

Wolfgang Behringer macht in „Hexen und Hexenprozesse in Deutschland“, 5. Auflage,<br />

2001, auf Seite 113 mit der Überschrift „Widerstand gegen den inquisitorischen<br />

Hexenwahn“ glauben, dass Widerstand geleistet wurde, bzw. ein aufgeklärter Konsens<br />

gegenüber der Hexenbulle existierte. Diese Darstellung ist falsch.<br />

Zunächst jedoch einige grundsätzliche Anmerkungen.<br />

Das Christentum hatte seine Glaubensinhalte noch nicht ausformuliert, als es sich<br />

bereits mit Abweichlern, später „Häretiker“ oder „Ketzer“ genannt, konfrontiert sah.<br />

Der erste bekannte Abweichler war der bereits erwähnte S<strong>im</strong>on Magus.<br />

Dazu sah sich das junge Christentum in eine Welt üppigen Hexenglaubens geworfen.<br />

Das „Römische Reich“ und sein „Hexenwesen“ sind Zusammenhänge, <strong>im</strong> allgemeinen<br />

Schulunterricht werden sie schlicht ausgeblendet. Durch Lukan ist uns die wohl<br />

wil<strong>des</strong>te Schilderung von Hexenkunst aus dem römischen Reich überliefert: In der<br />

Auseinandersetzung zwischen Cäsar und Pompejus, wendet Sextus, der Sohn <strong>des</strong><br />

Pompejus, um den Schlachtausgang zu erfahren, sich nicht an den Dreyfuß von<br />

Delos, auch nicht an die Eiche von Dodona und auch nicht an die Pythia, er wendet er<br />

sich an die thessalische Hexe Erichto. Und in seinem Beisein feiert Erichto eine<br />

grausige Orgie aus Eiter und Blut und verwesendem Fleisch. Sie hat einen Leichnam<br />

ausgegraben und zwingt die Seele in den Körper zurück, damit sie Auskunft gebe.<br />

Die Hexe hatte sich also durch ihr wüstes Treiben in einen Rauschzustand versetzt,<br />

um ihre medialen Fähigkeiten zu aktivieren.<br />

Des Zauberischen mächtig waren auch die hochangesehenen Seherinnen der<br />

Germanen.<br />

Was das Judentum betrifft, so sind zuvorderst Lillith und das Weib von Endor bekannt.<br />

Sodann findet sich in der erweiterten „Historia“ von 1588 eine Sammlung von dreizehn<br />

Textstellen der Bibel – warnende Hinweise für all jene, die sich mit Traumdeutern,<br />

Zauberern, Sterndeutern u. ä. abgeben. Und Magie füllt auch das 5. und 6. Buch<br />

Moses. Die unbereinigten Originalfassungen beider Bücher sind bis heute in der<br />

katholischen und protestantischen Kirche verboten. Auch heißt es, empfindsame<br />

Gemüter, die deren Inhalte zu ernst nahmen, hätten sich wenig später in der<br />

Psychiatrie wiedergefunden.<br />

Es sei angemerkt, sowohl das Alte wie auch das Neue Testament präsentieren sich<br />

mit Widersprüchen. Jener Joseph <strong>im</strong> 1.Buch Mose, der nach Ägypten verkauft wird, ist<br />

sowohl Wahrträumer als auch Traumdeuter und die drei Weisen aus dem Morgenland<br />

sind Magier und Sterndeuter, obgleich diese Künste sowohl <strong>im</strong> Judentum als auch <strong>im</strong><br />

frühen Christentum abgelehnt wurden.<br />

Das Christentum traf jedenfalls rund um das Mittelmeer auf Hexenglauberei und<br />

Hexen, es musste dazu Stellung beziehen – der „Canon Episcopi“, um 900 entstanden,<br />

ist ein derartiges Positionspapier, und sich auch fortlaufend damit auseinandersetzen.<br />

In Folge <strong>des</strong>sen, obgleich vom Neuen Testament her so nicht angelegt, begann das<br />

Hexenwesen <strong>im</strong> kirchlichen Denken Fuß zu fassen, sich <strong>im</strong> Argumentationsraum der<br />

Kirche einzunisten. Nicht zu vergessen, die Kirche zog Generation um Generation<br />

Menschen aus dem Volk in ihre Dienste. Salopp gesagt: Der Nachschub an<br />

Teufelsglauberei und Hexenfurcht in den eigenen Reihen war gesichert.<br />

163


In der „teuflischen Zeit“, <strong>im</strong> Chaos der Katastrophen zwischen 1300 und 1400, siehe<br />

„Grüß Gott! Ich bin der Teufel!“ erfuhr das Hexenwesen eine deutliche Stärkung, in<br />

Folge <strong>des</strong>sen wurden die Gesetze gegen Hexerei und auch Zauberei laufend<br />

verschärft. Doch anders als bei Hexen und insbesondere Glaubensabweichlern, für sie<br />

war die Inquisition als „Behörde zur Reinerhaltung <strong>des</strong> Glaubens“ zuständig, unterlag<br />

Zauberei nicht der kirchlichen Gerichtsbarkeit. Zauberei fiel in die Zuständigkeit<br />

weltlicher Gerichtsbarkeit, wobei zudem zwischen Nutz- und Schadzauber unterschieden<br />

wurde. Die weltliche Gerichtsbarkeit in Deutschland verfügte dabei über<br />

regional verschiedene „Zauberparagraphen“ - erstmalig mit dem „Sachsenspiegel von<br />

1225“ belegt - nach welchen sie das Treiben der Beschuldigten beurteilte.<br />

Aus den drei Jahrhunderten vor 1420 sind kaum Hexenverbrennungen oder Urteile<br />

gegen Zauberer überliefert, Übergriffe und Ermordungen von Juden und Ketzern<br />

best<strong>im</strong>men das Bild, man darf sagen, statt Hexen und Zauberern wurden Juden und<br />

Ketzer ermordet. Mehr dazu in „Juden, Republikaner, Ketzer, Hexen“.<br />

Die Verfolgung von Hexen und Zauberern wurde bis in die Zeit <strong>Faust</strong>s vergleichsweise<br />

lasch betrieben; siehe „Menschenopfer“. Heißt: es gab <strong>im</strong>mer wieder einzelne<br />

Verbrennungen und bei entsprechenden Naturkatastrophen gebietsweise auch breitere<br />

Verfolgungen, die jedoch zeitlich begrenzt blieben.<br />

Der berüchtigte Hexenhammer, der „Malleus maleficarum“ <strong>des</strong> Institoris von 1488, ist<br />

keine Bündelung der bis dato gängigen Paragraphen, sondern etwas völlig Neues. Es<br />

ist ein Katalog von Fragen, der so aufgebaut ist, dass er <strong>im</strong> Zusammenwirken mit der<br />

Folter, von wenigen uns bekannten Ausnahmen abgesehen, <strong>im</strong>mer das To<strong>des</strong>urteil<br />

nach sich zog. Und gegen Zauberer angewandt, bringt der „Malleus maleficarum“ rasch<br />

zu Tage, dass der Zauberer nicht allein Schadzauber übte, sondern auch ein Hexer ist.<br />

Im Jahr 1508 wird der „Malleus maleficarum“ Teil der Bambergischen Halsgerichtsordnung,<br />

1516 übern<strong>im</strong>mt ihn der Markgraf von Brandenburg für seine fränkischen<br />

Besitzungen und mit der „Carolina“ von 1532 erhält er Wirkung <strong>im</strong> gesamten<br />

Deutschen Reich – aus einem kirchlichen Werkzeug ist ein weltliches Werkzeug<br />

geworden.<br />

Im Jahr 1484 erging die „Hexenbulle“ <strong>des</strong> Papst Innozenz VIII. Wie bereits gesagt, sie<br />

war kein Novum. Papst Eugen IV. hatte <strong>im</strong> Jahr 1437 sowie <strong>im</strong> Jahr 1445 ebenfalls<br />

„Hexenbullen“ erlassen.<br />

Die Fürsten in Deutschland, wie zum Beispiel der Bischof von Brixen (siehe weiter<br />

unten), sind skeptisch. Die Unruhen, welche Max<strong>im</strong>ilian, der Sohn <strong>des</strong> Kaisers, in den<br />

habsburgischen Erblanden westlich <strong>des</strong> Rheins durch Hexenverfolgungen auslöste,<br />

lassen eine Umsetzung der Bulle als wenig ratsam erscheinen. Als auf Anregung <strong>des</strong><br />

Kaisers <strong>im</strong> Februar 1488 der „Schwäbische Bund“ gegründet wird, hat sich die<br />

„Hexenbulle“ als Mittel, um der Unruhe in der Bevölkerung Herr zu werden, erledigt.<br />

Über den „Schwäbischen Bund“ ist jene Institution geschaffen, die nun die laufenden<br />

Unruhen konsequent <strong>im</strong> Auge behält, sie analysiert und Maßnahmen durchdenkt.<br />

Die Inquisition selbst, als Einrichtung zur Verteidigung <strong>des</strong> Glaubens, war und blieb<br />

geachtet, freilich auch gefürchtet. Kein geringerer als Johannes Reuchlin sandte eine<br />

Übersetzung der Irrlehre <strong>des</strong> Nestorius an den Inquisitor Jakob Sprenger. Sein<br />

Begleitschreiben vom 22. Juli 1488 eröffnet: „Dafür, wie hoch ich den Umgang mit<br />

ehrenhaften Männern schätze…“ Das Schreiben endet: „…mein vielgeliebter Jakob,<br />

du mächtige Stütze der Theologie und Deines Ordens. Doch nun höre den Häretiker<br />

selbst!“<br />

Drei Jahrzehnte später ist das Ansehen der Inquisiton durch den nachfolgenden Streit<br />

mit Reuchlin allerdings schwer beschädigt, mehr dazu in „Der Reuchlin-Streit“.<br />

Unter der Überschrift „Widerstand gegen den inquisitorischen Hexenwahn“ bietet der<br />

Autor Wolfgang Behringer verschiedene „widerständlerische“ Texte gegen die<br />

Hexenbulle an.<br />

Seine „beweisenden“ Zitate werden hier gekürzt wiedergegeben und kommentiert.<br />

1, 1485 erklärt Bischof Georg Golser von Brixen, der Inquisitor Institoris „bedunkt mich<br />

aber wegen seines Alters gantz kindisch worden sein … er solt in ein Closter ziehen …<br />

164


er wolt vielleicht noch gern in der fraun sachen handeln, ich lass ihn aber dazue nit<br />

chömmen, so er vormahlen als vast erriert (geirrt) hat in seinem process“.<br />

Der Bischof äußerte also lediglich Zweifel an der Eignung <strong>des</strong> Inquisitors – mehr nicht.<br />

Übrigens, heutige Historiker vertreten die Auffassung, dass der Inquisitor Jakob<br />

Sprenger, anders als wie von Institoris angegeben, an der Abfassung <strong>des</strong><br />

„Hexenhammers“ nicht beteiligt gewesen sei. Doch wer hat dann diese infame<br />

Prozessordnung verfasst? Der „Hexenhammer“, <strong>im</strong> Jahr 1488 vorgelegt, wurde wohl<br />

kaum von einem Mann konzipiert, der drei Jahre zuvor bereits als „senil“ eingeschätzt<br />

wurde. Vermutlich ist der „Hexenhammer“ einem Arbeitskreis von Juristen der<br />

Inquisition entsprungen, sie hatten Erfahrung mit Folter-Verhören.<br />

2, 1489 bezweifelt Ulrich Molitor, daß Frauen fliegen können. Gemäß dem „Canon<br />

Episcopi“ würden nur jene Frauen glauben, dass sie ausfahren und fliegen, die sich<br />

dem Teufel ergeben hätten und <strong>des</strong>halb von ihm verblendet und getäuscht werden<br />

können.<br />

Molitor betrachtete also den Irrglauben als Beweis der Teufelsbuhlschaft – mehr nicht.<br />

3, 1508 unterscheidet die Bambergische Halsgerichtsordnung zwischen Schadzauber<br />

und Nutzzauber.<br />

Diese Unterscheidung ist richtig; um jedoch festzustellen, um welche Art von Zauberei<br />

es sich handelte, dafür wurde auf Grundlage <strong>des</strong> „Hexenhammers“ verhandelt, die<br />

Abfolge der Fragen und die dabei angewandte Folter brachte rasch zu Tage, dass der<br />

Nutzzauberer auch ein Schadzauberer und schließlich auch ein Hexer war.<br />

4, 1508 heißt es be<strong>im</strong> Hexenprediger Geiler von Kaysersberg: „sie wenen (wähnen)<br />

sie faren, wan der teuffel kann inen ein schein also in kopff machen und also<br />

fantasey… und daz kann er aller meist dennen thun, die da mit <strong>im</strong> ze schaffen hond,<br />

<strong>im</strong> verpflicht sein…“<br />

Kaysersberg argumentiert wie Ulrich Molitor auf der Ebene <strong>des</strong> „Canon Episcopi“.<br />

5, 1509 wendet sich Erasmus von Rotterdam gegen die unersättliche Lust <strong>des</strong> Volkes<br />

an Schauermärlein; sie eigneten sich nicht nur zum Zeitvertreib, sondern dienten auch<br />

dem Gelderwerb der Geistlichkeit und der Prediger. Er geißelt die Heiligenverehrung<br />

sowie die maßlose Marienverehrung, dazu den Devotionalienkult. Er schreibt weiter,<br />

dass die Kirche diesen Aberwitz mit Absicht fördere.<br />

Zur Hexenbulle oder gar zur Hexenverfolgung sagt Erasmus von Rotterdam jedoch<br />

nichts.<br />

6, 1515 wird in einem „Volksbuch“ der Glaube, dass man fliegen könne, in einer<br />

Eulenspiegel-Geschichte verspottet: Till hatte angekündigt, dass er am kommenden<br />

Feiertag vom Rathausdach fliegen werde. In froher Erwartung füllte das Volk den<br />

Marktplatz. Till nahm auf dem Dach Platz und sprach: „Seht ihr an mir eine Feder? Seh<br />

ich aus wie ein Huhn? Wie dumm seid ihr eigentlich, dass ihr glaubt, ein Mensch<br />

könnte fliegen?!“<br />

Till verspottet den Glauben, dass man fliegen könne, mehr erzählt die Geschichte nicht.<br />

7, 1519 entreißt Agrippa von Netteshe<strong>im</strong> in Metz dem dominikanischen Inquisitor<br />

Nikolaus Savini eine angeklagte Bauersfrau. Savini hatte argumentiert, die Mutter der<br />

Angeklagten sei bereits eine Hexe gewesen, und da Hexen ihre Kinder dem Teufel<br />

weihen, sei die Angeklagte zwangsläufig auch eine Hexe. Agrippa verwies auf die<br />

Gnade der Taufe, sie sei mächtiger als ein Bündnis mit dem Teufel. Agrippa erreichte<br />

<strong>des</strong> Weiteren die Bestrafung der Verleumder.<br />

Selbst der ehrenwerte Agrippa von Netteshe<strong>im</strong> argumentierte also innerhalb <strong>des</strong><br />

erlaubten Argumentationsraumes.<br />

Hinweis: Mit Beginn der großen Hexenverfolgungen durfte ein Anwalt die Angeklagten<br />

nicht mehr verteidigen, er hatte nur noch die Aufgabe, dass bei Verhör und Folter die<br />

Vorgaben <strong>des</strong> Hexenhammers beachtet wurden; anderes zu tun, wurde dem Anwalt als<br />

Teufelswerk angelastet.<br />

8, 1520 verspottet in Nürnberg Willibald Pirckhe<strong>im</strong>er in einem literarischen Dialog den<br />

Inquisitor, er nennt ihn einen Phrasendrescher, Holzklotz und Tölpel.<br />

Weiter geht Willibald Pirckhe<strong>im</strong>er allerdings nicht. Und was die beleidigenden Worte<br />

angeht, in einer Zeit, da sich aller Augenmerk auf Luther richtete, waren sie eine<br />

165


Marginalie, nicht zu vergessen, der Ansehensverlust, den die Inquisitoren durch den<br />

Streit mit Reuchlin erlitten hatten.<br />

9, 1526 bittet Landgraf Philipp von Hessen, die Beklagten doch gütlich zu befragen und<br />

sie nicht sofort mit Pein zu bedrängen. Man solle den Beklagten zunächst gütlich die<br />

Gelegenheit geben zu bekennen, damit sie sich vor weiterer Pein schützen.<br />

Das spricht für sich, die Angeklagten sollten so klug sein, gleich zu gestehen, bevor sie<br />

neben dem Feuertod auch noch die Qualen der Folter erleiden.<br />

10, 1531 verspottet Hans Sachs in Nürnberg den Teufelsglauben und die Zauberei.<br />

Sein „Wunderlich gesprech von fünff unhulden“ endet:<br />

„Diß als ist haidnisch und ein spot<br />

Bey den, die nicht glauben in Gott.<br />

So du <strong>im</strong> glauben Gott erkenst,<br />

So kann dir schaden kein gespenst.“<br />

Hans Sachs bewegt sich damit auf der Linie <strong>des</strong> Canon Episcopi, doch zur Hexenbulle<br />

oder gar zum „Hexenhammer“ äußert auch er sich nicht.<br />

11, Vollends rätselhaft, es werden Auszüge aus der Prozessordnung der „Carolina“ von<br />

1532 als Beweise einer aufgeklärten Gesinnung gereicht.<br />

In der „Carolina“ heißt es:<br />

„Item, so jemand sich erbaut, andern Menschen Zauberei zu lernen, oder jemand zu<br />

bezaubern droht, und dem Bedrohten dergleichen geschieht, auch sonderliche<br />

Gemeinschaft mit Zauberern und Zauberinnen hat, oder mit solchen verdächtigen<br />

Dingen, Gebärden, Worten und Weisen umgeht, die Zauberei auf sich tragen, und<br />

dieselbige Person <strong>des</strong>selben auch bezichtigt, das gibt eine redliche Anzeigung der<br />

Zauberei und genugsame Ursache zu peinlicher Frage.“<br />

Die Bezichtigung, eine Verleumdung, „gibt eine redliche Anzeigung“, sie genügte also<br />

bereits als „Ursache zu peinlicher Frage.“<br />

12, Am 16. Juni 1536 verweist der Rat der Freien Reichsstadt Nürnberg auf die reine<br />

Lehre <strong>des</strong> Evangeliums und verwarnt die Bürger innerhalb und außerhalb der Stadt,<br />

Wahrsager, Zauberer aufzusuchen, (Zauber)Kräuter zu gebrauchen und anderes mehr.<br />

Wer diesem Verbot entgegen handelt, werde vom Rat der Stadt ernstlich zur<br />

Rechenschaft gezogen.<br />

Dieser Ratsbeschluss der lutherischen Ratsherren klingt für uns Nachgeborene in der<br />

Tat fortschrittlich – allerdings nur <strong>im</strong> ersten Moment, die Stadt Nürnberg droht den<br />

Menschen mit Hexenprozessen. Im übrigen scheint das Zitat aus dem Zusammenhang<br />

gerissen. Wie bereits erwähnt, geht es in dieser Zeit um die alternative Autorität<br />

der Kunigund Hirtin, der „Zauberin von Dormitz“. Es ist dem Nürnberger Rat offenbar<br />

um Aufrechterhaltung der Ordnung und seiner Autorität zu tun, weniger um Volksaufklärung.<br />

Zusammengefasst lässt sich sagen, in keinem dieser Texte, ungeachtet in wessen<br />

Machtbereich sie geschrieben wurden, wird auch nur ein kritisches Wort über die Folter<br />

und die daraus resultierenden Geständnisse geäußert, von einem Protest gegen das<br />

Verbrennen angeblicher Hexen ganz zu schweigen. Die „Hexenbulle“ selbst ist gemäß<br />

den angebotenen Belegen kein Thema, das für Aufregung sorgt. So den Inquisitoren<br />

der Wind ins Gesicht blies, dann allein in der Reuchlinsache.<br />

Literaten, Buchdrucker, Bauern, Schafhirten, Kaufleute, Juristen, quer durch alle<br />

Volksschichten, vom Gauner bis zum Vorkoster an der bischöflichen Tafel, von Abt<br />

Trithemius bis Luther, wusste man sich über die Wirksamkeit von Zauber und Magie,<br />

über die Existenz <strong>des</strong> Teufels und über die Notwendigkeit der Verbrennung von Hexen<br />

grundsätzlich einig.<br />

Wolfgang Beringer steht nicht allein. Auch der Autor B. Emil König glaubt aufgeklärten<br />

Geist feststellen zu dürfen, er weist auf die protestantische Kirchenordnung der Stadt<br />

Nürnberg von 1533: „Zum fünfften nennet man Gottes Namen unnütz und vergeblich,<br />

wenn man zauberey damit treiben will. Und das ist nicht allein ein sünd, sunder auch<br />

eine grosse mechtige thorheyt, denn das sollt ir kindlein für gewiß halten … es ist<br />

nichts, denn dass der Teuffel dadurch große sünd anricht, dass man Gottes Namen<br />

166


missbraucht … eins dem andern verdächtig wirt. … Aber Gott hat es verpoten und<br />

gesprochen, man soll die Zauberer nicht leben lassen.“ (Sic!)<br />

B. Emil König behauptet, nicht anders als W. Behringer, dass die Bambergische<br />

Halsgerichtsordnung von 1508, ein fürstbischöfliches Territorialgesetz, die Theorien<br />

<strong>des</strong> höchstmächtigen Inquisitors missachte; es bestätige die To<strong>des</strong>strafe für<br />

Schadzauberer, anderer Zauber solle jedoch nach Sachlage bestraft werden.<br />

Gleiches gelte auch für die <strong>Neufassung</strong> der Reichshalsgerichtsordnung von 1532, der<br />

„Carolina“ <strong>des</strong> Kaisers Karl V.<br />

Beide Prozessordnungen sind keineswegs Beweise einer humaneren Haltung. Denn<br />

wie bereits gesagt, festzustellen, um welche Art von Zauberei es sich bei der<br />

Beschuldigung handele, dafür wurde auf Grundlage <strong>des</strong> „Hexenhammers“ verhandelt.<br />

Dabei wurde gefoltert und es wurde solange gefoltert, bis die Beweise für Zauberei und<br />

Anverschwörungen komplett waren. Zehntausende von Prozessakten belegen nichts<br />

anderes.<br />

13, Behringer zitiert <strong>des</strong> weiteren als Nachweis, dass Widerstand geleistet wurde, ein<br />

Berner Mandat von 1543 an die Amtleute <strong>im</strong> Kanton Waad: „… mit den armen<br />

Leuten…, die verleumdet…, mit großer, ungebräuchlicher Marter …, zur Verjahung<br />

unverbrachter Sachen bringen, … und zum Tode richten.“<br />

Dieses Mandat wendet sich keiner Weise weder gegen die Hexenbulle noch gegen die<br />

Hexenfeuer, sondern allein gegen die Praxis, verleumdeten Personen über die Folter<br />

Geständnisse abzupressen.<br />

14, Diese geübte Praxis wird durch das Zitieren <strong>des</strong> Juristen Johann Boyle von 1557<br />

bestätigt: „…auch Unschuldige zwingt der Schmerz zu lügen, … in der Folter werden<br />

oft Unschuldige (Mittäter) angegeben, und zwar gezwungen durch die Marter.“<br />

Boyle verweist auf drohende Schadensersatzzahlungen, so jemand unter der Folter<br />

stirbt, ohne dass er zuvor ein Geständnis abgelegt hat. „Worte <strong>des</strong> Herrn: … Jeremia<br />

22: Vergießt nicht unschuldiges Blut.“<br />

Boyles Verweis auf Schadenersatz ist offenbar vorgeschoben, um für seine Ablehnung<br />

der Folterpraxis nicht belangt zu werden.<br />

Unbedingt lesenswert ist in „Hexen und Hexenprozesse in Deutschland“ 5. Auflage,<br />

2001, auf den Seiten 130 – 136 der Aufsatz „Mentalitätswandel und Neubeginn der<br />

Hexenverfolgung“ – die Zeit zwischen 1560 und 1630.“<br />

Wobei zu ergänzen wäre: Deutschland war – trotz aller Missstände, zur Zeit <strong>Faust</strong>s das<br />

modernste Land Europas. Durch das Vordringen der Türken <strong>im</strong> östlichen Mittelmeer<br />

einerseits sowie durch die Entdeckung Amerikas und die Ausweitung <strong>des</strong> Handels mit<br />

dem indischen Raum andererseits begann sich der Handel an die Atlantikküste zu<br />

verlagern, Deutschland verlor seine zentrale Stellung. Armut griff um sich. Im Jahr 1500<br />

konnte ein Maurer seine Frau und drei Kinder gut ernähren, um 1540 war er dazu nicht<br />

mehr in der Lage. Neben der gesunkenen Wirtschaftskraft waren zwischenzeitlich auch<br />

die deutschen Silberbergwerke erschöpft. Der stark gesunkenen Steuerkraft standen<br />

die horrenden Schulden der Fürsten gegenüber, die bereits in der Blütezeit angehäuft<br />

worden waren. Eine Situation, die zwangsläufig zu <strong>im</strong>mer härteren Steuerlasten führte,<br />

was gesellschaftliche Spannungen nach sich zog, die wiederum mit Hexenfeuern<br />

niedergehalten werden mussten.<br />

Der vielbeklagte deutsche Untertanengeist ist vermutlich ein Resultat der Hexenverfolgung.<br />

Von 1550 bis etwa 1740, das entspricht mehr als sieben Generationen, hat<br />

man den Menschen in deutschen Landen das Aufrebellieren gründlich abgewöhnt.<br />

In der „Historia“ von 1587 findet sich die ausbreitende Armut als Tugend, das teuflische<br />

Treiben <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us äußerst sich nicht wenige Male darin, dass ihm der Teufel<br />

einen herrlich gedeckten Tisch bereitet. Und in Preussen wird später die Armut in<br />

Verbindung mit lutherischer Strenge zur staatstragenden Tugend erhoben werden:<br />

„Man ist nicht nur bescheiden, man isst auch bescheiden! Wer lang suppt, der lebt<br />

lang!“<br />

Karl V. hat in die „Carolina“, eine Prozessordung weltlicher Gerichtsbarkeit, gültig für<br />

das gesamte Deutsche Reich, den „Hexenhammer“ – nach Absprache mit den Fürsten<br />

167


– eingepasst. Was nichts anderes bedeutet als das es in der Sache keine Kirche mehr<br />

brauchte, weder die katholische, noch eine der reformierten; Ratsherren und städtische<br />

Beamte saßen zu Gericht. Man beachte, wie die Staatlichkeit mit Beginn der<br />

Reorganisation der Kirche, seit den ersten Visitationen, auch die Kirche Zug um Zug<br />

entmachtete, dabei die Verwendung vormals kirchlicher Werkszeuge an sich zog,<br />

deren Anwendung erweiterte und sich eine perfekte Apparatur in die Hand baute.<br />

Man denke dabei an die Einführung <strong>des</strong> römisch-kanonischen Rechts, an die Vereinnahmung<br />

<strong>des</strong> „Hexenhammers“ und nicht zuletzt an Folter und Feuertod. Wobei die<br />

Folter, einst nur zum Einsatz gegen Ketzer und Hexen gedacht, nun bei der<br />

Verhandlung aller Straftaten zum Einsatz kam, der Verdacht einer Straftat genügte<br />

bereits.<br />

In diesem Zusammenhang wird gerne darauf verwiesen, dass die Orthox-Russische<br />

Kirche den Mächtigen kein Rüstzeug bei der Unterdrückung geliefert habe. Diese Sichtweise<br />

lässt außer Acht, dass die Gesellschaft <strong>im</strong> Osten Europas gleichsam nur ein<br />

Oben und ein Unten kannte. Die verschiedenen Gesellschaftsschichten mit ihren<br />

Rechten und Ansprüchen existierten nicht, es brauchte keine Erwägungen und<br />

Rücksichtnahmen, auch keine theologischen Begründung, Aufsässigkeit wurde frontal<br />

angegangen und ausgemerzt.<br />

Kaiser Karl V., von dem nicht bekannt ist, dass er abergläubisch gewesen war, sollte<br />

Kenntnis von der Ursache <strong>des</strong> Glaubens an den Hexenflug gehabt haben.<br />

Claus Priesner schreibt in „Grenzwelten“ S. 128, dass Andres de Laguna (1499-1560),<br />

spanischer Mediziner und Leibarzt Karls V., <strong>im</strong> Jahre 1529 die Anwendung einer<br />

Hexensalbe erprobte. Die Salbe hatte man in der Behausung einer Hexe und eines<br />

Zauberers gefunden. Neben Schierling enthielt das Mittel Nachtschatten, Bilsenkraut<br />

und Alraune. Die Frau <strong>des</strong> Henkers von Metz wurde von Kopf bis Fuß mit der Salbe<br />

eingerieben. Sie fiel in tiefen Schlaf, wachte endlich nach 36 Stunden auf und bat um<br />

mehr Salbe, damit sie diese herrlichen Träume weiterträumen könne.<br />

Die Dämonologen jener Jahrzehnte argumentierten dagegen unverdrossen, „nicht die<br />

natürlichen Ingredenzien wirkten“, sondern die Zaubersprüche und Beschwörungen,<br />

die einmal bei der Anfertigung der Salbe gesprochen werden, sodann die Zeichen, die<br />

die Hexe dem Teufel bei der Anwendung der Salbe mache; ebd. „Grenzwelten“ S. 128.<br />

Andere behaupteten gar, die Salbe selbst, die es gar nicht brauche, sei eine weitere<br />

Infamie <strong>des</strong> Satans, er fordere deren Herstellung allein, weil Kinderfett zur Zubereitung<br />

gehöre; auf diese Weise zwinge er die Hexe auch zum Kindsmord.<br />

*<br />

Schattenboxen – die heile Welt der Frühen Humanisten<br />

1517 lässt Erasmus von Rotterdam seine „Klage <strong>des</strong> Friedens“ drucken: „Der<br />

Engländer ist dem Franzosen feind aus keinem anderen Grund, als weil er Franzose<br />

ist. Der Brite ist feindselig gegen den Schotten gesinnt, einzig und allein weil er ein<br />

Schotte ist, der Deutsche ist wider den Franzosen und der Spanier wider beide. … ein<br />

bloßer Ortsname bringt sie auseinander; gäbe es nicht genug Umstände, die sie wieder<br />

zusammenbringen könnten?“<br />

„Wir Juristen“ lehrt Ulrich Zasius 1518 an der Universität Freiburg; „wollen nicht nur für<br />

uns selber das Rechte wissen, sondern unserm Nächsten nützlich sein. Wir arbeiten<br />

daran, den Frieden unter den Menschen und ihre Sicherheit zu stärken … Denn wer<br />

könnte leugnen, dass ohne die Herrschaft der Gesetze unzählige Gewalttaten,<br />

Beunruhigungen und Bedrohungen alles Menschliche unterdrücken und schließlich<br />

vernichten müssten? … Deshalb hütet ein Weiser Recht und Gesetz wie seinen<br />

Augapfel und trägt Sorge, dass es nicht nur auf Tafeln stehe, sondern auch in die<br />

Herzen der Menschen eingeschrieben werde.“<br />

Ulrich von Hutten zählt nicht zu den Humanisten, er hat noch nicht einmal sein Studium<br />

abgeschlossen, doch <strong>im</strong> Chorus dieser Jahrzehnte mischt er kräftig mit.<br />

168


„Ich st<strong>im</strong>me mit meinen Stan<strong>des</strong>genossen darin durchaus nicht überein“ schreibt er <strong>im</strong><br />

Jahr 1518 an Willibald Pirkhe<strong>im</strong>er, „welche diejenigen mit Verachtung zu behandeln<br />

pflegen, die zwar gemeiner Herkunft sind und es doch durch ihre Tüchtigkeit zu großer<br />

Bedeutung gebracht haben … mögen sie auch Söhne von Gerbern und Schustern<br />

sein. Denn sie haben ihr Ziel mit viel größeren Schwierigkeiten als wir erreicht …“<br />

„Bildung und Wissen sind die Grundlagen für verantwortungsbewusstes Handeln“,<br />

lautet die Max<strong>im</strong>e Phillip Melanchthons; 1521 wird sie in Magdeburg erstmalig<br />

umgesetzt, es wird ein „Humanistisches Gymnasium“ eingerichtet, Hauptfächer sind<br />

Latein und Griechisch.<br />

Wer möchte diesen Humanisten nicht zust<strong>im</strong>men, ihren Gedanken an einen Völkerfrieden,<br />

ihrem Streben, dem Nächsten nützlich zu sein, ihrer Freude an Bildung, ihrer<br />

Forderung nach klassenlosen Respekt der Gebildeten untereinander.<br />

Die Lust sich zu bilden, sich Einblick zu verschaffen, hat auch das Volk erfasst, Luthers<br />

Übersetzung <strong>des</strong> Neuen Testaments <strong>im</strong> Jahr 1521 wird sowohl dieser Lust gerecht als<br />

auch der tiefen Religiösität <strong>des</strong> Volkes. Es ist den Menschen ein Bedürfnis sich um die<br />

Bibel zu versammeln, sich nun in ihrer Sprache vorlesen zu lassen und sich über die<br />

Inhalte auszutauschen. Sie sind es leid, sich gängeln zu lassen, sie selbst wollen<br />

entscheiden, wie es zu verstehen ist, sie haben sich lange genug mit diesen<br />

ungebildeten Scholaren, mit diesen Viertelpfaffen herum geärgert.<br />

„Wissen für alle“, in diese Kerbe schlägt auch Paracelsus, entgegen aller Würde und<br />

Gepflogenheiten hält er 1525 in Basel Vorlesungen in deutscher Sprache und erklärt<br />

dazu: „Die Wahrheit muss teutsch sein! / Nun ist hie mein Fürnemmen zu erkleren, was<br />

ein Arzt seyn soll, und das auff Teutsch, damit das in die gemein gebracht werde!“<br />

Gleichfalls kennzeichnend für die Gebildeten jener Zeit ist deren Empfinden für Ästhetik<br />

– mehr noch – ihre Forderung nach dem Unverfälschten und Reinen.<br />

In den Werken von Michelangelo wird diese Ästhetik für jedermann sichtbar und<br />

erfahrbar.<br />

Luther spricht von der reinen Lehre <strong>des</strong> reinen Evangeliums. Paracelsus fordert die<br />

Rückbesinnung auf die reine und wahre Magie, dazu sieht er die Alchemie vor die<br />

Aufgabe gestellt, die reine Wirkkraft, das Arcanum, aus den Pflanzen zu lösen. „Nicht<br />

als sie sagen / Alch<strong>im</strong>ia mache Golt / mache Silber: Hie ist das fürnemmen (das<br />

Vorzunehmende, das Ziel) / Mach Arcana / vnd richte dieselbigen gegen die<br />

kranckheiten: Da muß er hinauß / also ist der grundt.“<br />

Es war seine Forderung nach dem gereingten Wirkstoff, der Essenz, mit welchen<br />

Paracelsus der heutigen Arzne<strong>im</strong>ittelherstellung den Weg bereitete.<br />

Erasmus von Rotterdam widmete sich der Wiederbelebung <strong>des</strong> Altgriechischen; er geht<br />

in seiner Suche nach dem reinen Altgriechisch soweit, dass er selbst <strong>des</strong>sen<br />

Aussprache zu rekonstruieren sucht. Marsiglio Ficino hatte das Interesse am alten<br />

Griechenland geweckt, er hatte 1483 die Übersetzung der Werke Platons zum Druck<br />

gegeben; durch die Eroberung Konstantinopels <strong>im</strong> Jahr 1454 durch die Türken, waren<br />

mit den Flüchtlingen – nach mehr als 1000 Jahren wieder alte griechische Manuskripte<br />

in den Westen gelangt. Erasmus von Rotterdam fertigt <strong>des</strong>weiteren eine überarbeitete<br />

lateinische Fassung <strong>des</strong> Neuen Testaments, den „textus receptus“ an. Doch erst,<br />

nachdem er die Fassung weitere drei Male verfeinert hat, <strong>im</strong> Jahr 1522, 1527 und<br />

1535, gibt er sich zufrieden.<br />

Inspiriert von Pico della Mirandola und Marsilio Ficino, ist Johannes Reuchlin (1455-<br />

1522), davon überzeugt, dass es eine Alloffenbarung Christi geben müsse, die folglich<br />

auch in der Kabbala, der mystisch-magischen Lehre <strong>des</strong> Judentums, zu finden sei. In<br />

mühsamen Studien lernt er Hebräisch, seine Begeisterung ist grenzenlos, als er<br />

entdeckt, dass „Jesus“ und „Jahwe“ sich nur durch einen einzigen Buchstaben<br />

unterscheiden.<br />

Bildung und Wissen, deren Wiederherstellung in Reinheit, waren die Beiträge der<br />

Gebildeten, um eine Welt, die aus den Fugen geraten war, wieder ins Lot zu setzen. Es<br />

ist ihre Antwort auf den Pomp und die hohl gewordenen Formeln der Kirche. Der<br />

Anspruch der Kirche höchste geistige Lehrinstanz zu sein, ist brüchig geworden, es gilt<br />

169


den Baugrund für das neue zu entdecken, beziehungsweise den alten verschütteten<br />

Baugrund wieder freizulegen.<br />

Der Gedanke der „Reinheit“ gewinnt eine eigene Autorität, wird zum Programm, zum<br />

Nomos und Lebensinhalt schlechthin. Sprachen und Bildungsinhalte sind frei zu legen,<br />

damit den Menschen ein freier Einblick wird, der sie wiederum befähigt, ohne jede<br />

weitere Anleitung richtig zu handeln, weil sie dann gar nicht mehr anders können, als<br />

richtig zu handeln.<br />

Der junge Luther gibt seinen Anhängern anfangs keine Anweisungen, er macht ihnen<br />

keine Vorschriften, er ist der festen Überzeugung, dass der Zugang zur reinen Lehre<br />

den neuen Gemeinden nun von selbst den Weg weisen werde, die Messe zu feiern, die<br />

Finanzen <strong>des</strong> „gemeinen kastens“ in der Gemeinde zu regeln und anderes mehr.<br />

Andere Zeitgenossen folgern aus dem Werk der Bibel, über welche Gott auf die Seele<br />

<strong>des</strong> Menschen wirke, dass es dazu analog etwas geben müsse, das auf die Materie<br />

wirke; eine Formel, einen zentralen Schlüssel, der die Türen zu den Kammern der<br />

Materie aufsprenge.<br />

Begriffe wie Stein der Weisen, Theriak – das Allheilmittel, Wasser <strong>des</strong> Lebens,<br />

Gesundbrunnen, Goldmachen, sind uns auch heute noch geläufig, allerdings als<br />

Metaphern für das Unmögliche.<br />

Das Voynich-Manuskript, etwa aus dieser Zeit, kann nur als ein Versuch erklärt<br />

werden, sich einen derartigen Zentraltext zu erschaffen. Es ist nicht entziffert und<br />

wahrscheinlich auch nicht entzifferbar. Es will scheinen, dass <strong>im</strong> Rhythmus magischer<br />

Zahlen Texte miteinander gemixt wurden. Texte aus der Kabbala, Teile der Bücher<br />

Moses, d. h. Hebräisch, mit Texten in anderer Sprache, welcher Inhalte auch <strong>im</strong>mer.<br />

Eine Art Urknalltext, um etwas zu zwingen, zu bannen, herbei zu schaffen, zu<br />

erzeugen.<br />

Das Voynich-Manuskript steht <strong>im</strong> Internet, es verdeutlicht auf anschauliche Weise, mit<br />

welcher Energie und Überzeugung man den Weg zu „höherem Wissen“ suchte.<br />

Möglicherweise ist die Entstehung <strong>des</strong> Manuskripts ein oder zwei Jahrzehnte vor der<br />

Drucklegung Platons anzusiedeln, und passend zu Marsiglio Ficino auch in Ober-Italien<br />

geschrieben. Dann wäre es ein beredtes Beispiel dafür, wie stark die Kräfte waren, die<br />

zum Neuen drängten. Kräfte, die sich schließlich in der Welt der Philosophie und der<br />

„alten Reinheit“ der Sprachen freisetzten; die naturwissenschaftlichen Bereiche hatten<br />

zu warten, es mangelte an Grundwissen.<br />

Diese Lust, zum Urgrund <strong>des</strong> Wissens zu gelangen, mündet teilweise in Bildungsskepsis,<br />

schlug gar in Bildungsfeindlichkeit um.<br />

Paracelsus empfiehlt seinen Studenten „zu alten Weibern, Zigeunern, Schwarzkünstlern,<br />

Landfahrern, alten Bauersleuten in die Schul zu gehen und lernen … die<br />

haben mehr Wissen … denn alle Hohen Schulen.“ Womit er sich freilich in Widerspruch<br />

zu den Humanisten begibt; ein Philipp Melanchthon hält reinweg gar nichts davon, die<br />

Behandlung von Krankheiten mit Intuition und Erfahrung anzugehen, noch weniger hält<br />

er von alten Weibern, Zigeunern, Schwarzkünstlern und Landfahrern, er will den ausgebildeten<br />

Arzt. Paracelsus befindet sich keineswegs <strong>im</strong> Widerspruch zu seinem Ziel<br />

reine Wirkstoffe herzustellen, wenn er gleichzeitig die reine Magie forciert, wenn er rät,<br />

dass der Kranke ein Bild seines schmerzenden Körperteils in Wachs fertige, sich dabei<br />

völlig auf den Schmerz und das entstehende Bild zu konzentrieren habe, um es dann<br />

andachtsvoll zu verbrennen. Neben der Wirkung der Essenz zur Behandlung objektiver<br />

Erkrankungen geht es auch um die Aktivierung selbstheilender Kräfte, um die<br />

offenkundig psychosomatischen Krankheiten, die – wie es scheint, recht häufig<br />

auftraten, zu behandeln; hinter welchen er allerdings, nicht anders als Melanchthon,<br />

verschiedene Zauber vermutete.<br />

Auch Ulrich von Hutten (1488-1523) sucht seinen Baugrund, um nicht zu sagen, die<br />

Baugrundstücke und Landschaften, die einst dem Adel gehörten und längst Eigentum<br />

aller Welt und zuvorderst der Kirche sind. Er träumt von der Wiederherstellung<br />

glanzvollen Rittertums. Einer seiner polemischen Schriften voran gestellt heißt es:<br />

„Latein ich vor geschriben hab, das was e<strong>im</strong> jeden nit bekandt. Jetzt schreyb ich an das<br />

vatterlandt, Tewtsch nation in irer sprach.“ Sodann legt er dar, die Geschichte <strong>des</strong><br />

170


Reiches sei seit Arminius ein fortwährender Kampf gegen Rom gewesen. Rom habe<br />

Schuld, dass die Deutschen sich nicht selbst leben konnten.<br />

Selbstredend hat der leuchtende Schild höchster Ideale auch eine Kehrseite.<br />

„Der Pfefferkorn mag seinen Leib in Taufwasser tauchen, er bleibt ein Jude!“ resümiert<br />

Erasmus von Rotterdam <strong>im</strong> „Reuchlinstreit“, um selbstkritisch die Feststellung zu<br />

treffen: “Wenn es christlich ist, die Juden zu hassen, so sind wir allesamt nur allzu gute<br />

Christen!“ Erstaunliche Reden, welche die seinerzeitige Leuchte aller Gebildeten da<br />

führt; nicht zuletzt sind sie aufschlussreich. Es ist ihm nur um die Inhalte der jüdischen<br />

Schriften, um seine Bildung zu tun, die Menschen, welche diese Bildung hervorbrachten,<br />

sind ihm gleichgültig; Bildung zwecks Selbstbespiegelung, ohne Herzensbildung.<br />

Als sein Freund Ulrich von Hutten nach dem Abenteuer der Sickingischen<br />

Fehde bei ihm Zuflucht sucht, weist er dem mittellosen und von der Syphilis<br />

gezeichneten die Tür; sein Ansehen darf durch nichts getrübt werden.<br />

„In Erasmus von Rotterdam verkörperte sich die ganze Schwachmütigkeit, die ganze<br />

Eitelkeit, der feine Epikuräismus und die feige Charakterlosigkeit, die bis auf den<br />

heutigen Tag dem selbstgenügsamen Gelehrten- und Literatentum anhaftet.“ notierte<br />

dazu 1860 der Gelehrte Rudolf Haym.<br />

Erasmus von Rotterdam schrieb an die 150 Bücher, korrespondierte mit den<br />

Majestäten der Erde, und hinterließ neben 2000 Briefen auch die Erkenntnis:<br />

„Menschen werden nicht als Menschen geboren, sondern als solche erzogen!“<br />

Die Liebe zur Bildung, zu Sprachen und Schriften, aber auch der Widerspruch<br />

zwischen geistigem Anspruch und tatsächlichem Engagement eines Erasmus von<br />

Rotterdam gilt für das Gros der Humanisten. In diesen Jahrzehnten, in welchen die<br />

Abriegelung der Oberschicht nach unten, die Einebnung der übrigen Bevölkerungsschichten<br />

zu Untertanen voranschreitet, ist Bildung die letzte Möglichkeit, in die Oberschicht<br />

aufzusteigen. Wer es geschafft hat, zieht die Leiter hinter sich hoch.<br />

Laufend werden Juden vertrieben; 1480 aus Glogau, 1489 aus Würzburg, 1492 aus<br />

Mecklenburg, 1493 aus Magdeburg, 1496 aus Kärnten und Krain, 1498 aus Nürnberg,<br />

1499 aus Ulm … 1510 werden in Berlin 38 Juden verbrannt, unter der Folter haben sie<br />

Ritualmorde gestanden. Es erhebt sich keine St<strong>im</strong>me dagegen.<br />

Überall witzelt man über wild gewordene „Heckenrichter“, die selbst noch einen<br />

Hühnerdieb dem peinlichen Verhör unterwerfen, zu hören, ob er nicht auch ein Ei<br />

gestohlen habe. Es bittet niemand um Mäßigung.<br />

Immer wieder kommt es zu einzelnen Hexenverbrennungen, niemand meldet Zweifel<br />

an.<br />

Barfuss, in Lumpen schieben sich Armut und Krätze durch die Gassen, eilig rafft man<br />

die teuren Mäntel.<br />

Die Misswirtschaft <strong>des</strong> geradezu pathologisch zu nennenden Herzog Ulrich führt 1514<br />

zur Erhebung <strong>des</strong> „Armen Konrad“. Es kommt zu keinen Kampfhandlungen, die<br />

Zusammenrottung der Bauern endet mit der Eingabe eines breiten Beschwerdekatalogs.<br />

Die Beschwerdeführer lässt Herzog Ulrich von Württemberg hinrichten. Es<br />

kommt kein Wort <strong>des</strong> Protests.<br />

Landgraf Philipp von Hessen lebt in Bigamie. Luther, der einst in Worms 1521 so<br />

überzeugte große Worte sprach: „Ist es aus den Menschen, so wird es untergehen, ist<br />

es von Gott, so werdet es ihr es nicht dämpfen!“, gemeinsam mit Melanchthon deckt er<br />

den Landgrafen. Am 10. Dez. 1539 schreiben sie dem Landgrafen: „Obwohl Gott die<br />

Vielweiberei zugelassen hat, ist sie doch gegen die Schöpfung und Christi Gebot. …<br />

Der Landgraf soll sich begnügen … Wenn dies nicht möglich ist, so kann er um <strong>des</strong><br />

Gewissens willen eine gehe<strong>im</strong>e Ehe schließen, die das Volk nicht von einem – nicht<br />

anstößigen – Konkubinat unterscheiden kann.“ Unterschrieben von: Bucer, Corvinus,<br />

Krafft, Lening, Winter, Melander und Raid. Der Landgraf ist politisch wichtig,<br />

gemeinsam mit dem sächsischen Kurfürst führt er den Schmalkaldischen Bund.<br />

Als die Juden keine Protestanten werden wollen, verfasst Luther 1543 das Werk „Von<br />

den Jüden und ihren Lügen“. Der Schweizer Reformator Bullinger stellt zum Inhalt fest:<br />

„…von einem Schweinehirten, nicht von einem berühmten Seelenhirten geschrieben.“<br />

Und es ist Melanchthon, der einst von Reuchlin betreut wurde und somit den bitter-<br />

171


ösen „Reuchlinstreit“ hautnah miterlebte, als Luthers Paladin hat er keine Skrupel das<br />

unreine Buch dem Landgraf von Hessen zu reichen, „wegen wahrlich viel nützlicher<br />

Lehre“.<br />

Andererseits, wer wollte den Gelehrten jener Zeit ihren Mangel an Engagement<br />

verübeln. Nicht anders als heute, beißt keiner die Hand, die ihn füttert. Alle diese<br />

Gelehrten waren auf das Wohlwollen ihrer geistlichen oder weltlichen Fürsten<br />

angewiesen, von diesen hatten sie ihre Ämter erhalten. Den Universitäten waren Stifte<br />

angegliedert; die Bezahlung der Professoren erfolgte über die mit der Stiftung<br />

verbundene Pfründe. Das konnten Mietshäuser, landwirtschaftliche Erträge oder auch<br />

Anteile von Abgaben der Bevölkerung sein. Eine Pfründe wird auch heute noch als<br />

Max<strong>im</strong>um an Einkünften bei einem Min<strong>im</strong>um an Aufwand definiert. Bei aller Plausibilität<br />

die Bezahlung der Amtsinhaber auf diese Weise sicherzustellen, es blieb dem Inhaber<br />

der Pfründe überlassen, auf welche Weise er die Pflege der Pfründe sicherstellte.<br />

Meistens entschied man sich für schlecht ausgebildetes Personal. Das Erlangen, die<br />

Weitergabe einer Pfründe, blieb in der damaligen Feudalgesellschaft nur wenigen<br />

vorbehalten; es zählten Verwandtschaft und Beziehungen. Daneben wurden Pfründe<br />

als Anerkennung vergeben, um Beziehungen zu knüpfen oder um Wohlverhalten zu<br />

erzeugen.<br />

Wegen eines Standpunkts eine Pfründe zu riskieren, es wäre unklug gewesen.<br />

Der Vollständigkeit halber sei auch die Sinekure genannt, sie steht heute für den Begriff<br />

<strong>des</strong> leichten Verdienstes. „Sine cura an<strong>im</strong>arum“ bedeutet: Einkommen ohne Pflicht zur<br />

Seelsorge. Eine Sinekure war gleichsam eine Kapitalanlage, so mancher Bischof<br />

schenkte seinem Neffen – meist handelte es sich dabei um den eigenen Sohn – eine<br />

Sinekure. „Gottesjunker“ nannte das Volk dann den Dreijährigen, der zwar noch nicht<br />

den Griffel zu führen wusste, aber über eine Sinekure bereits lebenslänglich versorgt<br />

war.<br />

Paracelsus und Agrippa von Netteshe<strong>im</strong> sind beredte Beispiele für Menschen mit<br />

Standpunkten, sie waren ihr halbes Leben auf der Flucht; ein derartiges Leben ist nicht<br />

jedermanns Sache.<br />

Mit ihrer Kritik an den Zuständen der Kirche trugen auch die Humanisten zur Schaffung<br />

jenes Kl<strong>im</strong>a bei, in dem Luthers Gedanken Früchte trugen. Was jedoch nicht bedeutet,<br />

dass die Humanisten geschlossen Luther folgten. Erasmus von Rotterdam, Mutianus<br />

Rufus, Crotus Rubeanus und andere blieben der alten Kirche treu; zwar spottend und<br />

witzelnd, aber sie blieben ihr treu. Und gewiss nicht zuletzt: Reuchlin! Er bricht den<br />

Briefverkehr zu seinem Ziehsohn Melanchthon ab, seine Bibliothek - von Melanchthon<br />

heiß begehrt, vermacht er dem St. Michaelsstift in Pforzhe<strong>im</strong>, und wenige Monate<br />

bevor er an Gelbfieber erkrankt und stirbt, lässt er sich zum Priester weihen.<br />

Zu Luthers Erbitterung, nicht wenige der Humanisten, die ihn anfangs förderten,<br />

blieben nicht nur abseits, einige attackierten ihn später. Crotus Rubeanus, Luthers<br />

Studienfreund, hatte den streitbaren und lautstarken Dichter Ulrich von Hutten für<br />

Luther gewonnen, er selbst, inzwischen Universitätsrektor, hatte 1521 Luther einen<br />

feierlichen Empfang in Erfurt bereitet, doch <strong>im</strong> Jahr 1531 distanzierte er sich von<br />

Luther. Worauf Luther polterte: „Dieser Crotus! Eine Kröte und <strong>des</strong> Kardinals zu Mainz<br />

Tellerlecker!“<br />

Es sei daran erinnert, ganz gleich was Luther polterte und der Papst zürnte, die<br />

Humanisten beider Lager pflegten weiterhin regen Briefwechsel, sie mühten sich <strong>im</strong><br />

Religionsstreit zu vermitteln.<br />

Zu den Eigenschaften jener Gebildeten gehörten auch Arroganz und Dünkel<br />

gegenüber dem „gemeinen“ Volk. Doch selbst dieser Aussage stehen Brüche<br />

gegenüber. Die Gebildeten selbst sind Söhne von Bauern, Bürgern und Handwerkern.<br />

Und Reuchlin, Sohn eines weltlichen Verwalters eines Dominikanerstifts in Pforzhe<strong>im</strong>,<br />

verfasste Theaterstücke von subversiv moralischer Lektion; der Knecht haut seine<br />

Herrschaft über das Ohr, und dergleichen Inhalte mehr. Andere rühmten sich, dass sie<br />

die französische Sprache lernten, in Kneipen, unter dem gemeinen Volk. Nicht zuletzt<br />

Luther, er zählt zwar nicht zu den Humanisten, aber er war gebildet, und um seine<br />

Reformation in Bewegung zu halten und umzusetzen, bediente er sich – nachdem die<br />

172


wohlhabenden Bürger abwartend abseits standen – <strong>des</strong> gemeinen Volkes. Mit dem<br />

alten Appell der Reformatio Sigismundis, „Wenn die Großen schlafen, müssen die<br />

Kleinen wachen“, ermunterte er das Volk, in den Kirchen die neue Ordnung <strong>des</strong><br />

Gottesdienstes durchzusetzen.<br />

„O Jahrhundert, o Wissenschaften! es ist eine Lust zu leben!“ begeisterte sich Ulrich<br />

von Hutten <strong>im</strong> Jahr 1518, „Die Studien blühen, die Geister regen sich. Barbarei, n<strong>im</strong>m<br />

deinen Strick und mach dich auf Verbannung gefasst!“ Die Brüche und Widersprüche<br />

der Zeit, sahen weder er noch die übrigen Zeitgenossen, alle Gesellschaftsschichten<br />

lebten in der trügerischen Erwartung eines großen Aufbruchs.<br />

Es ist die Tragik der frühen Humanisten, dass sie in ihrer Begeisterung für das Wissen<br />

und um ihre Vorstellungen umzusetzen, freilich auch <strong>im</strong> Streben nach Ämtern und<br />

Pfründen, in die Professorenstellen der Universitäten drängten – in die Denkfabriken<br />

der Lan<strong>des</strong>herrn. Getragen vom Wunsch die Welt über das Wissen zu ordnen, halfen<br />

sie den Lan<strong>des</strong>herrn den neuen Untertanenstaat zu bauen. Ideenreich und bienenfleißig<br />

trennten sie das Oben vom Unten. Um bei Luther und Melanchthon zu bleiben,<br />

an der Universität von Wittenberg, an der Universität von Leipzig bereits lange vorher,<br />

wurden jene Gesetze und Verordnungen ausformuliert, um dem stetig wachsenden<br />

Anspruch fürstlicher Macht in Kursachsen Geltung zu verschaffen. Die Einführung und<br />

Umsetzung <strong>des</strong> römischen Rechts, die Zerschlagung der überkommenen bäuerlichen<br />

Selbstverwaltung, die Entmachtung der Städte, die Errichtung eines auf die<br />

Bedürfnisse <strong>des</strong> Fürsten zugeschnittenen Gerichtswesens, die Verschärfung der<br />

Gesetze gegen die Vertreter der Volksmedizin …<br />

Später wurden an den Universitäten auch die Protokolle der Hexenverhöre geprüft und<br />

die Urteile bestätigt; die Rechnungsbücher für die so vereinnahmten Gebühren sind<br />

allesamt verschollen.<br />

Jene Zeit, die Engels später als das revolutionärste Jahrhundert der Deutschen<br />

bezeichnen wird, war sie tatsächlich dem Heros der Revolution zugeneigt?<br />

Sie war es, ganz und gar, und zwar <strong>im</strong> ureigensten Sinn der Wortbedeutung: revolvere,<br />

lat.: zurückdrehen.<br />

Es will scheinen, als ob alle Geister der Vergangenheit auferstanden waren, um sich<br />

ein letztes Mal gegen das Neue aufzubäumen, dem Rad der Geschichte in die<br />

Speichen zu greifen, es in seinem Lauf abzubremsen, um es dann zurückzudrehen.<br />

Das Neue, das war die fortschreitend sich ausbildende Staatsform, die sich auf<br />

Verordnungen, Gesetzestexte und auf den Beamtenstand stützte: Juristen, Richter,<br />

Polizei, Steuerbeamte – in dieser Zeit freilich fest in den Händen der Lan<strong>des</strong>herrn der<br />

jeweiligen Fürstentümer.<br />

Diese Verwaltungsapparate sind Grundlage der heutigen Bun<strong>des</strong>länder – die Neuzeit<br />

hatte begonnen.<br />

Als die Geister aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen, liegen die Fundamente <strong>des</strong><br />

Neuen bereits sicher und tragen. Und so sind nicht allein hochgespannte Erwartungen<br />

und Widersprüche die Merkmale jener Jahrzehnte sondern auch, dass die Exponenten<br />

der jeweiligen Stoßrichtung es noch zu Lebzeiten erleben müssen, wie ihre Ziele,<br />

Ideale und Vorstellungen scheitern und zerschellen; und zwar alle, ohne Ausnahme.<br />

Das Verhältnis zwischen Fürsten und Kaiser ist soweit festgeschrieben, Kaiser Karl V.,<br />

der junge Mann aus Spanien, beladen mit der Vorstellung alter kaiserlicher<br />

Zentralmacht, sieht sich von deutschen Fürsten umgeben, die unberührt von allen<br />

Ereignissen, eifersüchtig auf ihre vertraglich gesicherte „Libertäd“ gegenüber dem<br />

Kaiser achten. Kaiser Karl V. kann keinen seiner Träume realisieren, er beendete sein<br />

Debut als Geschlagener. Es türmte sich ein noch nie dagewesener Berg von Schulden,<br />

der Reichsgedanke ist endgültig zu Grabe getragen – das Paktieren der Fürsten mit<br />

fremden Mächten üblich geworden – die Entmachtung der Kaiser also fortgeschrieben.<br />

Dazu war Deutschland in katholisch und protestantisch geteilt, und gewiss nicht zuletzt<br />

lag fortan die „Carolina“, die Terrorakte, auf den Richtertischen. Es hätte bereits eher<br />

einen Kanzler denn einen Kaiser gebraucht.<br />

173


Als Franz von Sickingen das Banner alter Adelsherrlichkeit gegen Trier entrollt und auf<br />

knarrzendem Sattel anreitet, ist er nur noch der besagte alte Rebstock, der sich nun<br />

selbst ins Feuer <strong>des</strong> Schwäbischen Bun<strong>des</strong> wirft.<br />

Die Bauern sind anfangs siegreich. Doch welcher Rechtsgrundlage waren die Landstriche,<br />

die nun vorübergehend frei von Kirchen- und Adelsherrschaft waren?<br />

Denn die Schweiz, das gedachte Vorbild der Aufständischen, konnte sich unter<br />

Machtverhältnissen etablieren, die deutlich andere gewesen waren; auch hatten die<br />

Topografie und die einstige Armut <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> den Weg zum eigenen Staat begünstigt.<br />

Das min<strong>des</strong>te, was die Aufständischen gebraucht hätten, wäre ein Leg<strong>im</strong>ationsträger<br />

gewesen, ein Fürst, der ihre Sache auch zu seiner Sache erklärte.<br />

Doch nicht allein das Alte, auch das Neue zerschellt an der neuen Staatlichkeit.<br />

Luther, gewiss kein Bauer – auch wenn er damit kokketierte, sondern Kind eines<br />

Unternehmers und obendrein gebildet, er wusste freilich, dass es nicht genügt sich auf<br />

die Bibel zu berufen, dass man auch Mächtige für eine Idee gewinnen muss. Doch<br />

nicht allein, dass der freie Zugang zur Lehre zu heilloser Zerstrittenheit unter den<br />

Protestierenden führte, noch unter seinen Augen schmieden die protestantischen<br />

Fürsten, Herrn ihrer Lan<strong>des</strong>kirchen, die „Lehre <strong>des</strong> reinen Evangeliums“ in<br />

kleinpäpstlicher Vollkommmenheit zu ihrem persönlichen Machtinstrument.<br />

„Wissen ist die Grundlage, um richtig zu handeln“ lautet die Max<strong>im</strong>e der frühen<br />

Humanisten. Und mit umfassendem Wissen führt Melanchthon das Wissen ad<br />

absurdum, gemäß seinem Schreiben an Camerarius vom 25.2.1539 hat er auf Geheiß<br />

soeben drei verschiedene Gutachten über das sogenannte „Widerstandsrecht“<br />

angefertigt.<br />

Weiß er nicht, dass die protestantischen Fürsten die Lehre <strong>des</strong> reinen Evangeliums als<br />

Mäntelchen ihrer Besitzgier nutzen? Er weiß es, er schreibt es in seinen Briefen.<br />

Er weiß auch, wer diese Herren letztlich sind, denen er mit seinem Scharfsinn und<br />

seinem Wissen die Sporen vergoldet.<br />

Sein Herr, der Kurfürst von Sachsen ergibt sich dem Fressen und Saufen, der Landgraf<br />

von Hessen lebt in zwei Ehen, der Herzog von Württemberg ist gefürchtet wegen<br />

seiner Unbeherrschheit. Melanchthon ist sich bewusst, dass er drei Götzen – der<br />

Völlerei, der Bigamie und dem Jähzorn – geradewegs einer allegorischen Darstellung<br />

Fegefeuer verheißender Sünden entstiegen, ein Widerstandsrecht konstruierte, „damit<br />

der Kaiser sie nicht zu sündiger Religionsausübung zwinge.“<br />

Und was tut Melanchthon, der einst die Welt über das Wissen neu ordnen wollte,<br />

angesichts all der Missstände und schreienden Widersprüche und gegen die daraus<br />

resultierende „Trauer und Niedergeschlagenheit“? Er empfiehlt seinem Freund<br />

Camerarius „zu kompensieren – durch Hingabe an die Studien. Er selbst gebe sich<br />

auch den Studien hin.“<br />

Ob Kaiserlichkeit, Adelsglanz, Bauernparadies, „Reine Lehre“ oder allumfassen<strong>des</strong><br />

Wissen, es wurde in nüchternen Verwaltungsakten liquidiert oder durch bestehende<br />

Verträge gezäumt, so es sich doch entfalten durfte, dann allein nach fürstlichem Willen.<br />

*<br />

Der Reuchlin-Streit<br />

Ein erhellen<strong>des</strong> Licht auf jene Zeit wirft die Verteidigung jüdischer Schriften, die sich<br />

als „Reuchlin-Streit“ in die Geschichtsbücher schrieb.<br />

„Judenspiegel“, „Die Judenbeichte“ und „Der Judenfeind“ heißen Flugschriften die ab<br />

1507 in Deutschland zu kaufen sind. Nicht nur der Talmud, auch viele andere jüdische<br />

Bücher, so ist darin zu lesen, seien gotteslästerlich und christenfeindlich.<br />

Pfefferkorn heißt der Verfasser. 1509 besucht er in München die Schwester Kaiser<br />

Max<strong>im</strong>ilians I. <strong>im</strong> Kloster der Franziskanerinnen, er berichtet ihr, was alles in den<br />

jüdischen Büchern steht. Willig setzt sie ein Schreiben an ihren Bruder auf, sie bittet<br />

ihn um die Vernichtung aller jüdischen Bücher, die Bibel ausgenommen.<br />

Dem Wunsch entspricht der Kaiser gerne. Schon sind in Frankfurt die ersten Bücher<br />

eingesammelt, da widerspricht der Mainzer Erzbischof dem formlosen Verfahren, auch<br />

174


stehe es dem Kaiser nicht zu, in kirchliche Hoheitsrechte einzugreifen. Der Kaiser gibt<br />

nach, er fordert das Urteil von Sachverständigen. Die Sachverständigen geben dem<br />

Anliegen Pfefferkorns in abgemildeter Form Recht. Der einzige, der fundiert und<br />

überzeugend widerspricht, ist Johannes Reuchlin, jener, der den Streit in seiner<br />

Begeisterung für das Hebräische unwissentlich losgetreten hatte. Reuchlin ist auch der<br />

einzige unter den Sachverständigen, der <strong>des</strong> Hebräischen umfassend mächtig ist.<br />

Im Jahre 1506 hatte Reuchlin seine „Rud<strong>im</strong>enta hebraica“, (Anfangsgründe <strong>des</strong><br />

Hebräischen) publiziert. Wer die Grundlagen <strong>des</strong> christlichen Glaubens verstehen<br />

wolle, sagte er, der müsse Hebräisch verstehen. Damit sah allerdings die Kirche ihre<br />

alleinige Deutungshoheit über das Alte Testament in Gefahr gebracht.<br />

Da traf es sich gut, dass eine jüdische Gemeinde in Mähren ihr Mitglied Pfefferkorn<br />

aus der Gemeinde ausschloss; Pfefferkorn hatte einen Einbruch verübt. Pfefferkorn<br />

ließ sich taufen, gelangte nach Köln, der Hochburg der Dominikaner und Sitz der<br />

Inquisition, und erhielt eine Stellung als Spitalverwalter.<br />

Reuchlins Gutachten, 1510 vorgelegt, stellte unter anderem fest, die Bücher der<br />

Bibelauslegungen seien von hohem Wert, kein Buch dürfe verbrannt werden.<br />

Bis heute richtet sich erstaunlicher weise bei Betrachtung der Reuchlin-Affäre der Blick<br />

allein auf das Urteil über den Inhalt der jüdischen Bücher. Dabei lag die Brisanz <strong>des</strong><br />

Gutachtens völlig anders. Reuchlin hatte unter Berufung auf alte römische Gesetzestexte,<br />

die dem „Codex Iustiniani“ beigeordnet blieben, auch die Gleichbehandlung der<br />

Juden gefordert. Und das in einer Zeit, als die Juden nach jahrhundertelangen<br />

Drangsalierungen nun überall endgültig vertrieben wurden.<br />

Kaiser Justinian hatte die Reihe der gegen Juden gerichteten Gesetze zwar fortgeschrieben,<br />

doch der „Codex Justiniani“ von 534 umfasste auch alte römische<br />

Kaisergesetze. Keineswegs so zu verstehen, dass die Kaiser der nichtchristlichen Zeit<br />

<strong>des</strong> Reiches toleranter gewesen wären, doch zum einen waren die geistig-ideologischen<br />

Handlungsgrundlagen andere gewesen, zum anderen lieferte Rom durchaus<br />

erste Folien der Intoleranz und der Verfolgung. Man denke an die Christenverfolgung,<br />

die Zerstörung <strong>des</strong> Tempels sowie die nachfolgend auf ewig auferlegte Strafe für den<br />

jüdischen Krieg (67 – 70), den „Fiscus judaicus“ – die erste amtlich eingeführte<br />

Judensteuer.<br />

Mit dem Verweis auf den Codex hatte Reuchlin an zwei Gesetzen gerührt. Einmal am<br />

Anspruch der Kirche, dass die Synagoge sich ihr unterzuordnen habe, sodann an der<br />

„Kammerknechtschaft“, diese machte die Juden zu rechtlosen Herrschaftsobjekten, zu<br />

kaiserlichem Eigentum, das von Fürsten und Städten wiederum gemietet werden<br />

konnte. Hätte sich Reuchlin durchgesetzt, es hätte sich den Juden die Möglichkeit<br />

eröffnet, vor dem Reichskammergericht gegen ihre Vertreibung zu klagen. Diese<br />

Brisanz <strong>im</strong> Gutachten Reuchlins wird bis heute nicht beachtet, und sie wurde auch<br />

damals von den Gebildeten nicht aufgenommen. Übersehen haben sie diese<br />

Einlassungen gewiss nicht, doch es ging ihnen allein um die Bücher, was andererseits<br />

nicht unklug war. Hätten sie sich Reuchlins Fehdehandschuh als ganzes übergezogen,<br />

sie hätten an einer Fülle von kirchlichen und kaiserlichen Gesetzen aus der<br />

Zeit nach dem 4.Laterankonzil von 1215 gerührt, sie hätten an entscheidenden<br />

Eckpunkten der bestehenden Ordnung gerüttelt. Es wäre in letzter Konsequenz<br />

gleichbedeutend damit gewesen, die Welt in die Zeit der sogenannten Ketzerkriege,<br />

der Bürgeraufstände und der Separatisten zurück zu führen, in jene Zustände um<br />

1200, die mit den Gesetzen, Dekreten und Bullen um 1230 beantwortet worden waren,<br />

Zustände, die denen der Jahrzehnte um 1510 nicht unähnlich waren. Ein Engagement<br />

der Humanisten in dieser Richtung hätte einen Schulterschluss mit den Forderungen<br />

der bäuerlichen Schichten bedeutet. Überspitzt formuliert, der Schwäbische Bund<br />

hätte nicht nur den Bauernaufstand niedergeworfen, sondern mit voller Zust<strong>im</strong>mung<br />

aller geistlichen und weltlichen Fürsten auch die Universitäten geschleift.<br />

Die frühen Humanisten hätten sich nicht nur übernommen – auch waren sie keine<br />

Revolutionäre.<br />

175


Nun war der Kaiser mit Reuchlins Gutachten in einer Verlegenheit. Pfefferkorn hilft<br />

ihm, er schiebt den Streit in die Öffentlichkeit, er publiziert gegen „Reuchlin, den<br />

jüdischen Fürsprech“ den „Handspiegel gegen die Juden und ihre Schriften“.<br />

Hemmungslos besch<strong>im</strong>pft er Reuchlin: „Judengönner, Ohrenbläser, Beutelfeger,<br />

Hinterschützer, Seitenstecher“. Er behauptet, Reuchlin habe sich kaufen lassen, er<br />

habe „mit goldener Feder“ geschrieben, zudem könne Reuchlin gar nicht Hebräisch:<br />

„gleich als ob du werst ein großer gelehrter Doktor und lerer der Hebryschen tzungen“.<br />

Reuchlin schlägt mit dem „Augenspiegel“ zurück: „Du Lügner! Der Christ soll den<br />

Juden lieben…“<br />

Das ist neu! Ein Ankläger der Juden wird Lügner geheißen! Deutschland ist begeistert,<br />

außerdem ist in Frankfurt gerade Buchmesse …<br />

Die Universität von Paris fordert die Einziehung <strong>des</strong> „Augenspiegels“. Und nun packt<br />

Hoogstraeten als „Haereticae pravitatis inquisitor“ zu, Reuchlin muss sich als Ketzer<br />

verantworten.<br />

Das hätte Hoogstraeten besser bleiben lassen. Doch als Inquisitor unmittelbar dem<br />

Papst unterstellt, handelte er gemäß höchster Anweisung, an der sich nun erneut das<br />

Dilemma der Kirche zeigt. Trotz Reorganisationen und Visitationen hat sie noch <strong>im</strong>mer<br />

kein Gespür für das, was sich da entwickelt, was sich seit Jahrzehnten zusammenbraut;<br />

zumin<strong>des</strong>t weiß sie damit nicht umzugehen, sie zeigt sich nicht elastisch, nur<br />

starr. Sie begreift sich noch <strong>im</strong>mer als unverrückbaren Stein. Diese heute merkwürdig<br />

anmutende Haltung ist nicht allein der Ausfluss eines Klüngels von Selbstbedienern,<br />

es ist auch das Gewicht eines Jahrtausendpakets von Urkunden und Titeln. Freilich<br />

diskutiert man dabei die eigene Reformbedürftigkeit und das seit mehr als einhundert<br />

Jahren, doch Summa summarum ist alles sehr kompliziert, unangenehm dazu, folglich<br />

schiebt man es weg und weiter auf der langen Bank und der nächsten Generation hin.<br />

Gehandelt wird nur noch in Notfällen – mit dem Handwerkszeug von vorgestern, als<br />

man selbst noch unangreifbar war. Mit Hexenbullen, die niemand in der explosiven<br />

St<strong>im</strong>mung umzusetzen wagt, mit einer Bannbulle, die keine Umsetzung gegen Luther<br />

finden wird, und Reuchlins Begeisterung für das Hebräische und die jüdischen Bücher,<br />

soll mit „Ketzer“, sprich „Glaubensabweichler“, aus der Welt geschafft werden.<br />

Haben die führenden Männer der Kirche die Dynamik der Bildungsbewegung bis dato<br />

nicht zur Kenntnis genommen, und auch nicht das Selbstbewusstsein ihrer Träger?<br />

Das Recht, Bildungsgut unter dem Aspekt der „Ketzerei“ zu beurteilen, gesteht <strong>im</strong><br />

Deutschland dieser Jahrzehnte so gut wie niemand mehr der Kirche zu. Begeistert<br />

stürzen sich die Humanisten auf Hoogstraeten und seine dominikanischen Mitstreiter,<br />

Ortwin Gratius und Arnold von Tongern. Ulrich von Hutten wirft sie auf die dichterische<br />

Streckbank, und Crotus Rubeanus in Gotha fabriziert und publiziert die „Dunkelmännerbriefe“.<br />

Eine Sammlung von 41 Briefen dümmlichen Inhalts in schlechtem<br />

Latein, derart formuliert, als entstammten sie dem Briefverkehr der Dominikaner untereinander.<br />

Ein Gelächter durchtobt Deutschland. Mag es viele Ursachen für den Ärger dieser<br />

Epoche geben, doch über die Vertreter der Kirche zu spotten und herzuziehen, ist<br />

geradezu ein Muss. Da kommen die dominikanischen Inquisitoren genau richtig. Sie<br />

stehen beispielhaft für das, als was die Kirche von Seiten der Bildungselite betrachtet<br />

wird: „Diese alten ungebildeten Männer, diese Küchenlateiner! In Anmaßung und alter<br />

Bildung über die Inhalte hebräischer Schriften zu entscheiden. Von wegen! Dass altes<br />

Schriftgut auf den Scheiterhaufen kommt, wo man gerade dabei ist, altes Schriftgut zu<br />

bergen und wieder zu beleben!“<br />

Endlich 1516, der Papst ermuntert den Venezianischen Buchdrucker Blomberg den<br />

Talmud zu drucken; eine löbliche Entscheidung, allerdings auch eine Drehung um<br />

volle 180 Grad. Nur zu treffend hatte Sebastian Brant in seinem Werk „Das<br />

Narrenschiff“ den Re<strong>im</strong> gequält: „St. Peters Schifflein ist <strong>im</strong> Schwank, ich fürcht gar<br />

sehr den Untergang.“<br />

Das Ansehen der dominikanischen Inquisitoren wurde durch den Streit mit Reuchlin<br />

derart beschädigt, nicht zu vergessen, dass Rom durch den Thesenanschlag Luthers<br />

<strong>im</strong> Jahr 1517 und die damit verbundene Erregung und Aufbruchst<strong>im</strong>mung zunehmend<br />

176


in Bedrängnis kam, Franz von Sickingen – vermutlich von Ulrich von Hutten dazu<br />

angestiftet, konnte sich billigst erdreisten, sich mit dem Nachlauf <strong>des</strong> Reuchlin-Streits<br />

zu profilieren. Er erklärte den Inquisitoren <strong>im</strong> Juli 1519 die Fehde. Im Fehdebrief heißt<br />

es: „An Provinzial, Prioren und Konvente <strong>des</strong> Predigerordens deutscher Nation,<br />

sonderlich an den Bruder Jacobus Hoogstraeten, … den hochgelehrten Doktor<br />

(Reuchlin) in Ruhe zu lassen, die Prozesskosten zu bezahlen“, andernfalls werde er<br />

mit seinen Freunden gegen die ganze Ordensprovinz (Köln) und deren Anhang<br />

vorgehen.<br />

Worauf die mächtigen Dominikaner tatsächlich mit Franz von Sickingen in<br />

Verhandlung traten. Der freche wie erfolgreiche Fehdebrief könnte auch die geistige<br />

Ke<strong>im</strong>zelle der so genannten Sickingischen Fehde gegen den Trierer Erzbischof und<br />

Kurfürst gewesen sein.<br />

Die „Dunkelmännerbriefe“ und das Echo, das sie auslösten, waren ein Lehrstück,<br />

Luther muss es wohl genau studiert haben.<br />

Jenes Gemälde, das Luther be<strong>im</strong> Thesenanschlag zu Wittenberg <strong>im</strong> Oktoberschnee,<br />

den Hammer in der Hand, in Mönchskutte und Sandalen zeigt, erzählt ein Märlein.<br />

Die Präsentation seiner Thesen – unzweifelhaft eine ernsthafte Diskussionsmasse,<br />

aber auch gleichsam augenzwinkernd an Freunde verschickt – waren Briefbomben,<br />

die unter den Händen von Setzern und Druckern ein Feuerwerk zündeten. Verquickt<br />

mit den finanziellen Interessen seines Fürsten, dem das neuerliche päpstliche<br />

Ablassgeschäft nun gar nicht gefiel, war der Thesenanschlag ein meisterlich<br />

ausgeführter Anschlag auf das Papsttum.<br />

Der Reuchlin-Streit muss die Kirche verunsichert haben, wovon Luther wiederum<br />

profitierte. Selbstredend nicht allein davon, seine Thesen haben das Empfinden <strong>des</strong><br />

Volkes getroffen, sein Kurfürst steht unerschütterlich hinter ihm, nicht zu vergessen die<br />

aufgeheizte St<strong>im</strong>mung <strong>im</strong> Vorfeld <strong>des</strong> Bauernkrieges. Die päpstliche Antwort auf<br />

Luthers Thesen, die Bannbulle „Exsurge Domine“, kommt als Fälschung daher, zum<br />

einen ist sie nicht unterschrieben und wo eine Bannbulle in der Regel eine Hanfschnur<br />

als Siegelschnur trägt, „Exsurge Domine“ trägt eine bunte Kordel. Rom war also auch<br />

bereit den Streit mit Luther schlicht zu vergessen. Als Kaiser Max<strong>im</strong>ilian stirbt und die<br />

anstehende Kaiserwahl aller Augenmerk auf sich zieht, wobei Rom Luthers<br />

Lan<strong>des</strong>herrn als Kaiser favorisierte, vergisst der Papst den „Wittenberger Mönch“<br />

tatsächlich – für volle zwei Jahre.<br />

*<br />

Kein vortrefflicher Regent<br />

„Item X (zehn) Gulden geben vnd geschenckt Doctor <strong>Faust</strong>us ph(ilosoph)o zuvererung<br />

hat m(einem) g(nedigen) herren ein nativitet (Horoskop nach Geburtsstunde) oder<br />

Indicium (Weissagung) gemacht, zalt am Sontag nach stolastice Jussit<br />

R(everendissi)mus.“ So lautet der dürre Eintrag auf der Ausgabenseite unter „Pro<br />

diuerses“ in „Hansen Mullers Kammermeysters Jahrrechnung von walburgis<br />

fonffzehenhundert vnd <strong>im</strong> Neunzehetten biss widerumb auff walburgis<br />

fonffzehenhundert vnd <strong>im</strong> zweintzigsten Jarn“.<br />

Buchführungsunterlagen sind eine trockene Sache, wenngleich eine spannende Angelegenheit,<br />

man muss sie zum Sprechen bringen.<br />

Das Fest der heiligen Scholastika wurde 1520 am Freitag, dem 10. Februar gefeiert,<br />

der darauf folgende Sonntag war der 12. Februar 1520 gewesen.<br />

An diesem Tag hat der Kammermeister Hansen Müller einen Betrag von zehn Gulden<br />

an <strong>Faust</strong> bezahlt. Die Auszahlung erfolgte auf Allerhöchste Weisung („Jussit<br />

R(everendissi)mus), das bedeutet, der Fürstbischof Georg III. von Bamberg hatte sie<br />

persönlich angeordnet. Anlass <strong>des</strong> Zahlungsvorgangs war ein Horoskop nach Geburtsstunde<br />

oder eine schriftliche Weissagung, das <strong>Faust</strong> dem „g(nedigen) herren“<br />

Fürstbischof verehrt hatte.<br />

177


Der Gulden selbst, eine „goldgüldene“ Münze, war in jener Zeit aus Silber. In Umlauf<br />

waren der Reichs- oder Kaiser- oder Konventionsgulden mit 11, 69 g Silber sowie der<br />

rheinische Gulden mit 9,74 g Silber.<br />

Gemäß den Quellentexten war der Fürstbischof die ranghöchste Person unter <strong>Faust</strong>s<br />

Kunden. Wir wissen nicht, wie lang sich <strong>Faust</strong> in Bamberg aufhielt, auch nicht, mit wem<br />

er sonst noch Kontakt hatte. Es ist nicht überliefert, noch lässt es sich erschließen, wie<br />

der Kontakt zum Fürstbischof zustande kam. Ein weiterer Aufenthalt <strong>Faust</strong>s in<br />

Bamberg ist nicht belegt. Die Nativität oder auch Weissagung sind leider nicht erhalten<br />

geblieben.<br />

Die <strong>Faust</strong>-Forschung ist sich darüber einig, der Fürstbischof hat <strong>Faust</strong> wahrhaft<br />

fürstlich entlohnt.<br />

Der Quellentext erzeugt allerdings Stirnrunzeln. Nicht weil sich ein hoher kirchlicher<br />

Würdenträger eine Nativität verehren lässt, ein Horoskop nach Geburtsstunde war<br />

kirchlich nichts Anrüchiges, doch der Fürstbischof zählt bereits fünfzig Jahre, nach<br />

damaligem Begriff, ein alter Mann; er brauchte gewiss keine Hinweise mehr, wie er<br />

sein anstehen<strong>des</strong> Leben gemäß den Sternen seiner Geburt zu gestalten habe.<br />

Desweiteren haben sich keine Hinweise darauf gefunden, dass der Fürstbischof sich<br />

wiederholt an Astrologen oder Weissager gewandt hätte. Dieser Eintrag „am Sontag<br />

nach stolastice“ bringt den Fürstbischof erstmalig und einmalig mit der Astrologie, bzw<br />

mit einer Weissagung in Verbindung. Man liegt von daher wahrscheinlich nicht falsch,<br />

wenn man dem Fürstbischof eine skeptische Haltung gegenüber der Astrologie und<br />

den Weissagungen unterstellt, ihn als jemanden betrachtet, der sich auf den eigenen<br />

Verstand verließ.<br />

Götz von Berlichingen, der mit dem Fürstbischof in Jahrzehnte währender Fehde<br />

lebte, bezeichnete den Bischof in seinen Lebenserinnerungen als „eigensinnigen<br />

neidischen Pfaffen“ und als „Männchen“. Aussagen, die freilich von Parteilichkeit<br />

geprägt sind, der Fürstbischof hatte be<strong>im</strong> Kaiser durchgesetzt, dass über Götz von<br />

Berlichingen von 1512 bis 1524 die Reichsacht verhängt wurde. Wie sollte er sich<br />

auch anders wehren, zwar hatte er sich 1508 mit Götz durch Vergleich geeinigt, doch<br />

Götz von Berlichingen plünderte weiterhin Schiffe auf dem Main.<br />

Ein Kupferstich, angefertigt von Johannes Salver, zeigt Georg III., den Schenken von<br />

L<strong>im</strong>purg und Fürstbischof von Bamberg, als einen Mann mit großen wachen Augen,<br />

der Mund steht faltig und verkniffen. Argwohn, Misstrauen und Pingeligkeit sprechen<br />

aus dem Gesicht, doch gewiss kein Humor.<br />

Er war „der vortrefflichste Regent, der kunstliebendste Bischof, der je in Franken<br />

herrschte“, lautet das abschließende Urteil seines Biographen Franz Friedrich<br />

Leitschuh. Bei der positiven Beurteilung <strong>des</strong> Fürstbischofs wird auf <strong>des</strong>sen Leistungen<br />

verwiesen.<br />

Unnachgiebig ging der Bischof gegen die schwarzen Schafe unter den Geistlichen vor,<br />

er beschränkte sich nicht auf gütliche Ermahnung oder Strafe, er enthob sie <strong>des</strong><br />

Amtes.<br />

1506 gewährte der Fürstbischof den Juden Rechtsgarantien, <strong>im</strong> Anhang der Diözesanstatuten<br />

regelte er das Zusammenleben zwischen Juden und Christen bis ins Detail.<br />

In seinem Auftrag erarbeitete sein Hofmeister Johann Freiherr von Schwarzenberg die<br />

Bambergische Halsgerichtsordnung. Das Strafgesetzbuch trat 1507 in Kraft, wurde<br />

1516 vom Markgraf von Brandenburg übernommen und diente als Vorlage bei der<br />

Ausarbeitung der „Constitutio Cr<strong>im</strong>inalis Carolina“, der peinlichen Halsgerichtsordnung<br />

Karls V. von 1532.<br />

Nicht anders als Luther war auch der Fürstbischof ein Gegner <strong>des</strong> Ablasshandels.<br />

Selbst vor Kaiser und Reichstag scheute er sich nicht, den Freikauf von Sünden zu<br />

kritisieren.<br />

Auf Grund seiner Sympathien für Luther tolerierte der Fürstbischof den Druck<br />

lutherischer Schriften in seiner Residenzstadt, <strong>des</strong> weiteren sorgte er dafür, dass die<br />

Bannbulle gegen Luther und seine Ächtung als Ketzer <strong>im</strong> Wormser Edikt von 1521 erst<br />

mit Verzögerung in Franken veröffentlicht wurde.<br />

178


Lazarus Spengler und Willibald Pirckhe<strong>im</strong>er, Humanisten zu Nürnberg, waren in den<br />

Kirchenbann geraten. Der Fürstbischof riet ihnen zum Widerruf, beide kamen wieder<br />

vom Kirchenbann frei.<br />

Er ließ repräsentative Bauten errichten, diese zeigten Geschmack und eine edle<br />

Gesinnung. Für den Bischof künstlerisch tätig waren Albrecht Dürer, Loy Hering, Hans<br />

Wolf, Paul Lautensack und Peter Vischer.<br />

Fürstbischof Georg III. war der gastfreundliche Mittelpunkt eines kleinen Bamberger<br />

Humanistenkreises, zu diesem zählten zeitweise Andreas Fuchs, Eberhardt Senft,<br />

Crotus Rubeanus, Ulrich von Hutten, Joach<strong>im</strong> Camerarius. In Bamberg lebte seit 1504<br />

auch der Militärexperte Lorenz Behe<strong>im</strong> – als Pfründe hatte er das Amt eines Kanonikus<br />

von St. Stefan inne – er beschäftigte sich fortan mit Astrologie, Medizin und Alchemie.<br />

In Bamberg war Ulrich von Hutten von Kaiser Max<strong>im</strong>ilian I. zum Dichterkönig gekrönt<br />

worden. Nur zu gern hätte der Fürstbischof Ulrich von Hutten in Bamberg behe<strong>im</strong>atet.<br />

Zwar bezeichnete Ulrich von Hutten die Stadt als „Hochburg <strong>des</strong> Humanismus, eine<br />

Zuflucht deutschen Geistes“, halten ließ er sich allerdings nicht; er war auf der Suche<br />

nach seiner persönlichen Tragödie.<br />

Soweit der summarische Überblick von ersten Auskünften, welche Art von Regent<br />

dieser Fürstbischof gewesen sei, bei dem <strong>Faust</strong> einst am Tisch saß.<br />

Er war, wie es scheint, aufgeschlossen und frei von sturem Dogmatismus, offenbar<br />

auch eher praktisch veranlagt, ein Mensch, der die Verständigung der Konfrontation<br />

vorzog.<br />

Fürstbischof Georg III. starb 1522, drei Jahre später brach der Bauernaufstand los.<br />

Ein Blick in die Vorgänge <strong>des</strong> Großen Bauernkriegs zeigt Franken als geradezu klassisches<br />

Land <strong>des</strong> Aufruhrs. Die Stadt Bamberg selbst machte mit den Bauern<br />

gemeinsame Sache.<br />

Ein Teilnehmer und Chronist <strong>des</strong> Bauernaufstands in Franken resümierte später: „So<br />

wie die Wasser unzählig zum Main hinab fließen, so hatte auch der Ärger und Unmut<br />

viele Quellen, die sich am Ende zum Blutsstrom vereinigten.“<br />

Es liegt auf der Hand, diesen bösen Unmut hatte nicht allein der Amtsnachfolger<br />

Weigand von Redwitz innerhalb zweier Jahre hervorgebracht, dieser Unmut hatte alte<br />

Wurzeln und von Jahr zu Jahr <strong>im</strong>mer frische Triebe angesetzt.<br />

Die vorangestellten Auskünfte über den „vortrefflichsten Regenten“ müssen hinterfragt<br />

werden.<br />

Georg entstammte der Speckfeld-Obersonthe<strong>im</strong>er Linie der Schenke von L<strong>im</strong>purg, er<br />

wurde 1470 geboren. Mit 13 Jahren erhielt er seine erste stan<strong>des</strong>gemäße Pfründe, er<br />

wurde Domherr in Bamberg. Es folgten Jahre als Domherr in Straßburg, Würzburg und<br />

Köln. 1501 wurde er Dompropst in Bamberg, ab 1505 hatte er das Amt <strong>des</strong> Fürstbischofs<br />

inne. Seine Diözese umfasste neben Bamberg die Städte Bayreuth, Hof,<br />

Erlangen, Rothenburg ob der Tauber, Fürth und dazu Nürnberg, die Stadt der Städte;<br />

dort zelebrierte er einmal <strong>im</strong> Jahr auf dem „Heilstumsstuhl“ die Messe, wobei dem Volk<br />

die Reichsinsignien gezeigt wurden.<br />

Die Rechtskonstruktion eines „Fürstbischofs“, nahm ihren Anfang <strong>im</strong> zehnten Jahrhundert,<br />

als die Kaiser durch Stärkung der geistlichen Fürsten die Begehrlichkeiten der<br />

weltlichen Fürsten einzuschränken suchten.<br />

„Fürstbischof“ bedeutet, er steht in unmittelbarem Lehensverhältnis zum Kaiser, er<br />

kann als Feldherr mit eigenen Truppen aktiv werden. Gleichzeitig ist er keinem<br />

Erzbischof, sondern direkt dem Papst unterstellt.<br />

Ohne nun tief zu schürfen, die Wohltaten <strong>des</strong> „vortrefflichsten Regenten“ lassen in<br />

jedem einzelnen Punkt einen deutlichen Anteil Eigennutz vermuten.<br />

Wenn er Juden in Bamberg duldete, dann <strong>des</strong>halb, weil es lukrativ war. Juden<br />

unterlagen einer hohen Besteuerung, bei Bedarf konnte man sie auch verpfänden,<br />

verkaufen, berauben, erpressen, davonjagen oder auch als Zauberer verbrennen. Dass<br />

er ihnen Rechtsgarantien gewährte, hatte in der Praxis wenig zu bedeuten, nicht allein,<br />

weil der verordnete Rechtsbruch alltäglich war, ein Jude lebte seit 400 Jahren damit,<br />

dass die Welt am Morgen nicht mehr dieselbe wie am Abend zuvor war.<br />

179


Dass der Fürstbischof gegen den Ablasshandel eingestellt war, es war nichts<br />

besonderes, auch der Kurfürst von Sachsen, Luthers Lan<strong>des</strong>herr, war ein Gegner der<br />

Ablassgeschäfte. Zwar partizipierten die Fürsten am Erlös <strong>des</strong> Ablasshandels mit bis<br />

zu 40%, doch da sie allesamt hoch verschuldet waren, hatten sie nicht das geringste<br />

Interesse daran, Geld nach Rom fließen zu sehen. Diese Einstellung war Luther<br />

selbstredend bewusst gewesen als er den Ablassgedanken angriff, diese Einstellung<br />

der Fürsten war seine politische Deckung. Und mit dieser Deckung stellte sich Luther<br />

<strong>im</strong> Jahr 1521 in Worms dem Kaiser. Freilich sah auch der Kaiser mit diesem<br />

„Mönchlein“ seine Interessen bedient, er lag mit dem Papst <strong>im</strong> Krieg, dieser Luther war<br />

ein exzellentes Druckmittel. Und gewiss nicht zuletzt bewegten sich die Luther<br />

zugeneigten Fürsten in gefährlicher Nähe von Aufruhr und Illoyalität. Dem Kaiser, der<br />

die Stärkung der kaiserlichen Zentralgewalt <strong>im</strong> Auge hatte, konnten ihre Aktivitäten nur<br />

recht sein; der Zeitpunkt, da er sie kräftig zurechtstutzen würde, war absehbar.<br />

Und so kommt es erstmalig zu dem außerordentlichen Vorgang, dass Luther, den der<br />

päpstliche Bannstrahl getroffen hat, den der Papst so dringlich als Ketzer verbrennen<br />

will, nicht als als Häretiker der Inquisition übergeben wird, sondern pro forma mit einer<br />

verzögert in Kraft tretenden Reichsacht bedankt wird und sich in Sicherheit bringen<br />

kann.<br />

Es ist nur konsequent, wenn der Fürstbischof von Bamberg anschließend dafür sorgt,<br />

dass <strong>des</strong>sen Ächtung <strong>im</strong> Wormser Edikt mit einer weiteren Verzögerung veröffentlicht<br />

wird; Luther muss der Fluchtweg nach Thüringen offen gehalten werden.<br />

Und machtpolitisches Kalkül bewegte auch den Fürstbischof <strong>im</strong> Vorfeld von Worms,<br />

den Druck lutherischer Schriften in seiner Residenzstadt zu dulden. Denn die<br />

Aufhebung der Klöster und Abschaffung der „unnützen Fresser“, gemeint waren die<br />

Mönche, sind einige der Forderungen, die seit Luthers „Thesenanschlag“ verstärkt<br />

diskutiert werden.<br />

Wem anderes sollte dieses Kirchengut denn zugeschlagen werden, als ihm, dem<br />

Fürstbischof. Dass Nürnberg sich allerdings bereits 1523 für lutherisch erklären würde<br />

oder gar eine Lutherische Kirche entstehen könnte, derlei war <strong>im</strong> Moment der Duldung<br />

erster lutherischer Schriften noch nicht abzusehen gewesen.<br />

Es mag gefallen, zu hören, dass er Geistliche rücksichtslos auf die Straße jagte, es<br />

drängt sich jedoch der Verdacht auf, dass er nur <strong>des</strong>halb so entschieden gegen die<br />

schwarzen Schafe vorging, um die jeweilige Pfründe neu zu definieren und seine<br />

persönlichen Gewährsleute einzusetzen. Sprich, er nutzte die innerkirchlichen Reformbemühungen,<br />

um die kirchliche Organisation auf seine persönlichen Ziele auszurichten.<br />

Und was die Bambergische Halsgerichtsordnung betrifft, sie konstituierte die Folter für<br />

das gesamte Strafrecht.<br />

Die wilden Vorgänge be<strong>im</strong> Bauernaufstand in Franken lassen annehmen, dass er<br />

entschlossen das neue römische Recht umsetzte und dass Policey und Amtleute der<br />

neuen Rechtspflege rigoros Geltung verschafften. Dass er eine maßvolle Steuerpolitik<br />

betrieb, ist eher unwahrscheinlich.<br />

Auch der Umgang mit Humanisten macht ihn nicht zu einem „vortrefflichsten<br />

Regenten“. Es wurde <strong>im</strong> Kapitel „Schattenboxen“ bereits festgestellt, Humanisten<br />

waren fürstentreu, so sie Gift spritzten, dann <strong>im</strong>mer in Richtung Rom.<br />

Der Fürstbischof Georg III. von Bamberg war zuvorderst ein machtbewusster Mensch.<br />

Und er war offenbar keiner, der wie bereits gesagt, viel auf Horoskope oder Weissagungen<br />

gab und sich schon gar nicht nicht mit einem dahergelaufenen Scharlatan<br />

zusammensetzte. Wahrscheinlich hatte das Nativität nur den Zweck, die äußere Form<br />

zu wahren; wie auch anders wäre es der Welt zu erklären gewesen, dass <strong>Faust</strong> als<br />

eine schillernde Persönlichkeit be<strong>im</strong> Fürstbischof von Bamberg weilte.<br />

Darf man sagen, der Fürstbischof nahm sich an einem Sonntag Zeit für den<br />

„Fachmann“ <strong>Faust</strong>?<br />

<strong>Faust</strong> der Vielgereiste, der mit so vielen wichtigen Persönlichkeiten bekannt war, er war<br />

auch ohne Blick in die Sterne ein Gespräch wert. Und ganz besonders in dieser Zeit.<br />

Das Volk auf der Straße tobte in Begeisterung für Luther, es lebte mit Luther und<br />

180


<strong>des</strong>sen Forderungen einen Taumel kommender Gerechtigkeit, während die Herren ihre<br />

Wolfsnatur hinter bedenklichen Mienen verbargen.<br />

Eine Viertel Million Exemplare lutherischer Schriften sind in den letzten Monaten unter<br />

das Volk gelangt, niemand kann sie zurück fischen. Deutschland lebt wie <strong>im</strong> Fieber,<br />

das Undenkbare scheint möglich:<br />

Die Aufhebung der Klöster, eine Kirche ohne Papst, die Verbrennung Luthers als<br />

Ketzer, Luther - als Papst.<br />

Mit seiner Kritik am Ablass hatte Luther den Zentralnerv getroffen. „Ablass“ war zum<br />

Synonym geworden, es stand für „das viele Geld, das der Papst und die Klöster sich<br />

nehmen“. In der Tat, die Kirche war schlicht zu reich, ihr gehörte ein Drittel <strong>des</strong> Bodens.<br />

„Der Papst ist der Antichrist! Der Papst blutet Deutschland aus!“ lautete die gängige<br />

Kurzformel der Kritik.<br />

Ulrich von Hutten lieferte dazu das Versmaß:<br />

„ …<br />

Und nehmen stets von Teutschen Geld,<br />

Dahin ihr Praktik ist gestellt.<br />

Und finden täglich newe Weg,<br />

Dass Geld man in den Kasten leg.<br />

Do kummen Teutschen umb ihr Gut.<br />

Ist niemand, den das reuen tut?“<br />

Gewiss werden sich die beiden über Luther und auch darüber, was andere<br />

Persönlichkeiten über Luther dachten, unterhalten haben. Geradezu zwingend, dass<br />

auch die Unruhe in der Bevölkerung ein Thema war.<br />

Dass <strong>Faust</strong> die Sorgen der kleinen Leute auf den Tisch brachte, es ist nicht wahrscheinlich,<br />

<strong>Faust</strong> gehörte in diesem Moment zur Bel Etage.<br />

Und <strong>Faust</strong>? Er wird sich seinen Vers auf die gestellten Fragen gemacht haben.<br />

Dass die Gage dann gar so hoch ausfiel, war wohl auch dem satten Anteil<br />

Schweigegeld zu verdanken. Denn dass der Fürstbischof sich von einem Fremden in<br />

die Karten schauen ließ, es spricht beredt für die explosive Situation <strong>im</strong> seinerzeitigen<br />

Deutschland; mit Luther waren die Nerven nun endgültig bis zum Zerreißen gespannt.<br />

*<br />

Skandal in Erfurt<br />

Am 3. Oktober 1513 schreibt Conradus Mutianus (Humanist und Privatgelehrter zu<br />

Gotha) an Heinrich Urbanus (Hofmeister, d.h. Verwalter, der Besitzungen <strong>des</strong> Klosters<br />

Georgenthal in Erfurt):<br />

Vor acht Tagen kam ein Chiromant nach Erfurt, namens Georgius <strong>Faust</strong>us Helmitheus<br />

Hedelbergensis, ein bloßer Prahler und Narr. Seine Kunst, wie die aller Wahrsager, ist<br />

eitel und eine solche Physiognomie leichter als eine Wasserspinne. Die Menge staunt.<br />

Gegen ihn sollten sich die Theologen erheben, statt dass sie den Philosophen<br />

Reuchlin wegen seines „Augenspiegel“ zu vernichten suchen. Ich hörte ihn <strong>im</strong><br />

Wirtshaus schwatzen; ich habe seine Anmaßung nicht gestraft; was kümmert mich<br />

fremde Torheit?<br />

Wer wollte daran zweifeln, als Conradus Mutianus diese Zeilen aufs Papier warf, war er<br />

zutiefst verärgert. Wo gerade ihm nichts mehr zuwider ist als Ärger und Aufregung oder<br />

gar Weltenlärm.<br />

Doch was niemand bisher schaffte, <strong>Faust</strong> hat es fertig gebracht, er hat ein Bad in der<br />

Menge genommen und Conradus Mutianus, der ein Leben in behaglicher Ruhe und<br />

beschaulicher Gelehrsamkeit kultiviert, ist aufgebracht.<br />

„Würdig ausgepeitscht zu werden“, hatte Abt Trithemius sechs Jahre zuvor über <strong>Faust</strong><br />

geurteilt; eine brutale Belehrung, die offensichtlich bisher noch nicht umgesetzt wurde,<br />

<strong>Faust</strong> ist noch <strong>im</strong>mer auf Tour. Und wie es scheint, versammelt er als „Schwoger <strong>des</strong><br />

181


Teufels“ noch <strong>im</strong>mer Platon, Jesus Christus, Ezra und Aristoteles um sich, nicht<br />

auszuschließen, dass seit Abt Trithemius die erlesene Revuetruppe noch um einige<br />

Größen der Geistesgeschichte erweitert wurde.<br />

Nichts anderes gilt wahrscheinlich für seine knallfetzig-frechen Sprüche: “Dass er in der<br />

Alchemie von allen, die je gewesen, der Vollkommenste …“<br />

Mutianus wettert: „Gegen ihn sollten sich die Theologen erheben“.<br />

<strong>Faust</strong> muss am Programm seiner Show kräftig gearbeitet haben, Auspeitschung allein<br />

genügt nicht mehr, inzwischen braucht es eine Erhebung der Theologen.<br />

„Ein bloßer Prahler und Narr … Ich hörte ihn <strong>im</strong> Wirtshaus schwatzen … was kümmert<br />

mich fremde Torheit?“ Wir erfahren nicht, was <strong>Faust</strong> in Erfurt schwatzte, doch er muss<br />

wieder böse die Klippen der Anmaßungen geschrammt haben.<br />

Dafür, dass Mutianus sich angeblich um „fremde Torheit“ gar nicht kümmert, und <strong>Faust</strong><br />

„ein bloßer Prahler und Narr ist, <strong>des</strong>sen Kunst, wie die aller Wahrsager, eitel und<br />

<strong>des</strong>sen Physiognomie leichter als eine Wasserspinne ist“, dafür tut Mutianus diesem<br />

Wahrsager jedoch deutlich Ehre an; nicht dass er <strong>Faust</strong> auf die hohe Stufe <strong>des</strong> Streits<br />

um Reuchlin und die Verbrennung jüdischer Schriften stellt, doch <strong>im</strong>merhin soweit,<br />

dass er das, was <strong>Faust</strong> in der Öffentlichkeit von sich gibt, für min<strong>des</strong>tens genauso<br />

schl<strong>im</strong>m hält, wie das, was die dominikanischen Inquisitoren in den jüdischen Büchern<br />

vermuten.<br />

„Ich habe seine Anmaßung nicht gestraft“ schreibt Mutianus. Nun gut, was sollte er<br />

auch anderes tun, nachdem es selbst ihm, dem Gebildeten, die Sprache verschlagen<br />

hat.<br />

Was <strong>Faust</strong> zum Besten gibt, wissen wir recht gut aus dem Brief <strong>des</strong> Trithemius. Doch<br />

das kann nicht der alleinige Grund sein, warum Mutianus die Segel streicht und sich<br />

abwendet.<br />

<strong>Faust</strong> muss diesen gesammelten Unfug mit einer Selbstverständlichkeit verbreiten, mit<br />

einer St<strong>im</strong>me unerschütterlicher Überzeugung sprechen, als eine Autorität auftreten,<br />

gleich einem Fels in der Brandung. Sein Selbstbewusstsein muss enorm sein, in<br />

seinem Panzer ist kein Riss. Er entwaffnet selbst Autoritäten und lässt sie resignieren.<br />

Es liegt auf der Hand, mit großen Sprüchen allein kann man die Menschen nicht<br />

faszinieren, es braucht einen Gegenwert, ein Äquivalent an Tat, die <strong>Faust</strong>s freche<br />

Behauptungen aus dem Sumpf marktschreierischer Behauptungen heraus und hinein<br />

in die Welt <strong>des</strong> denkbar Möglichen hob.<br />

Es können also keine Taschenspielertricks, keine Gaukeleien gewesen sein.<br />

Möglicherweise führte <strong>Faust</strong> chemische Effekte vor, Kristalle, die sich verfärben,<br />

pulverisierte Substanzen, die sich scheinbar selbsttätig verflüssigen.<br />

Doch nicht allein, so man sich seine Sprüche betrachtet, dann reflektieren sie weniger<br />

etwas Physisches als viel mehr eine geistige Substanz.<br />

Da sind einmal die Angaben <strong>des</strong> Trithemius, dass er das Wissen und Gedächtnis aller<br />

Weisheit erreicht habe, dass er die Philosophie wie ein Esra wieder herstellen wolle,<br />

dass die Wunder unseres Erlösers Christi nicht anstaunenswert seien.<br />

In Rebdorf behauptet <strong>Faust</strong>, ein Prophet zu sein, und Begardi berichtet, <strong>Faust</strong> habe<br />

sich als „Philosophus Philosophorum“ bezeichnet.<br />

Anders gesagt, ein Kaninchen hervor zu zaubern und wieder verschwinden zu lassen,<br />

lässt nicht zu, sich die Behauptung anzumaßen, die Wunder <strong>des</strong> Erlösers seien nicht<br />

anstaunenswert; es handelt sich dabei um zwei völlig verschiedene Ebenen.<br />

Abgesehen davon, es gab damals derart viele, der Not gehorchende, wagemutige<br />

Turner, Fechter, Jongleure, von keinem von ihnen sind Sprüche bekannt, wie <strong>Faust</strong> sie<br />

in die Welt stellte. Zwangsläufig, weil es dabei, wie gesagt, um völlig verschiedene<br />

Inhalte geht; ein kühner Sprung mit zwei gleichzeitig gegen die Kehle gerichteten<br />

Schwertern hat nichts mit der Wiederherstellung <strong>des</strong> „Wissens und Gedächtnisses aller<br />

Weisheit“ gemein.<br />

<strong>Faust</strong> arbeitete auch als Astrologe, ebenfalls eine geistige Tätigkeit, für die allerdings in<br />

einem Wirtshaus oder auf einem Marktplatz gewiss nicht der rechte Ort ist.<br />

182


Neben seinen behaupteten geistig-spirituellen Fähigkeiten stehen seine angebotenen<br />

Dienstleistungen; das Gros davon gehört in die Welt der Paraphänomene: Pyromant,<br />

Hydromant, Aeromant u.a.m.<br />

Doch auch diese Tätigkeiten wollen nicht recht in den Lärm eines Wirtshauses passen,<br />

sie brauchen <strong>im</strong> allgemeinen Ruhe, eine Situation innerer Einkehr.<br />

Wir wissen nicht, womit <strong>Faust</strong> sein Publikum überzeugte, doch was er bot, es musste<br />

sich sehen lassen können. <strong>Faust</strong> kam vor acht Tagen nach Erfurt, berichtet Mutianus;<br />

die Show hat sich <strong>im</strong>mer noch nicht totgelaufen, das Publikum ist noch <strong>im</strong>mer nicht<br />

satt. <strong>Faust</strong> hat einen derartigen Zulauf, eine derartige Publizität, da konnte auch der<br />

geruhsame Privatgelehrte Mutianus nicht mehr anders, er musste sich in seine Stiefel<br />

zwängen, um nicht nur vom nahe gelegenen Gotha nach Erfurt zu eilen, sondern sich<br />

auch noch in ein Wirtshaus zu begeben, wo sich die Menge drängt.<br />

Letzteres kann gar nicht hoch genug gewürdigt werden, Mutianus Rufus gilt als<br />

Vertreter eines äußerst elitären oder auch aristokratischen Humanismus. Nicht anders<br />

als Abt Trithemius, den Mutianus einst in Kloster Sponhe<strong>im</strong> besuchte, den er als seinen<br />

Lehrer bezeichnete, ist Mutianus der Auffassung, Humanismus und auch die<br />

Kenntnisse der Magie, sei eine Sache weniger Auserwählter. „Das Beste an Wissen<br />

tauge nicht für die Menge“ schrieb er, „es sei ihr vorzuenthalten.“ Um es mit Horaz in<br />

<strong>des</strong>sen Oden zusagen: „Odi profanum vulgus et arceo.“ (Ich hasse den Pöbel und<br />

meide ihn.)<br />

„Ru<strong>des</strong> admirantur“ heißt es <strong>im</strong> lateinischen Original <strong>des</strong> Briefes, „die Menge staunt“.<br />

Mutianus verwendet nicht die Bezeichnungen „Populus“ oder „Plebs“, er schreibt<br />

„Ru<strong>des</strong>“; rü<strong>des</strong>, derbes Volk. Menschen mit schweren Bewegungen, Menschen mit<br />

ungelenker Zunge, wenig Worte, aber Kreischen – fleischgewordene Zoten. Und eben<br />

in diesen Dunst von Wein und Bier, Schweiß und schlechtem Atem keilt sich Mutianus<br />

hinein, lässt sich schieben und puffen, und dann gafft er.<br />

Dass er sich überhaupt auf den Weg machte, ist erstaunlich. Mutianus Rufus lebt<br />

zurückgezogen, er scheut die Öffentlichkeit. Neben Latein und Griechisch beherrscht er<br />

auch Hebräisch, er gibt sich privaten Studien hin. Daneben ist er Kanonikus, also<br />

Rechtsgelehrter für kirchliches Recht, am Gothaer Marienstift.<br />

Zwar hat er sich den juristischen Doktorgrad in Bologna erkauft, nichts <strong>des</strong>totrotz zählt<br />

er heute neben Reuchlin und Erasmus von Rotterdam zu den einflussreichsten Führern<br />

der Humanisten; es wird ihm eine <strong>im</strong>mense Wirkung auf philosophischem und<br />

pädagogischem Gebiet bescheinigt. Bereits zu seinen Lebzeiten nannte ihn Trithemius<br />

einen „rhetor, historiographus et poeta doctiss<strong>im</strong>us“, einen äußerst gelehrten Redner,<br />

Geschichtsschreiber und Dichter.<br />

„Beata tranquillitas“ lautet das Motto, das Mutianus seinem Leben vorangestellt hat. Es<br />

bedeutet „Glückliche Ruhe“, und damit jeder Besucher Bescheid weiß, steht das Motto<br />

auch über seiner Haustür zu lesen.<br />

Mutianus, anders als die übrigen Humanisten, legt selbst auf Veröffentlichungen keinen<br />

Wert, und dennoch hat sich um ihn ein Kreis von Humanisten gesammelt, Mutianus<br />

wirkt auf seine Kollegen durch das persönliche Gespräch und vor allem über Briefe.<br />

Er ist es zufrieden, wenn er feststellt, dass seine Anregungen aufgenommen und<br />

weitergegeben werden. Er war es vermutlich auch, der Crotus Rubeanus zu den<br />

Dunkelmännerbriefen gegen die Dominikanischen Inquisitoren in der Reuchlin-Sache<br />

anstiftete.<br />

Einige <strong>Faust</strong>forscher vermuten, dass <strong>Faust</strong> nach Erfurt kam, um Kontakt zu Gebildeten<br />

zu pflegen, weil er Wissen suchte, weil er auf das geistige Niveau der Stadt reflektierte.<br />

Der Auftritt vor der Ru<strong>des</strong> ist wohl der denkbar schlechteste Weg, um sich bei jenen<br />

einzuführen, welche die Ru<strong>des</strong> verachten.<br />

Dieselben <strong>Faust</strong>forscher präsentieren den Fürstbischof von Bamberg als freisinnigen,<br />

weitherzigen Mann. Die Wurzel dieser Veredelungen ist der – auf herkömmliche Art<br />

gelesene, böse Brief <strong>des</strong> Abts Trithemius. Es kann nicht sein, was nicht sein darf, es<br />

muss das Gegenteil <strong>des</strong>sen bewiesen werden, was Abt Trithemius notierte. Frei<br />

formuliert: „<strong>Faust</strong> war zwar kein Engel, doch entschieden anders als von Trithemius<br />

dargestellt. <strong>Faust</strong> suchte in Erfurt die Bildung, und der Fürstbischof war ein netter<br />

183


Mann, denn wäre <strong>Faust</strong> ein derart schlechter Mensch gewesen, der nette Mann hätte<br />

ihn gewisslich nicht als Astrologen akzeptiert.“<br />

<strong>Faust</strong> wird sich von einem Besuch in Erfurt, damals eine Stadt mit etwa 6000<br />

Einwohnern, gewiss gute Einnahmen, sodann erste Kontakte zu interessanten Kunden<br />

aus dem Umland versprochen haben. Dass Erfurt auch Universitätsstadt war, war eine<br />

hübsche Dreingabe, hier konnte er wieder die Gebildeten ärgern.<br />

Die Namen derer, die sich um Mutianus scharten oder mit welchen er <strong>im</strong> Briefkontakt<br />

stand, lesen sich wie das „Who is Who“ der humanistischen Bewegung: Conrad Celtis,<br />

Johannes Reuchlin, Cornelius Aurelius, Johannes Trithemius, Alexander Hegius,<br />

Erasmus von Rotterdam, Konrad Peutinger, Willibald Pirckhe<strong>im</strong>er, Aggrippa von<br />

Netteshe<strong>im</strong>, Johannes Capellarius, Jodocus Beisselius, Geiler von Kaysersberg, Rudolf<br />

Agricola, Ulrich von Hutten, Willibald Pirckhe<strong>im</strong>er, Ulrich Zasius, Beatus Rhenanus,<br />

Joach<strong>im</strong> Camerarius, Helius Eobanus Hessus, Crotus Rubeanus, Justus Jonas, Georg<br />

Spalatin.<br />

Franz von Sickingen und Martin Luther, sie zählen nicht zu den Humanisten, doch auch<br />

mit ihnen stand er in Briefkontakt.<br />

Rufus Mutianus gefiel sich also als Drahtzieher. Besonders gern wirkte er dabei gegen<br />

das Papsttum, neben seinem Doktorhut hat er aus Italien eine Abscheu gegen den mit<br />

heiligen Worten verbrämten Pfrün<strong>des</strong>chacher und die Verderbtheit Roms mitgebracht.<br />

Dass er selbst eine Pfründe inne hat, die er sich – in der unverderbten Sprache jener<br />

Zeit gesagt, mit einem gekauften Doktorhut ergaunert hat, stört den Juristen und<br />

gelehrten Rom-Kritiker dabei genauso wenig, wie dass sein treuer Famulus – ein<br />

Mönch, von dem gleich die Rede sein wird, mit allem, was einen Rock trägt, um die<br />

Häuser jagt.<br />

Mit seiner Kritik an Rom liegt er auf der gewünschten Linie, der Ruf nach Reformen<br />

gefällt nicht nur einem Fürstbischof, sondern auch den weltlichen Fürsten und nicht<br />

zuletzt den Städten. Nicht allein <strong>des</strong>halb, weil sie ihre Hände in kirchliche<br />

Angelegenheiten schieben können, das große Feldgeschrei gegen Rom lässt die<br />

Menschen übersehen, in welchem Maß die deutschen Lan<strong>des</strong>fürsten die Leinen stetig<br />

straffer ziehen.<br />

Ein Mann, der so beharrlich <strong>im</strong> Verborgenen lebt, braucht einen Diener, der ihm<br />

Bücher, Materialien, Briefe besorgt und nicht zuletzt Kontakt hält, zwischen ihm,<br />

Mutianus in Gotha, und den Kapazitäten an der Universität in Erfurt. Dieser treue<br />

Geselle ist kein geringerer als der Empfänger <strong>des</strong> Schreibens. Es ist der Zisterzienser<br />

Henricus Urbanus, mit bürgerlichem Namen Heinrich Fastnacht aus Orb bei<br />

Gelnhausen.<br />

Zu dieser Zeit allerdings Hofmeister, also Verwalter jener Besitzungen, die das Kloster<br />

Georgenthal direkt in der Stadt Erfurt hat.<br />

Und in diesem Zusammenhang werden die Umstände <strong>des</strong> Briefes beinahe spannend.<br />

Henricus Urbanus lebt in Erfurt, Mutianus muss ihn nicht über <strong>Faust</strong> informieren, <strong>Faust</strong><br />

hat das längst selbst besorgt. Damit nicht genug, Henricus Urbanus besucht Mutianus<br />

in Gotha recht häufig, Mutianus hätte auch zu Hause bleiben können, der nächste<br />

Besuch seines Freun<strong>des</strong> war absehbar und dann hätte er sicher detailliert erfahren,<br />

welche Aufregung jüngst ein Handleser in Erfurt hervorrief.<br />

Doch Mutianus muss zu Ohren gekommen sein, dass sich in Erfurt etwas ganz<br />

Besonderes tut. Mutianus wartet nicht in „beata tranquillitate“ ab, er verlässt seine<br />

„Eremitage“ und macht sich die 24 Kilometer nach Erfurt persönlich auf den Weg.<br />

Anschließend setzt er seinen Freund schriftlich über einen törichten Wahrsager in<br />

Kenntnis; völlig unnötig, der Wirbel, den <strong>Faust</strong> veranstaltet, kann dem Freund nicht<br />

entgangen sein.<br />

Die Erklärung findet sich, wenn man bedenkt, dass sich Rufus Mutianus als Stichwortgeber<br />

gefällt. <strong>Faust</strong>, der Chiromant, hat nicht nur die „Ru<strong>des</strong>“ begeistert, seine<br />

„Handlesekunst“ hat vermutlich auch zu Diskussionen an der Universität geführt.<br />

Und nicht zuvorderst <strong>Faust</strong>, es müssen die zu vermutenden Diskussionen auf dem<br />

Campus gewesen sein, die Mutianus aufscheuchten. Ob er nun Konkurrenz, geistigen<br />

Unrat oder gar teuflischen Verrat an den „Künsten“ witterte, es bleibe offen, jedenfalls<br />

184


sah er sich persönlich gefordert. Er eilt nach Erfurt, besieht sich das Spektakel, das<br />

<strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Wirtshaus zelebriert, und fällt ein Urteil; vermutlich noch in Erfurt geschrieben,<br />

lässt er es seinem Freund und Famulus zugehen.<br />

Er schreibt dabei nicht von „<strong>Faust</strong>us“, das verbietet sich, es ließe den Schluss zu, dass<br />

ihm das Thema „<strong>Faust</strong>“ geläufig wäre. Mutianus gibt sich distanziert, er notiert: „…ein<br />

Chiromant …“, um dann in geradezu penetranter Akribie den Namen dieses dahergelaufenen<br />

Prahlers festzuhalten: „Georgius <strong>Faust</strong>us Helmitheus Hedelbergensis“.<br />

Es liegt auf der Hand, so ein Mutianus dergleichen tut, so verfolgt er einen Zweck.<br />

Mutianus, dem hochbelesenen Mann – die „Physiognomie leichter als eine<br />

Wasserspinne“, ein Plautus-Zitat aus „Der Perser“, darf als humanistisches Insiderwissen<br />

bezeichnet werden – dürfte kaum entgangen sein, dass <strong>Faust</strong> sich den<br />

„Helmitheus“ in seiner Namenskette aus den „Recognitiones“ besorgt hatte, dabei an<br />

Bildungsgut geraten war, bei dem es sich allerdings um Katzengold handelte.<br />

In „Recognitiones“ wird ein griechischer Halbgott namens „Helmitheus“ als Sohn der<br />

Pyrra genannt. Pyrra hatte drei Kinder, keines davon heißt „Helmitheus“; einen Halbgott<br />

dieses Namens gibt es in der griechischen Mythologie überhaupt nicht.<br />

Die Kunst <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s, so sie auch alle Welt erregt, für Mutianus hat sie sich erledigt:<br />

„ein bloßer Prahler und Narr. Seine Kunst, wie die aller Wahrsager, ist eitel (leer).“<br />

Was ein Missgeschick aber auch!<br />

Da hat sich <strong>Faust</strong> als Bildungsnachweis mit Heidelberg sowie drei latinisierten Namen<br />

herausgeputzt, um sich mit falschem Götterhauch selbst zu entlarven. Was nicht weiter<br />

schl<strong>im</strong>m wäre, es merkt ja in der Regel keiner, doch dann musste ausgerechnet dieser<br />

Rufus Mutianus aufkreuzen, <strong>des</strong>sen verwöhnte Nase das feine Sauer in der<br />

Parfümwolke erschnupperte, um still zur Feder zu greifen und uns Nachgeborenen eine<br />

Notiz hinterlassen.<br />

Verständlich, dass Mutianus zwar den „Helmitheus“ aufs Papier kratzt, er jedoch keinen<br />

Hinweis gibt, was ihn stört oder ob ihn überhaupt etwas dabei stört; Mutianus ist nicht<br />

nur gebildet, er ist überlegen gebildet – er stößt doch niemand vor den Kopf.<br />

Was das Urteil in den Händen <strong>des</strong> Henricus Urbanus soll?<br />

Das Schreiben <strong>des</strong> angesehenen Mutianus enthält zwei Handlungsanweisungen.<br />

„Ru<strong>des</strong> admirantur!“ Soll heißen: Mit so einem geben sich Gebildete nicht ab!<br />

Der bildhafte Ausdruck einer „Physiognomie leichter als eine Wasserspinne“, ist als<br />

hoher Bildungsbeweis, in diesem Fall wohl als verschärfter akademischer Tadel zu<br />

verstehen; frei nach dem Motto: „Seid Ihr denn überhaupt gebildet?“<br />

Und „Gegen ihn sollten sich die Theologen erheben, statt dass sie den Philosophen<br />

Reuchlin wegen seines „Augenspiegel“ zu vernichten suchen.“, ist schlicht eine<br />

Empfehlung, <strong>Faust</strong> bei den Dominikanern zu denunzieren. Sollen sich die Inquisitoren<br />

an diesen ungebührlichen Lästerer verschwenden, statt Reuchlin zu attackieren.<br />

Der Schlussatz ist wohl die bestätigende Schleife der vorherigen Aussagen: „Ich hörte<br />

ihn <strong>im</strong> Wirtshaus schwatzen; ich habe seine Anmaßung nicht gestraft; was kümmert<br />

mich fremde Torheit?“<br />

Henricus Urbanus ist es zugedacht, das Urteil <strong>des</strong> angesehenen Mutianus an der<br />

Universität lancieren.<br />

Mutianus selbst, er wird sich über <strong>Faust</strong> nicht persönlich äußern. Nicht in einem<br />

Gespräch, schon gar nicht in Briefen an andere Humanisten.<br />

Die Kunst <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s, selbst Mutianus hat sie offenbar nicht durchschaut, was ihm gutmöglich<br />

nicht behagt, andererseits ist er Humanist und als solcher hat er keine Mühe<br />

sein Unbehagen darüber kurz zu halten. <strong>Faust</strong>s anmaßen<strong>des</strong> Geschwätz sowie die<br />

Verwendung <strong>des</strong> „Helmitheus“ verraten, <strong>Faust</strong> hat gewiss nicht in Heidelberg studiert,<br />

und die Kunst, die er vor der Ru<strong>des</strong> zelebriert, stammt aus keiner Universität, die ist<br />

irgendwo in den Hecken oder am Straßenrand gewachsen, bei alten Weibern,<br />

Hebammen und Buckelkrämern. Von daher braucht ein gebildeter Mensch diese Kunst<br />

gar nicht verstehen.<br />

Wenn auch Mutianus uns durch seine Zeilen annehmen lässt, dass er noch nie zuvor<br />

von <strong>Faust</strong> gehört, er sich noch nie Gedanken über das gemacht hätte, was ihm bis<br />

dahin über <strong>Faust</strong> zu Ohren gekommen ist, es stehen nur wenige Quellentexte zur<br />

185


Verfügung, doch <strong>im</strong> zuvor aufgeführten Bekanntenkreis <strong>des</strong> Mutianus finden sich allein<br />

drei Personen, von denen wir definitiv wissen, dass sie mit <strong>Faust</strong> persönlich bekannt<br />

waren oder von ihm wussten: Franz von Sickingen, Johannes Trithemius und Joach<strong>im</strong><br />

Camerarius.<br />

Aus den heute bekannten Briefen lässt sich ein Netz von Beziehungen ausmachen.<br />

Erasmus von Rotterdam, Camerarius, Mutianus, weiter zu Trithemius – Virdung –<br />

Franz v. Sickingen. Virdung kannte Melanchthon – Camerarius – Moritz v. Hutten –<br />

Kilian Leib – Moritz und Phillip v. Hutten. Mutianus kannte Reuchlin – Eck – Kilian Leib<br />

– Melanchthon – Luther – Rubeanus Crotus …<br />

Wenn sie auch in ihrem Dünkel über <strong>Faust</strong> nichts Schriftliches hinterließen, unter der<br />

Hand redeten sie über ihn. Wie auch anders, <strong>Faust</strong> treibt frechsten Spott mit ihnen –<br />

den Vertretern der Bildungselite, maßt sich ihre Titel an, bezeichnet sie gleichsam als<br />

unwissende Tröpfe, während sie selbst es nicht schaffen, ihn in die Schranken zu<br />

weisen. Es bleibt ihnen nur, ihn als „Narren“, als „Scheißhaus vieler Teufel“ zu<br />

besch<strong>im</strong>pfen. Ihn der Trickserei mit einer „Böhmischen Schachtel“ (Verwirrspiel mit<br />

zwei identischen Behältnissen) oder einem „gebauten Türken“ (Der Liliputaner unter<br />

dem Tisch) zu überführen, ihm die Lust an seinen Frechheiten zu vergällen oder ihn<br />

gar zu Fall zu bringen, das schaffen sie nicht. Die Künste <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>us sind ihnen ein<br />

Rätsel. In keinem der Quellentexte steht beschrieben, was <strong>Faust</strong> dem Publikum<br />

demonstrierte. Das kann nicht viel anderes bedeuten, als dass keiner von ihnen die<br />

Künste <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s begriff, dass keiner von ihnen es mit <strong>Faust</strong> in <strong>des</strong>sen Metier<br />

aufnehmen konnte.<br />

Ihnen bleibt nur, die Zähne zusammenzubeißen und <strong>Faust</strong> durch Nichtkenntnisnahme<br />

abzustrafen. Diese gezielte Nichtbeachtung ist neben der „Instrumentalisierung“ und<br />

der damit zu vermutenden Vernichtung von Quellentexten, auch ein Grund, warum<br />

heute über <strong>Faust</strong> relativ wenig bekannt ist, obwohl viele von ihm nicht nur gehört,<br />

sondern ihn persönlich gekannt bzw. ihn erlebt haben müssen.<br />

Abstrafung durch Nichtkenntnisnahme, bzw. Kenntnisnahme <strong>im</strong> Negativen, es gilt für<br />

<strong>Faust</strong>, ebenso gilt es für Paracelsus“. Beide, <strong>Faust</strong> wie Paracelsus, obgleich jeder auf<br />

seine Art, hatten sich an der Phalanx der neuen Bildungselite gerieben. Gleich Luther<br />

hatte auch Paracelsus seinen Bruch mit der Vergangenheit mit einer<br />

Bücherverbrennung inszeniert. Am 24.Juni 1527 hatte er in Basel Schriften <strong>des</strong><br />

Hippokrates, Galen und Avicenna ins Feuer geworfen; Schriftgut und Wissen, das<br />

Melanchthon, dem Renaissance-Philologen und Arzt, heilig war. Doch wo Melanchthon<br />

dem ungelehrten Empiricus seine Forderung nach ratio, ars et doctrina entgegenstellte,<br />

rückte Paracelsus die experiencia – auch einer Hebamme, eines Empiricus oder eines<br />

Baders nach vorne. In „Encomium Sueviae“ würdigte Melanchthon die naturkundlichen<br />

Leistungen seines schwäbischen Volksstammes, den Arztalchemiker Paracelsus<br />

unterschlug er dabei; dass der höchstangesehene Erasmus von Rotterdam so große<br />

Stücke auf Paracelsus hielt, konnte Melanchthon nicht überzeugen.<br />

Paracelsus war auch Theosoph. Als Bauernfreund, dazu obrigkeitsfeindlich und in<br />

Gegnerschaft zu Rom, hatte er sich in den zwanziger Jahren dem schwärmerischen<br />

Protestantismus angenähert. Als Revolutionär in Permanenz hatte er sich später<br />

wieder abgewandt, ob Zwinglianer oder Lutheraner, sie waren für ihn auch nur<br />

dogmatische „Mauerkirchen“. „Der Papst und der Luther, das sind zwei Huren, die sich<br />

um ihre Keuschheit zanken“, schrieb er. Der Theosoph Paracelsus – Melanchthon<br />

kannte keinen Theosophen dieses Namens.<br />

„Nam hic nihil vidi nisi insulsiss<strong>im</strong>as nugas Paracelsi …“ schreibt Melanchthon endlich<br />

in einem Brief vom 15.11.1537; „Denn hier habe ich nichts als die völlig albernen<br />

Nichtigkeiten <strong>des</strong> Paracelsus … gesehen … “. Melanchthon hatte in der „Practica“<br />

gelesen, einer astrologischen Auskunft über das anstehende Jahr.<br />

„Practica teutsch auf das tausent fünfhundert und 38. Jar, gepracticiert durch den<br />

hochgelerten Doctorem Paracelsum“; gedruckt in Augsburg bei Heinrich Steiner. Hätte<br />

Melanchthon ein wenig inne gehalten, er hätte eventuell gemerkt, dass Paracelsus ihm<br />

eine Warnung zurief. Melanchthon hält nicht inne, er hat keine Zeit, er ist in<br />

Geschäften, er ist seit Jahren in Geschäften und Wortgefechten, er braucht Auskunft<br />

186


über die Türken, über den Papst, er will wissen, ob der Kaiser siegt. Das, was<br />

Paracelsus in den Sternen liest, sind „Nugae“: „under den gelerten vil unwillens“ sein<br />

wird, „gegen dem Volk vil ubels erwachsen“ wird.<br />

Senkte Melanchthon doch nur den Blick in seinen eigenen Schriftverkehr!<br />

In seinem Brief vom 21.8.1537 an Friedrich Myconius in Gotha steht u. a. zu lesen:<br />

Täglich erwachsen ihm neue Feinde. / Cordatus und Anhang haben den Pfarrer von<br />

Zwickau zu öffentlicher Rede gegen ihn entflammt. / Jakob Schenck in Freiberg bereitet<br />

ebenfalls Angriffe gegen ihn vor. / Er verteidigt seine Lehre von den guten Werken und<br />

seine maßvolle Philosophie.<br />

Paracelsus musste nicht in den Sternen lesen, er musste nur in die Zeit hinaus<br />

lauschen, um festzustellen, dass eine Radikalisierung der Protestanten <strong>im</strong> Gange war:<br />

In Augsburg wetterten seit einigen Monaten die protestantischen Prediger gegen das<br />

Tanzen, Tafeln und Wuchern, <strong>im</strong> traditionell evangelischen Nürnberg kreischten<br />

vermehrt die Falken gegen Melanchthon an.<br />

Dass Paracelsus seine Befürchtungen astrologisch verbrämte - nichts Besseres konnte<br />

er in jener Zeit tun; die Sprache der Sterne hatte Gewicht.<br />

Melanchthon nahm Paracelsus also doch ein wenig zur Kenntnis, wenn auch – analog<br />

zu <strong>Faust</strong>, in Verächtlichkeit: „Nugae!“<br />

Es ist sicherlich nicht zu hoch gegriffen, anzunehmen, dass nach acht Tagen Aufenthalt<br />

an die fünfhundert Personen <strong>Faust</strong> in Erfurt erlebt haben; ihn nicht allein gesehen,<br />

sondern ihn aus der Distanz weniger Schritte beobachtet, ihm zugehört, ihm ins<br />

Gesicht geschaut haben.<br />

Mag sein, dass die Gebildeten, die Humanisten, in einem Elfenbeinturm lebten, <strong>im</strong><br />

Vakuum lebten sie <strong>des</strong>halb nicht. Da gab es Studenten, die den Professor nach seiner<br />

Meinung über <strong>Faust</strong> befragten und auch so mancher Nachbar oder dienstbare Geist,<br />

die den Professor bereits länger kannten, werden sich gelegentlich ein Herz gefasst<br />

und sich mit einer Frage in Sachen „<strong>Faust</strong>“ an den hochgestellten Herrn gewagt haben.<br />

Ganz abgesehen davon, Menschen, die derart stolz auf ihre Bildung sind, sie müssen<br />

sich mit <strong>Faust</strong> beschäftigt haben, <strong>Faust</strong> brüskierte und verletzte sie laufend in ihrem<br />

Stolz und Dünkel. Die Tatsache, dass sie sich mühevoll Sprachkenntnisse und anderes<br />

Wissen mehr angeeignet und sich dennoch gegen ihn nicht wehren können, ist nicht<br />

hinnehmbar, es ist unerträglich. Schl<strong>im</strong>mer noch, dieser Mensch machte sich gemein<br />

mit der „Ru<strong>des</strong>“ und saß <strong>im</strong> nächsten Moment bei einem Domherrn Stibarius oder gar<br />

be<strong>im</strong> Fürstbischof von Bamberg am Tisch. Wo waren da noch Würde, Anstand und<br />

Auftreten? Was fiel diesem Mensch ein, das Unterste nach oben zu kehren, die Welt<br />

auf den Kopf zu stellen? Anstatt sich mit ihnen auszutauschen, behielt er sein Wissen<br />

für sich!<br />

Offenkundig doch allein <strong>des</strong>halb, damit es für ihn kein Oben und kein Unten mehr gab.<br />

„Derselbige <strong>Faust</strong>us der Zeuberer / vnnd ungeheurig Thier / ein Scheisshaus vieler<br />

Teufel / rhümete vnuerschemet / das alle Siege / die Keyserlicher Maiestet Kriegsuolck<br />

in Welschland gehabt hetten / die ware durch jhn mit seiner Zauberey zuwegen<br />

gebracht worden. Das ist eine erstunckene lügen / vnd nicht war. Solches sage ich<br />

aber von wegen der gemeinen jugent / auff das sie sich nicht von solchen losen<br />

Leuten verfüren vnd vberreden lassen.“<br />

Als Philipp Melanchthon sich zu diesem wilden Ausfall gegen <strong>Faust</strong> hinreißen ließ, ist<br />

ihm der besagte Gaul durchgegangen.<br />

Zu jenem Zeitpunkt war <strong>Faust</strong>, der Teufelshurer, bereits ordnungsgemäß vom Teufel<br />

liquidiert worden; Melanchthon durfte hoch zufrieden sein. Was störte ihn also noch?<br />

Wütete hier der überzeugte Lutheraner oder der veraffte Bildungsträger? Bei allem<br />

Zorn, es spricht pure Ohnmacht aus diesen Zeilen. Die hohe Emotion in Melanchthons<br />

Vortrag lässt den Schluss zu, das Thema „<strong>Faust</strong>“ muss Melanchthon sehr beschäftigt<br />

haben, und zwar mehr, um es in seinem Herz-Jesu-Kämmerlein mit sich allein<br />

auszumachen.<br />

Die Zahl der Hochgebildeten belief sich in Deutschland damals auf etwa 250 Personen.<br />

Sie bildeten verschiedene Kreise, die Kreise standen miteinander in Kontakt, sowohl<br />

187


über Briefe, als auch durch Besuche. Wenn sie auch edle Gedanken zu Papier<br />

brachten, bei einem Bier, be<strong>im</strong> Roten, wird man sich nicht nur gelegentlich über <strong>Faust</strong><br />

ausgetauscht, man muss sich über ihn erregt haben. War es diesem <strong>Faust</strong> tatsächlich<br />

gelungen, den Teufel sich zu verpflichten? Es gab Wege zum Teufel, kein Zweifel! Die<br />

Frage war allein das „Wie“. Wie viel weiter wäre man in den Wissenschaften, wenn<br />

<strong>Faust</strong> nur kooperierte. Oder war es <strong>Faust</strong> gar gelungen, sich Zugang zum uralten<br />

gehe<strong>im</strong>en Wissen der Juden, der Babylonier zu verschaffen? Gutmöglich waren genau<br />

das die Fragen, die auch einst die Universität von Erfurt in Aufruhr und Erregung<br />

versetzt haben mochten. <strong>Faust</strong>, Ikarus auf schiefer Bahn zwischen Hölle und H<strong>im</strong>mel,<br />

war ein Begriff und Faszinosum, und jedermann geläufig.<br />

*<br />

<strong>Faust</strong> auf Reisen<br />

Mobilität <strong>im</strong> Wechsel mit zeitweiliger Sesshaftigkeit ist eines der herausragenden Kennzeichen<br />

<strong>des</strong> späten Mittelalters. Die Menschen sind auf Arbeitssuche: Als Mägde,<br />

Knechte, Arbeiter, Ärztinnen, Ärzte, „schöne Frauen“, Steinmetze, Handwerksgesellen<br />

oder als Lohnarbeiter der Kriege. Hausierer tragen ihre Waren in abgelegene<br />

Streusiedlungen, reisende Kaufleute begleiten ihre Waren. Dazu gesellen sich Pilgerströme<br />

und ein Heer von Bettlern.<br />

Kinderarbeit, eheähnliche Verbindungen auf Zeit, das Ausüben mehrerer Berufe, das<br />

alles ist so gewöhnlich wie das gegenseitige Bestehlen, Ausnutzen und die Räuberei<br />

am Straßenrand. Leben, das ist Wanderschaft; das bedeutet nicht Freiheit, sondern<br />

Gefahr. Also reiste man nicht allein, man zieht, wann <strong>im</strong>mer möglich, in Gruppen.<br />

Das Vokabular der Quellentexte zeigt auch <strong>Faust</strong> als einen mobilen Menschen.<br />

„- Landstreicher, - in der Nähe der Stadt Gelnhausen, - floh er alsbald aus der<br />

Herberge, - kam er nach Würzburg, - kam er nach Kreuznach, - und entfloh, - <strong>des</strong>sen<br />

Ankunft, - kam ein Chiromant nach Erfurt, - <strong>im</strong> Wirtshaus schwatzen, - Bamberg,<br />

Ingolstadt, - dz er zu der stat ausziech, - anderswo verzer - Rebdorf - kein Geleit, - vast<br />

durch alle landtschafft, Fürstenthuomb vnnd Königreich gezogen, - <strong>im</strong>m abzugk, - vil<br />

mit den ferßen gesegnet.“<br />

Laut dem Indizientext <strong>des</strong> Manlius kam <strong>Faust</strong> in einer Herberge ums Leben, er hat sich<br />

also bis zuletzt, zumin<strong>des</strong>t nach unserem heutigen Verständnis, nie behe<strong>im</strong>atet.<br />

Die Quellentexte liefern keinen Hinweis, dass <strong>Faust</strong> mit einem eigenen Gespann<br />

unterwegs gewesen wäre, seine offenbar <strong>des</strong> öfteren recht kurz entschlossenen<br />

Abreisen deuten auf wenig Gepäck.<br />

Gemäß den Quellentexten war er allein auf Reisen, auch in den Indizien ist von keinem<br />

Begleiter die Rede. Laut Pfarrer Gast, ein Zeuge aus der zweiten Reihe, „hatte <strong>Faust</strong><br />

einen Hund und ein Pferd bei sich…“<br />

Trägt man auf der Landkarte die verbürgten wie auch die indizierten Stationen seiner<br />

Reisen ein, so konzentrieren sich die Orte auf die seinerzeit bevölkerungsstarken<br />

Regionen, das sind die Mitte und der Südwesten Deutschlands. Und <strong>Faust</strong> war auf<br />

Publikum angewiesen. Je nach Situation konnte er seine Dienste als Arzt, Hellseher<br />

oder Astrologe anbieten.<br />

Man darf annehmen, dass die Postlinien, die <strong>im</strong> wesentlichen nach seiner Zeit<br />

eingerichtet wurden, auf die zu seiner Zeit bereits bestehenden Haupthandelsstraßen<br />

gelegt wurden, also jene Strecken, die durch volkreiche Gegenden führten. Legt man<br />

folglich das Netz der Postlinien um 1600 auf die Landkarte seiner verbürgten Stationen,<br />

so stellt man fest: seine verbürgten Aufenhaltsorte liegen auf den Haupthandelsstraßen<br />

seiner Zeit; wie aufgereihte Perlen liegen hier die Städte und Marktflecken.<br />

Hier strömte an den Markttagen das Volk zusammen, man verkaufte und kaufte, sah<br />

und wurde gesehen, man tauschte sich aus, wollte staunen und was erleben: die<br />

Kundschaft <strong>des</strong> „Doktor <strong>Faust</strong>us“.<br />

Es spricht nichts dagegen, dass <strong>Faust</strong> diese Verkehrsadern als erstes bereiste, allein<br />

um sich zu orientieren, um erste Witterung aufzunehmen. Er wird diese Strecken auch<br />

später noch oft gefahren sein, entlang dieser Strecken wurde Geleitschutz geübt. Dazu<br />

188


oten sie die besten Verkehrsanbindungen, hier fuhren Reisewagen, mit zwei Pfer<strong>des</strong>tärken<br />

war die Entfernung von Marktflecken zu Städtlein ein Katzensprung.<br />

Die Reisenden saßen auf zwei langen Bänken, Rücken an Rücken, das Gesicht zum<br />

Straßenrand gekehrt, das Gepäck lag zwischen den Bänken gestapelt – dort war es<br />

sicher. Ein Sonnensegel schützte vor Regen und Sonne. So richtig vergnüglich war das<br />

freilich nicht, man wurde durchgerüttelt, frei pfiff der Wind, bei starkem Regen tropfte<br />

das Wasser durch die Plane. Doch verglichen mit der Art, wie das fahrende Volk reiste,<br />

war es ein komfortables Reisen, das fahrende Volk ging zu Fuß.<br />

Abseits dieser Hauptstrassen waren auf den Nebenstrecken Fuhrwerke unterwegs, das<br />

Weiterkommen war selbst hier noch relativ einfach.<br />

<strong>Faust</strong> konnte sich den interessantesten Fuhrmann gleichsam aussuchen; er war kein<br />

abgerissener Wanderarbeiter, auch kein armer Pilger, bei dem man fürchten musste,<br />

der Wanderstab könnte sich plötzlich in eine he<strong>im</strong>tückische Lanze verwandeln.<br />

Auch wirkte er gewiss nicht uninteressant. Mit ihm versprach die Zockelfahrt kurzweilig<br />

zu werden. Und während <strong>Faust</strong> dem Schwager (Fuhrmann) so manche Schnurre zum<br />

Besten gab, revanchierte der sich wiederum, indem er seinem Begleiter den neuesten<br />

Tratsch erzählte, ihn aufklärte, was es mit den Dörfern rechts und links <strong>des</strong> Weges auf<br />

sich habe, wer in der Gegend das Sagen und wie das hier mit der Policey so sei.<br />

Kurzum, <strong>Faust</strong> informierte sich, er erhielt Kenntnis von lebens- und überlebenswichtigen<br />

Details.<br />

Und spätestens <strong>im</strong> Hinterland war <strong>Faust</strong> auch mit einem schnellen Pferd unterwegs.<br />

Nicht zu vergessen der „schwarze Hund, der wahrscheinlich der Teufel war“, wahrscheinlich<br />

<strong>des</strong>halb, weil er bissig war und seine Schnauze und Lauscher dort hatte, wo<br />

<strong>Faust</strong> sie nicht hatte. Auch wenn es in dieser Zeit noch nicht die organisierte<br />

Räuberbande, wie jene <strong>des</strong> Schinderhannes um 1800 gab, <strong>Faust</strong>, allein unterwegs, er<br />

muss ungezählte haarsträubende Situationen erlebt haben. Er muss mit dem Schwert<br />

nicht weniger flink als mit der Zunge gewesen sein. Abgesehen von Fehde führenden<br />

Bauern – selbst sie nahmen gelegentlich dieses Herrenrecht für sich in Anspruch –<br />

oder lauernden Strauchrittern, auch ein Kleinhäusler hatte keine Skrupel, einen<br />

einsamen Reiter zu ermorden und die bis auf die nackte Haut gefledderte Leiche zu<br />

verscharren.<br />

Die seltsamen Künste, die <strong>Faust</strong> beherrschte, gutmöglich haben sie ihm oft aus der<br />

Patsche geholfen.<br />

Dass die meisten der verbürgten Orte sich entlang der großen Handelsstraßen finden,<br />

ist plausibel. Dort wurde <strong>Faust</strong> von Behörden wahrgenommen, hier lebten und reisten<br />

freilich auch jene Vertreter der gehobenen Gesellschaft, mit welchen er in Verbindung<br />

stand, deren Briefe und Aufzeichnungen uns erhalten blieben.<br />

So richtig viel Material über <strong>Faust</strong> liegt allerdings nicht vor. Dass er sich in einigen<br />

Städten zumin<strong>des</strong>t auf einige Zeit oder gar nicht mehr sehen lassen durfte, bzw.<br />

unerwünscht war, ist jedoch gut belegt.<br />

Trithemius berichtet 1507 von <strong>Faust</strong>s Flucht aus Kreuznach sowie von einer überstürzten<br />

Abreise in der Nähe von Gelnhausen. 1528 wird <strong>Faust</strong> aus Ingolstadt<br />

verwiesen, 1532 gewährt ihm die Stadt Nürnberg kein Geleit.<br />

Nichts anderes bestätigt Begardi, als er 1539 schreibt: er hat „vil mit den ferßen<br />

gesegnet.“ <strong>Faust</strong> hatte offenbar wirklich wenig Gepäck, dafür reichlich an Instinkt<br />

So lieb <strong>Faust</strong> die Städte gewesen sein mögen, innerhalb ihrer Mauern war Vorsicht<br />

geboten.<br />

Abgesehen von dreisten Reden, konnte sich <strong>Faust</strong> in den Städten allerlei magischer<br />

und hellseherischer Kräfte rühmen, auch behaupten, dass er in den Handlinien die<br />

Zukunft lesen könnte, plumpe Betrügereien durfte er nicht begehen.<br />

Wenn auch in den Gassen der Städte die Schweine grunzten und die Misthaufen<br />

dampften, viele Städte hatten ein derart heißes Pflaster, es hat sich in die Historie der<br />

Rechtspflege eingebrannt. Es waren insbesondere die Städte, die entschlossen, aber<br />

auch rücksichtslos gegen so genannte landschädliche Leute vorgingen. Nicht nur<br />

innerhalb ihrer Mauern, viele Städte hatten die Rechte an umliegenden Dörfern<br />

erworben und kontrollierten über Warttürme und Landwehren ein weites Umland.<br />

189


Die Stadtknechte hatten den Auftrag, jeden Verdächtigen, jede zweifelhafte Person<br />

sofort zu ergreifen. Auch konnte jedermann einen Verdächtigen den Behörden<br />

zuführen, es brauchte dazu keine Straftat, der Verdachtschöpfer brauchte sechs<br />

Ei<strong>des</strong>helfer, die bezeugten, dass der Verdächtige vermutlich ein landschädlicher Mann<br />

sei. Der Verdächtige war damit so gut wie verurteilt.<br />

Und je größer die Stadt, <strong>des</strong>to schneller reagierte der Rat, umso entschiedener griff die<br />

Policey auch zu; die große Stadt Nürnberg war dafür, man darf sagen, berüchtigt.<br />

Wenn Begardi, der Stadtarzt von Worms schreibt, „Wie vil aber mir geklagt haben, dass<br />

sie von jm seind betrogen worden, deren ist eyn grosse zal gewesen“, dann darf man<br />

annehmen, <strong>Faust</strong> hat diese Betrügereien – soweit sie justiziabel waren, nicht <strong>im</strong><br />

Geltungsbereich der Stadt Worms begangen.<br />

Städtische Aufsichtsbeamte hatten ohnehin ein scharfes Auge auf fahren<strong>des</strong> Volk.<br />

Kräuterfrauen oder Leute, die Arbeit suchten, waren eine Sache, wenn auch bereits<br />

verdächtig. Unbeliebt waren Bettler, sie belasteten die städtische Armenküche, fremde<br />

Bettler wurden <strong>des</strong>halb rasch zur Stadt hinaus gejagt, und einer wie <strong>Faust</strong>, der<br />

ungezogene Reden führt, tagelang ein Spektakel veranstaltet, der sollte schauen …<br />

anderseits, was der da bot, das ging tatsächlich mit dem Teufel zu.<br />

Der Aberglaube und die damit verbundene Unsicherheit und Furcht ließen gewiss nicht<br />

wenige Male die Amtleute zögern, und <strong>Faust</strong> hat deren Zögerlichkeit sicherlich zu<br />

nutzen gewusst.<br />

Städte von der Größe Erfurts gab es nicht sehr viele, die meisten Städte, etwa 2000 an<br />

der Zahl, waren nicht größer als Knittlingen. Und <strong>Faust</strong> hat vermutlich die meisten von<br />

ihnen besucht, also weite Teile <strong>des</strong> damaligen Deutschlands bereist, - weil er von<br />

Stadtreg<strong>im</strong>entern zur unerwünschten Person erklärt worden war, - weil er keinen<br />

zweiten Besuch wagte, da er es bei seinen Betrügereien zu arg getrieben hatte.<br />

Ohne Frage hat er bei einem Auftritt wie in Erfurt Geld eingesackt; ein solcher Auftritt<br />

war aber lediglich die Le<strong>im</strong>rute, an welcher die wirklich großen Fische kleben blieben.<br />

Ein reicher Bauer will einen Acker an sich bringen, ein anderer sucht Hilfe gegen einen<br />

Geist, ein Adeliger bildet sich ein, dass einst der Ahne Rangbold einen Schatz in der<br />

Burg vergraben ließ. Gier und Angst treibt sie, sie alle suchen nach <strong>Faust</strong>s Auftritt ein<br />

Gespräch mit ihm, sie bitten <strong>Faust</strong> um seinen Besuch.<br />

Begardi schreibt: „doch hat er sich <strong>im</strong>m gelt nehmen, oder empfahen – das ich auch<br />

recht red, nit gesaumpt.“<br />

<strong>Faust</strong> hat also Geld genommen, das heißt einen Betrag genannt, er hat jedoch auch<br />

„empfahen“, also Geld empfangen, das er nicht forderte, das man ihm aufdrängte.<br />

<strong>Faust</strong> muss mit dem, was er in einer Stadt demonstrierte, derart überzeugend gewesen<br />

sein, einige seiner Zuschauer kannten sich selbst nicht mehr. Sie konnten nicht mehr<br />

anders, sie wussten einfach, dieser Mann war ihre große Chance: „Jetzt oder Nie!“<br />

Über das Ergebnis dieses untrüglichen Instinkts und mannhaften Entschlusses<br />

berichtet Begardi: „aber die that, wie ich noch vern<strong>im</strong>m, vast kleyn vnd betrüglich<br />

erfunden.“<br />

Betrugsgeschichten aus der Zeit <strong>des</strong> <strong>Faust</strong> berichten von Schädigungen, Beträge von<br />

100 Gulden waren dabei nichts ungewöhnliches, auch der Betrug um bis zu 1000<br />

Gulden war kein Einzelfall.<br />

Die <strong>Faust</strong>forschung beklagt die Leerstellen seines Lebens. Diese Leerstellen sind<br />

gewiss auch die Folge <strong>des</strong>sen, dass <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Einzugsbereich einer Stadt es sich sehr<br />

gut überlegen musste, wie weit er ging, er sich eher zurückhaltend gab,<br />

beziehungsweise gar nicht öffentlich auftrat, weil er lediglich jemand besuchen wollte,<br />

oder ein publikumswirksamer Auftritt sich sogar verbot, da er mit einer bedeutenden<br />

Person in Verbindung stand. Was wiederum darauf schließen lässt, <strong>Faust</strong> hatte zur Zeit<br />

seines Auftritts in Erfurt keinen nennenswerten Kontakt zu einer Persönlichkeit in Erfurt.<br />

Wir wissen aus den Briefen <strong>des</strong> Trithemius sowie <strong>des</strong> Mutianus, was <strong>Faust</strong> sich innerhalb<br />

einiger Städte leistete – es macht Kopfschütteln. Was mag er dann erst in den<br />

Dörfern getrieben haben? Dort konnte er dann wohl so richtig er selbst sein.<br />

190


Die Menschen in den Städten waren abergläubisch, sensationslüstern, in diesen Jahrzehnten<br />

auch geradezu wundersüchtig; die Menschen auf dem Lande waren das in<br />

noch viel höherem Maße.<br />

Der Flickenteppich von eifersüchtig ihre Befugnisse bewachenden Territorialstaatlichkeiten,<br />

das Fehlen einer übergreifenden Polizeigewalt, begünstigten <strong>Faust</strong>s Umtriebigkeit;<br />

gewiss hat er bei seinen Betrugsgeschäften die Entfernung zur nächsten Grenze<br />

auch stets <strong>im</strong> Auge gehabt. Der Zugriff endete an der Grenze <strong>des</strong> Sprengels; lieber<br />

ließen die drüben einen laufen, als dass sie den Verfolgern die Jagd <strong>im</strong> eigenen Revier<br />

gestatteten.<br />

Dass es gebietsweise keinerlei Aufzeichnungen gibt, beweist nicht, dass er best<strong>im</strong>mte<br />

Landstriche nie bereist hätte. Von den Menschen, die <strong>des</strong> Schreibens kundig waren,<br />

sah sich nicht jeder bemüßigt, den Besuch eines reisenden Schwarzkünstlers<br />

festzuhalten. So mancher Pfarrer mag einen Eintrag <strong>im</strong> Kirchenbuch gemacht haben,<br />

die Kirchenbücher gibt es nicht mehr, sie haben die Reformationszeit, den<br />

Dreißigjährigen Krieg, die Stürme der Zeiten nicht überlebt.<br />

Es wurde angedacht, dass <strong>Faust</strong> gelegentlich unter falschem Namen auftrat; Begardi<br />

lässt keinen Zweifel, <strong>Faust</strong> war auch ein gerissener Betrüger. Andererseits notiert<br />

Begardi: „Dann er ist vor etlichen jaren vast durch alle landtschafft, Fürstenthuomb<br />

vnnd Königreich gezogen, seinen namen jederman selbst bekannt gemacht.“<br />

Der Indizientext, die „Z<strong>im</strong>mersche Chronik“ bestätigt es. „Der ist bei seiner zeit ein<br />

wunderbarlicher nigromanta gewest, als er bei unsern zeiten hat mögen in deutschen<br />

Landen erfunden werden.“ <strong>Faust</strong> muss von einer verwegenen Dreistigkeit gewesen<br />

sein, er betrog und unterschrieb mit vollem Namen.<br />

Grundsätzlich kommt der gesamte damalige deutschsprachige Raum als Reisegebiet<br />

in Frage. Zwar war die Blütezeit der Hanse vorbei, aber Städte wie Bremen, Hamburg<br />

oder Lübeck, auch wenn sein Aufenthalt dort nicht belegt ist, waren wichtige<br />

Stapelplätze. Nicht allein Waren aus dem Mittelmeerraum und Südamerika füllten die<br />

Lager, sondern auch Handelsgüter aus Polen, Russland und Karelien. Neben Rohstoffen<br />

gab es Halb- und Fertigwaren, Gewürze, Arzneistoffe und Spezereien.<br />

Je nach Höhe der Beute konnte <strong>Faust</strong> es sich sicherlich auch leisten, aus Plaisir auf<br />

Reisen zu gehen. Es galt wichtige Bekanntschaften zu pflegen, neue Kontakte zu<br />

knüpfen, aber auch um sich umzuhören, den Großen der Welt ihre Gehe<strong>im</strong>nisse abzulauschen.<br />

Nicht zu vergessen, es mussten Substanzen eingekauft und nach Knittlingen<br />

oder vielleicht auch in eine Alchemistenküche transportiert werden.<br />

Im Manlius-Text ist auch von Krakau und Venedig die Rede. Krakau erscheint als<br />

glaubhaft, die Krakauer Universität hatte wegen ihrer humanistischen und mathematisch-astrologischen<br />

Fächer einen guten Ruf, aber auch den Ruch einer Universität der<br />

Teufelskünste. Dort wurde – verdächtig genug, „natürliche Magie“ gelehrt; ein tolles<br />

Gebräu aus unzulänglichen Kenntnissen der Optik, Mechanik, Physik, Chemie,<br />

Suggestion, Hypnotismus und Magnetismus. Was viele deutsche Studenten nicht<br />

hinderte, in Krakau zu studieren. Was diese dann zu Hause zu berichten wussten,<br />

erzeugte bedenkliche Mienen und ein vermutungsvolles Geraune, das in dieser<br />

„teuflischen Zeit“ geradewegs zur Notiz <strong>des</strong> Manlius führte, <strong>Faust</strong> habe in Krakau „die<br />

zauberey gelernet“.<br />

<strong>Faust</strong> wird sich um den zweifelhaften Ruf der Krakauer Universität nicht geschert<br />

haben. Der Fächerkanon der „natürlichen Magie“ könnte ihn durchaus gereizt haben.<br />

Nicht zuletzt hatte er selbst etwas zu bieten; man darf annehmen, es war von einer Art,<br />

damit ließ sich nicht nur der Universitätsbetrieb von Erfurt aus dem Gleichlauf bringen.<br />

Venedig scheint auf den ersten Blick eher zweifelhaft. Es gibt keinen Hinweis, dass<br />

<strong>Faust</strong> einer gängigen Fremdsprache mächtig gewesen wäre, was sollte er also in<br />

Venedig ausrichten? Das Volk verstand ihn nicht, und ob die Gebildeten oder die<br />

weltläufigen Kaufleute sich mit ihm auf Latein unterhalten wollten, mag dahin gestellt<br />

bleiben.<br />

Doch warum sollte Venedig ausgeschlossen bleiben? Das Venedig jener Zeit, es war<br />

mehr als nur eine Stadt. Venedig stand nicht allein für phantastischen Reichtum,<br />

sondern für das Phantastische schlechthin. Alles, was Asien, Indien und der Orient an<br />

191


exotischen Waren zu bieten hatte, es wurde über Venedig umgeschlagen. Mit dem<br />

Namen Venedig verknüpfte sich der Begriff „Ware“ mit Legenden und Bildern, von<br />

bepackten Kamelen, Sandstürmen, tausenderlei Gefahren, mit Entfernungen, die in<br />

Jahren gemessen wurden. Nach Venedig trugen die Galeeren die Waren aus China,<br />

Persien, Ägypten und Afrika. Seide, Baumwolle, Brokat, Kattun, Musselin, Damaszenerklingen,<br />

Perlen und Elfenbein. Dazu Gewürze, die seit Jahrhunderten in Europa<br />

Höchstpreise erzielten: Pfeffer, Z<strong>im</strong>t, Ingwer, Safran, Muskat, Rosenwasser, und auch<br />

Öle, Balsam, Harze, Gummi.<br />

Nicht zuletzt Arzne<strong>im</strong>ittel, Aromata, Wundermittel und Drogen, jene Stoffe, die direkt<br />

hinein führten in die Welt der babylonischen Magi und der gehe<strong>im</strong>nisvollen Überlieferungen<br />

alter Zauberkräfte. (Magier; indo-germ.: machen, etwas vermögen)<br />

In Venedig konnte <strong>Faust</strong> selbst jene Mittel und Substanzen erwerben, die Deutschland<br />

nicht erreichten, schlicht <strong>des</strong>halb, weil sie derart selten und exotisch, wenn nicht gar<br />

exzentrisch waren; es gab dafür keinen Markt.<br />

Was in Venedig nicht zu kaufen war, das existierte nicht. Selbst gesetzt den Fall, dass<br />

<strong>Faust</strong> an keinerlei Waren interessiert gewesen wäre, sein Betriebskapital war neben<br />

anderem seine Welterfahrung, und als Mann von Welt musste man damals in Italien<br />

gewesen sein.<br />

Allein der „Fondaco dei Te<strong>des</strong>chi“, der deutsche Hof, war ein Superlativ. Dort wurde<br />

soviel an Ware umgeschlagen, Venedig vereinnahmte täglich 100 Gulden an Steuern.<br />

Von Venedig ging der Transport über den Brenner nach Innsbruck, sodann in die<br />

Fuggerstadt Augsburg und weiter nach Ulm. Der andere Weg, gemäß dem zeitgenössischen<br />

Kartographen Erhard Etzlaub und seinem „Das sein die lantstrassen durch das<br />

Römische reych“ von 1501, führte nicht weit an Cilli und jenem Hallestein vorbei, nach<br />

Salzburg, Regensburg und Nürnberg.<br />

Der „Fondaco dei Te<strong>des</strong>chi“ diente auch als Herberge; Albrecht Dürer wohnte dort, als<br />

er in Venedig weilte.<br />

Und jenes Hallestein, das heutige Heilenstein, das <strong>Faust</strong> gegenüber dem Prior Leib<br />

erwähnt, <strong>Faust</strong> hat es eventuell nie gesehen, doch möglicher weise hat <strong>Faust</strong> mit<br />

einem Komtur aus Hallestein gesprochen, als er durch diese Region reiste.<br />

Einen Besuch in Hallestein für möglich zu halten, heißt anzunehmen, dass <strong>Faust</strong> sich<br />

längere Zeit in Österreich aufgehalten hätte, in einer Welt, die sich gewiss anders<br />

präsentierte als seine He<strong>im</strong>at. „Überlegungen zum Leben eines Schwarzkünstlers in<br />

der Alpenregion zur Zeit <strong>des</strong> späten Mittelalters“ – eine Arbeit, sie sei einem<br />

österreichischen <strong>Faust</strong>fan vorbehalten.<br />

1522 eroberten die Türken Rhodos, Venedig verlor damit einen weiteren wichtigen<br />

Posten in der Levante. Doch bereits um 1490 hatte Antwerpen begonnen das große<br />

Venedig als Drehscheibe abzulösen. Vierzig Jahre später, um 1530, wird in Antwerpen<br />

in einem Monat mehr umgeschlagen werden als in Venedig binnen zweier Jahre.<br />

Antwerpen zu besuchen, auch dafür hatte <strong>Faust</strong> der Gründe genug. In Antwerpen<br />

wurden neben den Nachrichten Europas auch die neuesten Meldungen aus dem<br />

entdeckten „Indien“, aus „Venezola“, gehandelt. Nicht auszuschließen, <strong>Faust</strong> hatte in<br />

Antwerpen jene Informationen aufgeschnappt, die ihn be<strong>im</strong> Ausformulieren <strong>des</strong><br />

Reisehoroskops für Philipp von Hutten zur Skepsis mahnten: „… auch etliche Christen<br />

(bei den erfolglosen Expeditionen) wider die Natur Menschenfleisch gessen haben.“<br />

wie Philipp von Hutten später in seinen Briefen berichten wird. Gutmöglich hatte <strong>Faust</strong><br />

ähnliches in den Antwerpener Hafenkneipen längst vorher gehört, von Seeleuten, die<br />

„drüben“ gewesen waren.<br />

In Antwerpen stapelten sich neben den Waren aus dem Mittelmeerraum auch die<br />

Rohstoffe der Neuen Welt: Tolubalsam, Harze, Ipecacuanha (Brechwurzel, Mittel bei<br />

schwerer Erkältung), Cocablätter, oder das Gujakholz, von dem die Fugger, nachdem<br />

sie sich das Monopol darauf gesichert hatten, behaupteten, dass es die Syphilis heile.<br />

Und in Brabant, <strong>im</strong> Schloss Batenberg, so vermeldet eine Sage, soll <strong>Faust</strong> inhaftiert<br />

gewesen sein. Es spricht nichts dagegen, <strong>im</strong> Raum um Schloss Batenberg sind einige<br />

<strong>Faust</strong>histörchen angesiedelt.<br />

192


Im nachfolgenden Jahrhundert fertigte Rembrandt eine allegorische <strong>Faust</strong>-Radierung.<br />

Er malte aber auch ein <strong>Faust</strong>-Portrait; man n<strong>im</strong>mt an, dass Rembrandt nach einer<br />

Skizze malte. Jemand hatte <strong>Faust</strong>, vermutlich ohne <strong>des</strong>sen Wissen, skizziert; eventuell<br />

als er vornüber geneigt an einem Tisch oder auf einer Ofenbank saß. Dementsprechend<br />

gibt Rembrandts Gemälde nicht viel her, das Konterfei konzentriert sich auf<br />

das Haupthaar und die Stirnpartie; man hat den Eindruck, dass es sich dabei um einen<br />

eher kleinen, schmalschultrigen Mann von etwa 40 Jahren handelt.<br />

Fast unnötig hinzu zu fügen, dass die Skizze auch außerhalb Hollands gefertigt worden<br />

sein kann.<br />

Um die Liste der Möglichkeiten abzurunden, es ist nicht ausgeschlossen, dass <strong>Faust</strong>,<br />

als Arzt <strong>im</strong> Gefolge kaiserlicher Truppen, auch längere Zeit <strong>im</strong> Ausland war.<br />

Die Datumsangaben der Quellentexte, <strong>Faust</strong>s gesicherte Reisedaten, zeigen nahezu<br />

nur wärmere Monate.<br />

Im Winter war das Reisen teuer, man brauchte Nacht um Nacht ein Quartier, das Bett<br />

<strong>im</strong> Kornfeld lag unter einer Schneedecke. Die Märkte waren dagegen nur mäßig<br />

besucht, und die wenigen Bauern, die noch zur Stadt hinein fanden, sie hatten wohl<br />

wenig Lust auf ein Spektakel <strong>im</strong> Wirtshaus, es lagen beschwerliche He<strong>im</strong>wege vor<br />

ihnen. Im Winter zu reisen, bedeutete hohe Kosten, geringe Einnahmen, und<br />

vergnüglich war es auch nicht. Ein Kutschbock, eine Kutschbank ist <strong>im</strong> Winter ein<br />

kaltwindiger Platz, da hilft keine um den Leib geschlagene Pferdedecke, und bei<br />

Radbruch <strong>im</strong> Eiswasser herum zu patschen ist auch nicht spaßig.<br />

Überraschungen besonderer Art hielt das Reisen <strong>im</strong> winterlichen Hinterland bereit.<br />

In der „Z<strong>im</strong>merischen Chronik“ wird berichtet: „Den münchen zu Lüxha<strong>im</strong> <strong>im</strong> Wassichin<br />

hat er ain gespenst in das closter verbannet… Allain der Vrsach, das sie Ine einsmals<br />

nit haben wellen vbernacht behalten.“ (Lüxha<strong>im</strong> am Mosel-Ursprung; heute: Luxeuil)<br />

Die Verweigerung eines Nachtquartiers <strong>im</strong> Sommer bedeutete für den Fall, dass es<br />

regnete, eine Unbequemlichkeit. Im Spätlicht eines Wintertages in einem Weiler zu<br />

landen, in welchen Wochen zuvor arbeitslose Söldner ihren Spott getrieben hatten,<br />

bedeutete, dass es nicht einmal ein Bett <strong>im</strong> Heuschober gab.<br />

„Wieder so ein Fresser! Ein Lurer! Ein Ausspionierer von dem Gesindel!“ Dann ließen<br />

sie die Hunde raus.<br />

Schier unmöglich war das Fortkommen <strong>im</strong> Frühjahr. Nach Reiseberichten jener Zeit<br />

waren die Straßen ein aufgeweichter Brei, man sank bis zu den Waden ein, Fuhrwerke<br />

kippten <strong>im</strong> grundlosen Boden, die unausgesetzte Nässe ließ bei den Pferden die<br />

Huffäule grassieren. Dann die Situation in den Herbergen: kaum dass es Waschgelegenheiten<br />

gab, es stank nach nasser Kleidung, nach Straßenkot, die Räume waren<br />

oft ungeheizt.<br />

So gesehen passt die Geschichte vom Bocke Madel, <strong>Faust</strong> hat sich wohl die Winter<br />

hindurch meistens in Knittlingen aufgehalten; erzwungene Ruhepausen, die er wahrscheinlich<br />

zur Herstellung von Arzne<strong>im</strong>itteln nutzte.<br />

Doch ob er nun als Astrologe auf Reisen ging oder sich Materialen besorgen wollte, der<br />

Standort Knittlingen mit seiner Anbindung an die Postlinie war in jedem Fall hilfreich.<br />

Die Quellentexte und deren Aussagen, die großen Zeitspannen ohne Nachrichten über<br />

<strong>Faust</strong>, das alles lässt es nicht zu, eine Art von Bewegungsraster für <strong>Faust</strong> zu erstellen.<br />

Noch lässt sich rekonstruieren, wie <strong>Faust</strong> ein Leben als angesehener Astrologe mit<br />

dem Leben <strong>des</strong> Betrügers <strong>Faust</strong> verbunden hat, beziehungsweise es schaffte, dass die<br />

zwei Leben nicht miteinander kollidierten und ihn am Ende brotlos machten.<br />

Abgesehen von möglichen Haftstrafen und Auslandsaufenthalten, ein Mensch ändert<br />

nicht nur seine Neigungen und Bedürfnisse, es brechen Beziehungen weg, auch<br />

ziehen Nachrichten oder finanzielle Engpässe unerwartete Reisebewegungen nach<br />

sich.<br />

Nicht zuletzt rühmte sich <strong>Faust</strong>, dass „er in der Alchemie von allen, die je gewesen, der<br />

Vollkommenste sei.“ In Knittlingen selbst hat er sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht<br />

als Alchemist betätigt, es mangelte schlicht an Platz.<br />

Denn wie beengt es in den Städten zuging, zeigt sich am Beispiel der Krämerbrücke in<br />

Erfurt, 1486 wurden auf der Brücke 64 Fachwerkbauten gezählt. Und vom Haus <strong>des</strong><br />

193


Apothekers Gerardus in Köln ist bekannt, dass es mit vier weiteren Häusern eine<br />

Straßenfront von gerade mal 13 Metern bildete.<br />

Eine Alchemistenküche beinhaltete gewaltige Ofenanlagen, neben einem Meister und<br />

seinem Jünger waren drei Helfer zugange. Dazu gab es ein Oratorium, der Ort der<br />

inneren Sammlung, <strong>des</strong> Gebets, der seelischen Reinigung. Die notwendigen Gewölbe<br />

von min<strong>des</strong>tens 100 Quadratmetern waren nur in Klöstern und größeren Burgen<br />

vorhanden.<br />

Es ist denkbar, dass <strong>Faust</strong>s Interesse an der Alchemie zeitweilig derart groß war, weil<br />

er eben glaubte, einer großen Sache auf der Spur zu sein, dass er sich über einen<br />

Zeitraum von ein oder zwei Jahre auf einer Burg, in einem Kloster oder einem Landgut<br />

gleichsam vergraben hatte und nur noch der großen kommenden Entdeckung <strong>des</strong> …<br />

nun ja, wir wissen es nicht, lebte; eine weitere Erklärung für den Mangel an<br />

Nachrichten über ihn.<br />

Laut dem Trithemius-Brief kam <strong>Faust</strong> in den Fasten 1507 nach Kreuznach. Auch den<br />

Winter 1519 verbrachte <strong>Faust</strong> vermutlich nicht in Knittlingen, denn am 12. Februar<br />

1520 weilte <strong>Faust</strong> in Bamberg, jener Tag, an dem er vom Fürstbischof zehn Gulden<br />

geschenkt bekam.<br />

War <strong>Faust</strong> in jenen Wintern einmal bei Franz von Sickingen sodann <strong>im</strong> Raum Bamberg<br />

als Goldmacher untergeschlüpft? Doch abgesehen von jenem Gymnasialprofessor<br />

Albert Schott, der 300 Jahre nach <strong>Faust</strong>s Tod erstmalig von einem Goldmacher <strong>Faust</strong><br />

fabulierte, gibt es keinen Hinweis, dass <strong>Faust</strong> sich jemals als Goldmacher betätigte.<br />

Dass dennoch in Sachen „<strong>Faust</strong>“ ständig vom „Goldmachen“ geredet wird, man darf es<br />

als Euphemismus bezeichnen; „Goldmachen“, Umschreibung für alles, was man über<br />

<strong>Faust</strong> nicht weiß.<br />

Es lässt sich, wie bereits gesagt, für <strong>Faust</strong> kein Bewegungsraster erstellen. Auch die<br />

Entwicklung, das Ausleben seiner Neigungen sind uns nicht bekannt. Es ist durchaus<br />

denkbar, dass er zeitweise durch die politischen Ereignisse als astrologischer Berater<br />

derart gefordert war, dass er selbst <strong>im</strong> Winter von Burg zu Burg unterwegs war,<br />

zwischen Fürstenhöfen und Prominenten pendelte.<br />

<strong>Faust</strong>, ein Überall. Jedoch nicht über alle Jahrzehnte seines Lebens hinweg. Denn<br />

1520 wird in Kursachsen in den Straftatbestand der Hexerei u.a.m. auch das<br />

Wahrsagen miteinbezogen. Es kommt eine Verschärfung der Gesetze in Gang, die sich<br />

zunächst insbesondere gegen die „Freiberufler“ <strong>im</strong> fahrenden Volk richtet.<br />

Ein erlassenes Gesetz stört einen <strong>Faust</strong> wenig, ein Gesetz will auch umgesetzt sein.<br />

Doch spätestens nachdem mit der Niederschlagung <strong>des</strong> Bauernaufstands auch die<br />

Unruhe aus den Landschaften gekämmt ist, die lutherische Kirche sich einzurichten<br />

beginnt – wie mehrfach dargestellt hält sie weniger als wenig von Leuten wie <strong>Faust</strong>,<br />

war der Weg frei, um diesen Gesetzen Geltung zu verschaffen. Diese für <strong>Faust</strong><br />

ungünstige Entwicklung griff zuvorderst in den reformierten mitteldeutschen<br />

Fürstentümern um sich. Spätestens ab 1526 musste <strong>Faust</strong> wohl doppelt gut aufpassen,<br />

wohin er seine Schritte lenkte. Denn zu den Städten und Städtchen, die er bei Urfehde<br />

nicht mehr betreten durfte, und zu den Orten, wo er sich besser nicht mehr blicken ließ,<br />

gesellten sich vermehrt Landstriche, wo die Vertreter seiner Zunft nun unerwünscht<br />

waren.<br />

Theoretisch bietet es sich nun an, die Stufen der sich verschärfenden Gesetzgebung<br />

von Gebiet zu Gebiet zu erfassen, um auf diese Weise nachzuvollziehen, welche Landstriche<br />

<strong>Faust</strong> ab welchem Zeitpunkt wohl nicht mehr bereiste.<br />

Ob diese Verfahrensweise zu verlässlichen Aussagen führt, ist zweifelhaft.<br />

Wie bereits erwähnt, Anordnen und Umsetzen ist zweierlei. Und nicht allein das<br />

generelle Umsetzen, man denke an Kunigund Hirtin. Sie war keine namenlose<br />

„Heckenliesl“, sie war eine Autorität. Selbst mehr als zehn Jahre nach der<br />

Reformierung Nürnbergs, so einfach kamen die Nürnberger Stadtväter ihr nicht bei.<br />

Es kommt hinzu, „warsager“ ist nicht gleich Wahrsager. Die Künste <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s, soweit<br />

den Quellentexten zu entnehmen, sind zuvorderst die der Astrologie und <strong>des</strong><br />

Wahrsagens bzw. <strong>des</strong> Handlesens.<br />

194


Und gerade Philipp Melanchthon schätzte nicht allein die Astrologie, sondern auch das<br />

Lesen in den Handlinien und das Lesen in der Physiognomie. Nicht anders als die<br />

Sterne, seien auch letztere Gottes Werk, nur dass ihre Ausdeutung eben nicht an<br />

Universitäten gelehrt wurde. Die Schriften dazu, wie z. B. „Physionomiae et<br />

Chiromantiae anastasis“ <strong>des</strong> Bolognesers Bartholomäus Cocles, er war Arzt, Chirurg,<br />

Astrologe und Chiromant, oder die 1522 publizierte „Introductiones apothelesmaticae“<br />

<strong>des</strong> Indagine, eine Einführung in die Astrologie und in die Weissagungslehre aus den<br />

Handlinien und den Gesichtszügen, hatten Lehrbuchcharakter.<br />

Johannes de Indagine (Johannes von Hagen) war Hofastrologe <strong>des</strong> Kurfürsten und<br />

Erzbischofs von Mainz.<br />

Die Proportionen der Hand, Längen der Linien, Ausprägung der Berge, die jeweiligen<br />

Tiefen und Winkel, das alles war durch Zahlen erfassbar und erhob das Handlesen in<br />

den Rang einer wissenschaftlichen Erkenntnismethode. Dasselbe galt auch für das<br />

Lesen in der Physiognomie.<br />

Die Zukunftsschau durch Hydromantie, Aeromantie, Pyromantie, erst recht durch Geomantie<br />

hatte in jener Zeit bereits deutlich an Ansehen verloren, quer durch alle<br />

Volksschichten stand die Chiromantie als Mittel den Charakter und die Zukunft zu<br />

erkunden in hohem Ansehen.<br />

So man sich dabei einer alten Frau anvertraute, hatte es den Ruch von Gehe<strong>im</strong>nis und<br />

Zauberei, senkte dagegen ein Dr. <strong>Faust</strong>us den Blick auf die Linien der gebotenen<br />

Hand, hatte es den Flair von Wissenschaftlichkeit.<br />

Wobei kein geringerer als eben Melanchthon, der das Wissen, das an einer Universität<br />

erworben wurde, höher schätzte als Intuition und Erfahrung, behauptet, dass <strong>Faust</strong><br />

seine Künste nicht in den „Hecken“, sondern an einer Universität erworben habe.<br />

Manlius notierte: „derselbige da er zu Crockaw in die Schul gieng / da hatte er die<br />

Zauberey gelernet.“<br />

Es wurde also nicht nur zwischen „Hecken“ und Universität unterschieden, sondern<br />

auch von Universität zu Universität.<br />

Die Matrikelbücher der Universität Krakau kennen unseren <strong>Faust</strong> nicht. Was aber den<br />

Lehrer Melanchthon nicht weiter kümmerte. Der Fall „<strong>Faust</strong>“ war klar, folglich<br />

gebrauchte er <strong>Faust</strong> nur noch zur lehrhaften Untermauerung. In diesem Sinne spricht<br />

er nicht von Astrologie und Chiromantie, er nennt es Zauberei und diffamiert die<br />

Krakauer Universität als Teufelsuniversität.<br />

Und auch von Buch zu Buch wurde unterschieden. Es gab eine Reihe verbotener<br />

Schriften und Bücher.<br />

Graf Froben Christoph, Mitautor der Z<strong>im</strong>merschen Chronik – von der noch berichtet<br />

werden wird, hatte sich um 1540 intensiv mit magischen Praktiken befasst, gestützt auf<br />

jene verbotene „Fachliteratur“. Als der Graf <strong>im</strong> Jahr 1541 an den Pocken erkrankte, hat<br />

er „sich … ain aidt geben, sich solcher verbottner, unchristenlicher und gotloser<br />

künsten hinfuro die zeit seines lebens zu enthalten.“<br />

Ob man nun <strong>Faust</strong>s eingeschränkte Reisefreiheit strikt über die Ausbreitung der sich<br />

stetig verschärfenden Gesetze nachzeichnet oder ob man die Frage gelassener<br />

angeht, da ein Dr. <strong>Faust</strong>us gewiss mehr Freiräume hatte als eine Hecken-Liesel, es<br />

scheint nicht derart bedeutsam.<br />

Der Manlius-Text lässt keine Zweifel, mit <strong>Faust</strong> wallte ein Gestank von Teufelswerk<br />

einher, in reformierten Landschaften war er seines Lebens gewiss nicht mehr sicher.<br />

Und selbst wenn man unterstellt, dass <strong>Faust</strong> in reformierten Landschaften zwar ein<br />

Reisender mit zweifelhaftem Ruf war, den man aber weitgehend unbehelligt ließ, so<br />

gab es für <strong>Faust</strong> keinen Grund mehr, diese Landstriche zu besuchen. Der Umgang mit<br />

einem Teufelshurer verbot sich für die neuen Christenmenschen; <strong>Faust</strong> hatte dort keine<br />

Kunden mehr.<br />

Nun könnte man die Diskussion über <strong>Faust</strong>s Reisefreiheiten auch vom Tisch wischen,<br />

indem man <strong>Faust</strong> unterstellt, er wäre eben nur noch als Astrologe tätig gewesen und<br />

obendrein unter falschem Namen gereist.<br />

Mag sein, dass er in einer brenzligen Situation sich kurz die Tarnkappe überstreifte,<br />

doch sich vorzustellen, dass er, der offenbar eine derartige Lust am Auftritt hat, bis ihn<br />

195


schließlich die Stadtknechte mit gefällten Spießen <strong>im</strong> Trabschritt zur Stadt hinaus<br />

treiben, sich über Wochen hinweg hinter einem Alias wegducken wird, es fällt schwer.<br />

Er braucht die Bewunderung, das Staunen, hat es vermutlich nie anders kennengelernt,<br />

soll er sich plötzlich kasteien, sich selbst auf Entzug setzen? Dies sich<br />

vorzustellen, es passt nicht recht zu <strong>Faust</strong>, ein „Helmitheus“ benutzt kein Alias.<br />

Auch fragt sich, ob es überhaupt geklappt hätte. <strong>Faust</strong>, mit dem Jahr 1525, gewiss an<br />

die 25 Jahre unterwegs, stets darauf bedacht, sich und seinen Namen überall bekannt<br />

zu machen, doch plötzlich möchte ihn bitte keiner mehr erkennen?<br />

Die vorliegenden Quellentexte befördern den Ruch <strong>des</strong> Fantastischen. Wie ein<br />

Irrwisch, nach Auftritt mit atemberaubend schönem Pfauenrad, verschwindet <strong>Faust</strong><br />

erneut über Jahre hinweg <strong>im</strong> Nichts. Und nichts wünscht sich die <strong>Faust</strong>-Gemeinde<br />

sehnlicher als wieder ein Pfauenrad, die Auffindung <strong>des</strong> zehnten Quellentextes.<br />

*<br />

Der Zauberschrank von Knittlingen<br />

Der „Giftschrank <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us“ ist der bei weitem interessanteste Gegenstand, der<br />

als Indiz dafür gehandelt wird, dass <strong>Faust</strong> ein Knittlinger war. Nicht zuletzt gründet auf<br />

diesem Möbel das vierte Indiz: das <strong>Faust</strong>haus; an <strong>des</strong>sen Stelle früher ein Gebäude<br />

stand, in welchem <strong>Faust</strong> das Licht der Welt erblickt haben soll.<br />

1837 wird auf der einstigen Gerlach`schen Hofstelle eine Scheune abgerissen. Be<strong>im</strong><br />

nachfolgenden Ausheben <strong>des</strong> Erdreichs zwecks Errichtung eines Kellers kommt ein<br />

merkwürdiger Schrank ans Tageslicht. Er ist als Davidstern gearbeitet, 113cm hoch<br />

und 28cm tief. Nach Fertigstellung <strong>des</strong> Gebäu<strong>des</strong> wird der Schrank in diesem Haus<br />

aufgehangen, dort befindet er sich auch heute. Der Schrank ist privater Besitz, er ist<br />

der Öffentlichkeit nicht zugänglich.<br />

Wie es bei der Auffindung <strong>des</strong> Möbels <strong>im</strong> Jahr 1837 zuging, ist nicht bekannt.<br />

Überliefert ist jedoch, dass der Schrank sofort gründlich gereinigt wurde. Wer weiß,<br />

was man dabei <strong>im</strong> Schrank selbst sowie <strong>im</strong> Erdreich übersehen hat?<br />

Möglicher weise waren neben Laborgerätschaften auch Gefäße mit Substanzen<br />

versteckt. Eventuell auch Bücher, denn aus der Zeit, als der Schrank geborgen wurde,<br />

ist überliefert, man hätte in Knittlingen „Scripturen“ gefunden. Vielleicht waren mit<br />

„Scripturen“ jedoch lediglich die auf den Schrank gemalten Zeichen gemeint. Falls<br />

außer dem Schrank noch Gegenstände und Behältnisse gefunden wurden, dann<br />

wusste man jedenfalls damit nichts anzufangen, man hat sie entsorgt.<br />

Das Versteck <strong>des</strong> Schranks, mehrere Handbreit unter der Oberfläche <strong>des</strong> Bodens einer<br />

Scheune, darf man hingegen als Geniestreich bezeichnen. Dass der Schrank in unsere<br />

Zeit herüber gerettet wurde, ist Beweis, wer <strong>im</strong>mer den Schrank versteckte, er hat an<br />

alles gedacht.<br />

Zwar verfügte das ursprüngliche <strong>Faust</strong>haus bereits über einen Teil <strong>des</strong> Kellers, auf<br />

dem das heutige Gebäude ruht, doch Keller sind meist feucht, bei starkem Regen<br />

dringt Wasser ein, wenn nicht unmittelbar von außen, dann durch die Wasser<br />

ableitenden Erdschichten.<br />

Ein Platz unter dem Dach ist ebenfalls ungeeignet, nicht nur wegen der Brandgefahr,<br />

ein Dachgeschoß wurde damals intensiv als Lager, als Speicher genutzt. Stellt man<br />

obendrein die schmalen Stiegen der einstigen Häuser in Rechnung, dann darf man<br />

zweifeln, ob ein Transport zum Dachgeschoß hinauf überhaupt möglich gewesen wäre.<br />

Der Boden einer Scheune ist dagegen <strong>im</strong> Allgemeinen nicht nur trocken, er ist<br />

gleichsam ausgedörrt, die verschiedenen Pilze und Bakterien sind untätig, Fäulnis oder<br />

gar Umsetzung von organischem Material zu Humus finden nicht statt, und <strong>im</strong> Brandfall<br />

schützte die Erdschicht den Schrank.<br />

Die Scheune schützte auch vor den Blicken der Nachbarn, als man die Grube aushob<br />

und das Versteck bereitete.<br />

Für den Fall, dass <strong>Faust</strong> den Schrank versteckte, kann man ihm nicht genug Kompl<strong>im</strong>ente<br />

machen, Knittlingen brannte zwe<strong>im</strong>al nieder, der Schrank lag wahrscheinlich<br />

jahrelang auch <strong>im</strong>mer wieder in feuchter Erde. Im größten Unglück dürfen glückliche<br />

196


Begleitumstände helfen; Asche sowie Holzkohleschichten, welche die Brandstätte<br />

bedeckten, wirken Bakterien hemmend.<br />

Es wird berichtet, dass man den Schrank stark eingefettet auffand.<br />

Diesen Schrank stark einzufetten, dazu brauchte es mehr als einen E<strong>im</strong>er Fett.<br />

Der Wandschrank ist in seinen Abmessungen gewiss nicht klein; nicht zu vergessen,<br />

Rückwand, Flügeltüren sowie zwei Regalböden.<br />

Als Fett wurde damals Rindertalg verwendet, dass Talg verdirbt, war ebenso bekannt,<br />

wie es über das Einarbeiten von Gerbstoffen haltbar zu machen. Es liegt auf der Hand,<br />

dass man möglichst viel an Gerbstoff einarbeitete. Heißt <strong>im</strong> Umkehrschluss, es<br />

brauchte eine Menge Zeit und einen deutlichen Arbeitsaufwand, bis die gewünschte<br />

Menge an Gerbsäure aus Eichenholzspänen heraus gewässert, sodann in das Fett<br />

eingearbeitet war. Wobei die Gerbsäure mit der Dauer der Jahre selbstredend auch<br />

das Holz <strong>des</strong> Schranks durchdringt und <strong>im</strong>prägniert.<br />

Ein derartiges Versteck braucht ein aufwendiges „Grabgewölbe“, lediglich eine Grube<br />

auszuheben, den Schrank hineinzulegen und wieder zu zuschaufeln, es wäre kein<br />

Schutz für den Schrank gewesen. In einer Scheune werden schwere Wagen und<br />

Lasten bewegt, die Punktlast eines Wagenra<strong>des</strong> von einer Tonne und mehr hätte den<br />

Schrank zerdrückt. Der Druck der Lasten auf das Erdreich musste abgefangen werden.<br />

Ganz gleich wie aufwendig man den Unterstand errichtete, es mussten einwandfreie<br />

Balken und Hölzer verwendet werden.<br />

Die Begleitumstände <strong>des</strong> Schranks sind allesamt offen. Wann er gebaut wurde, wer ihn<br />

baute, wo er gebaut wurde, wer ihn in Auftrag gab, wie er nach Knittlingen kam, wer ihn<br />

benutzte, wer ihn schließlich in der Scheune vergrub, und auch warum er vergraben<br />

wurde, das alles ist unbekannt. Passend dazu hat man bis zur Stunde auch noch keine<br />

Altersbest<strong>im</strong>mung, eine so genannte dendrochronologische Untersuchung vorgenommen;<br />

sie wäre zu teuer.<br />

Im Fall „<strong>Faust</strong>“ wäre das Ergebnis einer Altersbest<strong>im</strong>mung nur interessant, falls sich<br />

herausstellte, das verwendete Holz stammt aus der Zeit nach <strong>Faust</strong>.<br />

Falls das Holz dagegen älter als <strong>Faust</strong> wäre, es würde den Zusammenhang mit <strong>Faust</strong><br />

nicht stören. Theoretisch könnte der Schrank um das Jahr 1300 gebaut worden sein,<br />

zur Zeit <strong>Faust</strong>s wurde er mit den aufgemalten Symbolen nachgerüstet.<br />

Der Schrank gibt als äußeren Rahmen den Davidstern vor, über die Frontfläche <strong>des</strong><br />

Sterns sind sieben Symbole verteilt. Die nach oben weisende Zackenspitze bildet mit<br />

der nach unten weisenden Spitze eine Senkrechte. Im oberen Zacken prunkt das<br />

Zeichen „Merkurius“, also für Quecksilber, „die geistige Quintessenz aller Dinge“, <strong>im</strong><br />

unteren, das SAL. SAL steht für die Lehre <strong>des</strong> Paracelsus vom Leibprinzip. Mittig in der<br />

Achse und damit auch in der Mitte <strong>des</strong> Sterns, ist das hebräische Wort „ELOHIM.“ als<br />

Intarsie eingelegt. Die Buchstaben <strong>des</strong> „ELOHIM.“ sind <strong>im</strong> Kreis geordnet, die Buchstaben<br />

selbst, nicht zu vergessen der Punkt hinter dem Wort, sind aus Metall. Der Kreis<br />

der Buchstaben umschließt ein aufgemaltes „magisches Auge“.<br />

In den zwei linken Sternzacken <strong>des</strong> Schranks finden sich, allerdings deutlich kleiner,<br />

die Zeichen für Wasser und Feuer, in die rechten Zacken sind die Symbole für Erde<br />

und Luft gemalt. Der Schrank zeigt beispielhaft, wie die damaligen „Wissenschaften“<br />

ineinander greifen.<br />

Die aufgemalten Symbole stammen aus der Alchemie, die Schrankform, der Davidstern,<br />

gehören in den Bereich der Magie, der Geisterbeschwörung. Moses galt und gilt<br />

unter Magiern als höchste Autorität, sein Titel: „MAGUS MAGORUM“, Magier aller<br />

Magier. Die Bedeutung <strong>des</strong> Wortes „ELOHIM.“ ist vielschichtig. Gemäß verschiedener<br />

Textstellen <strong>im</strong> Alten Testament kann es mit „Götter“ oder „Gott“, aber auch mit „Engel“<br />

und sogar mit „Menschen“ übersetzt werden.<br />

Nun könnte man freilich die Situation in den Raum stellen, dass auch die aufgemalten<br />

Symbole älter als <strong>Faust</strong> sind, und <strong>Faust</strong> oder wer auch <strong>im</strong>mer, das SAL lediglich hinzu<br />

setzte. Denn Paracelsus (1493-1541) und <strong>Faust</strong> (1480-1540) waren Zeitgenossen.<br />

Ich persönlich habe jedoch den Eindruck, dass es sich bei dem Schrank in seiner Form<br />

und den aufgemalten Symbolen um eine geschlossene Komposition handelt, die nicht<br />

197


nachgerüstet, sondern in zusammen hängenden Arbeitsschritten erdacht, skizziert und<br />

umgesetzt wurde. Das würde bedeuten, der Schrank ist nicht älter als Paracelsus.<br />

Nun wäre es interessant zu wissen, in welchem Jahr Paracelsus seine Erkenntnis über<br />

das SAL bekannt machte. Das in Erfahrung zu bringen war mir nicht möglich; es<br />

scheint, dass es sich aus den Schriften, die Paracelsus hinterließ, nicht mehr<br />

rekonstruieren lässt.<br />

Es lässt sich jedoch ein Zeitfenster ausmachen: 1510, <strong>im</strong> Alter von 17 Jahren, erlangte<br />

Paracelsus in Wien den Grad eines Bakkalaureus der Medizin. 1517 erwarb er in<br />

Ferrara die Doktorwürde, es folgten Wanderjahre als Wundarzt. 1524 / 1525 ließ er<br />

sich in Salzburg nieder. Möglicher Weise ist <strong>Faust</strong> niemals bis nach Ober-Italien<br />

vorgedrungen, gut und gern kann er aber in Salzburg gewesen sein und hatte dort<br />

Paracelsus kennen gelernt. Oder kam es erst zwei Jahre später zu einem Treffen, als<br />

Paracelsus nach Straßburg und anschließend nach Basel ging? Wir wissen, der Pfarrer<br />

Johannes Gast speiste mit <strong>Faust</strong> in Basel <strong>im</strong> Oberen Collegium; nicht auszuschließen,<br />

dass <strong>Faust</strong> sich <strong>des</strong> Öfteren in Basel aufgehalten hat.<br />

Es ist müßig, hier in Jahreszahlen zu stochern. Ganz abgesehen davon, dass es nicht<br />

einmal den Hauch einer Andeutung gibt, dass <strong>Faust</strong> und Paracelsus jemals miteinader<br />

gesprochen haben, doch in der Zeit nach 1517 könnte sich <strong>Faust</strong> mit dem SAL-Prinzip<br />

vertraut gemacht und das Zeichen auf den Schrank gemalt haben. Jedenfalls muss es<br />

vor dem Jahr 1534 geschehen sein, denn unter Herzog Ulrich wurde Knittlingen 1534<br />

zwangsreformiert, und dass mit Lutheranern kein Bund zu flechten war, sollte <strong>Faust</strong><br />

spätestens seit 1532, mit der Nürnberger Weigerung, ihm Geleit zu gewähren, bekannt<br />

gewesen sein.<br />

Es ist gewiss nicht falsch festzustellen, falls <strong>Faust</strong> es gewesen war, der die Zeichen auf<br />

den Schrank setzte, dann kommt dafür die Zeit zwischen 1517 und 1534 in Frage.<br />

Könnte <strong>Faust</strong> den Schrank selbst gebaut haben? Ein Winter ist lang und <strong>Faust</strong> zu<br />

unterstellen, dass er kein Holz bearbeiten konnte, geht grundsätzlich zu weit. Der<br />

mittelalterliche Mensch besaß handwerkliches Können in vielen Bereichen. Man<br />

bedenke auch, Handwerker arbeiteten damals, soweit es das Wetter zuließ, vor der<br />

Werkstatt auf der Straße, und <strong>Faust</strong> hatte ihnen sicher bereits als Bub oft zugeschaut,<br />

war ihnen eventuell auch zur Hand gegangen. <strong>Faust</strong> kam auch viel herum, das Stehlen<br />

beginnt bekanntlich mit den Augen. <strong>Faust</strong> war außerdem Astronom, er konnte mit Zirkel<br />

und Messstab umgehen.<br />

Nach allem, was wir in etwa über <strong>Faust</strong> zu wissen glauben, darf man jedoch<br />

ausschließen, er habe den Schrank gebaut. Es handelt sich bei dem verarbeiteten Holz<br />

nämlich um Nussbaum, ein Holz, das recht hart ist und bei den damals gängigen<br />

Werkzeugen ein hohes Können brauchte, um eine derart saubere und passgenaue<br />

Arbeit zu liefern. Es wird sogar unterstellt, dass es zur Zeit <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>s, keinen Tischler<br />

in Knittlingen gab, der in der Lage gewesen wäre, diesen Schrank zu fertigen.<br />

Der Schrank musste also nach Knittlingen transportiert werden. Ein Schrank in Form<br />

eines Davidsterns, hätte das nicht an den Zollstellen entlang der Straßen mit<br />

Geleitschutz zu Fragen geführt? Nicht unbedingt, die Form <strong>des</strong> Schranks, auch die<br />

aufmalten Zeichen, wurden damals und auch später, nicht grundsätzlich als schwarzmagisch<br />

gewertet.<br />

Ein derartiges Möbel passte auch zu einem Alchemisten oder zu einem Apotheker.<br />

Wurde der Schrank bei Juden gekauft? Doch warum sollten diese den Schrank<br />

verkaufen? Der Schrank ist einzig auf der Welt! Parallel zu den christlichen<br />

„Wissenssuchern“ existierte eine Entsprechung von „Wissenssuchern“ jüdischen<br />

Glaubens. Die christlichen Konkurrenten mutmaßten, die Juden wären in der Magie<br />

und der Alchemie viel weiter fortgeschritten, schließlich seien sie seit uralten Zeiten mit<br />

dem Wissen der Babylonier vertraut.<br />

Das in die Türfläche <strong>des</strong> Schranks eingearbeitete „ELOHIM.“ ist allerdings in<br />

lateinischen Großbuchstaben ausgeführt, die Überlegung, ob der Schrank jüdischen<br />

Ursprungs sei, trägt also nicht.<br />

Wozu mag <strong>Faust</strong> diesen Schrank benutzt haben?<br />

198


Eine Alchemistenküche kann es in Knittlingen auf Grund der Enge innerhalb der Stadtmauern<br />

nicht gegeben haben. Ist es denkbar, dass <strong>Faust</strong> den Schrank als Teil <strong>des</strong><br />

Oratoriums, <strong>des</strong> Andachtsraums, einer aufgelösten Alchemistenküche erstand, ihn<br />

nach Knittlingen transportierte, und ihn bei der Herstellung eines gedachten<br />

„Allheilmittels“ nutzte? Um Gerätschaften und Substanzen, die er bei der Mischung<br />

verwendete, „energetisch aufzuladen und mit magischen Kräften zu beseelen“.<br />

Denn die äußere Form <strong>des</strong> Schranks, der Anspruch, der sich mit dieser Form<br />

verbindet, nicht zuletzt die aufgemalten Symbole, das alles „wirke“ nach Innen.<br />

Um 1980 hielten es genug Menschen für denkbar, dass Pyramiden durch ihre<br />

geometrische Form die in ihnen gelagerten Stoffe in ihrem natürlichen Verhalten<br />

verändern bzw. beeinflussen. Das ist – <strong>Faust</strong> lässt grüßen – Mittelalter pur! Das ist<br />

Metaphysik!<br />

Warum ein Hängeschrank? Er lässt an einen Tabernakel denken. Könnte das heißen,<br />

dass <strong>Faust</strong> nicht nur Gegenstände „aufgeladen“ hat, sondern auch Beschwörungen,<br />

Anrufungen und Rituale zelebrierte, um „Kräfte“ und „Geister“ herbei zu zwingen, weil<br />

er auf diese Weise entscheidende Vorgänge bei der Herstellung von Arzneien unterstützen<br />

und forcieren wollte?<br />

Wie <strong>Faust</strong> uns <strong>im</strong> Trithemiusbrief entgegen tritt, ist er nicht der Mensch, der sich über<br />

das notwendige Maß hinaus mit den traditionellen Prozeduren bei der Herstellung von<br />

Tinkturen und Essenzen aufhalten wird. Seine Natur lässt nicht zu, dass er sich mit<br />

Gleichlauf zufrieden gibt. Seine Natur zwingt ihn das Unmögliche zu finden, zu<br />

erzeugen, zu erzwingen. Für den Fall, dass dieser Schrank mit <strong>Faust</strong> zu tun hat, dann<br />

ist er ein deutlicher Fingerzeig, dass <strong>Faust</strong> etwas „Großartiges“ zustande bringen<br />

wollte.<br />

Wer den Schrank vergrub, ist nicht bekannt. Bleiben wir bei <strong>Faust</strong>.<br />

Der Ursachen für das Vergraben sind viele denkbar.<br />

Vielleicht hatte <strong>Faust</strong> sein Ziel erreicht, vielleicht auch resigniert und einen zumin<strong>des</strong>t<br />

vorläufigen Schlussstrich unter sein ehrgeiziges Vorhaben gezogen.<br />

Oder hatte <strong>Faust</strong> in Knittlingen gewisse Veränderungen bemerkt, die es ihm als ratsam<br />

erscheinen ließen, den Schrank verschwinden zu lassen. Der erforderliche Aufwand<br />

be<strong>im</strong> Einfetten sowie der Bau <strong>des</strong> Unterstands legen den Schluss nahe, der Schrank<br />

wurde nicht in einer Nacht- und Nebel-Aktion verbuddelt.<br />

Die mysteriösen Umstände der Amtsenthebung <strong>des</strong> Abtes Entenfuß <strong>im</strong> Jahr 1517, sofern<br />

<strong>Faust</strong> damit überhaupt zu tun hat, sind auf Grund <strong>des</strong> Zeitfensters, wie es sich aus<br />

der Verwendung <strong>des</strong> SAL in Verbindung mit den Lebensumständen <strong>des</strong> Paracelsus<br />

ergibt, eher auszuschließen.<br />

In Betracht kommen die aufständischen Bauern <strong>im</strong> Februar 1525. Sie besetzten das<br />

Kloster, Knittlingen selbst ließen sie unbehelligt, doch eventuell fürchtete <strong>Faust</strong>, dass<br />

die Situation sich weiter zuspitzen könnte.<br />

1528 werden in Knittlingen Lutheraner verhaftet. Beste Beweismittel waren lutherische<br />

Schriften. Sicherlich musste nahezu jedermann mit Hausdurchsuchungen rechnen.<br />

<strong>Faust</strong> war kein Lutheraner, doch eventuell behagte ihm diese „Hetz“ und Aufgeregtheit<br />

nicht. Er hielt unkalkulierbare Weiterungen für möglich.<br />

1530 fassen Wiedertäufer in der Landschaft Fuß. Sie lehnen den Eid und den<br />

Waffendienst ab, und unterliegen bereits seit 1528 durch kaiserliches Mandat der<br />

„höchsten straf <strong>des</strong> tods“.<br />

Selbst wenn wie <strong>im</strong> folgenden Fall das Urteil vergleichsweise gnädig ausfiel, wie<br />

entschieden diese Verfolgungen betrieben wurden, wird aus einer Aufzeichnung von<br />

1531 überaus deutlich.<br />

„Melchior Wüsthuff von Knittlingen und Anna Zirndörferin, seine Hausfrau, sind wohl in<br />

ihrer Jugend, so weit es ihnen als Laien zu ihrem Seelenheil nötig war, genugsam<br />

unterrichtet, aber durch verkehrte Ketzer und deren Büchlein, die unter dem Schein <strong>des</strong><br />

rechten christlichen Glaubens ausgegangen sind, verführt worden, dass sie nichts<br />

mehr auf die Taufe, so aus der Gnade Gottes durch das Verdienst <strong>des</strong> kostbaren<br />

Blutvergießens Christi unsers lieben Herrn den jungen Kindern zu Abwaschung der<br />

Erbsünde mitgeteilt wird, gehalten, sondern sich in ihrem Alter von neuem taufen ließen<br />

199


und Melchior Wüsthuff als ein vorstender (Vorsteher) andere wieder zu taufen<br />

angenommen und auch getauft hat. Sie sind darüber in Haft kommen, aber mit<br />

Rücksicht auf ihre Einfältigkeit und weibliche Blödigkeit nachdem sie durch erfahrene<br />

und gelehrte Männer unterwiesen waren und Widerruf getan, entlassen, aber aus dem<br />

Fürstentum Württemberg für <strong>im</strong>mer verwiesen worden. Sie versprechen Gehorsam<br />

gegen die Kirche, ihre Konzilien, Ordnungen und Satzungen, verzichten auf Rache für<br />

ihre Haft und erkennen <strong>im</strong> Fall ihres neuen Abfalls der Obrigkeit das Recht zu, sie<br />

durch den Nachrichter mit Feuer oder Wasser vom Leben zum Tod zu bringen.“<br />

Der Vollständigkeit halber: Verfolgungen von Wiedertäufern in der Gegend um<br />

Knittlingen sind bis 1607 belegt. Wiederholt wurden auch Kuriere gestellt, die Briefe,<br />

die sie bei sich trugen, lassen ein reges Netzwerk und ein entschiedenes Festhalten an<br />

ihren Glaubensvorstellungen erkennen.<br />

Möglicher weise sind alle diese Ereignisse viel zu spektakulär, eventuell war die<br />

Ursache höchst banal, zum Beispiel ein auslaufender Pachtvertrag.<br />

Den Schrank zu zerlegen, erschien <strong>Faust</strong> wohl als die schlechtere Lösung, das Risiko,<br />

dass dabei einzelne Bauteile erheblich beschädigt würden, war zu groß.<br />

Den Schrank aus Knittlingen fort schaffen? Vielleicht wusste er nicht, wohin damit.<br />

Denkbar ist auch, dass er, nachdem er das Alter von fünfzig Jahren überschritten hatte,<br />

sich gewisse Gedanken über die Zukunft <strong>des</strong> geliebten Möbels machte.<br />

1534 wird Knittlingen zwangsreformiert. Hieß der Besitz eines derartigen Möbels bis<br />

dahin, sich möglichen Missverständnissen ausgesetzt zu sehen – insbesondere wenn<br />

man <strong>Faust</strong> hieß, so war nun gewiss der Zeitpunkt gekommen, den Schrank endgültig<br />

von der Bildfläche verschwinden zu lassen und anschließend abzureisen.<br />

Soweit zu den erkennbaren Ereignissen, die jene Art von Unruhe erzeugten, die es<br />

<strong>Faust</strong> als ratsam erscheinen ließen, seinen Schrank in Sicherheit zu bringen.<br />

<strong>Faust</strong> als Mensch, in seinem Wesen, in keinem der Quellentexte, selbst nicht in den<br />

von mir ausgewählten zwölf Indizien, nirgendwo wird uns sein Charakter sichtbar.<br />

Selbst dort, wo wir meinen, einen großsprecherischen Marktschreier zu erkennen, so<br />

ganz sicher sind wir uns <strong>des</strong>sen nicht. Schlicht <strong>des</strong>halb, weil wir nicht wissen, ob seine<br />

„starken Sprüche“ nur den Werbemethoden seiner Zeit entsprachen oder auch seiner<br />

persönlichen Selbsteinschätzung.<br />

Doch wie er <strong>im</strong> Halbdunkel der Scheune die Hacke in den Boden schlägt, wie er<br />

schaufelt, wie er den Unterstand für seinen Schrank z<strong>im</strong>mert, hier gilt es <strong>Faust</strong> über die<br />

Schulter zu schauen, nirgendwo sonst wird der Mensch <strong>Faust</strong> derart plastisch.<br />

Nirgendwo tritt der Widerspruch zwischen dem Marktschreier und dem Menschen<br />

<strong>Faust</strong> deutlicher zu Tage.<br />

Be<strong>im</strong> Verstecken <strong>des</strong> Schrankes, den damit verbundenen Überlegungen und Arbeiten<br />

werden Eigenschaften sichtbar, sie lassen darauf schließen, dass <strong>Faust</strong> nichts dem<br />

Zufall überließ, selbstredend auch nicht seine spektakulären Auftritte in der<br />

Öffentlichkeit.<br />

Er bedenkt alle Zufälle und Widrigkeiten und handelt dementsprechend folgerichtig und<br />

geht die Arbeitsschritte dann auch konsequent durch. Das Versteck <strong>des</strong> Schranks, die<br />

Ausführung selbst, zeigen Liebe bis zum letzten Detail.<br />

Die Sorgfalt, mit der <strong>Faust</strong> zu Werke ging, zeigt aber auch die Verehrung, die <strong>Faust</strong><br />

seinem Tabernakel erwies. Er balsamierte ihn ein, er baute eine Grablege, er schützte<br />

ihn mit größter Sorgfalt; wie einen Pharao, möchte man hinzufügen.<br />

Ich persönlich habe den Eindruck, <strong>Faust</strong> hat den Schrank weniger versteckt, er hat ihn<br />

bestattet. <strong>Faust</strong> hatte nicht vor, das Möbel wieder ans Tageslicht zu heben.<br />

„Also ich weiß nicht, der Schrank kommt mir wie eine billige Fälschung vor. Gerade<br />

damals in der Romantik, um 1820, wurde vor lauter Begeisterung für das Mittelalter<br />

soviel Zeug gefälscht …“<br />

„Dann bleibt zu klären, warum der hoch betriebsame Enthusiast vor lauter<br />

Begeisterung einen Schrank fälschte und ihn hinterher verbuddelte.“<br />

„Trotzdem! Das Hexagramm war auch das Zeichen der Brauer. Zwei ineinander<br />

geschobene Dreiecke, die Zeichen für Wasser und Feuer. Das Möbel kann genauso<br />

gut aus einem Zunfthaus der Brauer stammen!“<br />

200


„St<strong>im</strong>mt! Früher war das das Zeichen der Karlsbergbrauerei!“<br />

„Was sie dann abgeschafft haben, damit sie ihr Bier auch in Länder exportieren<br />

können, die keinen Davidstern mögen!“<br />

„Blödsinn! Leute, die keinen Davidstern mögen, dürfen in der Regel gar kein Bier<br />

trinken!“<br />

Der Leser merkt, hier ist jetzt wieder eine Art <strong>Faust</strong>diskussion in Gang gekommen. Wie<br />

<strong>im</strong>mer, wenn es um den Schrank geht, endet die Diskussion mit der Frage: Warum<br />

wurde an dem Schrank noch keine Altersbest<strong>im</strong>mungen vorgenommen.<br />

Zu Recht, der Schrank ist groß genug, mit einer Materialprobe würde dem Besitzer <strong>des</strong><br />

Möbels gewiss kein Zacken aus der Krone gebrochen. Die verschiedenen Teile <strong>des</strong><br />

Möbels erfordern gewiss mehr als nur eine Untersuchung, die Kosten würden sich<br />

insgesamt auf etwa 5000 € belaufen.<br />

Soweit meine ersten Überlegungen zum „Giftschrank <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us“. Wobei ich<br />

davon ausging, dass <strong>Faust</strong> mit diesem Schrank zu tun hat. <strong>Faust</strong>s Persönlichkeit, wie<br />

ich sie in den Quellentexten und in den Indizien erfühlte, schien mir deckungsgleich mit<br />

der Einzigartigkeit <strong>des</strong> Möbels.<br />

Zwar meinen <strong>Faust</strong>forscher, dass es in späterer Zeit eventuell einen Knittlinger „<strong>Faust</strong>-<br />

Jünger“ gegeben haben könnte, eine Möglichkeit, die ich jedoch ausschließe. Einen<br />

zweiten <strong>Faust</strong> kann ich mir <strong>im</strong> lutherischen Knittlingen nicht vorstellen. Die Urkunden<br />

und sonstigen schriftlichen Nachweise sind dann ab dem Jahr 1700 wieder vollständig,<br />

sie wissen nichts von einem „<strong>Faust</strong>-Jünger“ zu erzählen.<br />

Nicht zuletzt ließ ich mich von dem paracelsischen Zeichen für SAL leiten, eines der<br />

Zeichen, welche auf den „Zauberschrank“ gemalt sind. Gesetzt den Fall, <strong>Faust</strong> hat das<br />

SAL auf den Schrank gemalt, dann hat er sich mit den Gedanken <strong>des</strong> Paracelsus<br />

beschäftigt. Da die Vorstellung vom SAL jedoch neu war, schien mir der Schluss<br />

erlaubt, <strong>Faust</strong> hat davon nicht aus zweiter Hand erfahren, von Leuten, die Paracelsus<br />

ohnehin kaum begriffen, <strong>Faust</strong> muss Paracelsus persönlich gekannt haben. Und<br />

Paracelsus muss ihn überaus beeindruckt haben, denn dass <strong>Faust</strong>, der offenbar wenig<br />

respektierte, das Gedankengut <strong>des</strong> Paracelsus übern<strong>im</strong>mt, man darf es als<br />

Verbeugung vor Paracelsus betrachten.<br />

*<br />

Ein Fre<strong>im</strong>aurer „erkennt“ den Schrank <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us<br />

Um die Hintergründe <strong>des</strong> „Giftsschranks“ zu klären, stellte ich mir die Frage, ob die<br />

Anordnung der Symbole eine best<strong>im</strong>mte Bedeutung innerhalb der Gedanken-Welt <strong>des</strong><br />

Paracelsus habe. Über das Internet machte ich mich auf die Suche nach Paracelsus-<br />

Spezialisten. Nach einem halben Jahr war ich mir über zwei Dinge <strong>im</strong> Klaren. Zwar<br />

schmücken sich Dutzende von Institutionen, Schulen und Vereinigungen mit dem<br />

Namen „Paracelsus“, doch das bezieht sich auf die Homöopathie, über Paracelsus<br />

selbst, weiß man recht wenig. Auch war für mich deutlich geworden, die auf den<br />

Schrank gemalten Symbole liefern keinen spezifischen Hinweis, sie wurden von<br />

Alchemisten, Magiern, Apothekern und auch Spiritisten verwendet.<br />

Nachdem ich wegen <strong>des</strong> „Pergaments“ bereits mit jenem Dozenten für Pharmazie-<br />

Geschichte zu tun hatte, rief ich ihn an und fragte, ob es sich bei diesem Möbel um ein<br />

Renommierstück einer Apotheke handeln könnte. Er verlangte eine Beschreibung, ich<br />

gab einige Details durch.<br />

„Rosenkreuzer!“<br />

Wir vereinbarten, dass ich ihm Kopien von Schrankabbildungen aus verschiedenen<br />

Büchern zusende.<br />

Tage später telefonierten wir erneut.<br />

„Der Schrank“, meinte er, „ist gewiss kein Möbel einer alten Apotheke! Ich habe viele<br />

historische Stücke gesehen, aber dergleichen war gewiss nicht darunter, es assoziiert<br />

sich auch nichts! Ich bleibe dabei: Rosenkreuzer oder auch Fre<strong>im</strong>aurer! Aber nie und<br />

n<strong>im</strong>mer hat dieser Schrank mit <strong>Faust</strong> zu tun. Rein vom Gefühl her, sage ich Ihnen noch<br />

eines, der Schrank stammt aus der Zeit nach 1700.“<br />

201


„Was ist der Unterschied zwischen Rosenkreuzern und Fre<strong>im</strong>aurern?“<br />

„Das ist eine komplizierte Sache! Die beiden hängen zusammen, sind ineinander<br />

verzahnt und sind doch nicht das gleiche! Die Fre<strong>im</strong>aurer sind wesentlich älter,<br />

Rosenkreuzer gibt es ab dem Jahr 1600. Die Rosenkreuzer waren in Württemberg,<br />

also dort, wo der Schrank gefunden wurde, sehr aktiv. Ob es darüber Unterlagen gibt,<br />

möchte ich bezweifeln, die Logen waren angehalten, keine Unterlagen zu führen. Bei<br />

den Rosenkreuzern war es übrigens auch üblich, falls eine Loge aufgelöst wurde, den<br />

Tabernakel zu bestatten.“<br />

Ich suchte <strong>im</strong> Februar 2010 Kontakt mit Rosenkreuzern aufzunehmen, sie gaben sich<br />

<strong>des</strong>interessiert.<br />

Ich fragte be<strong>im</strong> Orden der Fre<strong>im</strong>aurer in Berlin an. Es besuchte mich ein freundlicher<br />

älterer Herr. Mit Argusaugen studierte er die Schrankabbildungen und die Planskizze.<br />

„Fre<strong>im</strong>aurer, ganz klar!“<br />

Ich schilderte die Bedeutung <strong>des</strong> Schranks innerhalb der <strong>Faust</strong>forschung, ich stellte<br />

Fragen.<br />

„Schauen Sie“ sagte er, „Sie stellen fest, Knittlingen ist relativ klein. Sie folgern, dort<br />

kann es keine Loge gegeben haben. Das ist ein Trugschluss. Der Hauptsitz der<br />

Fre<strong>im</strong>aurer, die Loge Null, ist in Kilwinning, in Ayershires, in Schottland. Wissen Sie wie<br />

winzig Kilwinning ist? Sehen Sie! Sie suchen nach Zeichen, nach Charakteristischem,<br />

weil Sie den Schrank definitiv zuordnen wollen. So einfach ist das nicht! Die Symbole<br />

sind uralt. Sie reichen zurück zu den Tempelrittern, zurück zum Bau <strong>des</strong> Tempels von<br />

Jerusalem und noch weiter zurück. Die Zeichen haben nicht nur Umdeutungen<br />

erfahren, sie wurden auch von vielen anderen Leuten wie Agrippa oder Reuchlin<br />

verwendet. Teilweise sind die Zeichen heute noch in Gebrauch, zum Teil werden sie<br />

aus sent<strong>im</strong>entalen Gründen, <strong>im</strong> Bewusstsein der Geschichte, weiter <strong>im</strong> Gepäck mit<br />

getragen. Sie selbst sind kein Fre<strong>im</strong>aurer. So Sie denn einer wären und würden die<br />

Fotos sehen, dann erginge es Ihnen, wie es mir gerade gegangen ist. Alles, aber rein<br />

alles, was ich hier auf den Fotos sehe, das spricht zu mir, das ist die Welt der<br />

Fre<strong>im</strong>auerer. Was Sie einen Davidstern nennen, das sind für uns zwei ineinander<br />

geschobene Dreiecke, die Zeichen für Aktion und Reaktion; ganz wichtig für uns. Wenn<br />

sie mir erzählen, der Schrank ist aus Nussbaumholz gefertigt, dann weiß ich, was das<br />

bedeutet. Der Nussbaum ist für uns das Lebenssymbol … Der Schrank in seiner Form,<br />

die Proportionen, die Aufteilung der Fächer, insbesondere das doppelt geteilte Fach in<br />

der abwärts gerichteten Spitze, wo wir sagen, sie zeigt nach Westen, das alles spricht<br />

zu mir …“<br />

Damit ist der Schrank zugeordnet!<br />

Dass der Schrank bis heute <strong>im</strong> Jahr 2010 von den Fre<strong>im</strong>aurern nicht wahrgenommen<br />

wurde, ist dabei nicht weniger staunenswert, als dass die <strong>Faust</strong>forschung offenbar nie<br />

die Fre<strong>im</strong>aurer darauf angesprochen hat.<br />

Dass der Schrank derart lange falsch zugeordnet wurde, hat auch sein Gutes.<br />

Reinhard Heydrich, der Mann hinter Heinrich H<strong>im</strong>mler, unterhielt in seinem<br />

Hauptquartier in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße ein privates „Fre<strong>im</strong>aurer-Museum“.<br />

Gewiss hätte er das staatsfeindliche Möbel sofort erbeutet und seinem Museum<br />

einverleibt; der vormalige „Zauberschrank <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us“ hätte „Berlin 1945“ nicht<br />

überlebt.<br />

Nun mag einigen Leserinnen und Lesern die Zuordnung nicht fundiert erscheinen; die<br />

Form <strong>des</strong> Schranks, seine Symbole, das alles wurzele nicht nur tief in der Geschichte,<br />

es wurde schließlich – und wird noch <strong>im</strong>mer – von vielen Geistesrichtungen und<br />

Zeitströmungen verwendet.<br />

Es ist wohl an der Zeit, dass er ans Ufer gerudert und einer Altersbest<strong>im</strong>mung unterworfen<br />

wird. Das mag dem Besitzer <strong>des</strong> Schranks nicht behagen. Vermutlich wird es<br />

auch einigen <strong>Faust</strong>-Fans nicht gefallen. Widerstand wird auch von jenen <strong>Faust</strong>forschern<br />

kommen, die den „Giftschrank“ als Indiz für „<strong>Faust</strong> in Knittlingen“ <strong>im</strong> Portfolio<br />

führen. Andererseits braucht es der interessierten Öffentlichkeit nicht zu gefallen, wenn<br />

sie angesichts heutiger technischer Möglichkeiten noch <strong>im</strong>mer mit druckfrischen<br />

202


<strong>Faust</strong>büchern konfrontiert wird, in welchen suggeriert wird, es handele sich bei diesem<br />

Möbel um den Giftschrank <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us.<br />

Der Vertreter der Fre<strong>im</strong>aurer hat den Schrank „erkannt“ und solange keine Altersbest<strong>im</strong>mung<br />

vorgenommen wurde, taugt der Schrank nicht als Indiz für „<strong>Faust</strong> in<br />

Knittlingen“. Daraus folgt:<br />

*<br />

Das <strong>Faust</strong>haus ist kein <strong>Faust</strong>haus<br />

Der Eigentümer <strong>des</strong> Schranks ist auch der Eigentümer <strong>des</strong> <strong>Faust</strong>hauses.<br />

Mit der dringlichen Forderung, den Zauberschrank einer Altersbest<strong>im</strong>mung zu unterwerfen,<br />

gerät er in eine delikate Zwickmühle.<br />

Die seit Auffindung <strong>des</strong> Zauberschranks gehandelte Annahme, die Fundstelle <strong>des</strong><br />

Schranks sei ein Hinweis auf jene Hofstelle, in welcher einst <strong>Faust</strong> das Licht der Welt<br />

erblickte, lebt von der Annahme, dass es sich bei dem Schrank um den „Giftschrank<br />

<strong>des</strong> Doktor <strong>Faust</strong>us“ handele.<br />

Zu was man sich bei diesem doppelten Schwabenstreich in Knittlingen auch <strong>im</strong>mer<br />

entschließt, nach den Indizien „Pergament“, Weisert-Kaufvertrag und „Giftschrank“ ist<br />

auch das Knittlinger <strong>Faust</strong>haus als letztes Indiz für „<strong>Faust</strong>, ein Knittlinger“ vom Tisch.<br />

Das Gebäude hat so wenig mit dem historischen <strong>Faust</strong> zu tun, wie das <strong>Faust</strong>haus in<br />

Bad Kreuznach, der <strong>Faust</strong>turm in Maulbronn oder Auerbachs Keller in Leipzig.<br />

Wir kennen aus den Quellentexten einige Orte, die <strong>Faust</strong> besucht hat, doch es gibt<br />

kein Gebäude oder Vorgängerbau von dem wir definitiv wissen, <strong>Faust</strong> hätte sich darin<br />

aufgehalten. Dass gelegentliche Gedenktafeln behaupten: „Glaubwürdiger Überlieferung<br />

nach hat Dr. Jörg <strong>Faust</strong>us in diesem Haus gewohnt.“ ändert daran nichts.<br />

Wir besitzen keine Schriftprobe <strong>Faust</strong>s, wir haben auch kein Buch, kein Blatt Papier,<br />

von dem wir wissen, <strong>Faust</strong> hat es in der Hand gehabt. Wir haben kein Kleidungsstück,<br />

keinen Federkiel, keinen irgendwie gearteten Gebrauchsgegenstand, bei dem verbürgt<br />

wäre, <strong>Faust</strong> hätte ihn benutzt.<br />

Sein Elternhaus ist unbekannt, sein Grab ist unbekannt, sein Geburts- und To<strong>des</strong>jahr<br />

sind geschätzt.<br />

*<br />

Eilt---Eilt---Eilt---<br />

Heute, 17.3.2010, 14Uhr, Telefonat mit Fr. Hamberger, Leiterin <strong>Faust</strong>museum<br />

Knittlingen, wegen „<strong>Faust</strong>o de Knaitlingen …“<br />

Erfahre: „Giftschrank <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us“ ist seit Vormittag <strong>im</strong> <strong>Faust</strong>museum, offizielle<br />

Übergabe 16 Uhr!!! Besitzerin Fr. Hochwald hat Schrank dem Museum als Schenkung<br />

vermacht!!! Ende<br />

Danke! Allgemeines Aufatmen! Endlich ist der gehe<strong>im</strong>nisvolle Schrank dem Publikum<br />

zur freien Betrachtung zugänglich. So interessant es wäre zu wissen, warum Frau<br />

Hochwald sich nun von diesem Möbel trennte, die generöse Schenkung ist ein<br />

Fallrückzieher mit doppeltem Hakentrick. Nun hat das <strong>Faust</strong>museum den „Schwarzen<br />

Peter“ einer Altersbest<strong>im</strong>mmung und gleichzeitig die grandiose Chance, über die<br />

Altersbest<strong>im</strong>mung gleich zwei der Knittlinger Indizien, Schrank und <strong>Faust</strong>haus, selbst<br />

<strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> zu verweisen.<br />

Herzlichen Glückwunsch, Frau Hamberger<br />

*<br />

Nachtrag / Mai 2011<br />

Leserinnen und Leser, die sich nun Gedanken um Knittlingen machen, dürfen sich<br />

beruhigen. Fest steht das „<strong>Faust</strong>haus“, noch <strong>im</strong>mer lockt der „Zauberzettel“, auch der<br />

„Zauberschrank“ hängt sicher – nicht in Berlin, er hängt <strong>im</strong> <strong>Faust</strong>museum. Die<br />

203


Flügeltüren allerdings geschlossen, denn, so Frau Hamberger in ihrem Schreiben vom<br />

24. Mai 2011: „Eine Innenansicht vom „Alchemistenschrank“ … auch völlig unsinnig ist,<br />

wichtig ist die Symbolform <strong>des</strong> Schrankes von außen!“<br />

Immerhin, aus einem „Zauberschrank“ ist nun ein „Alchemistenschrank“ geworden, ein<br />

Achtungserfolg; in der <strong>Faust</strong>-Forschung musste schon <strong>im</strong>mer jeder Zent<strong>im</strong>eter zäh<br />

erkämpft werden. Ansonsten bleibt man am Thema: <strong>Faust</strong> – und <strong>Faust</strong>, Wahrheit – und<br />

Wahrheit, Türen auf – Türen zu. Wer hinter all dem Kleingeisterei vermutet und<br />

wissenschaftlichen Umgang einfordert, übersieht, dass nur so alle Welt, wenn auch von<br />

den Geistern der Arepo-Formel misstrauisch beargwöhnt, sich am Anblick dieses<br />

wunderschönen, einzigartigen Tabernakels erfreuen kann.<br />

Katholisch oder Lutherisch<br />

War <strong>Faust</strong> dem Katholizismus zugeneigt, Lutheranern hingegen feindlich gesonnen?<br />

Die Frage, <strong>im</strong> Zusammenhang mit einem Teufelsbündner gestellt, klingt grundsätzlich<br />

nicht uninteressant, wenngleich sie nur rhetorischer Art zu sein scheint.<br />

Allgemein gilt die Auffassung, <strong>Faust</strong> blieb letztlich <strong>im</strong>mer dem Katholizismus verhaftet.<br />

Nicht allein, weil sein Leben auf katholischem Gebiet endete, es wird auf seine<br />

fruchtbare Bekanntschaft mit dem Fürstbischof Georg III. von Bamberg verwiesen, auf<br />

seine Freundschaft mit dem treuen Katholiken und kirchlichem Diplomaten Stibar,<br />

sodann auf die Textstelle in Martin Luthers Tischgespräche: „wolt er mich vorterbet<br />

haben.“ Eine klare Aussage, <strong>Faust</strong> wünschte Luther alles denkbare, nur nichts gutes.<br />

Sodann die Quellentexte. Zeigen sie nicht <strong>Faust</strong> der Tradition, also letztlich der Kirche<br />

verhaftet? Frische oder gar revolutionäre Ideen jener Epoche sind bei ihm jedenfalls<br />

nicht auszumachen.<br />

Wo andere sich vom Geist der Zeit fort reißen lassen, <strong>Faust</strong> ist offenbar für den<br />

Zeitgeist nicht zu haben. Dem Figurenschnitzer Tilman Riemenschneider werden zur<br />

Strafe für seine Teilnahme am Bauernkrieg die Finger gebrochen, Paracelsus muss<br />

wegen seiner Unterstützung der Bauern vor dem Salzburger Erzbischof fliehen. Dass<br />

jedoch <strong>Faust</strong> sich für die religiösen und sozialen Fragen seiner Zeit interessierte, nicht<br />

einmal in den Indizien findet sich darauf ein Hinweis. Auch die ganz und gar<br />

ungefährlichen, elfenbeinernen Gedanken über den „neuen gebildeten Menschen“, wie<br />

sie von den Humanisten gepflegt werden, kümmern ihn scheinbar nur in sofern, als<br />

dass er sie zu seinem Popanz macht.<br />

Ein treuer Sohn der Kirche ist <strong>Faust</strong> allerdings auch nicht.<br />

Was <strong>Faust</strong>, wie <strong>im</strong> Trithemius-Brief beschrieben, von sich gibt, das ist gewiss nicht<br />

innerhalb der Grenzen, wie sie einem Christen gezogen sind. Und <strong>Faust</strong> weiß<br />

selbstredend, was er sich mit seinen Sprüchen erdreistet.<br />

„Als er von meiner Anwesenheit hörte, floh er“ berichtet der Abt.<br />

Betrachtet man den Trithemius-Brief auf <strong>Faust</strong>s Glaubensinhalte, so findet sich ein<br />

einziger Hinweis auf das Neue Testament: „dass die Wunder unseres Erlösers Christi<br />

nicht anstaunenswert seien.“<br />

Ein großer Abschnitt seiner Prahlereien sind der Antike und dem Alten Testament zu<br />

zurechnen; in jener Zeit allerdings durchaus aktuell, bilden sie <strong>im</strong> Zuge seiner Selbstvermarktung<br />

die gleichsam seriösen Markenartikel seines Sort<strong>im</strong>ents.<br />

Der gewaltigste Teil seiner Selbstreklame, gleich zu Beginn <strong>des</strong> Trithemius-Briefes, ist<br />

jedoch ein dunkles Gebräu magischer Künste; römisch-, etruskisch-, ägyptisch-,<br />

babylonischen Ursprungs.<br />

„Magister Georg Sabellicus, <strong>Faust</strong> der Jüngere, Quellbrunn der Nekromanten, Zweiter<br />

der Magie, Aeromant, Pyromant, Zweiter in der Hydromantie.“<br />

Noch dreißig Jahre später beklagt Camerarius <strong>Faust</strong>s „nichtigsten Aberglauben“.<br />

Die Behauptung, zwei Versuche, <strong>Faust</strong> festzunehmen, hätten sich auf protestantischem<br />

Boden ereignet, die verächtliche Geleitverweigerung <strong>des</strong> protestantischen<br />

Nürnberg, gelten ebenfalls als Hinweise, dass Lutheraner <strong>Faust</strong> feindlich gesonnen<br />

waren, <strong>Faust</strong> folglich dem Katholizismus zugetan gewesen sein müsse.<br />

204


Eine Folgerung, die nicht zwingend ist.<br />

„Derselbige <strong>Faust</strong>us“ gibt Manlius die Rede Philipp Melanchthons wieder, „ist zu<br />

Wittenberg entrunnen / als der fromme vnd löbliche Fürst Hertzog Johannes hette<br />

befehl getan / das man jn fangen sollte.“<br />

Eine tolle Geschichte, sich vorzustellen, <strong>Faust</strong> hätte sich in die Höhle <strong>des</strong> Löwen<br />

begeben …<br />

Oder sollte es sich tatsächlich so verhalten haben, dass <strong>Faust</strong> irgendwann zwischen<br />

1525 und 1540 die irrwitzige Idee zu einem einsamen Kommandounternehmen fasste,<br />

in die lutherische Hochburg Wittenberg einzudringen, um Luther endlich zu verderben?<br />

Sich vorzustellen, <strong>Faust</strong>, <strong>des</strong> Spiels mit Stadtvolk und Landleuten satt, der besseren<br />

Herren überdrüssig, hätte sich entschlossen aktiv in die Geschichte einzutreten, hätte<br />

den ganzen Quatsch, den er eh schon auswendig konnte, von sich geschmissen, hätte<br />

sich diese ausgelatschen Stiefel von den Beinen getreten und jenen ihm von Anbeginn,<br />

zwischen Tür und Angel zugedachten Weltauftrag endlich angenommen, wie eine<br />

zweite Satansschlange Luther in die Ferse zu beißen; das sich vorzustellen, es hat<br />

etwas Phantastisches. Wie er sich bei Nacht und Nebel vom Rücken seines Renners<br />

mit wehendem Mantel über die Stadtmauer von Wittenberg wirft, sich <strong>im</strong> Schattenschwarz<br />

der Gassen Luthers Wohnsitz entgegenschlängelt, schließlich in das<br />

ehemalige Augustinerkloster eindringt und in der Morgenkühle eines unentschlossenen<br />

Tages Luther gegenüber tritt.<br />

Luther in seiner viehischen Angst vor Hexen und Dämonengesochse, und <strong>Faust</strong>, der<br />

„Schwoger“ <strong>des</strong> Teufels, sie stehen sich gegenüber. Der Welthebel unter dem Gewölbe<br />

vibriert, die Vögel <strong>im</strong> Garten schweigen. Was wird passieren?<br />

Gar nichts passiert! <strong>Faust</strong> ist <strong>Faust</strong>, aber nicht verrückt. Außerdem müsste man sich zu<br />

allererst über die Gage unterhalten.<br />

Um unsterblich zu werden, muss <strong>Faust</strong> sich nicht zum Agenten <strong>des</strong> Papstes machen,<br />

das erledigt er schon selbst und zwar in eigener Sache. Außerdem kann er es nicht<br />

leiden, wenn hinterher so Sachen behauptet werden, dass eigentlich der Heilige Geist<br />

Luther die Hand gereicht und ihn ins Verderben geschleudert hätte.<br />

<strong>Faust</strong> ist weder Katholik, noch Lutheraner! <strong>Faust</strong> ist Papst!<br />

Papst, Messdiener und Missionar, alles in einer Person. Er zelebriert und predigt, auch<br />

sein Tedeum intoniert er selbst. Das Credo gilt seiner Firma: Leitung, Produktentwicklung,<br />

Marketing, Verkauf – der Chef kümmert sich persönlich. Die Firma „<strong>Faust</strong>“<br />

ist ein soli<strong>des</strong> Unternehmen.<br />

Seine Schmähreden gegen Luther bedeuten keine Parteinahme für den Papst.<br />

Grundsätzlich ist ihm auch Luther so egal wie sonst etwas. Und nichts würde den<br />

Interessen der Firma „<strong>Faust</strong>“ mehr zuwider laufen, als sich aus kindlicher Neigung<br />

heraus für oder gegen einen der Mächtigen dieser Welt festzulegen. Doch dadurch,<br />

dass mit der Lutherei plötzlich Schilder in den Landschaften stehen, mit Hinweisen wie<br />

„Hexen, Zauberinnen und Teufelsbündner aller Fachrichtungen - unerwünscht!“, hat<br />

Luther der Firma „<strong>Faust</strong>“ einen guten Teil ihrer Geschäftsverbindungen gekappt, ihr die<br />

Hälfte <strong>des</strong> Marktes genommen, den Firmeninhaber obendrein auf die Fahndungsliste<br />

gesetzt. Luther hat sich für <strong>Faust</strong> erledigt.<br />

Entsprechend seinem Sinn für Selbstvermarktung gibt <strong>Faust</strong> es jedermann persönlich<br />

bekannt, möglichst laut dazu, nicht nur Luther soll erfahren, was ihm demnächst blüht,<br />

auch der Papst darf wissen, wer ihm da zur Seite springt.<br />

Damit er nicht laufend so laut schreien muss, hängt <strong>Faust</strong> sich ein weiteres Pappschild<br />

um, „Antilutheraner“ steht darauf zu lesen – damit dieser Luther wenigstens zu<br />

irgendetwas <strong>im</strong> Geschäftsleben taugte.<br />

*<br />

„… hette befehl getan / das man jn fangen sollte.“<br />

„Derselbige <strong>Faust</strong>us ist zu Wittenberg entrunnen / als der fromme vnd löbliche Fürst<br />

Hertzog Johannes hette befehl getan / das man jn fangen sollte. Deßgleichen ist er zu<br />

Nürnberg auch entrunnen.“<br />

205


Der behauptete Versuch einer Festnahme in Wittenberg ist wohl eine Artigkeit <strong>des</strong><br />

Philipp Melanchthons gegenüber seinem Fürsten.<br />

„Der fromme und löbliche Hertzog Johann“, das war Johann Friedrich der Großmütige<br />

von Sachsen, der allerdings nicht nur fromm, sondern auch fettleibig war; ein schwermütiger<br />

Mensch, der gerne aß und noch lieber trank. Den Beinamen „der Großmütige“<br />

erhielt er, da er den Protestantismus, Luther sowie die Universität von Wittenberg<br />

förderte. Von 1532-1547 war er Kurfürst von Sachsen, dazu war er auch Führer <strong>des</strong><br />

Bündnisses der protestantischen Fürsten, <strong>des</strong> Schmalkaldischen Bun<strong>des</strong>. Im Schmalkaldischen<br />

Krieg geriet er 1547 in Gefangenschaft, ging seiner Kurfürstenwürde<br />

verlustig, wurde zum Tod verurteilt, dann begnadigt und nach fünf Jahren als Herzog<br />

aus der Haft entlassen. Ein hoher Preis, den er als Bannerträger <strong>des</strong> Protestantismus,<br />

freilich auch für seinen Raub <strong>des</strong> Bistums Naumburg-Zeitz zu zahlen hatte.<br />

Wenn Melanchthon bei einer seiner Sonntagspostillen von dieser versuchten<br />

Festnahme in Wittenberg berichtet, dann eventuell <strong>des</strong>halb, weil die Frage <strong>im</strong> Raum<br />

stand, warum <strong>Faust</strong>s teuflischem Treiben kein Ende bereitet wurde, warum <strong>Faust</strong> nie<br />

der Prozess gemacht worden war.<br />

Melanchthon behalf sich mit einer geistreichen Teilinformation. Gemäß seiner<br />

Ausführung „hette befehl getan“ sich vorzustellen, „der fromme vnd löbliche Fürst<br />

Hertzog Johannes“ hätte sich gleichsam persönlich aus dem Fenster gelehnt und mit<br />

dem Ruf „Haltet den Zeuberer!“ seine Wachen auf <strong>Faust</strong> gehetzt, ist weitaus<br />

interessanter als sich anzuhören, wie viele Verordnungen und Gesetze unter „Hertzog<br />

Johannes“ erlassen wurden, um Leuten wie <strong>Faust</strong> den Garaus zu machen.<br />

Die volle Information hätte analog zu einem entsprechenden Gesetz <strong>des</strong> Landgraf<br />

Philipps von Hessen lauten müssen: „Der Kristallenseher und Weissager halben ist<br />

unser Befehl, dass man derselben Personen … an Leib und Gut ohne alle<br />

Barmherzigkeit strafen soll.“<br />

Ein Besuch <strong>Faust</strong>s <strong>im</strong> lutherischen Wittenberg ist schwer vorstellbar. Eventuell hatte es<br />

einst einen Eklat ähnlich dem in Erfurt oder in Ingolstadt gegeben, der aber bereits um<br />

1514 oder noch früher passiert war, also sehr weit zurücklag und nun in Verbindung mit<br />

„Hertzog Johann“ als ein jüngeres Ereignis die Runde machte, sich zu einer „neuen<br />

Wahrheit“ gezeugt hatte.<br />

Nicht viel anderes gilt für den angeblichen Versuch einer Festnahme in Nürnberg,<br />

Manlius schreibt: „Deßgleichen ist er zu Nürnberg auch entrunnen. Als er vbers<br />

Mittagsmahl saß / ist jm heiß worden / vnd er ist von stundan auffgestanden / vnd hat<br />

den Wirt bezalt / was er jhm schuldig war / vnd ist daruon gegangen. Vnd als er kaum<br />

ist fürs thor kommen / waren Stadtknecht kommen / vnd hatten nach jhm gefraget.“<br />

Die recht detailierte Schilderung scheint einen Kern von Wahrheit in sich zu tragen:<br />

„Als er vbers Mittagsmahl saß / ist jm heiß worden / vnd er ist von stundan<br />

auffgestanden“. <strong>Faust</strong> war also be<strong>im</strong> Mittagsmahl gesessen, als er abrupt vom Tisch<br />

aufstand, zum Wirt sagte, dass ihm heiß sei, seine Zeche beglich und davon ging.<br />

<strong>Faust</strong> liefert dem Wirt eine Begründung für seinen plötzlichen Aufbruch, denn er will<br />

schleunigst zur Tür hinaus, und zwar schneller hinaus als der Wirt nachdenklich und<br />

am Ende gar noch argwöhnisch wird.<br />

Fraglos wäre der Wirt nachdenklich geworden, so eben ist seinem Gast noch derart<br />

heiß gewesen, dass er sogar auf sein Essen verzichten muss, <strong>im</strong> nächsten Moment ist<br />

er bereits verschwunden. Die Verwunderung darüber, wie schnell sich <strong>Faust</strong> aus dem<br />

Staub machte, sie klingt noch <strong>im</strong> Bericht nach. Frei formuliert: „Und er muss kaum zum<br />

Tor draußen gewesen sein, als schon die Stadtknechte auftauchten und nach ihm<br />

fragten.“<br />

Der „Bericht“ lässt die Vermutung zu, das Wirtshaus befand sich in der Nähe <strong>des</strong> Stadttors;<br />

<strong>Faust</strong> hatte bei der Wahl der richtigen Küche auch die „Entfernung zum nächsten<br />

Sprengel“ berücksichtigt.<br />

Mag sein, dass sich dergleichen in einem Städtlein zugetragen hatte, später auch in<br />

einer Landschaft die Runde gemacht hatte, doch <strong>im</strong> Lauf der Zeit muss sich das<br />

206


Städtlein zu einem Nürnberg aufgeplustert haben, denn dass diese versuchte<br />

Festnahme sich in Nürnberg ereignet haben soll, ist nicht denkbar.<br />

Als Freie Reichstadt, Handelsmetropole und als Aufbewahrungsort der Reichsinsignien,<br />

war Nürnberg die berühmteste Stadt Deutschlands; bekannt war auch ihr<br />

strenges Ordnungsreg<strong>im</strong>ent. Nürnberg, von drei Mauerringen umgeben, war eine<br />

Festung.<br />

Auch mit dieser Geschichte wird <strong>Faust</strong>s teuflisches Wesen herausgestellt. Dass <strong>Faust</strong><br />

aus Nürnberg entweichen konnte, das vermochte er nur mit Hilfe höllischer Mächte.<br />

Hätten Melanchthons Zuhörer ein wenig nachgedacht, sie hätten bemerkt, an der<br />

Geschichte st<strong>im</strong>mt etwas nicht.<br />

Nürnberg umfasste ein Gebiet von 40 km Durchmesser mit über 60 Ortschaften. Mehr<br />

als die Hälfte der Ortschaften waren ehemaliges Reichsgut, die Nürnberger Patrizier<br />

hatten es den Kaisern nach und nach abgekauft. Die Rechte auf Abgaben, Nutzung<br />

oder Geleit waren allerdings bunt gemischt. Teils lagen sie bei der Stadt, teils bei<br />

verschiedenen Kirchsprengeln, teils bei einzelnen Familien oder auch bei den Hohenzollern.<br />

Im Lorenzer Wald lagen beispielsweise Geleit und Wildbann be<strong>im</strong> Burggrafen,<br />

die Gerichtsbarkeit und die Nutzung hingegen bei der Stadt.<br />

Selbst wenn <strong>Faust</strong> aus Nürnberg hinaus geschlüpft wäre, die berittenen Ordnungskräfte<br />

hätten es sich nicht nehmen lassen, die Hatz <strong>im</strong> Umland aufzunehmen. Wenn<br />

auch die Zuständigkeiten ein rechter Flickenteppich waren, wer hätte die wilde Jagd<br />

zunächst stoppen sollen, wo doch die Devise gilt: „Erst fangen, dann fragen!“<br />

Der kürzeste Quellentext über den historischen <strong>Faust</strong> ist die Ablehnung <strong>des</strong> Rates der<br />

Stadt Nürnberg, <strong>Faust</strong>s Antrag auf Geleitschutz zu entsprechen. Der Beschluss wurde<br />

<strong>im</strong> Jahr 1532 gefasst, festgehalten wurde er in den „Verlässen <strong>des</strong> inneren Rates“:<br />

„Doctor <strong>Faust</strong>o, dem grossen Sodomitten und Nigromantico zu furr, glait ablainen.<br />

Burg(ermeister) Ju(ni)or“<br />

Nach Erkenntnissen <strong>des</strong> amerikanischen <strong>Faust</strong>forschers Baron handelte es bei dem<br />

Bürgermeister Junior um Hieronymus Holzschuher, der diesen Beschluss selbstredend<br />

nicht allein fasste. Neben den Patriziern saßen angesehene Bürger <strong>im</strong> Rat; auch<br />

Willibald Pirckhe<strong>im</strong>er und Albrecht Dürer hatten dem Rat einige Jahre angehört.<br />

Es sei an dieser Stelle auf die Formulierung „Doctor <strong>Faust</strong>o, dem grossen Sodomitten<br />

und Nigromantico“ aufmerksam gemacht; einige <strong>Faust</strong>forscher – jene, die sich<br />

vehement gegen die Bezeichnung „Sodomitten“ wehren, sind der Meinung, dass der<br />

Rat der Stadt Nürnberg über <strong>Faust</strong> nur vage informiert war, sich folglich auf einen<br />

ungewöhnlich kurzen Entrag in den „Verlässen“ beschränken musste.<br />

Das Gegenteil ist der Fall. <strong>Faust</strong> war derart bekannt, es brauchte keine Erklärungen<br />

und schon gar keine weitschweifigen Erklärungen mehr. Die Verwendung <strong>des</strong> Attributs<br />

„dem grossen“ bestätigt es. Denn nicht anders als heute, ein Fußballer, ein Varietekünstler,<br />

sie werden als „groß“ tituliert, weil ihr Können beachtlich ist und sie von daher<br />

jedermann bekannt sind.<br />

<strong>Faust</strong> hatte den Antrag auf Geleitschutz offenbar von Fürth aus gestellt, Fürth lag<br />

außerhalb <strong>des</strong> Geltungsbereichs der Stadt Nürnberg. Geleit bedeutete bewaffneten<br />

Schutz auf der Reise nach Nürnberg, aber auch Gerichtsfriede; die Zusage, dass er<br />

ungehindert und ohne die Gefahr einer Festnahme wieder abreisen konnte.<br />

Einige <strong>Faust</strong>forscher kombinieren den Versuch einer Festnahme in Nürnberg, wie ihn<br />

Manlius notierte, mit dieser Ablehnung <strong>des</strong> Geleits. Sie vermuten, dass <strong>Faust</strong> die<br />

Geleitverweigerung ignorierte, sich auf eigenes Risiko nach Nürnberg begab, worauf<br />

die Nürnberger seiner habhaft zu werden suchten. Eine Überlegung, die nicht recht<br />

überzeugt. Die harsche Titulierung „Sodomitt und Nigromantico“ war mehr als eine<br />

Ausladung, sie war ein Warnschuss.<br />

Hatte <strong>Faust</strong> bei einem früheren Besuch in Nürnberg sich etwas zu schulden kommen<br />

lassen? Wohl kaum, darüber hätte der Nürnberger Rat einen Eintrag in seinen Büchern<br />

gefunden, was <strong>Faust</strong> selbstredend ebenso bekannt gewesen wäre, wie dass sein<br />

Antrag folglich abschlägig beschieden würde. Man darf aus seinem Antrag schließen,<br />

in Nürnberg war er bis dahin nicht aktenkundig geworden.<br />

207


Dass <strong>Faust</strong> bereits früher einige Male in Nürnberg weilte, ist sehr wahrscheinlich,<br />

Nürnberg war eine Handelsmetropole, hier konnte <strong>Faust</strong> zum einen jene Substanzen<br />

erwerben, die er als Alchemist benötigte, zum anderen exotische Drogen, die er zur<br />

Herstellung von Arzneien brauchte.<br />

Der Eintrag in den „Verlässen <strong>des</strong> inneren Rates“ hat die <strong>Faust</strong>forschung sehr bewegt.<br />

Was wollte <strong>Faust</strong> in Nürnberg?<br />

Dass er unter den scharfen Augen der Nürnberger Patrizier als Wahrsager auftreten<br />

wollte, das darf wohl ausgeschlossen werden. Eventuell wollte er Materialien<br />

einkaufen; alles, was bereits über den Güterumschlag in Venedig und Antwerpen<br />

gesagt wurde, das gilt in etwa auch für das seinerzeitige Nürnberg. Eventuell wollte er<br />

<strong>im</strong> lutherischen Nürnberg wichtige Informationen „fischen“, nicht zu vergessen, <strong>Faust</strong><br />

war auch Astrologe. Und <strong>im</strong> Juli 1532 weilte hoher Besuch in Nürnberg, am 23. Juli<br />

1532 wurde der sogenannte „Nürnberger Anstand“ beschlossen, mit dem der Konflikt<br />

zwischen Katholiken und Lutheraner befristet ausgesetzt wird.<br />

Leider kennen wir nur das Jahr <strong>des</strong> Antrags auf Geleit. Eventuell wollte <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Kreis<br />

<strong>des</strong> Kaisers und bei den hohen Abgesandten seine Dienste als Astrologe anbieten.<br />

Warum stellte <strong>Faust</strong> überhaupt einen Antrag auf Geleit?<br />

Grundsätzlich gab es für jeden betuchten Reisenden einen guten Grund Geleitschutz<br />

zu erwerben, rund um Nürnberg trieben nicht nur Strauchritter ihr Unwesen; zeitweise<br />

lag die Stadt mit bis zu 142 Parteien in Fehde.<br />

Und <strong>Faust</strong> war 1532 über fünfzig Jahre alt, vielleicht wollte er das Risiko, ohne Begleitschutz<br />

nach Nürnberg zu reisen, nicht mehr eingehen.<br />

Ein Teil der <strong>Faust</strong>forschung unterstellt <strong>Faust</strong> jedoch, dass er den Antrag mit Hintersinn<br />

stellte, dass er gar nicht vorhatte, nach Nürnberg zu reisen.<br />

Freies Geleit bedeutete nicht nur einen Reiseschutz, sondern wäre auch gleichzeitig<br />

die Bestätigung dafür gewesen, dass das große Nürnberg ihn für schützenswert hielt,<br />

ihn als honorigen Menschen betrachtete. Diese Gewährung von Geleit sei so recht<br />

nach <strong>Faust</strong>s Geschmack gewesen, eine Art polizeiliches Führungszeugnis ohne<br />

Eintrag, mit dem er dann auf lutherischem Gebiet hätte weiter renommieren können.<br />

Eine interessante Deutung.<br />

Wenn <strong>Faust</strong> einen Antrag auf Geleit stellte, dann vielleicht allein <strong>des</strong>halb, weil er dem<br />

lutherischen Nürnberg nicht traute.<br />

Es sei hier an die Ablehnung der Lutheraner gegen alle Arten von Schwarzkünstlerei<br />

erinnert. In den Jahrzehnten zuvor war es schwer genug gewesen, sich als Weissager,<br />

Kristallseher, Kräuterkrämer oder Gaukler durchs Leben zu schlagen, es gab zu viele<br />

Konkurrenten. Im Jahr 1532 gab es nahezu keine Konkurrenten mehr, man war gewiss<br />

nicht mehr einer von vielen Dahergelaufenen, die es irgendwie mit dem Teufel hielten,<br />

nun fiel man auf und war obendrein verdächtig.<br />

<strong>Faust</strong> hatte sich nicht getäuscht, als „Nigromantico“, war er lang genug „durch alle<br />

landtschafft, Fürstenthuomb vnnd Königreich gezogen, seinen namen jederman selbst<br />

bekannt gemacht.“ <strong>Faust</strong> war für jedermann ein Begriff, und in der stolzen Stadt<br />

Nürnberg eine unerwünschte Person. Außerdem hatte man in Nürnberg mit Leuten<br />

seines Schlages genug Ärger; Kunigund Hirtin, die Hexe von Dormitz, machte dem<br />

Rat der Stadt in jener Zeit zu schaffen.<br />

Die Titulierung „Sodomit“ ist allerdings so harsch wie ungewöhnlich, dazu verächtlich.<br />

Sie lässt sich vermutlich allein aus dem Abscheu der Lutheraner gegenüber <strong>Faust</strong>s<br />

Sündhaftigkeit erklären. Mit Lerche<strong>im</strong>er gesagt: „dort durfte er sich nicht mehr blicken<br />

lassen“.<br />

Um die Bedeutung <strong>des</strong> Wortes „Sodomit“ selbst darf gestritten werden. Meinte der Rat<br />

damit Knabenliebe oder Sex mit Tieren oder gar allergrößte Sündhaftigkeit überhaupt,<br />

die „Huorerey mit dem Teufel“?<br />

Der Rat der Freien Reichsstadt Nürnberg erklärt sich nicht weiter, er hat das auch<br />

nicht nötig. Angesichts bekannt lutherischer Empfindlichkeiten darf man <strong>Faust</strong>s Antrag<br />

auf Geleit auch als Frechheit bezeichnen; die Antwort fiel dementsprechend aus.<br />

208


Sie wird <strong>Faust</strong>, den Welterfahrenen, auch kaum überrascht haben. Von daher stellt sich<br />

tatsächlich die Frage, warum machte <strong>Faust</strong> sich überhaupt die Mühe, einen Antrag zu<br />

stellen. Wollte er Nürnberg provozieren? Wollte er jemanden etwas beweisen?<br />

Oder wollte er tatsächlich nach Nürnberg? Wobei er den Nürnbergern allerdings nicht<br />

traute.<br />

Doch warum stellte er dann den Antrag auf Geleit nicht unter falschem Namen?<br />

Ausweise und Reisedokumente wurden erst zwei Generationen später eingeführt.<br />

Die schlichte Antwort: Es hatte keine andere Wahl als unter seinem tatsächlichen<br />

Namen den Antrag zu stellen, er war in vorlutherischer Zeit so oft in Nürnberg<br />

gewesen, so er über den Hauptmarkt ging, erkannten ihn sofort Dutzende von Leuten.<br />

In der Ausgabe der Nürnberger Zeitung vom 14./15 Okt. 2000 n<strong>im</strong>mt Siegfried Adler<br />

unter der Überschrift „Der „Knabe“ Johann <strong>Faust</strong>“ Bezug auf Einträge in den<br />

Ratsverlässen vom 6./7. Sept. 1524. Adler sieht darin einen Nachweis, dass <strong>Faust</strong> sich<br />

in Nürnberg aufgehalten hat, dabei straffällig wurde, was wiederum den Antrag auf<br />

Geleit von 1532 notwendig gemacht hätte.<br />

Die <strong>Faust</strong>forschung ignoriert die Einträge in den Ratsverlässen vom 6./7. Sept. 1524;<br />

die Gründe dafür erschließen sich den Leserinnen und Lesern von selbst.<br />

Die Einträge in den Ratsverlässen vom 6./ 7. Sept. 1524 liefern jedoch einen Einblick in<br />

die Praxis der Strafverfolgung.<br />

Es muss vorausgeschickt werden, Nürnberg war bereits lutherisch, wollte sich jedoch<br />

andererseits mit dem Kaiser nicht überwerfen. Folglich war der Verkauf von<br />

lutherischen Schriften in der Stadt untersagt. Im vorliegenden Fall handelte es sich um<br />

Luthers Schrift „Zwey keyserliche uneynige und wyderwertige gepott den Luther<br />

betreffend“.<br />

„6.IX.1524. Die Luterischen püchlein, darinnen die kaiserlichen mandata (Verfügungen)<br />

inserirt sein und kaiser und fürsten narren genennt werden, soll man verpieten, fail ze<br />

haben. Die puben, so soliche puchlin am marckt fayl haben, damit herauffordern…“<br />

„6.IX.1524. Die puchführer, so der k.mandat mit Lutters epistel fail gehapt, in pflicht<br />

nehmen, sich morgen widerum für rat ze stellen.“<br />

„7.IX. 1524. Dem knaben, Johann <strong>Faust</strong> genannt, so Lutters druck fail hat gehapt,<br />

darinn k.mt (kaiserl. Majestät) hoch geschmecht (geschmäht), ain streflich red sagen,<br />

das er sich hinfuro solchs failhabens enthalt. Und darbey fragen, wie der haiß, so <strong>im</strong><br />

soliche püchlin furgelegt (Am Rand notiert: „hat benennt Wolffen von Augspurg, ein<br />

puchführer). Des namen soll man anzaichen und in acht haben, wann derselb hieher<br />

kompt, das er derhalben beschickt und gestraft werd …“<br />

*<br />

Etikettenschwindel<br />

Melanchthon redet vor seinen Zuhörern vom „frommen vnd löblichen Fürst Hertzog<br />

Johannes“. „Melanchthons Briefwechsel“ besagt klar, Melanchthon hielt in der Reihe<br />

der kursächsischen Fürsten, denen er <strong>im</strong> Lauf seines Lebens diente, auch jenen<br />

„Hertzog Johannes“ gewiss nicht für löblich und schon gar nicht für fromm.<br />

Melanchthon erfuhr nicht nur Demütigungen und Pressionen, er klagt, dass der Fürst<br />

Universität, Kirche und Schule verlässige, er klagt über Eingriffe in kirchliche<br />

Angelegenheiten, über die karge Besoldung der unteren Dienstränge, über ausstehende<br />

Honorare für die Wittenberger Professoren, er missbilligt die Politik seines<br />

Fürsten gegenüber dem Kaiser.<br />

Da ist er also wieder, jener Melanchthon, der sich für die Künste, die viele „verborgene<br />

Dinge“ ans Licht bringen, ungemein interessiert, der sich an Luthers Tafel breit über<br />

<strong>Faust</strong> unterhält, andererseits aber <strong>Faust</strong> vor dem bunt gemischten Publikum der<br />

Sonntagspostillen herabsetzt.<br />

Dieses Innen und Außen, es gilt auch für seine Meinung über den Fürsten.<br />

Anfänge protestantischer Geschichtsschreibung, die, wie auch anders, in Sachen<br />

Geschichtsschreibung, mit Verschönerungen, Verzerrungen und Auslassungen<br />

209


eröffnen. Den gewichtigsten Stein <strong>im</strong> Fundament protestantischer Geschichtschreibung<br />

legte allerdings nicht Melanchthon, sondern eben jener „Fürst Johannes“, er gab ein<br />

Bild bei Lucas Cranach d. Ä. in Auftrag. Das Gemälde ist jedermann wohl bekannt: Vor<br />

dunklem Hintergrund steht massig und zentral der Fürst in dunklem Gewand – sein<br />

Leibesumgang ist beträchtlich, um ihn gruppieren sich die Reformatoren: Luther,<br />

Melanchthon, Spalatin u. a.; deutlich kleiner dargestellt wirken sie wie Kinder, die sich<br />

um den Fürsten drängen. „Maria breit den Mantel aus, mach Schirm und Schutz für uns<br />

daraus!“ kommt einem bei der Betrachtung in den Sinn, ein Motto, das wohl auch die<br />

Vorgabe für den Maler war. Das Kinn <strong>des</strong> Fürsten ist der Welt entgegen gereckt, sein<br />

Blick ist schwermütig, abgründig lauernd. Die Botschaft: „Wer diesen Gelehrten etwas<br />

antun will, bekommt es mir mir zu tun!“ Als Johann Friedrich der Großmütige von<br />

Sachsen ging er in die Geschichte ein. „Großmütig“ <strong>des</strong>halb, „weil er die Universität<br />

von Wittenberg, Luther und den Protestantismus gefördert habe“.<br />

Ein Bild bewegt bekanntlich mehr Menschen, als je ein kluger Text es vermag. Bis<br />

heute ist das Gemälde die Essenz <strong>des</strong>sen, was die Allgemeinheit über die ersten<br />

protestierenden Fürsten und Stadträte zu wissen glaubt: Männer, fortschrittlicher<br />

Denkungsart, die Luther vor Papst und Kaiser schützten und seinen Reformen Raum<br />

gaben. Blättert man das Gemälde um, dann eröffnet sich der Blick auf eine gewaltige<br />

Umschichtung von kirchlichem Vermögen und Macht in weltliche Hände. Das, wovon<br />

Franz von Sickingen und auch die Bauern träumten, das nahmen sich jene Fürsten.<br />

Das Gemälde, ein durch und durch gelungener frecher Etikettenschwindel, der freilich<br />

notwendig war, denn um es mit Melanchthon <strong>im</strong> Jahre 1535 zu sagen, „ging es früher<br />

um die Macht der Päpste, heute geht es um das reine Evangelium.“<br />

*<br />

Narrenfreiheit für <strong>Faust</strong> – Blasphemie bleibt ungestraft<br />

„Würdig ausgepeitscht zu werden“ stellte Trithemius fest. „Gegen ihn sollten sich die<br />

Theologen erheben“ forderte Conradus Mutianus. Es gibt keinerlei Hinweise darauf,<br />

dass <strong>Faust</strong> ausgepeitscht wurde, noch dass sich Theologen gegen <strong>Faust</strong> erhoben<br />

hätten.<br />

Wie es <strong>Faust</strong> gelang, trotz seiner geradezu tollkühnen Aufsässigkeit und Respektlosigkeit,<br />

nicht allein gegenüber der Geistlichkeit, sondern genau betrachtet, letztlich<br />

gegenüber jedermann, nicht nur dem Scheiterhaufen zu entgehen, sondern auch sonst<br />

unbehelligt zu bleiben, es macht uns staunen, es erzeugt Kopfschütteln.<br />

„Sein Leben ist ein Skandal!“ möchte man sagen. Nun, wir wissen es nicht genau, wir<br />

nehmen es an. Diese Annahme ist das Produkt unserer Erfahrungen in der Gegenwart<br />

und <strong>des</strong>sen, was wir über das späte Mittelalter zu wissen glauben.<br />

Allen Überlegungen voran gestellt, man muss <strong>im</strong> Auge behalten, dass <strong>Faust</strong> eine<br />

Entwicklung durchmachte; ein derart hemmungsloses Auftreten, wie Trithemius es<br />

berichtet, steht für einen <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren, und zwar in<br />

den „wilden Jahren“ vor Luther und vor dem Großen Bauernkrieg.<br />

Das Jahr 1525 war eine Zäsur, nicht nur <strong>im</strong> Leben <strong>Faust</strong>s, <strong>im</strong> Leben aller; der Wind<br />

begann härter zu blasen.<br />

Dennoch, ein für uns deutlicher Fall unterlassener Strafverfolgung ist der von <strong>Faust</strong><br />

vielfach geübte sexuelle Missbrauch von Minderjährigen in Kreuznach.<br />

Der Missbrauch von Minderjährigen gilt heute als Offizialdelikt, ein Delikt, <strong>des</strong>sen<br />

Verfolgung <strong>im</strong> Interesse aller Bürger ist und folglich den Staatsanwalt von sich aus aktiv<br />

werden lässt. Den Begriff <strong>des</strong> Offizialdelikts sollte es allerdings erst Jahrzehnte nach<br />

<strong>Faust</strong> geben, ebenso das Amt eines Staatsanwalts. Eine andere Möglichkeit der<br />

Strafverfolgung ist das so genannte Amtshilfeersuchen. Doch auch das Amtshilfeersuchen<br />

war aus praktischen Gründen noch kein Teil der Rechtspflege, man hätte an<br />

Hunderte von Gerichtsbezirken die Bitte um Festnahme eines gewissen Doktor<br />

<strong>Faust</strong>us richten müssen, ein je<strong>des</strong> Ersuchen hätte die Forderung einer wie auch <strong>im</strong>mer<br />

gearteten Gegenleistung nach sich gezogen. Die Stadt Kreuznach war damals ein<br />

eigener Gerichtsbezirk, eine übergreifende Polizeigewalt gab es nicht, man konnte also<br />

210


nur darauf warten, dass <strong>Faust</strong> unvorsichtig genug war, sich erneut in den<br />

Geltungsbereich Kreuznachs zu begeben.<br />

Wobei die Honoratioren der „Kreiznacher Gässjes High-Society“, sich vermutlich<br />

ohnehin die Frage stellten, ob man die Sache nicht besser auf sich beruhen ließe; man<br />

sieht es nicht gern, wenn die Sauereien, die mit dem Nachwuchs getrieben wurden, mit<br />

einem Prozess noch einmal zum Stadtgespräch aufgewärmt und dann auch noch<br />

aktenkundig werden. Über solche Geschichten breitet man lieber den Mantel eiligen<br />

Vergessens.<br />

Schwieriger gestaltet sich die die Beantwortung der Frage, warum wurde <strong>Faust</strong> nicht<br />

wegen Blasphemie belangt.<br />

<strong>Faust</strong> „soll sich in gleicher Eitelkeit gerühmt haben, dass die Wunder unseres Erlösers<br />

Christi nicht anstaunenswert seien; er könne alles tun, was Christus getan habe, so oft<br />

und wann er wolle.“ berichtet Abt Trithemius.<br />

Ein klarer Fall von Gotteslästerung, wenn nicht erheblich mehr, denn <strong>Faust</strong> behauptet<br />

nicht nur, dass die Wunder nicht anstaunenswert seien, er prahlt obendrein, er könne<br />

das gleiche tun. Welchen Strick soll man ihm daraus drehen? Leugnet er die Göttlichkeit<br />

Jesu oder erhebt er sich selbst zum Gott?<br />

Bei<strong>des</strong> ist der Fall, Leugnung und Selbsterhebung, also: 2 Stricke!<br />

Trithemius fordert eine Auspeitschung. Trithemius hat Recht, er kennt sich aus, mehr<br />

an Ehre ist für einen dahergelaufenen Wahrsager, einen aus einer unteren Gesellschaftsschicht,<br />

nicht drin. Wäre <strong>Faust</strong> ein Geistlicher, ein Wicliff, ein Hus, ein Bruno<br />

Giordano, ein Luther, seine Schwätzerei hätte die D<strong>im</strong>ension eines Scheiterhaufens,<br />

als eines landlosen Wahrsagers Geschwätz ist sie in diesen Jahren den Ordnungsruf<br />

einer Peitsche wert.<br />

Hier greift das Denken innerhalb feudalistischer Strukturen. Im Kapitel „Katholisch oder<br />

Lutherisch“ wurde berichtet, Johann der Großmütige war zum Tode verurteilt.<br />

Heute hat man mit einem zum Tode verurteilten Staatsmann kein Problem, man hat<br />

den Galgen. Damals war es eine brisante Frage der Ehre, sie bewegte alle<br />

Angehörigen der Oberschicht. Wie bringt man einen ehemaligen Kurfürsten stan<strong>des</strong>gemäß,<br />

ohne Ehrabschneidung, vom Leben zum Tode?<br />

Enthauptete man ihn mit dem eigenen Schwert oder reichte man ihm den Giftbecher?<br />

<strong>Faust</strong> mehr anzutun, als seine Persönlichkeit unter den Hieben der Peitsche zu<br />

brechen, verbot sich von selbst, sein minderer Stand innerhalb der Feudalgesellschaft<br />

hätte eine Aufwertung erfahren. Seine Reden konnten und durften, zumin<strong>des</strong>t noch in<br />

dieser Zeit, nicht mehr als eine dummdreiste Frechheit sein.<br />

Dennoch stellt sich die Frage, warum wurde die Strafe nicht vollzogen.<br />

Wie <strong>im</strong> Kapitel „<strong>Faust</strong> – <strong>im</strong> <strong>Visier</strong> <strong>des</strong> Gehe<strong>im</strong>dienstes“ dargestellt, muss <strong>Faust</strong> in<br />

seiner Selbstbegeisterung auch einen Satz in die Menge geschleudert haben, wie:<br />

„Wenn hier einer einen Aufstand macht, dann ich!“. Der Satz lässt die St<strong>im</strong>mung in<br />

dieser Zeit erahnen, er ist aufrührerisch. Vermutlich aber ein Lapsus singulärer Art,<br />

denn nach der steganographischen Lesart <strong>des</strong> ersten Teil <strong>des</strong> Trithemius-Briefes, stellt<br />

Abt Trithemius unter anderem fest, <strong>Faust</strong> sei kein „Pyromant“, <strong>Faust</strong> hält also keine<br />

Brandreden, mehr noch, <strong>Faust</strong> ist kein Teil der Bauernbewegung.<br />

Was die tolldreisten Behauptungen <strong>Faust</strong>s <strong>im</strong> zweiten Teil <strong>des</strong> Briefes angeht, wir<br />

dürfen annehmen, Abt Trithemius notierte lediglich die richtig großen Frechheiten, die<br />

<strong>Faust</strong> vom Stapel ließ. Die „vielen von ihm mit großer Frechheit ausgeführten<br />

Nichtsnutzigkeiten“ hielt der Abt nicht mehr <strong>des</strong> Aufzählens für wert.<br />

Doch abgesehen von der Gotteslästerung, von der noch deutlich die Rede sein wird,<br />

sozialkritisch, rebellisch oder gar revolutionär klingen <strong>Faust</strong>s freche Behauptungen<br />

nicht, <strong>Faust</strong> liefert vielmehr ein geradezu antirevolutionäres Gegenprogamm. Die<br />

Menschen erregen sich über die Einführung einer weiteren Steuer, sie sch<strong>im</strong>pfen über<br />

die neue Gerichtsbarkeit, sie fluchen auf die neuartige Policey und auf deren Willkür,<br />

doch dann kommt <strong>Faust</strong>, die Leute gaffen, staunen und haben auf Wochen hinaus ein<br />

Erlebnis, über das sie sich den Mund faserig reden, anstatt mit geballter <strong>Faust</strong> herum<br />

zu laufen.<br />

211


Selbst noch <strong>Faust</strong>s Behauptung, er könne alle Wunder <strong>des</strong> Erlösers vollbringen, war in<br />

diesem Sinne hilfreich. So versessen seine Mitmenschen auf Sensationen waren, sie<br />

waren dabei auch tief religiös. Seine blasphemische Behauptung erzeugte bestenfalls<br />

Gerede; Sprengkraft konnte sie in diesem Umfeld tiefer Religiösität nicht entwickeln.<br />

So <strong>Faust</strong> und seine frechen Sprüche eine Art von Gegnerschaft darstellten, dann war<br />

<strong>Faust</strong> der Traum von einem Gegner, er wirkte systemstabilisierend.<br />

Wo alles in Veränderung, in Auflösung begriffen ist, tritt <strong>Faust</strong> auf die Bühne mit einem<br />

Weltbild, das letztlich nicht weniger elfenbeinern weltfremd ist, als das der Humanisten.<br />

Der böse Doktor <strong>Faust</strong>us war also gar nicht so böse. Es passt ins Bild, wenn er mit<br />

be<strong>im</strong> Fürstbischof von Bamberg am Tisch sitzt, dass er intensiven Umgang mit dem<br />

Dom- und Ratsherrn Stibarius pflegt und Philipp von Hutten, der lange zum Gefolge<br />

Kaiser Karls V. gehörte, ein Reisehoroskop stellt.<br />

Grundsätzlich stellt sich die Frage, warum hätte man ihn belangen sollen, wo er doch<br />

obendrein so wunderbare Horoskope stellte.<br />

<strong>Faust</strong> zählte nicht zur Oberschicht, aber er suchte den Umgang mit ihr. Und wer jemals<br />

– selbst noch <strong>im</strong> 20. Jahrhundert, die lässig tropfende Arroganz junger Leute, die<br />

unschuldiger Weise mit einem „von“ <strong>im</strong> Namen zur Welt kamen, beobachtet hat, der<br />

weiß, dass <strong>Faust</strong> zwei Gesichter hatte. Der <strong>Faust</strong>, der vor den Ru<strong>des</strong> auftritt, ist nicht<br />

der <strong>Faust</strong>, der <strong>im</strong> Fürstenhof von Heidelberg den Stallknechten den Zügel seines<br />

Pfer<strong>des</strong> zuwirft.<br />

<strong>Faust</strong>, der so oft als Mann <strong>des</strong> Volkes bezeichnet und gerühmt wird, suchte Fäden und<br />

Strickleitern zur Oberschicht. Vermutlich hätte er den Aufstieg dorthin auch geschafft,<br />

wäre nicht sein Naturell, seine Ungebärdigkeit und seine Selbstüberzeugung, gewesen.<br />

Eine der Ambivalenzen <strong>des</strong> Doktor <strong>Faust</strong>us: er konnte nicht Teil der Oberschicht sein,<br />

vermutlich war sie ihm, trotz aller Machtspiele, letztlich zu langweilig, er wollte nicht<br />

Volk sein, weil es in seinem Schmutz, seiner Unbildung, nicht seinem Selbstbild<br />

entsprach.<br />

Man darf ihm zum Vorwurf machen, dass er sich dem Anschein nach nicht um die<br />

Belange <strong>des</strong> Volkes kümmerte. Man muss dabei berücksichtigen, dass er durch seinen<br />

Umgang mit Vertetern der Oberschicht um die Aussichtslosigkeit aller revolutionären<br />

Bestrebungen wusste. Längst hatten Strategen die verschiedenen Planspiele gespielt,<br />

hatten landstrichweise die Ober- und Untergrenzen der Anzahl möglicher<br />

Aufständischer durchgerechnet, Disziplin und Kampferfahrung abgeschätzt, die Alarmpläne<br />

skizziert – man denke an das rasche Ende der Belagerung von Trier bei der<br />

Fehde <strong>des</strong> Sickingers – längst waren alle Lande mit einem Netz von Lauschern und<br />

Einschleichern überzogen, längst lag offen zu Tage, das Heer der Landlosen – ein<br />

Drittel der Bevölkerung – würde die Bauern nicht unterstützen, vielmehr stand es den<br />

Bauern feindlich gegenüber. Und dass die überzähligen Bauernburschen, die überall<br />

als arbeitslose Söldner herum lungerten, auf die Verwandtschaft pfiffen, vielmehr nach<br />

dem Sold fragten, war ohnehin bekannt. <strong>Faust</strong> wusste auch, bei seinen Kontakten kann<br />

es ihm kaum verborgen geblieben sein, dass die Fürsten bis zu 80% ihrer jährlichen<br />

Einnahmen für den Schuldendienst aufwenden mussten, dass sie, nicht anders als der<br />

Kaiser, sich <strong>im</strong>mer tiefer verschuldeten, dass sie gar nicht anders konnten, als den<br />

Konflikt mit den Bauern auf Biegen und Brechen auszufechten.<br />

Freilich suchte der angesehene Berater und Astrologe <strong>Faust</strong> auch Umgang mit dem<br />

Volk. Gegenüber dem Volk musste er nicht artig sein, er lebte sein zweites Ich; auch<br />

wenn es in keiner Weise überliefert ist, er durfte dabei derb und zotig sein.<br />

Nicht zu vergessen eine weitere Ambivalenz, <strong>Faust</strong>, der angesehene Berater und<br />

Astrologe parasitierte <strong>im</strong> Hinterland als Betrüger.<br />

Erneut stellt sich die Frage, warum wurde er nicht dingfest gemacht.<br />

„Wo kein Kläger, da kein Richter“.<br />

Das Gesicht war lang, das Lamento groß, zur Klage selbst reichte es nicht. Aus<br />

Bequemlichkeit, Scham, auch weil man gar nicht recht wusste, wie der Betrug<br />

vonstatten gegangen war, nur dass eben das Geld weg war.<br />

<strong>Faust</strong> dürfte auch clever genug gewesen sein, seine Betrügereien so anzulegen, dass<br />

der Geschädigte sich mit einer Anzeige selbst in die Bredouille gebracht hätte. Nicht<br />

212


zuletzt ist der Aberglaube in Rechnung zu stellen. Der Geschädigte verzichtete auf eine<br />

Anzeige, er fürchtete, dass <strong>Faust</strong> sich über Geister und Dämonen an ihm rächte.<br />

Erschwerend für eine Klageerhebung, die anfallenden Gerichtskosten mussten seitens<br />

<strong>des</strong> Klägers damals <strong>im</strong> Voraus bezahlt werden. Sollte man dem Verlust noch mal Geld<br />

hinterher werfen?<br />

„… der auch sovil seltzamer hendel gehapt hat hin und wider“ heißt es in der<br />

Z<strong>im</strong>mer`schen Chronik. „Hendel“ bedeutet in Schwaben bis heute: Ärger und Streit.<br />

Sollte „seltzamer hendel“ bedeuten, dass es komplizierte Rechtsstreitigkeiten gegeben<br />

hatte? Kompliziert <strong>des</strong>halb, weil <strong>Faust</strong> seine Betrügereien sehr verschlungen<br />

anzulegen gewusst hatte. Über Rechtsstreitigkeiten ist nichts bekannt. Sieht man von<br />

der Sage einer Inhaftierung in Batenberg ab, dann ist auch nichts über eine<br />

Verurteilung bekannt. Der Vollständigkeit halber sei es gesagt, Urteile waren damals<br />

auch käuflich.<br />

Oder ist „seltzamer hendel“ derart zu verstehen, dass <strong>Faust</strong> bei seinen Betrugsgeschäften,<br />

zwecks Verschleierung, Ablenkung, Täuschung oder auch nur zu seinem<br />

Gaudium, mit seinen Kunden merkwürdige Vereinbarungen getroffen, aus Übermut<br />

ihnen ungewöhnliche, verrückte Handlungen auferlegt hatte. Der Phantasie, welche<br />

Narrheiten sich <strong>Faust</strong> ausgedacht haben mochte, sind keine Grenzen gesetzt. „Binde<br />

be<strong>im</strong> nächsten Vollmond die Sau auf die Kuh!“ / „Gehe nachts mit einer Räucherpfanne<br />

rückwärts schreitend die Grenzen deiner Äcker ab!“ / „Reite sonntags auf einem<br />

schwarzen Ziegenbock dre<strong>im</strong>al um die Kirche!“ …<br />

Wahrscheinlich war Trithemius auch bekannt, was <strong>Faust</strong> abseits der Städte <strong>im</strong><br />

Hinterland trieb, dass er dort nicht nur als Chiromant auftrat, sondern den Bauern unter<br />

falschen Vorspiegelungen das Geld aus der Tasche zog. So wie die Städte ihre Spitzel<br />

in die gehe<strong>im</strong>en Versammlungen in den Wäldern <strong>im</strong> Bereich ihrer Landwehren<br />

schickten, so richtete sich das Augenmerk auch auf die rebellische Landbevölkerung.<br />

Dass <strong>Faust</strong> dabei niemals ergriffen, niemals gegen ihn vorgegangen wurde, muss<br />

befremden. Insbesondere wenn man in Rechnung stellt, wie harsch gegen Straftäter<br />

damals vorgegangen wurde.<br />

In einem Bericht aus dem Jahr 1517 <strong>des</strong> Antonio de Beatis, er begleitete Kardinal Luigi<br />

d` Aragona auf <strong>des</strong>sen Deutschlandreise, heißt es, dass überall Äcker, Vieh und Gänse<br />

sind, viel Wohlstand herrsche und „Überall fanden wir unzählige Räder und Galgen …<br />

mit Gehenkten … worunter bisweilen Frauen waren, so dass man sieht, dass strenge<br />

Rechtspflege geübt wird, was ohne Zweifel in diesem Land sehr nötig ist.“<br />

De Beatis sieht die Galgen, er erkennt nicht, dass die Gehenkten das Resultat einer<br />

derart dramatischen sozialen Schieflage sind, dass es durchaus eine „vergnügliche“<br />

Alternative darstellt, sich als Schwerkr<strong>im</strong>ineller mit Pferdediebstählen, Räubereien,<br />

Mord und Erpressung ein schönes, kurzes Leben zu machen. De Beatis schreibt nichts<br />

von der verlumpten Armut <strong>des</strong> wandernden Volkes. Von der Landbevölkerung selbst,<br />

berichtet er nur summarisch, dass die Männer kräftig und die Frauen anmutig seien.<br />

Er schaut den Dingen nicht auf den Grund. Warum sollte er auch? Er ist von<br />

privilegiertem Stand und, nicht anders als in Italien, sind Bauern in Deutschland auch<br />

nur Tölpel, brauchbare Söldner, Volk, das nach gottgewollter Ordnung die Abgaben zu<br />

entrichten hat.<br />

Aus demselben Grund berichtet Trithemius nichts darüber, dass <strong>Faust</strong> die Bauern<br />

betrügt. Bauern interessieren Trithemius nur als Aufrührer, sie darüber hinaus zur<br />

Kenntnis zu nehmen, es wäre ein faux pas, Johannes Virdung, der Empfänger <strong>des</strong><br />

Schreibens, wäre irritiert gewesen.<br />

„Paur“ ist ein Sch<strong>im</strong>pfwort. „Es schadet nit, wenn man ainen Pauern schon einen<br />

Schelm heuß!“ erklärte damals ein Münchner Bürger vor Gericht. Und dass Bauern<br />

fressen und saufen – sich bei einem Fest so richtig erst zu freuen wissen, wenn sie<br />

sich prügeln bis zum Blutvergießen, weiß alle Welt. Und <strong>des</strong>halb „beten“ selbst die<br />

Scholaren bei ihren Gelagen noch <strong>im</strong>mer die alten Spottverse aus dem Hohen<br />

Mittelalter: „Allmächtiger Gott, der du Zwietracht zwischen Klerikern (Gebildeten) und<br />

Bauern gesät hast, lass uns von der Arbeit der Bauern leben, ihre Frauen und Töchter<br />

genießen, an ihrem Verderben uns erfreuen!“<br />

213


Wir wissen nicht, wie der niedere Adel, der <strong>im</strong> Hinterland <strong>im</strong> Auftrag der Fürsten<br />

schlecht entlohnte Ordnungsaufgaben wahrnahm, auf <strong>Faust</strong> Betrügereien reagierte.<br />

War er empört oder gar selbst gelegentlich Beute? Was den Adel, der am fürstlichen<br />

Hof seine Zeit mit Geschwätz und Prassen verschwendete, betrifft, er war das Opfer<br />

der legalen Betrügereien, nämlich der Horoskope, die <strong>Faust</strong> erarbeitete.<br />

Die frechen Sprüche, die <strong>Faust</strong> irgendwo geklopft hatte, die tollen Geschichten, die<br />

über <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Umlauf waren, für den Adel bei Hofe war das den nächsten guten<br />

Schluck und ein begeistertes „Vivat“ wert. Was soll man denn auch sonst mit dem<br />

„dummen Peupel“ machen, als seinen Spaß daran zu haben. Ganz zu schweigen von<br />

den „Pauren, die blödig glotzten“, wenn man ihnen bei der Herbstjagd wieder die<br />

Wiesen zu Dreck ritt.<br />

„Die Beschwerden der Bauern? Dafür ist <strong>des</strong> Fürsten Hofmeister zuständig!“<br />

Der hohe Adel bei Hofe und andere einflussreiche Personen, die zu <strong>Faust</strong>s Kontaktgeflecht<br />

zählten, sie könnten in ihrer Missachtung der unteren Volksschichten unter<br />

anderem dafür verantwortlich sein, dass <strong>Faust</strong> offenkundig niemals für irgendetwas<br />

belangt wurde. Sie hatten kein Interesse daran, dass <strong>Faust</strong> vom Pflock los gebunden<br />

wurde, den Rücken von zwanzig Peitschenhieben zerschnitten, sie brauchten ihn<br />

komplett, so wie er war, und nur so war er richtig; ein guter Astrologe und wichtiger<br />

Gesprächspartner. Abgesehen davon, ein Astrologe weiß sehr viel, wenn nicht sogar<br />

alles über seine Kunden, freilich auch Sachen, die er besser nicht wüsste. Politische<br />

Neigungen, Interessen, Verbindungen, Handsalbungen; kurzum, er weiß Dinge, über<br />

die er hoffentlich den Mund halten wird.<br />

Anders gestaltete sich der Ärger, welchen <strong>Faust</strong> den Humanisten bereitete. Er maßte<br />

sich akademische Titel an und zerrte die Wissenschaften durch den Kot der Gassen<br />

Wenn auch die Gelehrten gegenüber <strong>Faust</strong> machtlos waren, ihre Rache an Leuten<br />

seines Schlages war fürchterlich. Ganz gleich, ob Philipp Melanchthon oder Joach<strong>im</strong><br />

Camerarius, sie und ihr gebildeter Anhang machten aller Bildung und Wissen, die nicht<br />

den Segen einer Universität hatten, den Garaus, machten „Kristallenseher, Murmelthierschmelzer<br />

und Quacksalber“ lächerlich und jagten sie aus den Gassen. Kurzum,<br />

sie brachten Ordnung in das Bildungssystem und den Rest dorthin, wo er hin gehörte,<br />

wenn es sein musste, auch auf den Scheiterhaufen.<br />

Zusammenfassend betrachtet: die für uns erkennbaren Fälle unterlassener Strafverfolgung<br />

erklären sich in Teilen einmal durch das Fehlen einer übergreifenden Exekutive,<br />

sodann durch das seinerzeitige Denken und Handeln in einer Feudalgesellschaft, und<br />

wahrscheinlich auch dadurch, dass <strong>Faust</strong> seine Betrügereien überaus verschlungen<br />

anlegte. Nicht zuletzt waren möglicher Weise die Interessen prominenter Kunden <strong>im</strong><br />

Spiel, diese hatten kein Interesse daran, dass <strong>Faust</strong> dem Verhör, der Folter<br />

unterworfen wurde.<br />

Es bleibt der Vorwurf der Gotteslästerung. Laut dem Brief <strong>des</strong> Trithemius erwartete<br />

Virdung den Besuch <strong>Faust</strong>s. Wir erfahren weiterhin, dass <strong>Faust</strong>, nachdem er sich so<br />

mancherlei <strong>im</strong> Verlauf <strong>des</strong> Jahres 1506 geleistet hatte, mit Beginn <strong>des</strong> Jahres 1507<br />

eine Stelle als Schulmeister in Kreuznach annahm, wobei Franz von Sickingen ihm<br />

half.<br />

<strong>Faust</strong> badete also nicht mehr in der Menge, foppte nicht mehr die Bildungselite, las<br />

nicht mehr in den Händen, hatte alle eitlen Titel abgelegt und kasteite sich in der<br />

Ärmlichkeit einer Schulmeisterexistenz.<br />

Kein Zweifel, <strong>Faust</strong> hatte sich in Kreuznach verkrochen, ihm schwante etwas, vielleicht<br />

hatte er sogar innere Einkehr gehalten und Besserung gelobt.<br />

So dergleichen der Fall war, dann wissen wir, in Kreuznach gab es Knaben, der<br />

Vorsatz, den Pfad der Tugend künftig nie mehr zu verlassen, er hielt nicht lange vor.<br />

Könnte es sein, dass Johannes Virdung – der ranghohe Nachrichtensammler – das<br />

Schreiben <strong>des</strong> Trithemius mit einem honigsüßem Lächeln <strong>Faust</strong> über den Tisch reichte<br />

und, nachdem <strong>Faust</strong> den Brief gelesen, die Hände vor dem Bauch gefaltet und <strong>Faust</strong><br />

belustigt betrachtet hatte?<br />

214


Und <strong>Faust</strong>, der schließlich kein Dummkopf war, hatte verstanden, was die Glocke<br />

geschlagen hatte: Entweder er arbeitete künftig als Zuträger, vornehmer ausgedrückt,<br />

als inoffizieller Mitarbeiter oder – die Peitsche!<br />

<strong>Faust</strong>-Fans sind empört: „<strong>Faust</strong>, ein dreckiger Spitzel?! Nie und n<strong>im</strong>mer!“<br />

Erstens soll man das Wörtchen „nie“ so selten wie möglich gebrauchen, auch ist<br />

dergleichen schon anderen passiert.<br />

Es seien alle Fans daran erinnert, welche gewaltige Worttonnage die <strong>Faust</strong>forschung in<br />

ihren Büchern verklappte, allein um zu erklären, wie <strong>Faust</strong> es schaffte, <strong>im</strong>merhin vierzig<br />

Jahre hindurch das riskante Leben eines Klippenhüpf- und Stein-<strong>des</strong>-Anstoß-<br />

Spezialisten zu führen und dabei niemals zu Fall zu kommen.<br />

Dass <strong>Faust</strong> ein IM war, es ist nur eine Vermutung. Falls es sich so verhielte, kann man<br />

es auch als Kompl<strong>im</strong>ent auffassen. Gewöhnliche Menschen kamen an den Pflock, ein<br />

Mensch mit seinen Fähigkeiten konnte einen Deal machen.<br />

Virdung, der über seine so genannten „Prognostikationen“ sowohl zu Kaiser Max<strong>im</strong>ilian<br />

als auch zu <strong>des</strong>sen Nachfolger, Karl V., beste Beziehungen unterhielt, hätte mündlich<br />

oder auch schriftlich <strong>Faust</strong> lobend erwähnt, von der Tafel <strong>des</strong> Kaisers wäre <strong>Faust</strong>s<br />

„ergebene Treue“ den Fürsten, Erzbischöfen und Reichsstädten zur Kenntnis<br />

geworden und von deren schweren Tischen zu den Pulten der Richter und Amtleute<br />

hinunter getropft.<br />

Keiner hätte etwas Genaues gewusst, außer dass <strong>Faust</strong> irgendwie etwas Besonderes<br />

war, was er ohnehin, selbst ohne Protektion bereits war; <strong>Faust</strong> konnte machen, was er<br />

wollte, einzige Bedingung – freilich auch vergebliche Hoffnung: „Aber treibe es nicht gar<br />

so bunt!“<br />

Neben der vermutlichen Protektion, die <strong>Faust</strong> als Astrologe genoss, könnte auch eine<br />

Tätigkeit als IM die Erklärung dafür sein, dass er der Auspeitschung entging, dass ihn<br />

die dominikanischen Inquisitoren nicht behelligten und auch dafür, dass Nürnberg nicht<br />

zugriff, als er den Antrag auf Geleit stellte. Man war, wenn es sein sollte, nicht<br />

z<strong>im</strong>perlich; man hätte ihm den Geleitschutz verkaufen können, sprich, ihn unter stiller<br />

Bewachung in die Stadt geleiten, ihm sodann ein Delikt vorwerfen, das er innerhalb der<br />

Mauern der Stadt begangen habe, und ihn inhaftieren.<br />

Den Rest besorgte die Folter. Und natürlich die „Carolina“, die Ankläger konnten es<br />

sich aussuchen. Bei einem „Doktor <strong>Faust</strong>o dem großen Sodomitten“, passte in der<br />

„Carolina“ der Punkt 116: „Item so ein mensch mit einem viehe, man mit man, weib mit<br />

weib unkeusch treiben, die haben auch das leben verwurckt, Und man solle sy, der<br />

gemeynen gewonheit nach, mit dem feure vom leben zum tode richten.“<br />

Bei der Frage, wer oder was schützte <strong>Faust</strong>, drängt sich eine weitere Antwort auf.<br />

<strong>Faust</strong> war Satanist, <strong>Faust</strong> fühlte sich nicht Gott zugehörig, sondern dem Satan.<br />

Wem <strong>im</strong>mer sich <strong>Faust</strong> zugehörig fühlte, wir wissen es nicht.<br />

Hingegen wissen wir, dass es in dieser Zeit keine satanistischen Zirkel gab, also jene<br />

Kreise noch gar nicht existierten, die ihn von dieser Seite her hätten schützen können;<br />

der organisierte Satanismus sollte sich erst mehr als hundert Jahre nach <strong>Faust</strong><br />

etablieren.<br />

Freilich wird in diesem Zusammenhang gerne ein ahnungsvolles wie substanzarmes<br />

Gebräu, gereicht. Da ist einmal die ungemein phantasievolle Schilderung einer<br />

Stedinger Teufelsmesse aus dem Jahr 1232. Sodann wird der königliche Marschall de<br />

Reetz, ein Zeitgenosse Jean d` Arcs genannt; extremer Fall eines Kinderschänders<br />

und Mörders, wobei der Marschall allerdings, gemäß der Darstellung <strong>des</strong> Autors Emil<br />

B. König, bei seinen „Handlungen“ stets ein Marienbild in greifbarer Nähe hatte.<br />

Sodann wird auf die Gemälde von Hieronymus Bosch hingewiesen. Unbestritten waren<br />

einige <strong>des</strong>sen Werke gewiss nicht für einen Kirchenraum gedacht. Folglich – so wird<br />

gefolgert, müsste angesichts seiner Bildthematik ein Kreis „dunkler Auftraggeber“ <strong>im</strong><br />

Spiel gewesen sein. Die Bilderwelt <strong>des</strong> großen Meisters zeigt jedoch keine Verherrlichung<br />

<strong>des</strong> Satans, sie zeigt eine Welt, die unauflöslich in Lächerlichkeit, Sünde und<br />

höllische Qualen verstrickt ist.<br />

215


Soweit die erwähnenswerten drei Bausteine, aus welchen satanistische Zirkel zur Zeit<br />

unseres <strong>Faust</strong>s konstruiert werden. Zu wenig, um damit zu bauen. Der laufende<br />

Hinweis, es sei eben alles sehr gehe<strong>im</strong> gewesen, überzeugt nicht.<br />

*<br />

War <strong>Faust</strong> ein Telepath?<br />

Konnte <strong>Faust</strong> die Gedanken seiner Gesprächspartner abgreifen? Eine derartige<br />

mediale Belastung zu Grunde gelegt, es würde nicht allein viele der offenen Fragen,<br />

die sich mit seinem Leben verbinden, beantworten, sie erklärte auch den Mythos <strong>des</strong><br />

Dr. <strong>Faust</strong>us als Ganzes.<br />

Es wurde bereits festgestellt: in keinem Quellentext ist festgehalten, auf welche Art<br />

und Weise der Wahrsager <strong>Faust</strong> sein Publikum in den Bann schlug.<br />

Und gerade <strong>des</strong>halb, weil es nicht festgehalten wurde, werden <strong>Faust</strong>forscher der<br />

Vermutung, dass <strong>Faust</strong> ein Telepath gewesen sein könnte, heftig widersprechen. Die<br />

Bemühungen der <strong>Faust</strong>forscher jedoch, <strong>Faust</strong>s durchschlagenden Erfolg einmal sich<br />

selbst zu erklären, sodann auch für den Leser nachvollziehbar zu machen, sie füllen<br />

gewiss ein Bücherbrett.<br />

„<strong>Faust</strong> war ein Chamäleon, er muss etwas faszinierend Gefährliches an sich gehabt<br />

haben, gleichzeitig war er sicher ungemein charmant – eine Mischung, welche wohl<br />

die Menschen gereizt haben mag …“<br />

„<strong>Faust</strong> war ein herausragender Psychologe, Showmaster und perfekter Entertainer.“<br />

„<strong>Faust</strong> war ein Meister der Skandalkunst. Er war ein Schnappeisen, das sich bewusst<br />

der Gesellschaft in den Weg legte und ihre Risse und Brüchigkeiten sichtbar machte.<br />

Nicht um der Gesellschaft die Augen zu öffnen, um sie zu bessern; mit analytischem<br />

Verstand und mit Intuition begabt, wußte er jeden Moment für sich zu nutzen …“<br />

Bei allem Respekt vor diesen Überlegungen, sie wirken wie ein Rudern <strong>im</strong> luftleeren<br />

Raum. Ein Leben als Multitalent, als Hansdampf in allen Gassen, in jedem Moment bis<br />

in die Spitzen der Nerven gespannt, ein derartiges Leben verbraucht selbst den<br />

Besten in Kürze. Mag sein, dass er gelegentlich bei Bekannten unterschlüpfte und sich<br />

regenerierte, unterm Strich bleibt es ein aufreiben<strong>des</strong> Leben. Nicht allein über einen<br />

Zeitraum von vierzig Jahren hinweg, sondern auch innerhalb einer Epoche, die zu den<br />

aufregendsten der deutschen Geschichte gehört; ungeachtet aller Stürme und<br />

wahrhaft einschneidenden Veränderungen in diesen Jahrzehnten ging <strong>Faust</strong> unbeirrt<br />

und unbehelligt seinen Weg.<br />

Aus den Quellentexten lässt sich keine Erklärung für <strong>Faust</strong>s Erfolg herauslesen. Die<br />

Einbeziehung <strong>des</strong> geschichtlichen Umfelds relativiert manches von dem, was uns<br />

heute als grotesk erscheint. Die Wahrscheinlichkeit, dass <strong>Faust</strong> von der Oberschicht<br />

gedeckt wurde, eventuell auch Mitarbeiter eines Gehe<strong>im</strong>dienstes war, lässt Freiräume<br />

erahnen; <strong>Faust</strong> besaß einen Sonderstatus, er hatte gleichsam Narrenfreiheit.<br />

Sein erstaunlicher Ruf – <strong>im</strong>merhin in der Blütezeit der Gaukler, Scharlatane und<br />

Betrüger – erklärt sich damit nicht. Was wiederum von keinem <strong>Faust</strong>forscher bestritten<br />

wird, und, ganz gleich, wie eloquent und literarisch er seine Erklärungen für <strong>Faust</strong>s<br />

Erfolg formuliert, stereotyp, aber auch zu Recht, weist er den Leser auf die magere<br />

Ausbeute von gerade mal neun Quellentexten hin.<br />

Freilich lassen es <strong>Faust</strong>forscher auch nicht an Schilderungen fehlen, was sich bei<br />

<strong>Faust</strong>s Auftritten abgespielt haben könnte.<br />

„Bereits unter Tags zog er die Aufmerksamkeit auf sich, mit wilden Behauptungen und<br />

Anspielungen auf das, was abends <strong>im</strong> „Mohren“ passieren werde. Abends reizte er<br />

dann mit weitschweifigem Gerede die Ungeduld auf höchste, um dann endlich ein<br />

blutrotes Tüchlein auf dem Tisch glatt zu streichen … und wieder endlich, als ersten<br />

Gongschlag, ein silbernes Schälchen auf das Tüchlein zu setzen und weiter zu<br />

schwatzen: „… denn damals als unsere Vorfahren, die heiligen Ritter, unser heiliges<br />

Jerusalem von den unseligen Ungläubigen befreiten, den Barbaren, die jetzt in<br />

Konstanopel unsere christlichen Jungfrauen dahinschänden, damals hat auch mein<br />

216


Ahn, Gott hat ihn lieb, den Helmstedter, <strong>im</strong> heiligen Garten Gethsemane am Grab <strong>des</strong><br />

allerheiligsten Cryssisostomos unter dem Tulipbaum gewacht. Und am Grab <strong>des</strong><br />

allerheiligsten Cryssisostomos wurde ihm offenbart, dass die Früchte <strong>des</strong> Baumes, die<br />

sich vom Blut <strong>des</strong> Heiligen nähren…“ …wer will es seinen Zuschauern verdenken,<br />

wenn sie derart aufbereitet, am Ende Geld auf den Tisch legten, damit wenigstens eine<br />

Frucht vom heiligen Tulipbaum beschafft werde, um sie alle reich zu machen. Sie alle<br />

hatten gesehen, wie… Freilich, sie hatten gesehen, was <strong>Faust</strong> in seinem Winterquartier<br />

auch gesehen hatte. Er jedoch wusste, dass er nicht wusste, wie den glitzernden<br />

Kristallen der goldene Sch<strong>im</strong>mer abzuluchsen war. Seine Kunden glaubten dagegen,<br />

wer „A“ kann, der kann auch „B“.“<br />

Ohne Zweifel, eine schöne Performance, die sich der betreffende <strong>Faust</strong>forscher<br />

ausdachte. Doch – wie auch anders – er bedient sich der Schilderung eines alchemistischen,<br />

eines sichtbaren Vorgangs. Mag sein, dass sich solches und ähnliches<br />

zugetragen hat, doch mit Spielereien dieser Art war <strong>Faust</strong> keineswegs allein am Markt.<br />

Der gelehrte Rufus Mutianus hat <strong>Faust</strong> bei <strong>des</strong>sen Auftritt in Erfurt beobachtet, es ist<br />

gewiss nicht falsch anzunehmen, dass andere Gebildete ebenfalls, bei welchen<br />

Gelegenheiten auch <strong>im</strong>mer, versucht haben, sich persönlich ein Bild von <strong>Faust</strong> zu<br />

machen. Die meisten der Gebildeten waren beschlagen sowohl in der schwarzen<br />

Magie als auch in der Alchemie; hervorzuheben jene Gebildeten, die von Krakau her<br />

obendrein mit Hypnose und Optik vertraut waren. Ebenso werden welterfahrene<br />

Kaufleute und Ratsherren ihn bei seinen Auftritten studiert haben. Und gewiss nicht<br />

zuletzt befanden sich <strong>im</strong> Publikum Kristallseher, Nebulos und Spaßmacher, die<br />

Vertreter jener Zunft, deren Künste derart gewagt, verrückt und wundersam waren,<br />

dass sie selbst als „Teufelskerle“ angesehen wurden. Ob gebildet, welterfahren oder<br />

selbst trickreich, sie alle konnten <strong>Faust</strong>s Kunst sich weder erklären, noch waren sie in<br />

der Lage, seine Kunst als Täuschung zu entlarven.<br />

Ob die Frage nach der seltsamen Kunst <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us eine andere Antwort fände,<br />

so man über einige Quellentexte mehr verfügte, es ist fraglich. Selbst in der<br />

Z<strong>im</strong>merischen Chronik, 25 Jahre nach <strong>Faust</strong>s Tod verfasst, haben die Verfasser keine<br />

Erklärung anzubieten. Man sollte meinen, sie hätten inzwischen reichlich Zeit gehabt,<br />

Abstand zu gewinnen, <strong>Faust</strong> und seinen Tricks auf die Schliche zu kommen; sie bieten<br />

ein Gespenst, das er den „münchen zu Lüxha<strong>im</strong>“ einst angehängt haben soll. Die<br />

übrigen diesbezüglichen Textstellen der Chronik sind ein hilfloses Schulterzucken:<br />

„… ein wunderbarlicher nigromanta gewest, … der auch sovil seltzamer hendel gehapt<br />

hat hin und wider, das sein in vil jaren nit leuchtlichen wurt vergessen werden. Der bös<br />

gaist, den er in seinen lebzeiten nur sein schwager genannt … vilen wunderbarlichen<br />

sachen, die er bei seinem leben geiebt, darvon auch ain besonderer tractat wer zu<br />

machen.“<br />

Hättet Ihr doch das „tractat“ gemacht, diese Abhandlung über die „vielen wunderbarlichen<br />

sachen“ geschrieben, möchte man den Autoren zurufen. Zu deren<br />

Entschuldigung ist festzustellen, sie mühten sich, sie nahmen wiederholt Anlauf, um<br />

endlich die „wunderbarlichen Sachen“ aufzuschreiben – das Resultat ist ein schwarzes<br />

Loch. Das ist umso erstaunlicher, als der Hauptautor der Z<strong>im</strong>merischen Chronik, Graf<br />

Froben Christoph, sich intensiv mit magischen Schriften und Praktiken beschäftigt<br />

hatte, die ihn schließlich, wie er selbst in der Chronik berichtet, nach Angiers in die<br />

„kuntschaft“ eines Hieron<strong>im</strong>o Laurino geführt hatten: „do fand er bei demselbigen erst<br />

die rechten autores, die sonst an wenig orten zu sehen sein, als nemlich die libros<br />

Hermetis von den vier und zwanzig figuren nach den stunden, <strong>des</strong> Ptolomei von den<br />

sigln und ringen, <strong>des</strong> Arnoldi de Novavilla von den zwelf sigeln, <strong>des</strong> Bayelis, Balenis,<br />

Behencetri, Thebitis, Bencorati, auch Petri de Albano von den figuren und sigeln und<br />

ringen, von mancherlai arten und tugenden. Zu dem allem stande <strong>im</strong> zue (hatte er<br />

Zugriff) der recht clavicula (Schlüssel), den man nempt Salomonis, auch die rechten<br />

scripta <strong>des</strong> Cornelii Agrippe, von der ha<strong>im</strong>lichen und verborgnen philosophei.<br />

Diese büecher warden ainsteils so tags, so nachts abgeschrieben.“<br />

Dazu aus „<strong>Faust</strong> – Spuren eines gehe<strong>im</strong>nisvollen Lebens“ von Günther Mahal: „Hier<br />

hat man einen Katalog magischer Schriften beisammen, wie er in dieser Voll-<br />

217


ständigkeit nur selten anzutreffen ist. Für die Entwicklung der <strong>Faust</strong>-Literatur späterer<br />

Jahrhunderte ist besonders die Erwähnung der „Clavicula Salomonis“ von Bedeutung:<br />

Aus diesen „Schlüsseln“ zum Schätzegraben und zum Abschließen von Teufelspakten<br />

wurden, oft nur durch s<strong>im</strong>ple Änderungen <strong>des</strong> Titelblattes, die <strong>Faust</strong> zugeschriebenen<br />

„Höllenzwänge“.“<br />

Der Vorstellung vom Bannkreis selbst liegt vermutlich eine Eigenheit <strong>des</strong> Fliegenpilzes<br />

zu Grunde. Der Fliegenpilz treibt in der Regel ein gleichmäßiges Wurzelgeflecht, die<br />

zweite „Generation“ steht <strong>im</strong> Kreis – ein Anblick, der durchaus staunen macht.<br />

Nicht weniger hilflos als die Autoren der Z<strong>im</strong>merischen Chronik waren offenbar die<br />

Menschen, die mit Luther zu Tisch saßen. Johannes Aurifaber, der Luthers Tischgespräche<br />

aufzeichnete, gab sich geschlagen; angesichts all der vielen Vermutungen,<br />

wilden Spekulationen und sicherlich auch ernsthaften Erklärungsversuche, notierte er<br />

resigniert: „Multa dicebant de <strong>Faust</strong>o.“<br />

Die Kunst <strong>des</strong> Dr. <strong>Faust</strong>us war einzigartig. Welcher Art sie war? Frei nach Sherlock<br />

Holmes: Man halte zunächst alle Künste für möglich, streiche sodann nach dem<br />

Ausschlussverfahren jene Künste von der Liste, welche andere ebenfalls<br />

beherrschten. Das Resultat: <strong>Faust</strong> besaß eine stark ausgeprägte Gabe der Telepathie.<br />

Und mit dieser „Kunst“ war <strong>Faust</strong> gleichsam der Hoflieferant <strong>des</strong> Zeitgeists, die<br />

Menschen waren süchtig nach Wundern und Wunderbarem.<br />

<strong>Faust</strong> ist der letzte große Repräsentant einer magischen Welt, welche die Menschheit<br />

von Urbeginn an begleitet hatte.<br />

Von dieser Warte aus betrachtet, beginnt die Neuzeit mit <strong>Faust</strong>s Tod.<br />

Krishna und Odin, später zu Gottheiten erklärt, waren in ihrem Erdenleben medial<br />

befähigte Menschen gewesen. Unzweifelhaft werden andere ebenfalls medial befähigt<br />

gewesen sein, doch nicht derart wie sie. Die zwei Raben, die Odin begleiten und<br />

anderes mehr weisen ihn als Schamanen aus. Nicht anders als wie bei den übrigen<br />

medial belasteten Menschen, gibt es auch unter Schamanen verschieden starke<br />

Ausprägungen. Krishna und Odin müssen herausragende Schamanen gewesen sein,<br />

sie haben ihre Mitmenschen nicht nur tief beeindruckt, sie wurden auch nicht<br />

vergessen und schließlich, da man keine Erklärung für die wunderbaren Überlieferungen<br />

hatte, als Gottheiten betrachtet.<br />

Die flotte Behauptung unserer Tage, die Kirche hätte Geister und Teufel erfunden, um<br />

die Menschen sich gefügig zu machen, ist Unsinn. Träume, St<strong>im</strong>men und dergleichen<br />

mehr begleiteten die Menschen seit Urbeginn. Wie <strong>im</strong> Essay „Bilder aus dem<br />

Unterbewusstsein“ dargestellt, handelt es bei den vielen Formen medialer<br />

Begabungen um Ausflüsse unter hohem Stress. Betrachtet man sich den Umgang der<br />

Menschen untereinander, wie er in der Zeit zwischen dem Jahr 1000 bis 1500 üblich<br />

war, man darf von einer Stressgesellschaft sprechen. Und der Stress begann bereits<br />

<strong>im</strong> Mutterleib.<br />

Von „Morden …, die gleichsam täglich in der Gemeinde geschahen“ schreibt der Autor<br />

<strong>im</strong> „Wormser Hofrecht“ von 1024. Man stelle sich vor, ein Leben zu leben und dabei<br />

unausgesetzt <strong>im</strong> Bewusstsein eines bevorstehenden he<strong>im</strong>tückischen To<strong>des</strong> zu leben.<br />

Man kann diese Betrachtung fortsetzen, mit Blick auf die unzähligen sinnlosen Grausamkeiten<br />

wie sie auf den Schlachtfeldern, bei Belagerungen oder bei der Zerstörung<br />

von Agrarlandschaften geübt wurden. Der Krieg, eine Ausnahmesituation, so könnte<br />

man meinen. Richtig ist, Grausamkeit war ein Mittel, sich zu belustigen; Zitat nach<br />

Huizinga: „… zu Brügge 1488 steht auf dem Markte die Folterbank auf einer hohen<br />

Estrade, und das Volk kann nicht genug bekommen, die <strong>des</strong> Verrats verdächtigten<br />

Magistratspersonen <strong>im</strong>mer wieder in der Folter zu sehen, und verzögert die von jenen<br />

erflehte Hinrichtung, nur um <strong>im</strong>mer wieder neue Quälereien auszukosten.“<br />

Und einen geradezu klinischen Bericht darüber, wie es in den einzelnen Häusern<br />

zugeht, liefert Luther.<br />

Kein Leben einer anderern Persönlichkeit jener Epoche ist so gut dokumentiert, wie<br />

das Leben Martin Luthers; nicht allein sein täglicher Aufenthaltsort ist bekannt,<br />

sondern auch, was er an jedem einzelnen Tag tat und redete.<br />

218


„Doctor Martin sagte viel … vom Herzgespann (Herzschmerzen) und Alpen, wie seine<br />

Mutter sehr / geplaget wäre worden von ihrer Nachbarin, einer Zäuberin, die sie aufs<br />

aller freundlichste / und herrlichste hat müssen halten und versöhnen. Denn sie<br />

schoss ihr die Kinder, dass sie sich zu Tode schrien … die Zauberinnen … können<br />

nämlich Milch, Butter und alles aus einem Haus stehlen. Sie können ein Kind<br />

verzaubern, dass es ständig schreit und nicht isst und nicht schläft. Auch können sie<br />

gehe<strong>im</strong>nisvolle Krankheiten <strong>im</strong> menschlichen Knie erzeugen, dass der Körper verzehrt<br />

wird.“<br />

Die Mutter hat Alpträume, Herzschmerzen und unausgesetzt Schmerzen <strong>im</strong> Knie,<br />

während in den Betten sogenannte Schreibabys liegen. Schuld hätte die Nachbarin,<br />

die ohnehin wie eine Hexe aussieht. Dabei ist es der Vater, der da tobt. Seine Frau hat<br />

alarmierende Stresssymtome, daneben führt ein latenter Konflikt mit dem Partner zu<br />

Schreibabys.<br />

Die Erforschung von Schreibabys ist ein junges Forschungsfeld, es scheint, dass etwa<br />

40% von ihnen später, so sie nicht in jungen Jahren therapiert werden, später in der<br />

Kr<strong>im</strong>inalstatistik aufscheinen. Darüber hinaus deutet sich an, dass die Anwendung <strong>des</strong><br />

Strafgesetzbuches unsinnig ist, die betreffenden Täter besitzen keine Einsichtsfähigkeit,<br />

ebenso wie sie <strong>im</strong> Vorfeld der Tat nicht in der Lage waren, die Konsequenzen<br />

zu überblicken. Was die übrigen 60% angeht, sie zeigen oft auffälliges<br />

Verhalten.<br />

In diesem Zusammenhang sei die Diagnose jenes Johannes Weier ins Gedächtnis<br />

gerufen. In seinem Buch „De Pseudomonarchia Daemonum“ vertritt er die Auffassung,<br />

die der Hexerei angeklagten Frauen litten an Melancholie. Gemäß seiner Zeit, sieht<br />

auch er den Teufel als Urheber, betrachtet jedoch die Frauen als unschuldige Opfer.<br />

In der damaligen Männergesellschaft konnte man als Frau wohl nur noch an<br />

Melancholie erkranken, wobei es den Männern so richtig gut auch nicht ging; in der<br />

„Hexenbulle“ und quer durch die Anklagen auf Schadzauber ist laufend von Zeugungsunfähigkeit<br />

die Rede, also von Potenzstörungen.<br />

Mit Blick auf <strong>Faust</strong> stellt sich nicht die Frage nach möglicher Weise ähnlich belasteten<br />

Personen, die Frage muss lauten: „Wer von den Menschen seiner Zeit und auch der<br />

Jahrhunderte davor war denn eigentlich nicht gestört, traumatisiert oder daraus<br />

resultierend gar medial belastet?“<br />

Das gesamte Feld der Geister-und Teufelsglauberei, und auch die „wissenschaftliche“<br />

Vermutung, dass es Wege gebe, nach drüben zugreifen, waren eingebettet und<br />

fanden sich täglich aufs Neue durch medial belastete Personen bestätigt.<br />

Da gab es Wahrträume, Ahnungen, platzende Krüge, Klopfzeichen, Lichterscheinungen,<br />

sogar Menschen, die in Verzückung sich vom Boden erhoben, freilich auch<br />

Epileptiker, die vom Teufel befallen waren. Sprüche, Verfluchungen, Visionen – es war<br />

eine verwirrende Welt, begleitet von unerklärlichen Vorgängen wie Erdbeben, Blitz und<br />

Donner und nicht zuletzt, von den Feen und Geistern der Heilpflanzen.<br />

Ist es nicht eine feine Sache, dass Dante aus dem Totenreich zurückkehrte, um seinen<br />

Sohn zu zeigen, wo sich die Aufzeichnung <strong>des</strong> 13.Gesangs versteckt hält?<br />

Ist es nicht bewegend, dass eine Jeanne d`Arc dem französischen König zu Hilfe eilt,<br />

weil sie seit Jahren St<strong>im</strong>men hört, die ihr sagen, dass sie <strong>im</strong> Auftrag Gottes Frankreich<br />

von den Engländern zu befreien habe?<br />

Lässt es nicht aufhorchen, wenn Paracelus ausführt: „Durch die magische Kraft <strong>des</strong><br />

Willens kann ein Mensch auf dieser Seite <strong>des</strong> Ozeans einen Menschen auf der<br />

anderen Seite hören lassen, was auf dieser gesagt wird …“<br />

Ist es andererseits nicht von Übel, dass eine Hexe mit einem Handtuch die Milch und<br />

auch die Butter aus der Küche der Luthers fortmelkt?<br />

Vermutlich sind es die Kinder, die he<strong>im</strong>lich die Schöpfkelle durch die Milch führen und<br />

die Butter schlecken, aber in verständlicher Angst vor der grausamen Strafe sofort mit<br />

dem Finger über die Straße dorthin zeigen, wo auch die Schmerzen der Mutter ihren<br />

Ursprung haben.<br />

Nun zu folgern, dass diese damalige Gesellschaft nur aus Menschen mit auffälligem<br />

Verhalten und aus einem Heer von Hellsehern, Spuksehern und ähnlichem mehr<br />

219


estand, geht vermutlich zu weit – die entsprechenden Überlieferungen sind in ihrer<br />

Summe nicht derart, um <strong>im</strong> Nachhinein genauere Aussagen darüber zu machen, doch<br />

der Anteil verschiedenartig belasteter Personen sollte und müsste zwangsläufig<br />

deutlich höher als in unseren Tagen gewesen sein.<br />

Wobei – aus welchen Gründen auch <strong>im</strong>mer, eine Traumatisierung nicht zwangsläufig<br />

in einer medialen Befähigung / Belastung mündet, sie kann sich auch in auffälligem<br />

Verhalten äußern; in Zwanghaftigkeit, Aggressivität, Passivität …<br />

Darüber hinaus erkennen Forscher erste genetische Zusammenhänge. Aktuell<br />

sprechen sie von einem Gen, das den Mensch befähigt, sich von seinem Trauma<br />

selbst zu heilen, sie sprechen von einem anderen Gen, welches dafür verantwortlich<br />

ist, dass Traumata vererbt werden. Letzteres Forschungsergebnis findet sich durch die<br />

Praxis bestätigt: In Zusammenhang mit paranormalen, auch sogenannten eidetischen<br />

Veranlagung wurden teilweise Vererbungen festgestellt, das Forschungsergebnis<br />

erklärt nun auch, warum einige Schamanen das Amt an ein leibliches Kind weitergaben.<br />

Verständlich, dass <strong>im</strong> fortschrittlichen Toledo bereits <strong>im</strong> siebten Jahrhundert das<br />

Studium der Schwarzen Kunst angeboten wurde. Die Fülle der Paraphänomene in<br />

einer Zeit, da Anrufungen, Beschwörungsformeln und verschiedenartige zauberische<br />

Handlungen zum Alltag gehörten, verleitete zu der Annahme, dass es sich um eine<br />

Wissenschaft handele.<br />

Jene Generationen vor uns, als in Unwissenheit gefangen abzutun, greift zu kurz.<br />

Dieses Urteil verkennt die Tragik. Generationen hindurch, waren die Menschen durch<br />

naturbedingte Härten aber auch durch die Greuel, die sie sich gegenseitig antaten, in<br />

einem Kreislauf gefangen, der sich über <strong>im</strong>mer neue Greuel und Verrücktheiten<br />

permanent selbst erneuerte.<br />

Die lange Dauer der Zeit der grossen Hexenprozesse von etwa 200 Jahren könnte <strong>im</strong><br />

Nachhinein als schmerzlicher, doch leider notwendiger Ablösungsprozess von einer<br />

Vieltausendjahrzeit <strong>des</strong> Okkulten, <strong>des</strong> Zauberischen verstanden werden.<br />

Ungeachtet <strong>des</strong>sen, selbst noch Dr. Bender, Gründer <strong>des</strong> Freiburger Instituts für<br />

Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, ging bei seiner Forschungsarbeit<br />

davon aus, dass medial begabte Menschen einen sechsten Sinn besäßen; andere<br />

Psychologen sprachen von einer „eidetischen“ Veranlagung.<br />

Dr. Bender hatte 1954 an der Universität Freiburg den Lehrstuhl für Grenzgebiete der<br />

Psychologie inne, 1966 war er Ordinarius für Psychologie und Grenzgebiete der<br />

Psychologie, 1972 publizierte er: „Unser sechster Sinn – Telepathie, Hellsehen, Spuk“<br />

(rororo, ISBN 3 499 16796 4)<br />

Wie nahe damals Freiburg noch bei Toledo lag, wird bereits <strong>im</strong> Vorwort deutlich: „Gibt<br />

es also den sechsten Sinn? Gibt es Ahnungen? Visionen? Wahrträume?<br />

Erscheinungen? Gibt es Spuk? Gibt es das zweite Gesicht … Eine junge<br />

Wissenschaft, unterstützt von anderen Disziplinen, arbeitet in diesem „Schattenreich“<br />

menschlicher Erfahrungen: die Parapsychologie.“<br />

Erst ein Umdenken in den achtziger Jahren und in Folge die Erkenntnis, dass es sich<br />

nicht um begabte, sondern um belastete Personen handelt, ermöglichte es mir das<br />

Phänomen „<strong>Faust</strong>“ in einem neuen Licht zu betrachten.<br />

<strong>Faust</strong>s behauptete Fähigkeiten: in der Aeromantie, der Wahrsagung mit Hilfe von Luft<br />

und Wolken, in der Pyromantie, der Wahrsagung aus der Bewegung von Flammen,<br />

der Hydromantie, der Zukunftsdeutung aus Bewegungen in und auf glänzendem<br />

Wasser, alle diese medialen Fähigkeiten können bei extremer Ausprägung<br />

grundsätzlich auch in einem lärmenden Wirtshaus oder auf einem Marktplatz zum<br />

Tragen kommen.<br />

Das gleiche gilt für die behauptete Kunst der „Nigramancei“, der Schau aus Knochen,<br />

dem Heraufbeschwören von Toten, sowie für „Visiones <strong>im</strong>m Christal“.<br />

Gesetzt den Fall, dass man es für möglich hält, dass er diese „medialen Künste“ in<br />

dieser ungünstigen Umgebung und dazu noch über mehrere Tage hindurch<br />

praktizierte, dann müsste <strong>Faust</strong> ein Mensch gewesen sein, der von „Visionen und<br />

220


Gesichtern“ geradezu nur so geschüttelt wurde, der sich unentwegt einem<br />

emotionalen Ausnahmezustand ausgesetzt sah.<br />

War er gar ein Sonderling, ein Mystiker, ein Heiliger?<br />

Im Essay „<strong>Faust</strong> tritt auf“ ist umfassend dargestellt, wie <strong>Faust</strong> sich mit den jeweils<br />

erforderlichen Titeln ausrüstet, wie er seine Reden situationsgerecht zu führen weiß;<br />

nichts, was auf einen Sonderling oder einen Mystiker deutet, aber auf einen Mensch,<br />

der fest mit beiden Beinen auf der Erde steht.<br />

Gedanken zu lesen, ist mit wenig persönlicher Emotion verbunden, es ist mehr eine<br />

Eigenschaft denn eine Befähigung, von „berührt werden“ oder einer Erregung ganz zu<br />

schweigen.<br />

Man darf <strong>Faust</strong> unterstellen, dass er die volle Bandbreite der vorausgenannten<br />

medialen Mittel einmal für sich behauptete, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf<br />

sich zu lenken, dazu gab er bei seinen Auftritten vor, sich ihrer zu bedienen, um seiner<br />

Kundschaft etwas Sichtbares zu bieten.<br />

Im Wirtshaus studierte er in einer Schüssel das sich spiegelnde Wasser, auf dem<br />

Marktplatz musterte er das Spiel der Wolken, auf einer Burg starrte er gebannt in das<br />

offene Kaminfeuer. Seine Kundschaft erlebte gleichsam „konkrete Wissenschaften“.<br />

Und eventuell und vielleicht gar nicht zuletzt, täuschte <strong>Faust</strong> die Verwendung medialer<br />

Mittel allein <strong>des</strong>halb vor, um innerhalb jener bekannten magischen Künste zu bleiben,<br />

von denen allgemein geredet wurde. Anders gesagt, seine Fähigkeit Gedanken zu<br />

greifen war derartig stark ausgeprägt, er brauchte weder spiegeln<strong>des</strong> Wasser noch<br />

zuckende Flammen und auch keine treibenden Wolken. Aber die Titel, die sich mit<br />

diesen mediumistischen Mitteln verbanden, ließen sich zu einer prachtvollen, gerade<br />

feudal anmutenden Titel- und Würdenkette verknüpfen. Nicht anders die Anwendung<br />

der Astrologie. Nicht so zu verstehen, dass er vom astrologischen Handwerk nichts<br />

verstanden hätte, doch vermutlich hätte er gut darauf verzichten können.<br />

Begardi berichtet, <strong>Faust</strong> habe sich auch in der Kunst der „Visionomei“ betätigt.<br />

„Visionomei“ n<strong>im</strong>mt für sich in Anspruch, dass der Mensch als ganzes, in seiner Statur,<br />

in seinen Gesichtszügen, eine Aussage über seine Fähigkeiten sowie eine Prognose<br />

über sein künftiges Leben zulässt. Aus dem Profil, aus den Proportionen von Stirn,<br />

Nase, Mund und Kinn, der Haltung <strong>des</strong> Kopfes, ließen sich Willenskraft, Charakter,<br />

Neigungen, und aus deren Summe die Zukunft ablesen.<br />

Richtig ist sicherlich, ein Arzt weiß, noch bevor der Patient sein Leiden geschildert hat,<br />

bereits einiges über seinen Patienten. Der Arzt hat Körperhaltung, Gesichtsausdruck,<br />

Hautverfärbungen oder gar eine gewisse Ausdünstung wahrgenommen.<br />

Doch aus der Statur, aus den Proportionen eines Menschen <strong>des</strong>sen Zukunft lesen zu<br />

wollen, man darf es als verwegen bezeichnen. Gleiches gilt für die Kunst <strong>des</strong><br />

Handlinienlesens; wir wissen, dass man die Zukunft eines Menschen nicht sehen<br />

kann. Man darf wohl annehmen, <strong>Faust</strong> hat auch mit Handlinienlesen und Visionomei<br />

dem Publikum „konkrete Wissenschaften“ vorgegaukelt.<br />

Wer schon einmal eine Wahrsagerin aufsuchte, weiß um den diffusen Brei von<br />

Aussagen, den man verabreicht bekommt. Eine Wahrsagerin betreibt in gewissem<br />

Sinn ebenfalls „Visionomei“. Der Kunde erschließt sich bereits in Teilen durch sein<br />

Auftreten, seine Kleidung, erst recht aber <strong>im</strong> Gespräch. Seine St<strong>im</strong>me, der Dialekt, die<br />

Wahl der Worte, der Problembereich, zu dem er genaueres wissen möchte, verraten<br />

seinen Bildungsstand, seine Art zu denken, seine Weltsicht.<br />

Dieses erste „Lesen“ eines Menschen anhand seines Auftretens bezeichnet man<br />

heute in der Wissenschaft als „Cold Reading“.<br />

So man Glück hat, findet man <strong>im</strong> verabreichten Zukunftsbrei einige vernünftige Ratschläge.<br />

Freilich gibt es Personen, sie schwören auf die Kunst ihrer Wahrsagerin. Was<br />

sie dabei übersehen, durch den fortgesetzten Kontakt hat die Wahrsagerin Kenntnisse<br />

int<strong>im</strong>ster Befindlichkeiten ihres Kunden gewonnen. Die Wahrsagerin ist zur Lebensberaterin,<br />

eventuell zur Therapeutin geworden. Das kann nützlich sein, es kann sich<br />

daraus auch eine unheilvolle Abhängigkeit entwickeln.<br />

221


Es gibt belegte Fälle von Wahrschau. Meistens hängen sie mit „Krieg und Tod“<br />

zusammen, dabei geht es um Verwandte oder befreundete Personen, zu denen starke<br />

emotionale Bindungen bestehen. Doch keine der „sehenden“ Personen wurde <strong>des</strong>halb<br />

zum Seher. Die Schau auf ein zeitgleiches Ereigniss in der Ferne oder eines bevorstehenden<br />

Ereignisses blieb ein kriegs- also stressbedingter Ausnahmefall. Nicht<br />

allein, weil der „Sender“ sendete, der „Empfänger“ war durch fortgesetzte<br />

Anspannung, hervorgerufen durch allgemeine Unsicherheit, Bombardements, Lagerhaft<br />

oder Flucht seinerseits sensibilisiert, also empfangsbereit.<br />

Als herausragender Vertreter telepathisch begabter Menschen wurde bereits Gérard<br />

Croiset gewürdigt.<br />

Von anderer Art war die „Begabung“ einer älteren Dame, einer Mrs. Kelly; sie war ein<br />

bekanntes Londoner Medium. Sie konnte in den sechziger Jahren <strong>des</strong> letzten<br />

Jahrhunderts am Londoner „College for Psychic Studies“ für Honorar verpflichtet<br />

werden, Verbindung zu Verstorbenen aufzunehmen. Die oft sehr int<strong>im</strong>en Details zapfte<br />

sie wohl vom Fragesteller ab. Spiritisten werden widersprechen, doch eine andere<br />

Erklärung gibt es nicht. Es liegt auf der Hand, Mrs. Kelly konnte nicht allein die<br />

Gedanken <strong>des</strong> Fragestellers bezüglich <strong>des</strong> Verstorbenen abgreifen. Doch sich als<br />

Gedankenleserin anzubieten, es wäre ein schlechtes Geschäft geworden, es hätte nur<br />

zum Spektakel gereicht. Zu behaupten, man wäre in der Lage, Verbindung mit<br />

Verstorbenen aufzunehmen, ließ sich hingegen als eine hohe, ernste Kunst verkaufen.<br />

Verbindung nach „Drüben“ herzustellen, hieß Überwindung von Raum und Zeit, nicht<br />

zuletzt spielte sie mit der Trauer über einen schmerzlichen Verlust.<br />

Die Fähigkeiten <strong>des</strong> berühmten Gérard Croiset waren weitaus geringer ausgeprägt als<br />

die Begabung jener Mrs. Kelly; ihre Begabung war konstant, sie konnte frei<br />

terminieren.<br />

Was <strong>Faust</strong>s Kunst angeht, Manlius liefert einen Hinweis:<br />

„Er gieng hin vnd wider allenthalben (nach Krakau) / vnd sagte viel verborgene ding.“<br />

Melanchthon, der hinter dem Text <strong>des</strong> Manlius steht, hat also vor Zuhörern geäußert,<br />

dass <strong>Faust</strong> viele verborgene Dinge sagte. Um welche Dinge es sich dabei handelte,<br />

verrät der Text nicht.<br />

Melanchthon wusste sich aber mit seinen Zuhörern einig, „quem multi in hoc auditorio<br />

norunt“, den viele <strong>im</strong> Publikum gekannt hatten, dass es mit dieser Aussage über <strong>Faust</strong><br />

seine Richtigkeit hat, nicht anders, als wie er sich mit ihnen über <strong>Faust</strong>s teuflisches<br />

Wesen einig war.<br />

Dass es sich dabei um eine ausgeprägte telepathische Fähigkeit handelte, die eine<br />

traumatische Erfahrung als Ursache hatte, konnte Melanchthon nicht wissen. Dass<br />

<strong>Faust</strong> verborgene Dinge wusste, in Melanchthons Augen war es Teufelswerk; <strong>Faust</strong><br />

hätte es bei seinen wiederholten Besuchen der Teufelsuniversität Krakau gelernt.<br />

Noch aufschlussreicher scheint eine zitierte Aussage Martin Luthers zu sein.<br />

„<strong>Faust</strong> hat sich lassen horen, wen ich, Martin Luther, ihm nur die handt gereycht hette,<br />

wolt er mich vorterbet haben.“<br />

Hier ist von einem Abstand zwischen zwei Menschen die Rede, die sich die Hände<br />

reichen. Eventuell beinhaltet die Aussage auch, <strong>Faust</strong> brauchte, um Gedanken abzugreifen,<br />

nicht allein die Nähe zu seinem Kunden, sondern eventuell auch den unmittelbaren<br />

Körperkontakt – die gereichte Hand.<br />

Die zitierte Aussage Luthers erscheint <strong>im</strong> ersten Moment als Schaumschlägerei eines<br />

Möchtegerns. Unterstellt man <strong>Faust</strong> jedoch, dass er Gedanken abgreifen konnte, dann<br />

wird das Zitat brisant. Jeder, der sich ein wenig mit der Person Luthers beschäftigt,<br />

sieht sich mit dem Umstand konfrontiert: Luther war nicht nur ein „Reformator“,<br />

sondern auch ein schwieriger, mit Komplexen behafteter Mensch.<br />

Die dunkle Seite <strong>des</strong> Reformators, seinen Zeitgenossen blieb sie selbstredend<br />

verborgen, auch Luther selbst war sich ihrer nicht bewusst, er sah Teufel zu Gange.<br />

Es mag ein jeder es sich selbst ausmalen, was passiert wäre, hätte <strong>Faust</strong> einen Zugriff<br />

auf Luthers gehe<strong>im</strong>ste Gedanken und Ängste gehabt.<br />

Mehr noch, falls <strong>Faust</strong> tatsächlich Gedanken abgreifen konnte, dann muss er gewusst<br />

haben, welche Gedanken, Sorgen, Ängste, aber auch Verrücktheiten und Wahnvor-<br />

222


stellungen seine Mitmenschen bewegten. Dann war er selbst vermutlich nicht nur bar<br />

aller Illusionen, sondern auch frei von allen Verrückheiten seiner Zeit, er könnte ein<br />

aufgeklärter, vollkommen nüchterner Mensch gewesen sein.<br />

Nicht anders als Mrs. Kelly, auch <strong>Faust</strong> – kluger weise, möchte man fast sagen – hat<br />

nicht verraten, dass er Gedanken empfangen kann, er bezeichnet es weiträumig als<br />

Wahrsagerei; freilich nicht allein mit Hilfe der Handlinien. <strong>Faust</strong> erklärt sich zuständig<br />

für alle Sparten der Zukunftsschau: Aeromantie, Pyromantie, Hydromantie,<br />

„Nigramancei, Visionomei, Visiones <strong>im</strong>m Christal, vnd dergleichen mer künst.“<br />

Sattelfest wie er ist, braucht er sich nicht engherzig bescheiden, er „berümpt sich<br />

höchlich. Vnd auch nit alleyn berümpt, sondern sich auch eynen berümpten vnd<br />

erfarnen meyster bekant vnnd geschrieben.“<br />

Im ersten Moment ist man geneigt, <strong>Faust</strong>s Behauptung auf allen der damals gängigen<br />

Felder der Wahrsagekunst beschlagen zu sein, als großspurige Eigenwerbung anzusehen.<br />

Für den Menschen der Gegenwart disqualifiziert sich <strong>Faust</strong> damit selbst, er ist<br />

in höchstem Maße unseriös. Doch auch damals war <strong>Faust</strong>s allumfassende<br />

Visitenkarte bereits anrüchig genug, es gab genügend „verloffene Betrüger“, die den<br />

Leuten mit einem Stück Glas vor dem Gesicht herum spielten und behaupteten, sie<br />

könnten darin „sehen“.<br />

Nun kann man darüber streiten, war <strong>Faust</strong> einfach nur dreist, indem er dem<br />

Anrüchigen weitere Unseriösitäten aufsattelte, oder war er mit seinen telepathischen<br />

Fähigkeiten tatsächlich derart bevorteilt, dass er sich aller Bereiche rühmen durfte,<br />

ohne Gefahr zu laufen, dass er darüber zum Spott wurde.<br />

Neben anderem ist seine Behauptung, alle Mittel der Zukunftsschau zu beherrschen,<br />

ein Hinweis, dass <strong>Faust</strong> tatsächlich über eine ausgeprägte mediale Fähigkeit verfügte;<br />

allein den Mund recht vollzunehmen, es hätte nicht für vierzig Jahre gereicht.<br />

Gerard Croiset stellte seine „Gabe“ der Polizei zur Verfügung, Mrs. Kelly hingegen<br />

beschränkte sich anscheinend darauf, jene zu schädigen, die an den Humbug einer<br />

Verbindung nach „Drüben“ glaubten. Über <strong>Faust</strong> berichtet Manlius: „Dann er war<br />

sonsten gar ein vnuerschämbter Vnflat / vnnd fürete gar uberauß ein bübisch leben.“<br />

<strong>Faust</strong> nutzte also seine „Gabe“, um ein Leben als Schmarotzer zu führen.<br />

Auch wenn es niemals einen Beweis dafür geben wird, dass <strong>Faust</strong> ein Telepath<br />

gewesen war, die unterstellte „Fähigkeit“ erklärt <strong>Faust</strong>s Erfolge einmal als Astrologe.<br />

Er, der nicht nur viele wichtige Personen kannte, sondern auch deren gehe<strong>im</strong>ste<br />

Gedanken, hatte wenig Mühe die Neigung der Sterne für ein geplantes Vorhaben<br />

„richtig zu deuten“ und bei der Erörterung der Prognostikation ein ganz auf die Person<br />

<strong>des</strong> Kunden zugeschnittenes Beratungsgespräch zu führen.<br />

Auch sein Erfolg als Betrüger wird nachvollziehbar. Es mochte jemand noch so<br />

gerissen sein, gegen einen <strong>Faust</strong>, der Gedanken lesen konnte, war er nur der besagte<br />

Hase, der jeden Wettlauf gegen den Igel verliert.<br />

Ebenso wird erklärlich, wie <strong>Faust</strong> sich erdreisten konnte als Betrüger „vast durch alle<br />

landtschafft, Fürstenthuomb vnnd Königreich“ zu ziehen und „seinen namen jederman<br />

selbst bekannt“ zu machen. Und das wohlbemerkt in einer Zeit, da der einzelne über<br />

die so genannten „Ei<strong>des</strong>helfer“ rasch in die Mühlen der Justiz geriet.<br />

Nicht so sehr, weil <strong>Faust</strong> die Absicht seines Gegenübers lesen konnte, der Gegenüber<br />

kam vermutlich gar nicht auf den Gedanken, dass dieser Wahrsager ein landschädlicher<br />

Mann sei, er war vielmehr über <strong>Faust</strong> verblüfft.<br />

Die unterstellte Fähigkeit erklärt <strong>des</strong> weiteren warum <strong>Faust</strong> behaupten konnte, er wolle<br />

alle Philosophie wie ein zweiter Hebräer Esra durch sein Genie sämtlich und<br />

vorzüglicher als vorher wieder herstellen, und dass er in der Alchemie von allen, die je<br />

gewesen, der Vollkommenste sei. Falls <strong>Faust</strong> tatsächlich Gedanken abgreifen konnte,<br />

dann hatte er über Kontakte mit Gebildeten und Alchemisten einen Zugriff auf deren<br />

Gedanken und damit auf Teile ihres angelesenen Wissens in der Philosophie, bzw. auf<br />

deren Überlegungen und Exper<strong>im</strong>ente in der Alchemie.<br />

<strong>Faust</strong> wäre nicht <strong>Faust</strong>, abgesehen davon, dass seine Epoche die Übertreibung liebte,<br />

besagte Philosophie – es versteht sich von selbst – ist natürlich völlig „aus der<br />

223


Menschen Gedächtnis verloren gegangen“ und in der Alchemie – wie auch anders –<br />

„wisse und könne er, was nur die Leute wünschten.“<br />

Verständlich auch, dass bei einer ausgeprägten telepathischen Gabe, <strong>Faust</strong> in<br />

Begeisterung an sich selbst, die blasphemische Behauptung entschlüpfte, „die Wunder<br />

unseres Erlösers Christi seien nicht anstaunenswert; er könne alles tun, was Christus<br />

getan habe, so oft und wann er wolle.“<br />

Auch die bei Manlius zitierte Aussage: „Er wolt eins mals zu Venedig ein schawspiel<br />

anrichten / vnd sagte / er wollte hinauff inn H<strong>im</strong>mel fliegen.“ fügt sich nahtlos ins Bild<br />

der Selbstbegeisterung.<br />

Wer will <strong>Faust</strong> seine tolldreisten Sprüche verübeln, wenn er tatsächlich in der Lage<br />

gewesen war, Gedanken abzugreifen, dann ging es ihm einfach nur noch gut. Dass er<br />

dabei gelegentlich über die Stränge schlug – wenn man derart begabt ist, kann man<br />

sich nur daneben benehmen.<br />

Neben den meines Erachtens brauchbaren Indizien gibt es Geschichten, sie liegen<br />

deutlich <strong>im</strong> Bereich <strong>des</strong> Sagenhaften. Auch dort finden sich der Hinweise auf eine<br />

telepathische Belastung. Einmal, als <strong>Faust</strong> der bessere Wein vorenthalten wird, weiß<br />

er, wo sich der Schlüssel zum Zugang <strong>des</strong> guten Weins befindet, ein andermal geht es<br />

um die Wiederherstellung antiker Texte. In Zacharias Hogels „Chronik von Thüringen<br />

und der Stadt Erfurt“ von 1550 finden sich zwei <strong>Faust</strong>geschichten. In einer davon wird<br />

berichtet, dass bei einer Magisterpromotion beklagt wurde, dass viele Komödien <strong>des</strong><br />

Plautus und <strong>des</strong> Terentius verloren gegangen seien. „D. <strong>Faust</strong> hörte zu, … erzehlte<br />

etliche Sprüche, die in ihren verlohrenen Comoedien stehen sollten, und erbot sich …<br />

wo es den Herrn Theologen nicht zu wieder seyn sollte, die verlorne Comoedien alle<br />

wieder an dz liecht zu bringen.“ Gemäß der Chronik nahm man von seinem Angebot<br />

aber Abstand, es sei dabei wohl der Teufel <strong>im</strong> Spiel, der einige Sachen mit hinein<br />

schmieren könnte.<br />

Es sei angemerkt, bei Zacharias Hogel findet sich <strong>Faust</strong> erstmalig als „D. <strong>Faust</strong>“.<br />

Betrachtenswert scheint mir in diesem Zusammenhang die behauptete Verbindung<br />

zwischen Abt Entenfuß und <strong>Faust</strong> zu sein.<br />

Wegen „üblen Hausens“ wurde Abt Entenfuß <strong>im</strong> Mai 1518 der Krummstab genommen.<br />

Das könnte bedeuten, dass die Ereignisse, die zu seiner Amtsenthebung führten, sich<br />

<strong>im</strong> Jahr 1516 oder 1517 abspielten.<br />

Einem Abt von Maulbronn war es nicht gestattet, Bewaffnete zu unterhalten, er war<br />

kein Fürstabt. Das Kloster Maulbronn musste die Bereitstellung von Bewaffneten für<br />

den Geleitschutz sowie für Ordnungsaufgaben mit einem weltlichen Fürsten aushandeln.<br />

Mit dem Jahr 1504 war das Kloster in die Fänge <strong>des</strong> verrückten Herzog<br />

Ulrich von Württemberg geraten.<br />

Zwar sind die Unterlagen <strong>des</strong> Klosters für uns <strong>im</strong> Moment nicht greifbar, doch was<br />

Herzog Ulrich für das Kloster bedeutete, wird fassbar, so man sich betrachtet, was er<br />

dem Städtlein Knittlingen auferlegte.<br />

Auf 51 Jahre n<strong>im</strong>mt er Knittlingen in Schutz und Schirm. Dafür sind ihm jährlich 100<br />

Goldgulden zu entrichten, <strong>des</strong> weiteren hat Knittlingen, wann <strong>im</strong>mer er in den Krieg<br />

zieht, 100 Mann zu stellen; Ausrüstung und Löhnung der Abteilung gehen zu Lasten<br />

von Knittlingen.<br />

Herzog Ulrich wird auch für das Kloster kein billiger Schutzherr gewesen sein, dazu<br />

weitete er seine Befugnisse auch laufend aus. Johannes Burrus, Amtsnachfolger <strong>des</strong><br />

Abts Entenfuß, wird sich 1519 an den „Schwäbischen Bund“ mit der Bitte um<br />

Restituierung seiner früheren Rechte wenden. Damit nicht genug, er bittet um<br />

Rückgabe <strong>des</strong> Klosters an die Pfalz. Sein Begehren wurde abschlägig beschieden.<br />

Die auffällige Bautätigkeit <strong>des</strong> Klosters in diesen Jahrzehnten steht eventuell mit der<br />

Umtriebigkeit Herzog Ulrichs in Zusammenhang; Bargeld wurde in Mauerwerk<br />

verwandelt.<br />

Bereits von Anbeginn stand die Amtszeit <strong>des</strong> Abts Entenfuß unter einem schlechten<br />

Stern, zumin<strong>des</strong>t mag er selbst es so empfunden haben. Herbergte <strong>im</strong> Jahr 1511 noch<br />

„Kurfürst Ludwig und Pfalzgraf Friedrich“ <strong>im</strong> Kloster, just mit Beginn der Amtszeit von<br />

224


Abt Entenfuß <strong>im</strong> Jahr 1512 verzichtete der Pfalzgraf endgültig auf seine Rechte an<br />

Maulbronn.<br />

Und bereits 1514 zieht Herzog Ulrich das Recht an sich, die Schultheißenämter zu<br />

besetzen.<br />

Es lässt sich erahnen, Abt Entenfuß fühlte weniger die Würde seines Amtes, als<br />

vielmehr die Bürde; die alten Zeiten, sie waren offenkundig dahin.<br />

Kaiser Barbarossa hatte <strong>im</strong> Jahr 1156 das Kloster noch unter seinen persönlichen<br />

Schutz gestellt; kaiserliche Pflichten, freilich auch Rechte, die irgendein Kaiser später<br />

zu Geld gemacht hatte. Wobei der gegenwärtige Kaiser Max<strong>im</strong>ilian sich um gar nichts<br />

mehr kümmerte, freilich auch nicht mehr viel in dieser Angelegenheit mitzureden hat.<br />

1516 erdreistet sich Herzog Ulrich zweier schwerer Eingriffe. Wie bereits erwähnt,<br />

ermordete Herzog Ulrich jenen Hans von Hutten, den Vetter <strong>des</strong> Dichters und<br />

aufrührerischen Ritters Ulrich von Hutten. Die 1516 vom „schwäbischen Bund“<br />

verhängte Strafe von 27 000 Gulden, bürdet Ulrich u. a. dem Kloster Maulbronn auf.<br />

Desweiteren befiehlt Ulrich <strong>im</strong> Jahr 1516 die erste allgemeine württembergische<br />

Musterung; die Feststellung von wehrhaften Männern in den Landschaften, die<br />

Prüfung der Waffen auf Tauglichkeit. In den Klosterdörfern war die Musterung bisher<br />

von Prälaten durchgeführt worden, Herzog Ulrich bezog die Klosterdörfer in seine<br />

Musterung mit ein. Und passend zu Herzog Ulrichs Übergriffen ist die Luft schwanger<br />

von papstfeindlichen Reden, insbesondere aber von den „Fressern, den München,<br />

gänzlich ohne Nutz“, von den Klöstern, die man nicht brauche.<br />

Der Abt weiß was in der Welt – in den Jahren vor Luther – geredet wird. Und was er<br />

nicht weiß, er kann es sich zusammenre<strong>im</strong>en; <strong>im</strong> Januar 1516 war er auf dem<br />

Reichstag in Augsburg gewesen, anschließend auf dem Landtag in Blaubeuren.<br />

Abt Entenfuß schaute bangvoll in die Zukunft, seine Nerven lagen blank und seine<br />

Gedanken offen – für <strong>Faust</strong>. Hatte der Abt eine Chance gegen <strong>Faust</strong>? Er hatte keine<br />

Chance, er hatte Sorgen. Er brauchte kein Gold, keinen Goldmacher, er brauchte<br />

einen, der ihm sagte, wie es weiterging, was aus dieser Welt und aus dem Kloster<br />

noch werden sollte.<br />

Falls es ein Zusammentreffen <strong>Faust</strong>s mit Abt Entenfuß tatsächlich gegeben haben<br />

sollte, die Falle, der Mahlstrom zwischen Skylla und Charybdis, es könnten einerseits<br />

die Sorgen <strong>des</strong> stolzen Abts, anderseits die Weltgewandtheit <strong>Faust</strong>s gewesen sein,<br />

wobei <strong>Faust</strong> seinen unhe<strong>im</strong>lichen Joker <strong>im</strong> Ärmel hatte.<br />

Alles, was der Abt dachte, <strong>Faust</strong> wusste es, und er wusste noch viel mehr.<br />

Verständlich, dass der Abt nach ersten Gesprächen über die politische Situation zu<br />

dem Schluß kam, dass dieser <strong>Faust</strong> nicht zu Unrecht seinen üblen Ruf weg hatte,<br />

<strong>Faust</strong> tatsächlich ein erstaunliches Wissen besaß, das recht gut zu irgendeinem<br />

Teufelsgeschäft passte. Abt Entenfuß war bereit, die Gratwanderung zu gehen.<br />

Selbstredend war <strong>Faust</strong> als Knittlinger und als Mann von Welt bekannt, dass Abt<br />

Entenfuß nicht in die Kasse greifen konnte, doch falls Entenfuß einsichtig genug war,<br />

dass man mit Hilfe eines goldenen Kelchs, vielleicht gar einer Monstranz, die Geister<br />

dazu bringen konnte, dass sie über die Zukunft <strong>des</strong> Klosters Auskunft gaben …<br />

Den Patres <strong>im</strong> Konvent wird der Umgang ihres Abtes mit diesem Schwarzmagier,<br />

Teufelsbündner, Knittlinger Findelkind und eventuell auch ungebärdigen Zögling von<br />

Einst, gewiss nicht gefallen haben. Andererseits, was wollte man machen.<br />

Was <strong>im</strong>mer <strong>Faust</strong> mit jenem sorgenvollen Abt Johannes Entenfuß angestellt haben<br />

mag – so er überhaupt etwas mit ihm angestellt hat – als sich eines Tages heraus<br />

stellte, dass der neunte Kelch fehlte, die Mönche kombinierten sofort, wo der Kelch<br />

abgeblieben war.<br />

Unter der Annahme, dass <strong>Faust</strong> ein Telepath war, braucht das Aufsehen, das er<br />

beispielsweise in Erfurt hervorrief, keine hilfsweise Schilderung einer alchemistischen<br />

Gaukelei.<br />

Ein Ausschreier zieht über den Markt, er verkündet, dass der weitbeschreite Wahrsager<br />

Doktor <strong>Faust</strong>us in der Stadt ist, dass der weitberühmte Doktor nach dem<br />

Angelusläuten seine Kunst <strong>im</strong> „Mohren“ zeigen werde.<br />

225


Die Neugierigen strömen, drängeln sich <strong>im</strong> Saal; der Saal selbst ist durch ein Seil in<br />

zwei Abschnitte geteilt, <strong>im</strong> kleineren Abschnitt sitzt der berühmte <strong>Faust</strong>us an einem<br />

Tisch, er schreibt. Was er schreibt, man weiß es nicht, aber es steigert die Spannung,<br />

außerdem braucht jeder noch sein Getränk, auch der Wirt will sein Geschäft machen.<br />

Endlich steht <strong>Faust</strong> auf, mustert schweigend das Publikum. Zwischen die Beine der<br />

Zuschauer hat sich ein Bub in Lumpen gekauert. <strong>Faust</strong> fasst ihn ins Auge, winkt ihn<br />

stumm zu sich her. Die Zuschauer grinsen. Dass ein gutgekleidete Herr sich um ihn<br />

schert, scheint dem Buben nicht ganz geheuer, doch er schlüpft unter dem Seil durch,<br />

nähert sich misstrauisch, um schließlich seine schmutzige Hand in die gereichte Hand<br />

<strong>des</strong> Fremden zu legen.<br />

„Mit dem jungen Mann ist der Anfang gemacht!“ erklärt <strong>Faust</strong>. „Üblicher weise ist<br />

meine Kunst jedem tapferen Mann einen Rheinischen wert, der junge Mann bezahlt<br />

nichts, er bekommt von mir einen Pfennig geschenkt!“<br />

Damit hat <strong>Faust</strong> das Stichwort gegeben. Der Bub denkt an Geld. Geld, das er nicht<br />

hat, Geld, das er vielleicht verloren hat.<br />

„Wobei der junge Herr das Geld <strong>des</strong> berühmten Doktor <strong>Faust</strong>us gar nicht braucht, er<br />

hat ja selbst seine Pfennige!“<br />

Der Bub schaut erstaunt, seine Blicke sichern nach allen Seiten.<br />

„Ganz recht! Der junge Mann, er hat zwei Pfennige bei sich!“<br />

Der Bub versucht sich loszumachen, der vornehme Herr lässt seine Hand nicht los.<br />

Die Zuschauer lachen.<br />

„Klug wie er ist, hat er seine Pfennige eingenäht! Und zwar hier!“ <strong>Faust</strong> packt die Linke<br />

<strong>des</strong> Buben, hebt sie leicht, und reibt den Ärmelsaum zwischen Daumen und Zeigefinger.<br />

Der Bub windet sich, als wenn ihn eine Schlange beissen wollte. Die Zuschauer<br />

gröhlen begeistert, die Situation ist zu eindeutig, dieser Doktor <strong>Faust</strong>us hat sich ganz<br />

gewiss nicht mit diesem Lumpenbuben abgesprochen.<br />

„Natürlich ist mir nicht verborgen – so wie alle Dinge zwischen H<strong>im</strong>mel und Erde für<br />

den Doktor <strong>Faust</strong>us offen liegen – woher er das Geld hat!“<br />

Der Bub starrt entsetzt.<br />

„Bevor er mit dem Prügelstock Freundschaft schließt, bekommt er nun seinen<br />

Pfennig!“<br />

<strong>Faust</strong> drückt dem Buben einen Pfennig in die Hand und lässt die Hand los. Der Bub<br />

rettet sich ins Publikum zurück.<br />

War es so gewesen? Nun, wir waren nicht dabei.<br />

Falls es so gewesen war, es erklärte, warum selbst nach acht Tagen das Publikum<br />

noch nicht satt war, warum man <strong>Faust</strong>, laut Begardi, Geld auch geradezu aufdrängte.<br />

Diese Art von Kunst überzeugte jeden. Ein Mann, der diese Kunst beherrschte, dem<br />

traute man auch zu, dass er wusste, wo der Ahnherr Rangbold den Schatz versteckt<br />

hatte.<br />

Diese Kunst überzeugte auch Johannes Virdung – aber nur in sofern, dass er wusste,<br />

dass er diesen <strong>Faust</strong> in die Mache kriegen musste, damit der für ihn arbeitete.<br />

Ob Virdung dabei Abt Trithemius über seine wahren Absichten ins Bild setzte ist<br />

fraglich. Der Brief <strong>des</strong> Trithemius lieferte Virdung das erhoffte Druckmittel, den Vorwurf<br />

der Blasphemie, wobei Trithemius aber offenbar glaubte, <strong>Faust</strong> werde bestraft, er<br />

folglich eine Auspeitschung empfahl.<br />

<strong>Faust</strong> hinterließ keine eigenen Bücher; das passt ins Bild.<br />

Innerhalb der <strong>Faust</strong>forschung verweist man gerne auf den „Index Sanitatis“, ein Buch,<br />

von dem nur wenige Exemplare unsere Zeit erreichten. Daher sei denkbar, dass von<br />

einem Buch <strong>des</strong> Autors <strong>Faust</strong> überhaupt kein Exemplar erhalten blieb.<br />

Begardi, der Verfasser <strong>des</strong> „Index Sanitatis“, war ein unbekannter Mensch, <strong>Faust</strong> war<br />

eine Berühmtheit; „De max<strong>im</strong>a occulta philosophia“ von Johann Georg <strong>Faust</strong> wäre ein<br />

Bestseller geworden.<br />

Die Gehe<strong>im</strong>nisse der Grossen durfte <strong>Faust</strong> nicht zum Druck geben, sein eigenes<br />

Gehe<strong>im</strong>nis noch viel weniger. Wenn er selbst nicht kreativ war, nicht gegen den Strich<br />

226


<strong>des</strong> Zeitgeists dachte, wissenschaftliche Erkenntnisse nicht hinterfragte, dann hatte er<br />

gerade soviel an Wissen, wie er das Wissen anderer greifen konnte, jedoch keinen<br />

Fingerbreit mehr. Was also hätte er in einem Buch niederlegen sollen?<br />

Zu seiner Entschuldigung muss gesagt werden: wer über eine derartige Fähigkeit verfügt,<br />

gibt sich vermutlich keinen Illusionen über den „neuen Menschen“ hin, wer derart<br />

leicht sein Geld verdient, dem ist wahrscheinlich auch die Motivation zu jeder Anstrengung<br />

in den Wissenschaften genommen. Diese Fähigkeit kommt einem lebenslänglichen<br />

Lotto-Sechser gleich.<br />

Was nicht bedeuten muss, dass <strong>Faust</strong> keinerlei Ambitionen in der Alchemie, der<br />

Medizin oder der Astrologie gehabt hätte. Das Gegenteil ist zu vermuten, gerade weil<br />

er diese herausragende Belastung besaß, wird er überaus ehrgeizig gewesen sein.<br />

Gutmöglich war er jedoch ein Mensch mit durchschnittlichen Gaben, allein die Fähigkeit,<br />

Gedanken zu lesen, gab ihm einen eigenen Rang.<br />

Was seinen Rang in der Literatur angeht, so sei noch mal Stephan Füssel zitiert:<br />

„Mit dem Namen <strong>des</strong> Doktor <strong>Faust</strong> verknüpfen sich die tragische Schönheit sowie die<br />

Gewalt <strong>des</strong> Willens sich über Menschenmaß zu erheben mit der Verwegenheit<br />

menschlichen Geistes <strong>im</strong> Drang nach Erkenntnis.“<br />

Die Literatur hat <strong>Faust</strong> – freilich auf Grund seiner rätselhaften Kunst, deutlich mehr an<br />

Größe gegeben, als ihm vermutlich selbst zu Eigen war.<br />

<strong>Faust</strong> hätte mit der ihm unterstellten telepathischen Fähigkeit auch leicht als Kaufmann<br />

oder als Berater eines Diplomaten seinen Lebensunterhalt bestreiten können.<br />

Ein brausen<strong>des</strong> Bad der Bewunderung ist allerdings auch nicht zu verachten; mit den<br />

Nasen und Augen <strong>des</strong> Publikums Jo-Jo zu spielen, die St<strong>im</strong>mung hinauf- und hinunter<br />

zu reizen, den Saal zum Kochen zu bringen. Dazu die frechen, ungezügelten Sprüche,<br />

sie müssen ihm genauso ein Bedürfnis gewesen sein, wie fernab der Welt einem<br />

reichen Bauern das passende Spinnennetz vor die Augen zu weben.<br />

Abgesehen von seiner eitlen Lust am Auftritt, seine Kunst innerhalb einer üblichen<br />

Tätigkeit zu Geld zu machen, es konnte ihn nicht reizen. Um mit seiner Kunst richtig<br />

Geld einzusacken, dafür musste er sie als Mittel zum Betrug einsetzen.<br />

Ein kleiner Lateinschüler, der gewahr wird, dass der Platz neben dem Pr<strong>im</strong>us ihn das<br />

Wissen <strong>des</strong> Pr<strong>im</strong>us greifen lässt, wird nicht beflügelt, besonders fleißig zu sein. Im<br />

Gegenteil, die Erkenntnis ernährt einmal die Faulheit, zum anderen reizt sie, aus der<br />

Fähigkeit mit dem geringsten Aufwand den größten Nutzen zu schlagen. Ein derart<br />

belasteter Mensch wird geradewegs dazu verführt, seine schlechten Anlagen<br />

auszubilden.<br />

Gutmöglich löst die unterstellte Fähigkeit auch die ungeklärte Frage, wo <strong>Faust</strong> seine<br />

Ausbildung erhielt. Vielleicht hatte er eine Lateinschule besucht, der gewaltige übrige<br />

Anteil behaupteten akademischen Wissens bestand aus „zusammengeklauten<br />

Bruchstücken“. Anders gesagt, er verfügte über keine nenneswerte Ausbildung, was er<br />

freilich Dank seiner Begabung zu kaschieren wusste. Auch dürften sich seine Kunden<br />

weniger für den gebildeten <strong>Faust</strong> interessiert haben, als für den Mann, der viele<br />

verborgene Dingte sagte.<br />

Eventuell hatte er doch einst als halbwüchsiger Analphabet auf dem Kutschbock eines<br />

fahrenden Magiers oder Astrologen Platz genommen. Ausgestattet mit einer<br />

derartigen Belastung brauchte er sich nicht als billiger Pferdeknecht und Helfershelfer<br />

hergeben, mit dieser Art von Kapital war er mehr als ein gleichberechtigter Partner. Er<br />

war jemand, mit <strong>des</strong>sen Hilfe sich der Lebensunterhalt auf leichte Weise verdienen<br />

ließ, den man an sich zu binden suchte, dem man auch gerne Lesen und Schreiben<br />

und Latein sowie die Kunst der Astrologie beibrachte.<br />

Eventuell erklärt sich mit der ihm unterstellten Fähigkeit auch sein Zorn auf die<br />

Gebildeten. Er hatte zwar Zugriff auf die aktuellen Gedanken seines Gegenübers,<br />

Zugriff auf das gewachsene Wissen eines Gebildeten hatte er jedoch nicht. Was er<br />

abgreifen konnte, reichte zum Blendwerk; ihm selbst dürfte bewusst gewesen sein,<br />

dass er stets auf die Gebildeten angewiesen blieb.<br />

227


Ein Mensch mit einer derartigen „Gabe“ wäre auch in unserer Zeit schlicht ein<br />

Ungeheuer. Ob als Kunde, der einem Anlageberater gegenüber sitzt, ob als Autokäufer<br />

oder einfach nur als Lebenspartner. Es beruhigt zu wissen, Menschen mit der<br />

<strong>Faust</strong> unterstellten Fähigkeit sind eine große Ausnahme.<br />

Es ist eine Kunst, die man zum Nutzen der Menschen verwenden kann. Dass <strong>Faust</strong><br />

sie segensreich angewendet hätte, abgesehen vom Segen für sich selbst, ist<br />

nirgendwo zu greifen. Mit Lerche<strong>im</strong>er gesagt: „… lebete wie ein lotterbube / war ein<br />

schmarotzer / fraß sauff vnd ernehrete sich von seiner gauckeley.“<br />

So betrachtet ist die Aussage der „Historia“ doch richtig: <strong>Faust</strong>, ein hoch begabter<br />

Mensch, der sich für das Schlechte entschieden hat.<br />

*<br />

Begardi vernichtete <strong>Faust</strong> – Der Mord, der ein Selbstmord war<br />

Der letzte der Quellentexte, der zweifelsfrei belegt, dass <strong>Faust</strong> zum Zeitpunkt der<br />

Niederschrift noch lebte, ist der Brief <strong>des</strong> Joach<strong>im</strong> Camerarius an Daniel Stibarius in<br />

Würzburg vom 13.8.1536.<br />

Im Jahr 1538 schreibt der Wormser Stadtarzt Begardi an seinem „Index Sanitatis“, <strong>im</strong><br />

Jahr 1539 gelangt das Werk zum Druck. Darin heißt es: „Dann er ist vor etlichen jaren<br />

vast durch alle landtschafft, Fürstenthuomb vnnd Königreich gezogen,…“<br />

Obgleich die Formulierung nicht zwingend besagt, dass <strong>Faust</strong> inzwischen verstorben<br />

war, führte sie dazu, dass ein Teil der <strong>Faust</strong>forscher das Jahr 1537 als <strong>Faust</strong>s To<strong>des</strong>jahr<br />

betrachtete. Der Annahme förderlich war die Formulierung „hin ist hin“ <strong>im</strong> Schluß<br />

<strong>des</strong> Textes, eine eher launische Feststellung, die zudem aus dem Zusammenhang<br />

gerissen ist, denn sie bezieht sich auf das Geld, das <strong>Faust</strong> den Menschen abgeluchst<br />

hatte. Die volle Aussage lautet: „Doch hat er sich <strong>im</strong>m gelt nehmen, oder empfahen –<br />

das ich auch recht red – nit gesaumpt, vnd nachmals auch <strong>im</strong>m abzugk, er hat, wie ich<br />

beracht, vil mit den ferßen gesegnet. Aber was soll man nuon darzuothuon, hin ist hin,<br />

ich wil es jetzt auch do bei lassen, …“<br />

Dass <strong>Faust</strong> zum Zeitpunkt der Niederschrift, also 1538, noch unter den Lebenden<br />

weilte, wird auch dadurch fassbar, dass nichts von den wilden Vermutungen, die nach<br />

<strong>Faust</strong>s grässlichen Sterben die Lande durchwehten, in den Ausführungen Begardis<br />

spürbar wird.<br />

„Vor etlichen jahren“ darf wohl so verstanden werden, dass <strong>Faust</strong> sich außerhalb <strong>des</strong><br />

Wahrnehmungsbereichs Begardis aufhielt, also die Rheinpfalz nicht mehr bereiste.<br />

25 Jahre nach Erscheinen <strong>des</strong> „Index Sanitatis“ wird die Z<strong>im</strong>merische Chronik<br />

niedergeschrieben, dort steht zu lesen: „ …Es ist auch umb die zeit (<strong>des</strong> Reichstags<br />

zu Regensburg, 1541) der <strong>Faust</strong>us … gestorben“.<br />

Die Z<strong>im</strong>merische Chronik ist zwar nur ein Indizientext, jedoch von ihrem Hintergrund<br />

her, auf den noch eingegangen werden wird, von hoher Glaubwürdigkeit; folglich hat<br />

man sich darauf verständigt, dass <strong>Faust</strong> um das Jahr 1540 verstorben ist.<br />

Für jene Zeit hatte <strong>Faust</strong> bereits ein hohes Alter. Erstaunlich genug für einen<br />

Menschen, der gewiss unter abenteuerlichsten Begleitumständen ein Leben als<br />

Reisender zugebracht hatte; wenn er auch selbst Arzt war, gewiss hatte er inzwischen<br />

mit gesundheitlichen Einschränkungen zu kämpfen.<br />

Nicht nur Luther und sein eigenes Alter zwingen ihn, langsamer zu treten. Die<br />

deutschen Landschaften sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren, sie sind ihm<br />

untreu geworden. Aufruhr und Spott samt aller Visionen einer gerechteren Welt sind<br />

verblasen, die herrlich aufrührerischen, geradezu faustischen Jahre <strong>des</strong> Alles oder<br />

Nichts sind vorbei.<br />

Für den heutigen Mensch wird dieser Wandel am schnellsten mit einem Blick auf die<br />

Geschichte der deutschen Malerei fassbar. Niemals wieder wurde eine derartige Fülle<br />

von eindrucksvoller Malerei geschaffen als wie in den Jahrzehnten vor Luther bzw. vor<br />

dem Großen Bauernkrieg. Bekanntestes Beispiel ist Hieronymus Bosch, seine Kunst<br />

reichte hin, um selbst noch einen Dalì zu inspirieren.<br />

228


Die Lutheraner werfen bald 40 000 Gemälde auf den Müll, entsorgen zigtausende von<br />

Büchern und meißeln die Heiligen von den Kirchenwänden. Die Katholische Kirche hat<br />

weniger Mühe, sie hat in fataler Fehleinschätzung auch gerade halb Deutschland an<br />

Luther verzockt, sie sortiert Reliquien aus: Die Borsten <strong>des</strong> Esels, der einst Maria mit<br />

dem Kindlein nach Ägypten trug, die Scherbe von Jesu Kindertellerchen, das<br />

Tränenkrüglein Maria Magdalenas …<br />

Wer es nicht weiß, Reliquien sind profane Hinterlassenschaften von unwiederbringlich<br />

Vergangenem, als mystisch aufgeladene Platzhalter st<strong>im</strong>ulieren sie menschliches<br />

Wohlbefinden.<br />

Die Reliquienverkäufer, Stationierer genannt, werden jedenfalls brotlos, stark rückläufig<br />

sind auch die Einnahmen für „Visiones <strong>im</strong>m Christal“, ebenso erfahren Theriakskrämer<br />

und Wanderärzte eine Abstufung ihres Ansehens.<br />

<strong>Faust</strong>, der alt gewordene Weitgereiste wird gewusst haben, was zu tun war. Er hat<br />

umdisponiert. Die fetzigen Reklamesprüche wurden abgehängt, das Sort<strong>im</strong>ent auf die<br />

neue Rationalität zugeschnitten; auf den Koffer kam ein ordentliches Messingschild:<br />

„Arzt und Astrologe“.<br />

Vermutlich reiste er auch weniger, er reiste nicht mehr excessiv, dafür eher intensiv in<br />

einem engeren Wirkungskreis; als Arzt reduzierte er sich vielleicht zu dem, was später<br />

ein „regionaler Medicaster“ genannt werden wird.<br />

Laut der Z<strong>im</strong>merischen Chronik ist <strong>Faust</strong> „zu (!) oder doch nit weit (!) von Staufen, dem<br />

stettlin <strong>im</strong> Breisgew, gestorben.“ Die Ortsangabe wird am Schluss <strong>des</strong> Textes<br />

wiederholt: „Derselbig ist … letzstlich in der herrschaft Staufen <strong>im</strong> Preisgew in großem<br />

alter vom bösen gaist umbgebracht worden…“<br />

Die Absicht der Chronik ist Chronik zu sein, sie wurde geschrieben für den<br />

Hausgebrauch, um festzuhalten, um den Nachfahren berichtenswertes mitzuteilen.<br />

jedoch keineswegs um sie zu drucken und damit in die Öffentlichkeit zu treten.<br />

Diese Bescheidenheit der Autoren erklärt, warum die Chronik solange unbekannt blieb.<br />

Goethe hatte von ihr keine Kenntnis, sie schlummerte beinahe 300 Jahre in der<br />

Bibliothek der Grafen von Z<strong>im</strong>mern. Dort wurde sie von Ludwig Uhland entdeckt, <strong>im</strong><br />

Jahr 1869 gedruckt und so der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Original<br />

befindet sich heute in der Bibliothek der Fürsten von Fürstenberg in Donaueschingen.<br />

Die Chronik hat den Charme der Unschuld, wobei die Religiosität, die in den Zeilen<br />

spürbar ist, sicherlich ihren Teil dazu beiträgt.<br />

Die Z<strong>im</strong>merische Chronik wurde von 1564 bis1566 niedergeschrieben. Die Verfasser<br />

sind Graf Froben Christian von Z<strong>im</strong>mern und sein Sekretär Johannes Müller.<br />

Graf Wilhelm Werner von Z<strong>im</strong>mern, Jurist und selbst ein erfahrener Chronist, damals<br />

bereits in hohen Jahren, stand den Autoren als Ratgeber sowie als Zeitzeuge<br />

vergangener Jahrzehnte zur Seite.<br />

Die Z<strong>im</strong>mersche Chronik ist in der Landschaft – man darf sagen: verwurzelt.<br />

Über die Matrikelbücher der Universität Freiburg lässt sich das Netzwerk jener<br />

erschließen, die sich vom Studium her kannten, aber auch die Vernetzung all jener<br />

erahnen, die ganz gleich, ob sie sich bis dato kennengelernt hatten oder auch nicht,<br />

quer durch die Lande umstandslos sofort als „alte Freiburger“ einen herzlichen Umgang<br />

miteinander pflegten.<br />

Wilhelm Werner von Z<strong>im</strong>mern selbst <strong>im</strong>matrikulierte sich in Freiburg am 31.10.1504, er<br />

verließ Freiburg 1509. Sein Lebensweg führte ihn bald in alle Winkel zwischen Neckar<br />

und Rhein, er war Richter, Inspektor und Visitator, auch gehörte er einige Zeit dem<br />

Reichskammergericht an. Er war kein großer Jurist, er war ein löblicher Jurist. Er war<br />

ein Mensch, der herumgekommen war, der mit vielen Amtsträgern persönlich bekannt<br />

war, zuvorderst mit den „alten Freiburgern“, und mit Leuten aus dem Adel war er<br />

ohnehin per-du. Die Veränderungen in jenen Jahrzehnten erlebte er unmittelbar. Eine<br />

erstrebte Bistumspfründe erhält er nicht, es wird durch das Zusammenwirken<br />

bürgerlicher Gebildeter verhindert. In den übergeordneten Reichsgremien wird er<br />

Zeuge wie Protestanten und Katholiken sich in Unversöhnlichkeit anfeinden und sich<br />

gegenseitig bei der Arbeit blockieren. Wilhelm Werner von Z<strong>im</strong>mern stirbt 1575, sein<br />

Leben währte 90 Jahre und einen Tag. Soweit zum Leben und der Glaubwürdigkeit<br />

229


einer Person, die in Welterfahrenheit die Entstehung der Z<strong>im</strong>merischen Chronik<br />

begleitete.<br />

Aus Staufen selbst schrieben sich von 1505 bis zum Jahr 1526 acht Studenten an der<br />

Universität von Freiburg ein: Schnell, Salwirt, Harnhas, Rost, Wittich, Flam, Knöpfler<br />

und Baro. Einige von ihnen muss Wilhelm Werner von Z<strong>im</strong>mern gekannt haben, mit<br />

ihnen wird er sich auch über <strong>Faust</strong>s Tod, das Ereignis schlechthin, ausgetauscht<br />

haben.<br />

Geradezu beweiskräftig deutlich wird der unmittelbare Kontakt zwischen den Herren<br />

von Staufen und den Grafen von Z<strong>im</strong>mern, Meßkirch und Wildenstein.<br />

Zum einen bestanden verwandtschaftliche Bande, zum anderen kannten sie sich vom<br />

Studium her.<br />

Am 19.8.1533 <strong>im</strong>matrikuliert sich „Wernherus von Z<strong>im</strong>mern“ an der Universität von<br />

Freiburg, am 23.1.1534 „Dominus Antonius von Stauffen“, am 23.7.1535 „Gottfried von<br />

Z<strong>im</strong>mern, Meßkirch und Wildenstein“.<br />

Verständlich, dass man angesichts dieser weitläufigen Bekanntschaften und unmittelbaren<br />

Verflechtungen folgerte, dass die Autoren der Chronik gut informiert waren, und<br />

man sich <strong>des</strong>halb auf <strong>Faust</strong>s Tod bei oder in Staufen geeinigt hat. Selbstredend nicht<br />

zuletzt auch <strong>des</strong>halb, da man sich über die Hintergründe und die Glaubwürdigkeit <strong>des</strong><br />

Manlius-Text nicht einig war.<br />

Es wurde viel darüber spekuliert, was <strong>Faust</strong> in Staufen wollte.<br />

Dazu ein Textabschnitt aus dem Werk eines <strong>Faust</strong>forschers:<br />

„Der zweite bedeutende Fund in Zusammenhang mit <strong>Faust</strong>s Wirken in Staufen ist ein<br />

Original-Schuldschein Antons von Staufen, von ihm handgeschrieben, unterzeichnet<br />

und gesiegelt, in dem er seinen gesamten Besitz und den seiner Nachkommen für ein<br />

größeres Darlehen verpfändet. Damit ist die hohe Verschuldung <strong>des</strong> Freiherrn von<br />

Staufen belegt, wegen der ihm Frantz Conrad von Sickingen den <strong>Faust</strong> mit „seinen<br />

Fähigkeiten Gold herzustellen“ vermittelt hatte.“<br />

So glatt es geschrieben, so eingängig es sich anhört, die Darstellung ist eine<br />

lokalpatriotische Räuberpistole.<br />

Mag der Autor auch einen Sohn <strong>des</strong> Franz von Sickingen ins Spiel bringen und in<br />

einem anderen Kapitel auf Abt Entenfuß verweisen, aus <strong>Faust</strong>, der sich irgendwann in<br />

seinem langen Leben möglicher weise – rein theoretisch und nichts außer acht lassend<br />

– auch einmal als Goldmacher angedient haben könnte, wird <strong>des</strong>halb kein Goldmacher<br />

in Staufen. Ebenso wenig ist seine Bekanntschaft mit Frantz Conrad von Sickingen<br />

belegt, noch gibt einen irgendwie gearteten Hinweis darauf, dass <strong>Faust</strong> in Staufen<br />

„gewirkt“ hätte. Und was die Verschuldung Antons von Staufen angeht, so handelt es<br />

sich um ein geradezu typisches Schuldendrama einer dienstadeligen Familie, <strong>des</strong>sen<br />

Wurzeln <strong>im</strong> vorangegangenen Jahrhundert lagen.<br />

Abseits von <strong>Faust</strong>, viel interessanter ist die Art und Weise, wie Anton von Staufen sich<br />

von seinem Schuldenberg löste.<br />

Die Schuldurkunde „ … mit meinen angeborenen minderen Insigel besigelt. Geben am<br />

Samstag Sankt Peter und Pauls der zweyer heiligen Aposteln <strong>des</strong> neunundzwanzigsten<br />

Tags Juni nach der Geburt Christi gezählt Tausend fünfhundertvierzig und neun<br />

Jahr“, schreibt einen jährlichen Zinssatz von 5% fest. Den Zeitpunkt der Rückzahlung<br />

<strong>des</strong> Darlehens allerdings, ebenso der Zahlung der Zinsen, lässt Anton von Staufen sich<br />

und seinen Nachkommen offen. Ein toller Streich! Er reizt zu Nachforschungen.<br />

Lasse man es dabei: <strong>Faust</strong> hat sich zum Zeitpunkt seines To<strong>des</strong> in unmittelbarer Nähe<br />

von Staufen befunden; mehr ist nicht zu holen.<br />

Der Breisgau war Teil Vorderösterreichs, also habsburgisch und somit katholisch. Das<br />

passt zur Einschätzung, dass <strong>Faust</strong> <strong>im</strong> Lauf der Jahre sich mehr und mehr von<br />

reformierten Landschaften fernhielt.<br />

Nun auf die „Carolina“ von 1532 zu verweisen, ist grundsätzlich richtig, die „Carolina“<br />

konnte <strong>im</strong> gesamten Reich gegen <strong>Faust</strong> angewendet werden, und doch gibt es einen<br />

feinen Unterschied. Wo Melanchthon gegen „das Scheißhaus vieler Teufel“ wütet,<br />

schreiben die katholischen Verfasser der Chronik: „Die büecher, die er verlasen, (sind)<br />

meins erachtens ein sorgclichen und unglückhaftigen schatz und gabe.“<br />

230


Und über die Kunst, die <strong>Faust</strong> übte, äußern sie: „Das aber die praktik solcher Kunst nit<br />

allain gottlos, sonder zum höchsten sorgclich, das ist unlaugenbar, dann sich das in der<br />

erfarnus beweist, und wissen, wie es dem weitberüempten schwarzkünstler, dem<br />

<strong>Faust</strong>o, ergangen.“<br />

Nachdenklichkeit spricht aus den Worten, man vermeint geradezu die warnend<br />

erhobenen Zeigefinger und die bedenklichen Mienen der Autoren vor sich zu sehen.<br />

Es ist eine Radikalisierung <strong>im</strong> Gange, aber noch gibt es neben dem entschlossenen<br />

Wüten, einige Tagereisen entfernt, das eindringliche Warnen; eine Toleranz – nicht<br />

mehr für „verbrecherische Weibsleut“, doch genug, damit ein Doktor <strong>Faust</strong>us<br />

Philosophus manövrieren und wirken konnte.<br />

Für den Breisgau als Rückzugsgebiet spricht auch das Kl<strong>im</strong>a, es ist mild – alte<br />

Knochen wissen das zu schätzen.<br />

<strong>Faust</strong> hatte sicherlich neben dem Adel, in Zusammenhang mit den Universitäten von<br />

Freiburg, Basel und Straßburg, auch wieder mit Gebildeten zu tun, ebenso mit<br />

gutgestellten Handwerksmeistern, allesamt Leute, die sich für seine Horoskope<br />

interessierten. Nicht zu vergessen, <strong>im</strong> Breisgau und <strong>im</strong> gegenüberliegenden Elsass<br />

wird Weinbau betrieben, auch wohlhabende Bauern werden weiterhin zu seinen<br />

„Kunden“ gehört haben.<br />

Wobei man vielleicht nicht allein den Breisgau als letztes Reisegebiet sehen sollte, die<br />

habsburger Erblande reichten auf der anderen Seite <strong>des</strong> Rheins damals über<br />

Besancon hinaus.<br />

Die Z<strong>im</strong>mersche Chronik liefert uns keinen Bericht darüber wie <strong>Faust</strong> ums Leben kam,<br />

vermutlich <strong>des</strong>halb, weil darüber ohnehin jedermann Bescheid wusste.<br />

Die Chronik spricht von einem gewaltsamen Tod, das jedoch gleich mehrmals: „man<br />

sagt, ellengclichen gestorben …vermaint, der bös gaist, den er in seinen lebzeiten nur<br />

sein schwager genannt, habe ine umbbracht … in großem alter vom bösen gaist<br />

umbgebracht worden …“<br />

Die wiederholte Information, dass <strong>Faust</strong> vom Teufel umgebracht wurde, macht fassbar<br />

wie bestürzt die Menschen über <strong>Faust</strong> Tod waren. Selbst fünfundzwanzig Jahre später<br />

sind die Autoren der Chronik noch <strong>im</strong>mer beunruhigt. Dass diese Aufregung allgemein<br />

war, wird durch die Aussage „Vil haben allerhandt anzeigungen und<br />

vermuetungen noch vermaint“ bestätigt; die Gerüchteküche brodelte, <strong>Faust</strong>s<br />

„ellengclicher“ Tod war in aller Munde.<br />

Was die Menschen redeten, wird in etwa durch die Geschichten fassbar, die in den<br />

Büchern der volksnahen <strong>Faust</strong>forschung aufbereitet werden: Ein Wanderer will nachts<br />

ein pötzliches Sturmgebraus und ein Jammern gehört haben, obgleich kein Lüftchen<br />

gegangen sei. Andere wollen beobachtet haben wie etwas Schwarzes vor dem Mond<br />

vorbei gezogen sei; das sei der Teufel gewesen, der mit <strong>Faust</strong>s Seele unterwegs war.<br />

Der viel geschmähte Manlius hat die Ehre, er liefert uns nicht nur den einzigen,<br />

sondern auch einen recht detaillierten Bericht über die Vorgänge bei <strong>Faust</strong>s Tod.<br />

Es ist müßig um diesen Baustein eine Diskussion zu entzünden. Ich persönlich kann<br />

keine theologische oder sonst wie begründete Einfärbung ausmachen, was vielmehr<br />

überzeugt, die Schilderung ist in keiner Weise spektakulär, sie ist lebensnah.<br />

Die Gewährsleute für den Bericht sind die Männer, die <strong>Faust</strong> tot aufgefunden haben.<br />

Der Wirt, vorsichtig wie er war, hatte sie vorsorglich als Begleiter und Zeugen mitgenommen.<br />

<strong>Faust</strong>s verändertes Wesen am Tag zuvor, der nächtliche Lärm sowie die<br />

fortgeschrittene Tageszeit, dem Wirt schwante etwas.<br />

Der Bericht lautet:<br />

„Vor wenig jaren ist derselbige Johannes <strong>Faust</strong>us / den tag vor seinem letzten ende /<br />

in einem Dorff in Wirtenberger landt gantz trawrig gesessen. Der Wirt fragt jn / Wie es<br />

keme / das er doch sonsten nicht pflegte – dann er war sonsten gar ein<br />

vnuerschämbter Vnflat / vnnd fürete gar uberauß ein bübisch leben / also / das er<br />

etliche mal schier vmbkommen were von wegen seiner grossen Hurerey. Da hat er<br />

zum Wirt gesagt: So er etwas in der nacht hören würde solt er nicht erschrecken. Vmb<br />

Mitternacht ist <strong>im</strong> Hause ein grosses getümmel worden. Des morgens wolte der <strong>Faust</strong>i<br />

231


nicht auffstehen. Vnd als es schier auff den Mittag kam / hat der Wirt etliche Menner<br />

zu jm genommen / vnd ist inn die Schlaffkammern gangen / darinn er gelegen ist / da<br />

ist er neben dem Bette todt gelegen gefunden / vnd hatte jm der teuffel dz angesicht<br />

auff den Rücken gedrehet.“<br />

Die Schilderung beinhaltet eine moralisierende Kommentierung: „dann er war sonsten<br />

gar ein vnuerschämbter Vnflat / vnnd fürete gar uberauß ein bübisch leben / also / das<br />

er etliche mal schier vmbkommen were von wegen seiner grossen Hurerey.“<br />

Die übrigen Zeilen sind vorgangsbezogen. Dass zum Schluss der Teufel als Täter<br />

gereicht wird, ist in jener Zeit ein Muss. Was für einen löblichen Juristen, versehen mit<br />

Carolina inklusive Hexenhammer, gutes Recht ist, kann für einen Wirt nicht falsch<br />

sein.<br />

<strong>Faust</strong> wurde also neben seiner Bettstatt mit gebrochenem Genick aufgefunden.<br />

Pfarrer Gast bestätigt in seinem „SERMONES CONVIVALES“ von 1541 die To<strong>des</strong>ursache,<br />

„Seine Leiche lag auf der Bahre <strong>im</strong>mer auf dem Gesicht, obgleich man sie<br />

fünfmal umdrehte.“<br />

Weiter heißt es in der Chronik: „Die büecher, die er verlasen, sein dem herren von<br />

Staufen, in <strong>des</strong>sen herrschaft er abgangen, zu handen worden, darumb doch hernach<br />

vil leut haben geworben …“<br />

<strong>Faust</strong> hatte also einige Bücher bei sich, diese gingen zunächst an den Herrn von<br />

Staufen, später hätten viele Leute diese Bücher gern erworben.<br />

Um welche Bücher es sich handelte und wo sie schließlich abgeblieben sind, ist nicht<br />

bekannt.<br />

Über die Vorgänge jener Nacht in <strong>Faust</strong>s Herbergskammer wurde ausgiebig<br />

spekuliert. Selbstredend ist nicht auszuschließen, dass <strong>Faust</strong> von den Herbergsleuten<br />

aus Habgier umgebracht wurde, der Wirt seine Begleiter getäuscht und der Welt einen<br />

Bären aufgebunden hat. Doch warum hätte der Wirt <strong>Faust</strong> umbringen sollen und dazu<br />

<strong>im</strong> eigenen Haus? <strong>Faust</strong> war eine bekannte Person, ein lebender <strong>Faust</strong> brachte Gäste<br />

in die Wirtsstube, ein ermordeter <strong>Faust</strong> schuf Raum für böse Verdächtigungen.<br />

Man muss den Wirt als Täter nicht wegdiskutieren, er ist eine Schlüsselfigur der merkwürdigen<br />

Vorgänge. Der Wirt berichtet, <strong>Faust</strong> habe zu ihm gesagt: „So er etwas in der<br />

nacht hören würde solt er nicht erschrecken.“<br />

Folgen wir dem Fingerzeig <strong>des</strong> Wirts. <strong>Faust</strong> hatte für die kommende Nacht mit<br />

Vorgängen gerechnet, bei denen es auch Lärm geben könnte.<br />

Selbstredend muss das Ereignis, <strong>des</strong>sen Eintreten <strong>Faust</strong> für die kommende Nacht<br />

erwartete, nicht unbedingt etwas mit seinem Tod zu tun haben. Möglicherweise<br />

handelt es sich bei dem Vorgang, bei welchem es auch laut werden könnte, sowie der<br />

To<strong>des</strong>ursache, um zwei zeitversetzte, vielleicht auch um gleichzeitige, jedoch von<br />

einander völlig unabhängige Ereignisse.<br />

Um halbwegs Licht in die Spekulationen um die Vorgänge in jener Nacht zu bringen,<br />

empfiehlt es sich, die beiden Ereignisse als miteinander verknüpft zu betrachten.<br />

<strong>Faust</strong>s Ankündigung eines kommenden Ereignisses schließt demnach unerwartete<br />

Vorgänge als To<strong>des</strong>ursache aus. Es drangen keine Räuber in die Herberge ein, die<br />

ihn ermordeten, auch ein Sturz auf Grund einer Herzattacke, einer Kreislaufschwäche<br />

oder gar in Trunkenheit, kämen demnach nicht in Frage.<br />

Es wurde angedacht, dass <strong>Faust</strong> bei irgendeinem Geschäft an den Falschen geraten<br />

sei. Dass <strong>Faust</strong> jemand die Herstellung von Gold versprochen, dafür auch Geld<br />

erhalten hätte, doch in jener Nacht, als ihn sein Kunde aufsuchte, sein Versprechen<br />

nicht einlösen konnte und <strong>des</strong>halb umgebracht wurde. Denkbar wäre es, doch warum<br />

sollte <strong>Faust</strong>, der gewiefte Fuchs, nach vierzig Jahren Berufspraxis an den Falschen<br />

geraten? Nicht zu vergessen, <strong>Faust</strong> hat „vil mit den ferßen gesegnet“ und war gewiss<br />

mehr als einmal in seinem Leben in der Situation, dass er „entfloh, als die Sache ans<br />

Licht kam, der ihm drohenden Strafe“. Auch wenn er für kühne Fluchten nun wirklich<br />

zu alt war, für eine he<strong>im</strong>liche Abreise als blinder Passagier einer Frachtladung sollte er<br />

noch ausreichend fit gewesen sein. Und falls er sich tatsächlich mit einem Wüterich<br />

eingelassen hatte, einen schriftlichen Vertrag werden sie wohl kaum miteinander<br />

232


geschlossen haben, was lag näher, als den Wirt um Hilfe zu bitten oder sich zumin<strong>des</strong>t<br />

eine andere Kammer geben zu lassen.<br />

Andererseits kennen wir nicht die Details <strong>des</strong> angenommenen Geschäfts. Hoffte <strong>Faust</strong><br />

einen Aufschub oder gar die Zahlung einer weiteren Summe zu verhandeln?<br />

In den letzten Jahren wurde zunehmend ein Chemieunfall als To<strong>des</strong>ursache<br />

favorisiert. „Chemie ist, wenn es knallt und stinkt.“ – gusseiserner Pflichtwitz aller<br />

Tertianer seit Kaisers Zeiten, aber <strong>im</strong>merhin tauglich als Absprungbrett für einen<br />

gleichsam doppelten Quantensprung moderner <strong>Faust</strong>ianer.<br />

Als es knallte, wurde <strong>Faust</strong> mit Explosivkraft aus dem Leben geschleudert. Dass es<br />

laut mündlicher Überlieferung <strong>im</strong> behaupteten Sterbez<strong>im</strong>mer noch Jahre später<br />

sagenhaft nach teuflischem Schwefel gestunken haben soll, liefert den<br />

Schulterschluss mit dem „warhafftig vnd getrewen Bericht“ der „Historia“.<br />

Fakt jedoch ist, das heute gezeigte Sterbez<strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Gasthaus „Zum Löwen“ in<br />

Staufen ist bestenfalls eine Touristenattraktion, dass Besucher nach gehorsamen<br />

Schnüffeln glauben, noch <strong>im</strong>mer einen feinen Geruch von Schwefel wahrzunehmen,<br />

ändert nichts daran, das Gasthaus „Zum Löwen“ ist nicht als <strong>Faust</strong>s To<strong>des</strong>ort belegt;<br />

wer dennoch das Gruseln lernen will, bucht in besagtem Gasthaus das Z<strong>im</strong>mer No.5.<br />

Sowohl in den Quellentexten als auch in den Indizien wird <strong>Faust</strong> zuvorderst als<br />

Astrologe und Wahrsager greifbar, warum bei der Diskussion um seinen gewaltsamen<br />

Tod nun der Alchemist nach vorne gerückt wird, ist nicht recht nachvollziehbar.<br />

„Dass er in der Alchemie von allen, die je gewesen … der Vollkommenste“, eine<br />

Textstelle <strong>im</strong> Schreiben <strong>des</strong> Abts Trithemius, ist der einzige Hinweis, dass <strong>Faust</strong> sich<br />

auch mit Alchemie beschäftigt haben könnte. Abgesehen davon, dass es sich bei dem<br />

Satz um eine Behauptung <strong>Faust</strong>s handelt, sollte es denkbar sein, dass <strong>Faust</strong><br />

ausgerechnet in einem Metier, in welchem er – falls überhaupt, noch auf seine alten<br />

Tage hochriskante Exper<strong>im</strong>ente machte? Exper<strong>im</strong>ente, die ihn zwar das Leben<br />

kosteten, <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer selbst jedoch keine Spuren der Verwüstung hinterließen? Der<br />

Manlius-Bericht weiß weder von Gestank noch von Zerstörung; das einzige was er<br />

vom unmittelbaren Moment <strong>des</strong> Ereignisses zu erzählen weiß: „Vmb Mitternacht ist <strong>im</strong><br />

Hause ein grosses getümmel worden.“<br />

Auch sei die Frage gestellt, um welche Art von Alchemie es sich wohl gehandelt haben<br />

mag. Dass <strong>Faust</strong> in seinem Z<strong>im</strong>mer eine Alchemistenküche eingerichtet hatte, es darf<br />

ausgeschlossen werden. <strong>Faust</strong> reiste offenbar mit wenig Gepäck, sollte es sich von<br />

daher um eine Art Westentaschen-Alchemie gehandelt haben, und was soll man sich<br />

darunter vorstellen? Den Inhalt zweier Reagenzgläser miteinander zu mischen, ist ein<br />

moderner Vorgang, in der Vorstellungswelt der Alchemisten ist es sinnloses Handeln,<br />

es lässt die Zusammenhänge <strong>des</strong> Mikro-Makrokosmos außer Acht.<br />

Doch falls <strong>Faust</strong> tatsächlich Gedanken abgreifen konnte, dann war es sich eventuell<br />

darüber klar geworden, dass das Gedanken- oder auch Glaubensgut der Alchemisten<br />

kein fest gefügter Bau war, vielmehr in Teilen von jedem einzelnen Alchemisten<br />

anders gedacht, gefühlt und umgesetzt wurde. Von daher wäre es denkbar, dass<br />

<strong>Faust</strong> tatsächlich recht kunstlos, gleichsam in moderner Weise, Substanzen mischen<br />

wollte.<br />

Andererseits sollte es <strong>Faust</strong>, dem Vielbeschlagenen, bekannt gewesen sein, was es<br />

bedeutete auf exper<strong>im</strong>enteller Basis zu arbeiten – zu seiner Zeit war es <strong>im</strong>mer ein<br />

Spiel mit dem eigenen Leben. War er obendrein tatsächlich derart verantwortungslos,<br />

dass er es riskierte die Herberge in Brand zu stecken, wenn nicht gar in die Luft zu<br />

sprengen?<br />

Ob nun ein gehe<strong>im</strong>nisvoller nächtlicher Besuch die Fantasie belebt oder die<br />

Vermutung, dass <strong>Faust</strong> vor einem entscheidendem Exper<strong>im</strong>ent stand, es bleibt ein Für<br />

und Wider, es dreht sich <strong>im</strong> Kreis.<br />

Dagegen heißt es <strong>im</strong> Text: „den tag vor seinem letzten ende / … gantz trawrig<br />

gesessen. Der Wirt fragt jn / Wie es keme / das er doch sonsten nicht pflegte.“<br />

<strong>Faust</strong>, den der Wirt bis dahin als gutgelaunten Menschen erlebt hat, hatte also von<br />

einem Tag auf den anderen Trübsinn geblasen, mehr noch, er war traurig an seinem<br />

Tisch gesessen. Man sollte meinen, Anspannung beherrscht einen Menschen, der<br />

233


schwierigen Verhandlungen oder einem chemischen Exper<strong>im</strong>ent entgegen sieht,<br />

jedoch wohl kaum Traurigkeit.<br />

<strong>Faust</strong>, der „gantz trawrig gesessen“, ist eine bedeutsame Information. Daraus und aus<br />

der Art wie der Teufelsbündner <strong>Faust</strong> ums Leben kam, dass es obendrein keinen<br />

fassbaren Täter gab, folgerten die Menschen seiner Zeit, dass <strong>Faust</strong> für seine grosse<br />

Hurerey, seinen Geschäften mit dem Teufel, zu einem best<strong>im</strong>mten Termin einen Preis<br />

zu zahlen hatte, dass es eine Absprache, einen Pakt gegeben hatte, bei <strong>des</strong>sen<br />

Ablauf der Teufel sich <strong>Faust</strong>s Seele holen durfte. Also war <strong>Faust</strong> „gantz trawrig<br />

gesessen“, weil er wusste, dass es mit dem schönen Leben vorbei war, weil er wusste,<br />

was ihm bevorstand.<br />

Behaupte niemand, unsere Ahnen konnten keine logischen Schlüsse ziehen.<br />

Darf man aus dem „gantz trawrig gesessen“ schließen, es stand nicht nur ein trauriges<br />

Ereignis bevor, es hatte sich auch bereits Ungewöhnliches ereignet, eventuell sogar<br />

höchst Ungewöhnliches? <strong>Faust</strong> war schließlich kein Neuling <strong>im</strong> Umgang mit kniffligen<br />

Situationen.<br />

Weiter heißt es bei Manlius: „Da hat er zum Wirt gesagt: So er etwas in der nacht<br />

hören würde solt er nicht erschrecken.“<br />

<strong>Faust</strong> geht auf die Frage <strong>des</strong> Wirts nicht ein; von der Verhaltenspsychologie her<br />

betrachtet, eine höchst wichtige Aussage. Sie legt nahe, die Darstellungen <strong>des</strong> Wirts<br />

sind tatsächlich wahr; denn dass <strong>Faust</strong> auf die joviale, allerweltskundenfreundliche<br />

Floskel <strong>des</strong> Wirts nicht eingeht, bestätigt seine Traurigkeit. Mehr noch, es scheint,<br />

<strong>Faust</strong> hatte sich in seiner Trauer ganz in sich zurückgezogen. War er in einem<br />

Zustand, den man mit weltfern umschreiben kann? Und dennoch, trotz seiner<br />

Teilnahmslosigkeit denkt er Stunden voraus, er hat ein Ziel. Er ignoriert die Frage,<br />

statt<strong>des</strong>sen kündigte er an, dass es in der Nacht etwas laut werden könnte, weiter sagt<br />

er, der Wirt solle sich dadurch nicht beunruhigen lassen.<br />

Könnte das bedeuten, dass allein <strong>Faust</strong> die Vorgänge best<strong>im</strong>mte, die dafür sorgten,<br />

dass „vmb Mitternacht <strong>im</strong> Hause ein grosses getümmel worden ist“?<br />

<strong>Faust</strong> am Tisch der Herberge, befand er sich in jener bekannten Verfassung von<br />

Apathie und Trance wie sie Selbstmörder erfasst, die nahezu empfindungslos<br />

geworden, mechanisch einem Punkt zustreben?<br />

Ist es zuviel zu sagen: <strong>Faust</strong> selbst hat seinen Tod geplant, den Zeitpunkt best<strong>im</strong>mt<br />

und den Tod herbeigeführt?<br />

Es scheint so zu sein. Klarsichtig, und das ist kein Widerspruch zur Starre, die ihn<br />

scheinbar erfasste, weiß er nicht nur, was er zu tun hat, er sieht auch die äußeren<br />

Umstände, die ihn hindern könnten. Er sagt zum Wirt, dass er nicht erschrecken solle;<br />

er baute also dem Eingreifen <strong>des</strong> Herbergsvaters vor.<br />

Nicht nur das, <strong>Faust</strong> hatte beschlossen, seinen Tod mit einem Rätsel, einem<br />

Gehe<strong>im</strong>nis zu umgeben. Sein Leben an sich war eine Inszenierung gewesen, stets<br />

hatte er seine Kunst mit tönenden Titeln und mit dem Walleruch einer Verbindung zu<br />

einem unhe<strong>im</strong>lichen „Schwager“ veredelt. Ein rätselhafter Tod – und wer kannte das<br />

Denken der Menschen in ihrem Aberglauben besser als <strong>Faust</strong> – war seine letzte<br />

Trumpfkarte.<br />

Wir wissen, <strong>Faust</strong> hat sich nicht geirrt, sein Tod war sein Sprung in die Unsterblichkeit.<br />

War er gewahr geworden, dass ein gesundheitliches Leiden doch schwerer war, als er<br />

bis dahin angenommen hatte? Hatte er als Arzt Symptome und Anzeichen bei sich<br />

entdeckt, die ihm verrieten, dass er sich <strong>im</strong> letzten Stadium einer Krankheit befand?<br />

Ich habe <strong>Faust</strong> telepathische Fähigkeiten unterstellt. Derartige Fähigkeiten können –<br />

aus welchen Gründen auch <strong>im</strong>mer – von heute auf morgen verschwinden. War <strong>Faust</strong><br />

gewahr geworden, dass er die Gedanken seiner Mitmenschen nicht mehr greifen<br />

konnte, dass er schlicht verhungern würde?<br />

Denkbar wäre es, obgleich er sich weiterhin als Arzt durchschlagen konnte und<br />

schließlich war da noch sein Ruf; mit dem Anschein lässt sich gaukeln. Auch sein<br />

Wissen über wichtige Personen war ein gutes Stück Brot, von dem er noch eine<br />

schöne Weile herunterbeissen konnte.<br />

234


Bei allen denkbaren Gründen, die ihn seinen Entschluss fassen ließen, es darf nicht<br />

außer Acht gelassen werden, <strong>Faust</strong> hatte, gemessen an seiner Zeit, ein hohes Alter<br />

erreicht. Ein Alter, in welchem Menschen sich in Gedanken mit dem Tod vertraut<br />

machen. Die Erkenntnis, dass er sich <strong>im</strong> letzten Stadium einer schweren Krankheit<br />

befand, sollte von daher kaum eine plötzliche Traurigkeit hervorrufen. Schließlich<br />

wusste er bereits seit längerer Zeit, dass er krank war, auch muss er sich bewusst<br />

gewesen sein, dass seine Lebensuhr an sich abgelaufen war. Er hatte gut gelebt, und<br />

er hatte mit dem Anspruch gelebt, jemand Besonderes zu sein.<br />

Er war „Doctor Jörg <strong>Faust</strong>us von Haidlberg“ und ein „Philosophus Philosophorum“,<br />

nicht zu vergessen ein „helmitheus“, und eine Berühmtheit sowieso.<br />

<strong>Faust</strong> legte also nicht unbedingt Wert darauf, jeden Tag noch auszukosten, sein<br />

Augenmerk war eventuell eher auf die Art <strong>des</strong> Sterbens gerichtet; ein Tod am<br />

Wegrand ist von geradezu entsetzlicher Beiläufigkeit.<br />

<strong>Faust</strong>, der gefangen in Traurigkeit am Tisch sitzt, entspricht wenig einem Menschen,<br />

der nach einem wahrhaft erfüllten Leben den letzten Entschluss gefasst hat, dem er<br />

zwar bangen Herzens und traurig entgegen sieht und dennoch gefasst, eventuell auch<br />

mit der lässig-verächtlichen Würde eines Hemitheus ins Auge schaut.<br />

<strong>Faust</strong>, an jenem Tisch, entspricht eher dem Bild eines verwundeten Menschen.<br />

Es scheint, dass <strong>Faust</strong> etwas Gravieren<strong>des</strong> über die Leber gelaufen ist, etwas, das ihn<br />

in tiefster Seele getroffen hat. Ein Mensch, der so sehr die Inszenierung liebte, mehr<br />

noch, der zu Lebzeiten bereits zum Mythos geronnen, ein Halbgott ist, nichts trifft ihn<br />

härter, als wenn jemand an seinem Lack kratzt, wenn er bei seiner Inszenierung<br />

gestört wird.<br />

Der Trithemiusbrief war seit einigen Jahren <strong>im</strong> Umlauf. Für <strong>Faust</strong> war der Inhalt <strong>des</strong><br />

Briefes kein Handicap. Im Gegenteil, der Brief war ein Empfehlungsschreiben. „Dieser<br />

Abt, dieser Möchtegernzauberer, der aus Sponhe<strong>im</strong> hinaus gesaust war … dieser Abt<br />

wagte zu behaupten, dass <strong>Faust</strong> ein Nichtskönner wäre … es darf gelacht werden!“<br />

Die Künste, die der Abt so gern beherrscht hätte, praktizierte <strong>Faust</strong> auf dem nächsten<br />

Marktplatz als Dreingabe. Wer möchte einem Telepathen widersprechen?!<br />

Seit August 1539 war allerdings der „Index Sanitatis“ in Umlauf, dass einige<br />

Exemplare <strong>im</strong> nachfolgenden Jahr bereits <strong>im</strong> oberen Rheintal anlangten, ist sehr<br />

wahrscheinlich; Worms liegt gleichsam um zwei Ecken.<br />

Begardi war kein Abt Trithemius, Begardi war ein ordentlicher Arzt der Scholastik, er<br />

hatte studiert. Seine Darstellung sprach gewiss jene an, die einmal selbst studiert<br />

hatten, sodann aber auch jene, die sich an <strong>Faust</strong>s anmaßendem Auftreten schon<br />

<strong>im</strong>mer gestört hatten.<br />

Und <strong>im</strong> „Index Sanitatis“ stand zu lesen: „<strong>Faust</strong>us … Wie vil aber mir geklagt haben,<br />

dass sie von jm seind betrogen worden …“<br />

<strong>Faust</strong>, ein notorischer Betrüger! Schwarz auf Weiß konnte es die Burgenschickeria<br />

lesen. Selbstredend auch die Gebildeten zwischen Straßburg, Freiburg und Basel.<br />

Und Begardi stempelt ihn nicht lapidar als Betrüger ab, er gliedert seine Darstellung.<br />

Als erstes bezeichnet er ihn als Hochstapler: „<strong>Faust</strong>us, domit sich geschriben<br />

Philosophum Philosophorum etc. Wie vil aber mir geklagt haben, dass sie von jm<br />

seind betrogen worden …“ <strong>Faust</strong> habe die Visitenkarte eines Aristoteles verwendet,<br />

um vielfachen Betrug zu üben.<br />

Sodann konkretisiert Begardi <strong>Faust</strong>s Vorgehensweise: „Nuon sein verheyssen ware<br />

auch groß, …aber die that, wie ich noch vern<strong>im</strong>m, vast kleyn vnd betrüglich erfunden.“<br />

Begardi macht den Leser darauf aufmerksam, bei <strong>Faust</strong> st<strong>im</strong>mte das Verhältnis von<br />

Angebot und Leistung nicht. Eine Feststellung, die den Leser zum Nachdenken<br />

anregte. Begardi schreibt weiter: „doch hat er sich <strong>im</strong>m gelt nehmen, oder empfahen –<br />

das ich auch recht red – nit gesaumpt, vnd nachmals auch <strong>im</strong>m abzugk, er hat, wie ich<br />

beracht, vil mit den ferßen gesegnet.“ Eine weitere Textstelle, die den Leser<br />

nachdenklich machte, ihn in seinen Erinnerungen kramen ließ.<br />

Falls es sich tatsächlich so verhielte, dass Begardi mit seinem “Index Sanitatis“ <strong>Faust</strong><br />

aus <strong>des</strong>sen irdischer Bahn warf, darf man es als Ironie <strong>des</strong> Schicksal, als aus-<br />

235


gleichende Gerechtigkeit bezeichnen. Begardi, der Akademiker, hatte <strong>Faust</strong>, dem<br />

Möchte-gern-Akademiker, endlich den Garaus gemacht.<br />

Könnte es sein, dass jemand <strong>Faust</strong> auf den „Index Sanitatis“ aufmerksam gemacht<br />

hatte? Schl<strong>im</strong>mer noch, war <strong>Faust</strong> gewahr geworden, dass man über ihn tuschelte,<br />

über ihn grinste? <strong>Faust</strong>, süchtig nach Ehre, in höchstem Maße ehrgeizig, war tief<br />

getroffen. Er befand sich in einer Lage, die er bis dahin noch nicht erlebt hatte; bis zu<br />

diesem Zeitpunkt war er stets derjenige gewesen, der sich gesonnt und über die<br />

andern gelacht hatte.<br />

War das die Situation, in der <strong>Faust</strong> der Entschluss packte, die Notbremse zu ziehen,<br />

zum Erhalt seines N<strong>im</strong>bus sich selbst in die Waagschale zu werfen?<br />

Es handelt sich um eine Annahme, eventuell hatte man ihn nur in einer höchst<br />

lächerlichen, kompromittierenden Situation ertappt.<br />

Ein rätselhafter Tod war seine letzte Trumpfkarte, <strong>Faust</strong> war bereit sie zu spielen.<br />

Ich habe mich über die Umstände, unter welchen <strong>Faust</strong> seinen Entschluss fasste,<br />

seinen Tod als grausigen Mord zu zelebrieren, mit einem Kr<strong>im</strong>inalbeamten unterhalten.<br />

Seine Antwort: „Phantasieren Sie, re<strong>im</strong>en Sie sich zusammen, wozu Sie Lust<br />

haben! Gerade was den Tod angeht, einen Mord als Selbstmord, einen Selbstmord als<br />

Mord aussehen zu lassen, sind Menschen äußerst erfindungsreich.“<br />

Man darf wohl davon ausgehen, <strong>Faust</strong> wollte nicht qualvoll sterben. Das war auch<br />

nicht nötig, <strong>Faust</strong> war mit den Zusammensetzungen und Wirkungen verschiedener<br />

„Hexenflugsalben“ vertraut. Entsprechend überdosiert führte die eine oder andere zu<br />

plötzlich eintretender Bewusstlosigkeit. Falls er sich für einen Genickbruch<br />

entschieden hatte, musste er unter Berücksichtung seiner Schulterhöhe einen Stuhl in<br />

entsprechenden Abstand zur Bettkante stellen, den Stuhl besteigen, sich mit der Salbe<br />

einschmieren …<br />

Der harte Aufschlag, der dumpfe Aufprall, ein stürzender Stuhl erzeugen einen Lärm,<br />

der in der mitternächtlichen Stille eines Holzhauses nicht zu überhören ist.<br />

Soweit die Rohskizze, auf welche Weise sich <strong>Faust</strong> vom Teufel ermorden ließ.<br />

Jede Leserin, jeder Leser lässt sich freilich anders ermorden.<br />

„Ich wil es jetzt auch do bei lassen, luog du weiter, was du zuschicken hast.“<br />

*<br />

<strong>Faust</strong> – ein Leben in der Sternenschale<br />

Impression, Suche und Versuch – Evokation und Abgesang<br />

<strong>Faust</strong> zählt zwölf! Konstantinopel ist tot, Venedig träumt, langsam der Puls! Columbus!<br />

Er hat die Richtung gewechselt. Aber wer glaubt schon, dass ein Tor bricht? Schon<br />

spürt man die Schläge, hinauf bis an`s Herz, Unruhe <strong>im</strong> Land und schon wieder ein<br />

Vogt, mit dem Arsch <strong>im</strong> Dreck. Die Gans war für den Fuchs und der Spott für die<br />

Herren, böse Fingerzeichen für die Geistlichkeit, die nun ja, aber der Herr Jesus war<br />

selber ganz arm. Der Boden zittert. Gib mir die Trommel!<br />

Bald wird Luther ein Papier an die Kirchentür hängen, Spanien einen Kontinent, Bauern<br />

die Klöster und Burgen verbrennen, der Frundsberger mit seinen Landsknechten Rom<br />

vergewaltigen, Nacht um Nacht die Kirche erneuern, bald werden die Fürsten zu Luther<br />

überlaufen, doch vorher in seltener Eintracht den Bauern eine aufs Maul hauen! Bald!<br />

Und dieses Bald ist so mächtig, dass es schon beinahe ein Jetzt und in diesem Jetzt da<br />

lebt <strong>Faust</strong>. Und macht sich auf und fort in sein Leben. Schwarz ist die Nacht, Sterne!<br />

Wo seid ihr?<br />

<strong>Faust</strong>, Kind dieser Zeit und diese Zeit, er ist es selbst! Schaut seine Augen! Wo andere<br />

mit geblähten Segeln nach Privilegien und Prozenten haschen, noch schnell Isabella<br />

und die Krone für angemalte Indianer, denn Wissen ist Macht und wer da draußen war,<br />

der weiß. Die Karten, mein Kaiser, wie viel Schritte darf ich …? Halt! <strong>Faust</strong>, den<br />

Aufbruch hinter sich und ohne Segel, aber <strong>im</strong> Wissen, dass ihm nichts verwehrt, so er<br />

nur will und wollte mit dem ersten Wort, dazu ein paar Bücher und die lange Straße für<br />

das, was in keinem Buch, nur in sich selbst, die Welt als Spiegel. Schatten am Feuer<br />

236


und kein Stechen in der Brust. Wo andere noch mit Gewalt das alte, bekannte,<br />

vertraute, bangvoll die Frage nach Zukunft, auf verbriefte Rechte, denn hörig bleibt<br />

hörig, da weiß <strong>Faust</strong> schon, wie man den Stecken schneidet, das Stroh drischt und die<br />

Bauern sticht, <strong>im</strong>mer in die Beutel! Aufruhr und Dreck. Keinen Deut besser als die<br />

Herren, aber Tölpel! Pechnasen als Galgen!<br />

Warum? Nur auf mich! Was denn sonst? Auch nicht auf einen Geleitbrief, abgesegnet<br />

mit den Fersen. Dumm genug, sich auf der Welle der Erregung, in die Schlachtreihe,<br />

mit einer alten Welt an neuen Ufern in Scherben schlagen, und wieder zurück, <strong>im</strong>mer<br />

zum Anfang und die Kraft in ewig menschlicher Mäßigkeit zu verbrauchen. Aber hinauf<br />

auf die Welle und Schwung für den Absprung, weder Hoffen noch Bangen und erst<br />

recht keine Ewigkeit, nur die Fähigkeit, hier, jetzt und <strong>im</strong>mer der Vorteil.<br />

Christentum? Erzähl mir was! Ganz recht! Soll einer nur an den einen Gott glauben,<br />

den Einen! Den Stecken her! Dummkopf! Schöpfer der Welt? Woher kommt das Böse,<br />

Herr Magister? Weiß er nicht! Weil er Ja und Amen sagt, den Kopf in der Magd und<br />

den Schädel zu klein, dass auch Luzifer Platz hat. Immer zwei! Abel und Kain! Am<br />

Anfang war. Ach was! Hier!<br />

Rufe und der Geist muss Dir bringen: Moses, Dominus Magus Magorum, Baalam,<br />

Daniel, Jesus, Eloh<strong>im</strong>. Im Kreis die Viertelstunde, Stunden <strong>des</strong> Euphrat, Feuer <strong>des</strong><br />

Horeb, aber farsisch das Zeitherz! Die Bücher <strong>des</strong> Mose verboten, darüber die Kirche,<br />

gekreuzte Kerzen. Dreizehn!<br />

Also! Die sieben Todsünden auf einmal, Vorwärts. Ohne Spieß und Fähnlein der<br />

wehenden Gnade der Geburt, nur Kraft meiner selbst! Banges Herz, schön ist die<br />

Monstranz und die Kirche, <strong>im</strong> Spiegel feuchter Stufen, Luzifer lächelt. Komm, diese<br />

Umarmung! Schaut auf mich: Die Macht. Meine Haut ist dunkel, dunkler meine Augen –<br />

ich bin Sabiner! Und – Schwester der Eva! Schwarz standen Äste, Griff zu den Sternen<br />

und – Verfehlt! Verfluchte Dilettantin! Aber her da! Und Du <strong>im</strong> roten Wams, bist näher<br />

als Du denkst!<br />

Betbruder? Schulmeister? Arzt? Sterndeuter? Schert Euch! In dieser Zeit? Alles! Oder<br />

ein Nichts! Und mit dem Tod ist alles aus! (Juli 2002, Minden)<br />

***<br />

Begleittexte<br />

Menschenopfer<br />

Es war um 700, der Häuptling Radbold stand bereits am Taufbad, als er von Wulfram<br />

wissen wollte, wie es sich mit der Auferstehung der verstorbenen ungetauften<br />

Häuptlinge verhielte. „Täusche dich nicht, edler Fürst!“ antwortete Wulfram, „Bei Gott<br />

allein sind die Auserwählten! Deine Vorgänger, die ungetauften Friesenhäuptlinge, sie<br />

haben das Urteil der Verdammnis zu empfangen!“ Da verzichtete Radbold auf die<br />

Taufe. Er meinte, er wolle lieber einst bei den Häuptlingen sitzen, als mit einer kleinen<br />

Zahl von Armen <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel.<br />

In der „Vita Corbiniani“ von 720 wird berichtet, der heilige Corbinian verprügelte in<br />

Freising ein Zauberweib; sie kam gerade vom Herzog, sie hatte <strong>des</strong>sen Sohn von<br />

Geistererscheinungen befreit. Das Zauberweib lief darauf schreiend zur Herzogin,<br />

diese sah das blutverschmierte Gesicht der Hexe und ergr<strong>im</strong>mte.<br />

Auch die weltliche Oberschicht nahm damals also die Dienste von Hexen und Heilern<br />

in Anspruch. Die Kirche sah sich einem Heidentum gegenüber, das nicht nur <strong>im</strong> Volk<br />

verankert war, sondern auch von der Oberschicht gepflegt wurde. Die Kirche trug den<br />

Gegebenheiten in sofern Rechnung, als sie kirchliche Feiertage auf heidnische<br />

Festtage legte und Gottheiten durch Schutzpatrone ersetzte; gegen das Heidentum<br />

selbst, aber auch gegen die damit verbundene Barbarei musste sie sich jedoch<br />

entschieden abgrenzen.<br />

Im Jahr 563 stellte die Synode von Bracara fest: „Wer da glaubt, dass der Teufel, weil<br />

er einige Dinge in der Welt hervorgebracht hat, auch aus eigener Macht Donner und<br />

Blitz, Gewitter und Dürre vermöge, der sei verflucht.“<br />

237


Das <strong>im</strong> Jahre 742 versammelte Concilium Germanicum befahl: „…jeder Bischof soll in<br />

seiner Parochie mit Beihilfe <strong>des</strong> Grafen darauf bedacht sein, dass das Volk keine<br />

heidnischen Gebräuche mehr beobachte, als da sind: heidnische Totenopfer,<br />

Losdeuterei, Wahrsagerei, Amulette, Augurien, heidnische Opfer, welche die Toren oft<br />

neben den christlichen Kirchen den Märtyrern und Bekennern darbringen, oder die<br />

sakrilegischen Feuer, welche sie Nodfyr nennen.“<br />

Die Synode von Paderborn <strong>im</strong> Jahr 785 bedrohte jeden mit dem Tod, der, vom Teufel<br />

verführt, nach Art der Heiden glaubt, jemand sei eine Hexe und fresse Menschen, und<br />

verbrenne sie <strong>des</strong>halb.<br />

Ein Dekret aus dem Jahr 799 besagt: „Zauberer, Zauberinnen und dergleichen sollen<br />

eingekerkert und durch den Erzpriester womöglich zum Geständnis gebracht werden;<br />

aber am Leben darf ihnen nichts geschehen.“<br />

Um 820 berichtet Bischof Agobart von Lyon, dass die Leute fest an Teufel glauben; sie<br />

sprechen von ihnen als fliegende Drachen und glühende Schlangen, die durch Fenster<br />

und Kamine drängen und mit ihren Verbündeten Umgang pflegen. Viele, manchmal<br />

sogar ganze Dörfer, würden zur eigenen Sicherheit ein Bündnis mit dem Teufel<br />

eingehen, und freiwillig würden sie den Wettermachern und Zauberern einen jährlichen<br />

Tribut entrichten, damit diese den Feldern keinen Schaden durch Hagel, schwere<br />

Regen oder Misswuchs zauberten.<br />

Auch bei der Reformsynode von Paris <strong>im</strong> Jahr 829 wird Hexerei als ein <strong>im</strong> Volk<br />

spukender Aberglaube erwähnt.<br />

Im Jahr 832 berichtet Bischof Agobart, dass die Leute glauben, dass Zauberer in<br />

Schiffen durch die Luft fahren, um aufgeflogene Schätze einzusammeln, und dass er<br />

große Mühe gehabt hätte, vier Männer und eine Frau aus den Händen <strong>des</strong> Pöbels zu<br />

befreien; der Pöbel glaubte, diese fünf Mensch wären aus einem solchen Luftschiff<br />

gefallen. „So weit“ schreibt Agobart, „ist es mit der Dummheit der Menschen<br />

gekommen, dass man jetzt unter den Christen an Albernheiten glaubt, die in früheren<br />

Zeiten sich kein Heide aufbinden ließ.“<br />

Und Papst Gregor VII. (1073-1085) forderte den König von Dänemark auf, es zu<br />

verhindern, dass in seinem Land bei eintretenden Unwettern und Seuchen<br />

beschuldigte Frauen als Zauberinnen verfolgt würden.<br />

Diese Texte belegen zum einen eine stark verwurzelte Volksreligion, zum andern, dass<br />

entgegen dem Willen der Kirche, es laufend zu wilden Übergriffen seitens der<br />

Bevölkerung gegen einzelne Personen kam, die unter anderem der Schadzauberei und<br />

der Menschenfresserei verdächtigt und verbrannt wurden.<br />

Um das Jahr 1000 beginnt sich die Position der Kirche gegenüber dem Hexenwesen zu<br />

verändern. Sie hat den Wandel zur Adelskirche abgeschlossen, das bedeutet, ihre<br />

Amtsträger stammen nun aus dem Adel; der weltliche Adel macht sich die Auffassung<br />

der Kirche über das „Hexenwesen“ zu Eigen. Zeitgleich ist auch die Bildung der<br />

Feudalgesellschaft, die Abriegelung gegenüber den unteren Volksschichten<br />

abgeschlossen; Hexen und Heiler haben verstärkten Zulauf.<br />

Im „Corrector sive medicus“ von Worms um 1010 werden Kirchenbußen für den<br />

Glauben an reitende Frauen, das Beten an Quellen und für das Hinterlegen von<br />

Kräutern zum Schutz der Tiere ausgesprochen. „Dagegen sollen Wahrsager<br />

ausgepeitscht und verbannt werden. Zauberer, Wettermacher und Weiber, die<br />

vorgeben, sie könnten durch Dämonen das Gemüt der Menschen verändern und auch<br />

nachts auf Tieren reiten, die sollen aus der Pfarrei ausgewiesen werden.<br />

Priester, die dergleichen tun, sollen degradiert werden.“<br />

Letzteres kann nur bedeuten, die Volksreligion ist derart mächtig, sie weicht das<br />

kirchliche Priestertum auf. Was nicht weiter verwunderlich ist, die Mönche und Priester<br />

kommen aus dem Volk.<br />

In der Gesetzgebung <strong>des</strong> ungarischen Königs Stephan I. (997-1038) heißt es:<br />

„Der Zauberer, der Menschen an Leib und Seele schädigt, begeht ein bürgerliches<br />

Verbrechen, und soll darum dem Geschädigten oder den Angehörigen <strong>des</strong>selben zu<br />

beliebiger Behandlung übergeben werden.<br />

238


Dagegen gilt die Hexerei als Dämonendienst und als rein kirchliches Vergehen. Wenn<br />

man eine Hexe finde, soll sie in die Kirche geführt und einem Geistlichen empfohlen<br />

werden, der sie zum Fasten und Erlernung <strong>des</strong> Glaubens anhalte.<br />

Werde sie zum andern Mal über demselben Vergehen ergriffen, so solle sie wieder<br />

fasten, darauf aber mit den glühend gemachten Kirchenschlüsseln folgendermaßen<br />

gebrandmarkt werden: … Be<strong>im</strong> dem dritten Betretungsfall solle sie einem weltlichen<br />

Gericht übergeben werden.<br />

Wer Wahrsagerei betreibt, solle vom Bischof mit Geißelhieben auf den rechten Weg<br />

zurückgebracht werden.“<br />

Der Ausdruck „Be<strong>im</strong> dritten Betretungsfall solle sie einem weltlichen Gericht übergeben<br />

werden.“ ist eine Umschreibung für den in der Praxis geübten Vollzug der To<strong>des</strong>strafe<br />

für Hexerei; die Kirche selbst verfügte über keine Blutgerichtsbarkeit, sie brauchte den<br />

weltlichen Arm.<br />

In diesem Gesetzestext ist die To<strong>des</strong>strafe für Hexerei erstmalig belegt; interessant<br />

auch die Unterscheidung zwischen Zauberei und Hexerei, zwischen bürgerlichem und<br />

kirchlichem Verbrechen.<br />

Am 18. Juni 1090 ereignet sich die letzte überlieferte wilde Hexenverbrennung.<br />

Die Bewohner von Vötting verbrennen drei Frauen an der Isar. Priester und Verwandte<br />

bergen die Asche der Ermordeten und begraben sie <strong>im</strong> Vorhof <strong>des</strong> Klosters<br />

Weihenstephan, in der Hoffnung, dass sie in Wahrheit der christlichen Gemeinschaft<br />

würdig seien.<br />

Abgesehen von diesem Bericht aus dem Bayrischen, präsentiert sich die Zeit zwischen<br />

1100 und 1400 dann merkwürdig ereignislos, wilde oder auch „ordentliche“<br />

Hexenverbrennungen scheinen in den Überlieferungen nicht mehr auf.<br />

Autoren, die das Thema „Hexenprozesse“ bearbeiten, nehmen dieses Vakuum nicht<br />

zur Kenntnis oder verweisen auf die Kreuzzüge, die etwas Licht und neue Nachrichten<br />

in die Köpfe der Menschen gebracht hätten.<br />

Oder sollte es gar so gewesen sein, dass mit den Kreuzzügen, der Entsorgung der<br />

Ritter und ihres rauflustigen Anhangs in das Heilige Land, man sich die schl<strong>im</strong>msten<br />

Mordbuben vom Hals geschafft hatte? Die aktuelle Forschung ist sich recht sicher,<br />

dass Kirche und Herrscher gute Gründe hatten, die Ritter auf Jerusalem los zu lassen.<br />

„… unerbittlich geht aller Indienhandel ausschließlich durch türkische und arabische<br />

Hände. Damit … wird nicht nur die Ware verteuert … dem christlichen Handel der<br />

Gewinn abgemelkt … es droht der Überschuss an Edelmetall … abzufließen, da die<br />

europäischen Waren bei weitem nicht den Wert der indischen Kostbarkeiten (Gewürze)<br />

erreichte … Die Kreuzzüge waren keineswegs ein bloß mystisch religiöser Versuch, die<br />

Stätte <strong>des</strong> Heiligen Grabes den Ungläubigen zu entreissen; diese erste euopäischchristliche<br />

Koalition stellte die erste logische und zielbewusste Anstrengung dar, jene<br />

Sperrkette zum Roten Meer zu durchstoßen … (aus „Magellan“, Stefan Zweig, Kap.<br />

Navigare necesse est)<br />

Und: Die Ritter untergruben in ihrer Arroganz die Autorität der Kirche.<br />

Die Ritterschaft respektierte an sich niemand, außer den Kaiser. Stolz und selbstherrlich<br />

trotzte sie der Geistlichkeit, focht ihre blutigen Ehrenhändel und besudelte<br />

absichtsvoll den Tag <strong>des</strong> Herrn: Sonntags wurden die Turniere geritten. Damals noch<br />

mit Blankwaffen, zweifelsfrei auch mit verrücktem To<strong>des</strong>mut und nicht selten mit<br />

tödlichem Ausgang.<br />

Es spricht nichts dagegen, dass die Kreuzzüge Erleichterung brachten; den Rittern und<br />

ihren Gefolgsleuten hatte sich auch eine große Menge Volk angeschlossen; Landlose,<br />

Nichtsesshafte, Abenteurer, entlaufene Knechte. Ein Heerwurm, der sich durch die<br />

christlichen Balkanländer in Richtung Palästina fraß und dabei eine Spur der<br />

Verwüstung auf vierzig Kilometern Breite zurückließ.<br />

Andererseits, ein derart stark verwurzeltes Heidentum, kann nicht plötzlich verschwinden.<br />

Und wie bereits dargestellt, die Volksmagie ist weiterhin quicklebendig, nur<br />

dass eben keine Hexen mehr verbrannt werden. Wo sind Zorn, Verachtung, Schadenfreude<br />

und die Lust am Schauder geblieben? Hatten die Hexen gar ihr „Handwerk der<br />

Schadzauberei“ aufgegeben, weil sie die neuen harten Gesetze fürchteten?<br />

239


Oder gab es plötzlich nur noch goldene Ernten, fette Schweine und gesunde Kinder,<br />

was damals nur bedeuten konnte, dass nur noch Nutzzauber geübt wurde?<br />

Die Erklärung für diese Leerstelle von 300 Jahren wird an anderer Stelle gereicht.<br />

An dieser Stelle sei jedoch festgehalten, Hexerei, Zauberei, wie auch <strong>im</strong>mer, werden<br />

nun hart bestraft. Die nachfolgenden Zitate belegen, dass die Gesetze laufend<br />

verschärft wurden, aber ebenso, dass sie kaum oder auch gar keine Anwendung<br />

fanden.<br />

Analog zum Gesetz <strong>des</strong> ungarischen Königs Stephan I. wird <strong>im</strong> Sachsenspiegel von<br />

1225 die To<strong>des</strong>trafe festgeschrieben: Ungläubige Christen, Zauberer und die mit Gift<br />

umgehen „sol man uph der hurt burnen.“ Verbrennung auf dem Reisighaufen also, das<br />

ist mehr als die To<strong>des</strong>strafe, es ist ein grausamer Tod. In diesem Gesetzestext ist die<br />

Verbrennung erstmalig be<strong>im</strong> Namen genannt.<br />

Fraglos besteht dabei ein Zusammenhang mit dem 4. Laterankonzil von 1215 sowie mit<br />

dem Edikt „Cum ad conservandum“ <strong>des</strong> Kaisers Friedrich II. <strong>im</strong> Jahr 1224 und den in<br />

dieser Zeit tobenden Ketzerkriegen, siehe „Juden, Republikaner, Ketzer, Hexen“.<br />

Die theologische Überlegung zur Verbrennung geht dahin, dass die Verurteilten sich<br />

Satan verpflichtet hätten und bei ihrer Auferstehung das Millionenheer teuflischer<br />

Dämonen verstärken würden; durch das Feuer werde die Seele jedoch gereinigt.<br />

Auch der Schwabenspiegel, ein Gesetzbuch von 1240, bestätigt das Verbrennen von<br />

Zauberern. Erstmalig werden aber auch deren Mitwisser erfasst: „den sol man das<br />

houbet abslahn.“<br />

Ruprecht von Freising bestätigt 1328 <strong>im</strong> Stadt- und Landrechtsbuch das Verbrennen<br />

von Zauberern, er schreibt weiter, dass „welicher richter diese untat nicht richt“, dem<br />

soll sein oberster Richter die Strafe <strong>des</strong> Übeltäters auferlegen.<br />

Eine Textstelle, die auf Desinteresse seitens der Richter schließen lässt.<br />

Erst ab etwa 1400 sind wieder einzelne Hexenverbrennungen überliefert.<br />

Das Berliner „Stadtbuch“ blieb erhalten. Berlin verfügte über die Hochgerichtsbarkeit,<br />

einfache Delikte wurden damals noch unter den Dorflinden verhandelt, schwere<br />

Verbrechen mussten an Berlin abgegeben werden.<br />

Im Zeitraum von 1399 bis 1448 wurden insgesamt 121 Personen zum Tode verurteilt<br />

und, abhängig vom Delikt, auf das Rad geflochten, enthauptet, gehenkt, lebendig<br />

begraben…<br />

Die To<strong>des</strong>urteile nach Art <strong>des</strong> Delikts aufgeschlüsselt: Pferdediebstahl (35),<br />

Straßenraub (24), Gewalttätigkeit (9), Kirchenraub (6); jedoch nur 5 Personen – man<br />

entschuldige das „nur“ – wurden wegen Zauberei und Giftmischerei verbrannt.<br />

Mit dem Tod durch Verbrennen konnten neben Zauberei und Giftmischerei auch<br />

andere Delikte bestraft werden: Kuppelei, Falschmünzerei, Kirchendiebstahl, Betrug<br />

und das Spielen mit falschen Würfeln.<br />

Zwischenruf: Neben dem Vorwurf der Zauberei ist auch laufend die Rede von Gift. Der<br />

Autor Joach<strong>im</strong> Bumke weist in „Höfische Kultur, Band 1“ auf die hohe Zahl von<br />

Giftmorden hin. Er zählt prominente Opfer auf: 1160, Erzbischof Arnold von Mainz;<br />

1192, Bischof Albert von Lüttich; 1202, Reichskanzler Konrad von Querfurt; 1231,<br />

Herzog Ludwig I. von Baiern.<br />

Der Autor verweist <strong>des</strong>weiteren auf das „Wormser Hofrecht“ von 1024, wonach selbst<br />

auch unter den Unfreien nahezu täglich gemordet wurde: „…homicidia…que quasi<br />

cottidie fiebant infra familiam sancti Petri.“ ( … Morde … die gleichsam täglich in der<br />

Gemeinde geschahen.)<br />

Aus dem Jahr 1447 ist die Verbrennung von Wettermacherinnen in Heidelberg<br />

überliefert und zwar in Form einer Bittschrift. Sie eröffnet: „Hör und merk, o hochgelobter<br />

Fürst, ain grosse sach….“ Es folgt die Wiedergabe eines Geständnisses von<br />

Zauberei einer gewissen Frau Götscham.<br />

Die Bittschrift endet mit: „O tugendernreicher fürst, hör und merck, wie schwär groß<br />

sünd das ist, und was es an dich chom, so leid der weiber kaine.“<br />

240


Offenkundig geht es dem Verfasser darum, den Fürsten zu bewegen, dass dieser seine<br />

Beamten zu einer entschiedenen Verfolgung drängen möge.<br />

In diesem Sinne, es wurde bereits erwähnt, hatte Papst Eugen IV. bereits zwei<br />

„Hexenbullen“ erlassen; <strong>im</strong> Jahre 1437, sodann <strong>im</strong> Jahr 1445.<br />

Der „Richterlich Klagspiegel“ von 1450 sagt, jene, die böses Wetter und Hagel<br />

abwehren, sollen nicht gestraft werden. Der To<strong>des</strong>strafe jedoch würdig sei: das Töten<br />

von Menschen durch Gift oder Zauberei, das Divinieren (Verehren), das Verbiegen <strong>des</strong><br />

Gemüts, um Liebe und Begierde zu erzeugen.<br />

Der „Klagspiegel“ sagt weiter, dass die „augures“, die Deuter von Träumen,<br />

Vogelschrei und Vogelflug zu meiden seien, wer dawider handele, <strong>des</strong>sen Eigentum<br />

werde allgemein verteilt, er selbst verwiesen.<br />

Die Androhung, dass <strong>des</strong>sen Eigentum allgemein verteilt werde, könnte so interpretiert<br />

werden, dass man die Dorfgemeinschaft aufzureizen suchte, Anzeigen zu tätigen.<br />

Anzumerken auch, selbst Traumdeuter werden nun den Hexen zugeordnet.<br />

Es muss allerdings, vermutlich in Zusammenhang mit Missernten, zwischen 1400 und<br />

1500 drei größere Hexenverfolgungen gegeben haben. Um 1428 <strong>im</strong> Wallis, sodann um<br />

1460 <strong>im</strong> Raum Württemberg und zuletzt <strong>im</strong> Jahr 1480 jene in Flandern, die wegen<br />

großer Empörung abgebrochen werden musste und die Hexenbulle <strong>des</strong> Jahres 1484<br />

nach sich zog.<br />

Nachdem auch die Umsetzung der Hexenbulle von 1484 seitens der geistlichen und<br />

der weltlichen Lan<strong>des</strong>herrn blockiert wird, ziehen Prediger durch die Lande und fordern<br />

den Feuertod der Hexen; obgleich, die Hexenbulle sagt es mehrfach, es um<br />

„Ausschreitungen“ geht. Freilich wurde auch gegen die „Ausschreitungen“, gegen die<br />

Unruhe unter den Bauern, unter Verweis auf die gottgewollte Ordnung gepredigt, was<br />

allerdings eine zweischneidige Sache war, das Ansehen der Kirche war durch ihre<br />

eigene „Unordnung“ schwer beschädigt, sie selbst stand in der Kritik.<br />

Erhalten geblieben sind Predigten über das Treiben der „Nacht fahrenden Frauen“, so<br />

zum Beispiel <strong>des</strong> Predigers Geiler von Kayserberg.<br />

In Wikipedia findet sich bei Aufruf „Geiler von Kayserberg“ folgende Information:<br />

„Wie Thomas Murner war auch er als Dozent für Theologie an der Universität von<br />

Freiburg tätig, beide gelten neben Erasmus von Rotterdam und Sebastian Brant als die<br />

herausragenden Satiriker, die das Narrentum ihrer Zeitgenossen aufs Korn nahmen.“<br />

Hören wir, was der Volksprediger und Humanist Thomas Murner in Straßburg, als<br />

Satiriker, der das Narrentum seiner Zeitgenossen aufs Korn nahm, dem Volk um 1510<br />

zu sagen hatte:<br />

O gott / o gott / erhör myn bit<br />

Warumb verschluckts das erdtrych nit<br />

So sy doch dich verleugnet handt<br />

Und zu dem bösen tüfel standt<br />

Dem sy geben sel und lyb<br />

O du böses altes wyb<br />

…<br />

Wie bist so blindt in disen sachen<br />

Das du wenst du kynnest machen<br />

Wetter / hagel / oder schne<br />

Kinder lemen / darzu me<br />

Uff gesalbten stecken faren<br />

Wir wöllens dir net lenger sparen<br />

Nun ins feür und angezindt<br />

Und ob man schon kein hencker findt<br />

Ee das ich dich wolt lassen gan<br />

Ich wolts ee selber zinden an<br />

241


Beachtenswert die Zeile „Und ob man schon kein hencker findt“. Sie ist ein weiterer<br />

Hinweis, dass die gewünschte umfassende Hexenverfolgung nicht in Gang kommen<br />

will. Nicht weniger wichtig ist der Satz: „Ee das ich dich wolt lassen gan / Ich wolts ee<br />

selber zinden an.“ Er kann als Aufruf zur Selbstjustiz gelesen werden.<br />

Das wortgewaltige Engagement der Kirche – freilich auch anderer, wird seitens der<br />

Bevölkerung wohl als unnötige Eiferei und Bevormundung verstanden. Man sieht in<br />

den Hexen nicht das große Problem schlechthin; einige müssen zwar gelegentlich<br />

verbrannt werden, doch <strong>im</strong> Allgemeinen hat man sich eingerichtet, man versteht damit<br />

zu leben. Auch zauberte man selbst ein wenig herum.<br />

Es wird allerdings nur eine Frage der Zeit und der dazu passenden Ereignisse sein,<br />

dass diese s<strong>im</strong>pel gestrickte und daher recht eingängige Propaganda, die bereits den<br />

Kleinsten in die Ohren geklingelt wird, als böse Saat aufgeht.<br />

Und auch Luther ist ein Hexenprediger. In jener Predigt von 1526 heißt es:<br />

„Es ist ein überaus gerechtes Gesetz, dass die Zauberinnen getötet werden, … “<br />

Auch er mahnt die Hexenverfolger wegen ihrer Lauheit wenn er <strong>des</strong>weiteren sagt:<br />

„denn sie richten viel Schaden an, was bisweilen ignoriert wird.“<br />

Nicht anders Paracelsus, 1531 schreibt er: „Magica … ist größte Weisheit aller übernatürlicher<br />

Dinge auf Erden … magica ist … reine Kunst, nit durch ceremoniis und<br />

coniurationibus (Verschwörungen) besudelt wie etwa die nigromantica … allein der<br />

Glaub, von dem Christus sagt: Der berge versetzt … Geistern und Ascendenten zu<br />

gebieten hat. Aber da ist Aufmerkens hoch von nöten, dass … der Glaube nicht zum<br />

Aberglauben, den Mensch nicht zum Schaden werde. Denn so wird Zauberei daraus.<br />

Wie denn alle Hexen tun, die sich in diese Kunst eingeflickt, sich darinnen geübt und<br />

sich mit ihr umgeben, wie eine Sau <strong>im</strong> Kot. … so ist es nicht unbillig noch unrecht, dass<br />

man sie und alle Zauberer mit Feuer hinzurichtet. Denn sie sind die schädlichsten Leut<br />

und die bösesten Feind. … was auch <strong>im</strong>mer ein Mensch untern<strong>im</strong>mt, nichts schützt ihn<br />

vor dem Zauber; er könnte einen Harnisch tragen, sich in sein Haus einsperren – den<br />

Hexen stünde alles offen“ Paracelsus empfiehlt das innere Gewand, das Pfait (bayr.<br />

Pfoat) also das Hemd, links herum zu tragen, der Glaube, dass es hilft, der hilft. Er<br />

schließt mit dem Hinweis, „niemand kann einem besser helfen, denn das böse Mensch<br />

… so einem solches zugefügt hat.“<br />

1535 ersuchte ein Ungenannter den Magistrat von Straßburg, den Druck einer Schrift<br />

zu gestatten. Der Inhalt behandelte das Treiben <strong>des</strong> Teufels in Schiltach, einem<br />

Städtchen, das Hexen angezündet hätten.<br />

Der Magistrat lehnte ab, „er wolle mit dem Teuffel nichts zu schaffen haben“.<br />

Breite Hexenverfolgungen stießen also auf keine Gegenliebe. Man war abergläubisch<br />

und dennoch, der Horizont der Menschen hatte sich geweitet. Keineswegs so zu<br />

verstehen, dass es die Menschen zu Aufgeklärtheit drängte, dafür war es noch zu früh,<br />

die Menschen waren unentschieden, sie schlingerten gleichsam zwischen einem<br />

„sowohl“ als „auch“; wobei letztlich noch <strong>im</strong>mer der Aberglaube den Ausschlag gab.<br />

Die innerkirchlichen Zustände führten zu kritischer Betrachtung der Kirche. Auch<br />

diskutierte man über Herrschaft und Recht, und trotz allen Aberglaubens wusste man<br />

gut den Bezug zwischen Ursache und Wirkung herzustellen. Als es von 1529 bis 1534<br />

zu einer Hungerkrise kommt, berichtet ein Sebastian Franck, Lebensmittelspekulationen<br />

wären die Ursache gewesen.<br />

„Eyn theürung vnd gählinger hunger brach an <strong>im</strong> M.D.xxix.jar / bals nach der ärndt / nitt<br />

alleyn wie vormals inn mangel deß brots / sunder in allen dingen kam eyn gähling<br />

auffsteigen vnd ein schreck ins volck / dz die leüt bei habenden dingen wollten<br />

verzagen … Diese theürung schreiben vil allein der vntrew der menschen vnd dem<br />

wucherischen fürkauff zu / die alles auffkauffen / wz der liederlich gemein man hat …<br />

man musz jr lied singen / vnd nach jrem willen bezalen / … Dann der gemein man ist<br />

erschöpfft / darzu liederlich (verarmt) / vnnd sitzt nun in angestelter gult hart<br />

(verschuldet) in der herrschafft / also / das was ym wechßt / nit sein ist / so es dann<br />

dem reichen in sein handt kumpt / so kann ers erwarten / biß man jm seines gefallens<br />

seines willen macht.“<br />

242


Das Volk hatte geistig aufgerüstet, auch gegenüber seinen Zauberern.<br />

Man darf sagen, um 1520 war wohl jeder auf seine Weise ein Nigromant. Vergnüglich<br />

ausgedrückt: „Zauberst du mir, zaubere ich dir und das da, zaubere bitte wieder weg!“<br />

Lässigkeit, von der gewiss auch <strong>Faust</strong> profitierte, war angesagt. Was allerdings nicht<br />

darüber hinweg täuschen sollte, wie schnell diese Lässigkeit <strong>im</strong> Fall eines<br />

Hagelschlags in Angst und Hysterie umschlug, wie Hysterie überhaupt die großen<br />

Hexenverfolgungen in der Zeit nach 1555 begleitete.<br />

Die nachfolgenden Beispiele unbeschwerten Umgangs mit Zauberkünsten sind Verhörprotokollen<br />

entnommen.<br />

1586 wusste man in Oberstdorf wie man die Hexe Anna Enzensbergerin auch gegen<br />

deren Willen zur Rücknahme ihres Zaubers zwingen kann; man musste sie drei Mal<br />

bitten: um Gottes und <strong>des</strong> Jüngsten Gerichtes willen.<br />

Überliefert ist auch: „Kunt sie das (böse) Wetter machen, so mug und kunt sie`s wieder<br />

wenden auch!“<br />

1597 gestand eine Margaretha Lönnecken einen Zauberspruch gegen angezauberte<br />

Unholde zu kennen.<br />

*<br />

Eine Teufelsanbetung<br />

Schilderung einer angeblichen Stedinger Teufelsanbetung; verbreitet <strong>im</strong> Jahr 1232, in<br />

Vorbereitung <strong>des</strong> Kreuzzugs gegen den Gau Steding, <strong>im</strong> heutigen Oldenburg gelegen.<br />

„Wenn ein Neuling aufgenommen wird und das erste Mal die Schule der Verworfenheit<br />

betritt, so erscheint ihm eine Art Frosch, den manche auch Kröte nennen. Einige geben<br />

ihm einen schmachtenden Kuss auf den Hintern, andere auf das Maul und saugen die<br />

Zunge und den Speichel <strong>des</strong> Tieres in ihren Mund. Dieses erscheint bisweilen in<br />

gewöhnlicher Größe, manchmal auch so groß wie eine Gans, meistens n<strong>im</strong>mt es<br />

jedoch die Größe eines Backofens an. Wenn nun der Novize weiter geht, so begegnet<br />

ihm ein Mann von wunderbarer Blässe, mit ganz schwarzen Augen, so abgezehrt und<br />

mager, dass alles Fleisch geschwunden und nur noch Haut um die Knochen zu hängen<br />

scheint. Diesen küsst der Novize und fühlt, dass er kalt wie Eis ist, und nach dem<br />

Kusse verschwindet alle Erinnerung an den katholischen Glauben bis auf die letzte<br />

Spur in seinem Herzen.<br />

Hierauf setzt man sich zum Mahle, und wenn man sich von ihm erhebt, steigt von einer<br />

Statue, die in solchen Schulen zu sein pflegt, ein schwarzer Kater von der Größe eines<br />

mittelgroßen Hun<strong>des</strong> rückwärts und mit rückwärts gerichteten Schwanz herab. Der<br />

Novize küsst als erster den Kater auf <strong>des</strong>sen Hintern, dann der Meister und so fort alle<br />

übrigen der Reihe nach, jedoch nur solche die vollkommen und würdig sind, die<br />

unvollkommenen aber, die sich nicht für würdig halten, empfangen von dem Meister<br />

den Frieden.<br />

Wenn nun alle ihre Plätze wieder eingenommen, gewisse Sprüche hergesagt und ihre<br />

Häupter gegen den Kater hingeneigt haben, sagt der Meister: „Schone uns!“ Und<br />

spricht dies dem ihm zunächst stehenden vor, worauf der dritte antwortet: „Wir wissen<br />

es, Herr!“. Und ein Vierter sagt: „Wir haben zu gehorchen!“<br />

Nun werden die Lichter gelöscht und man schreitet zur abscheulichsten Unzucht, ohne<br />

Rücksicht auf Verwandtschaft. Sind nun mehr Männer als Weiber zugegen, so<br />

befriedigen auch Männer mit Männern ihre schändliche Lust.<br />

Ebenso verwandeln auch die Weiber den natürlichen Geschlechtsverkehr in einen<br />

unnatürlichen.<br />

Wenn nun all diese Ruchlosigkeiten vollbracht, die Lichter wieder entzündet, und alle<br />

wieder auf ihren Plätzen sind, dann tritt aus einem dunklen Winkel der Schule, wie ihn<br />

diese der Verworfensten aller Menschen haben, ein Mann hervor, oberhalb der Hüften<br />

glänzend und strahlender als die Sonne, wie man sagt, unterhalb aber rau, wie in<br />

Kater, und sein Glanz erleuchtet den Raum. Nun reißt der Meister ein Stück Gewebe<br />

243


aus dem Kleid <strong>des</strong> Novizen und sagt zu dem Glänzenden: „Meister, dies ist mir<br />

gegeben, und ich gebe es dir wieder!“<br />

Der Glänzende antwortet: „Du hast mir gut gedient, du wirst mir mehr und besser<br />

dienen; ich gebe in deine Verwahrung, was du mir gegeben hast!“ Mit diesen Worten ist<br />

der Glänzende verschwunden.<br />

Auch empfangen sie alljährlich um Ostern den Leib <strong>des</strong> Herrn aus der Hand <strong>des</strong><br />

Priesters, tragen ihn <strong>im</strong> Mund nach Hause und werfen ihn zur Schändung <strong>des</strong> Erlösers<br />

in den Unrat.<br />

Überdies lästern diese Unglückseligsten aller Elenden den Herrscher <strong>des</strong> H<strong>im</strong>mels mit<br />

ihren Lippen und behaupten in ihrem Wahnwitze, dass der Herr <strong>des</strong> H<strong>im</strong>mels<br />

gewalttätiger, ungerechter und arglistiger Weise den Luzifer in die Hölle gestoßen<br />

habe. An diesen glauben auch die Elenden und sagen, dass er der Schöpfer <strong>des</strong><br />

H<strong>im</strong>melskörpers sei und einst nach dem Sturz <strong>des</strong> Herrn zu seiner Glorie zurückkehren<br />

werde; durch ihn und mit ihm und nicht vor ihm erwarten sie auch ihre eigene Seligkeit.<br />

Sie bekennen nichts Gott gefälliges zu tun, und allein zu tun, was Gott missfällt …“<br />

*<br />

Die Katastrophenhysterie<br />

Besser ein gemeinsamer Weltuntergang, als ganz allein zu sein, lautet auch heute<br />

noch das „Rezept“ einer funktionierenden Hysterie.<br />

Voraussetzung ist ein diskursiver Brei aus bereits länger zugrunde liegender Angst und<br />

Unsicherheit quer durch alle Gesellschaftsschichten. Sodann werden Befürchtungen<br />

geäußert, die von sämtlichen gesellschaftlichen Gruppierungen in ähnlicher Form<br />

gehegt werden, folgerichtig docken Wissenschaft, Religion, Ästhetik und Moral an; die<br />

sie tragenden Personen sind von der Emotion erfasst. Damit ist die Welt allumfassend<br />

auf einen Nenner gebracht, alles passt zusammen, jeder findet seine Anschauung<br />

durch ähnliche Äußerungen anderer bestätigt. Das ist der Zeitpunkt, wo auch<br />

„unsinnige Ursachen und unsinnige Lösungen“ eine allgemeine Akzeptanz erfahren.<br />

Das Szenario wird zum Selbstläufer, der Bürger lebt in ihr seine Ohnmacht, seinen<br />

subl<strong>im</strong>ierten, verdrückten Zorn aus.<br />

Durch ausgewählte Meldungen und gezielte Informationen erhält er dosierte<br />

Angstschübe und wird steuerbar gehalten.<br />

Die Menschen beginnen die anfangs nur vermutete Katastrophe als Realität zu<br />

begreifen, sie definieren sich darüber, ein Denken außerhalb dieses Weltbil<strong>des</strong> wird<br />

zunehmend unmöglich; es hat alle Gesellschaftsschichten durchdrungen, der Mensch<br />

ist gefangen.<br />

Anders: Die Konstruktion der Katastrophe bildet die Projektionsfläche für die<br />

Vereinigung der zerbrochenen Welterzählungen.<br />

N<strong>im</strong>mt man die Katastrophe aus dem „harmonischen Weltbild“ fort, brechen die<br />

Elemente auseinander und werden wieder zu konkreten Aufgaben, die jede für sich<br />

eigene Lösungen braucht.<br />

Unverwechselbares Kennzeichen dieser Art von Katastrophenhysterien ist stets etwas<br />

Metaphysisches.<br />

Hilfsweise, ohne das Anliegen <strong>des</strong> Umweltschutzes in irgendeiner Weise in Frage zu<br />

stellen, be<strong>im</strong> Thema „Umwelt“ ist bereits Metaphysik <strong>im</strong> Spiel: „Die Natur rächt sich, sie<br />

schlägt zurück!“ Das Bewusstsein, dass in der Natur komplexe Zusammenhänge<br />

bestehen, wird aufgeweicht, die komplexen Zusammenhänge werden in der<br />

Vorstellung der Menschen zu einem lebenden Organismus, der allerdings nicht nur<br />

lebt, sondern auch einen eigenen Willen hat – er rächt sich. Dass er zwangsläufig auch<br />

eine Art von Seele haben muss, liegt auf der Hand.<br />

Auch die Kritik an der Kirche in den Jahrzehnten vor Luther trägt deutliche Merkmale<br />

einer Katastophenhysterie.<br />

Es hatte sich ein kirchenkritischer, allumfassender Konsens auf Reichsebene gebildet,<br />

dieser kritische Konsens verband alle Schichten; stiftete Identität und das Gefühl der<br />

Teilhabe an einem gemeinsamen Anliegen einer großen Schicksalsgemeinschaft.<br />

244


Die kirchlichen Missstände waren nicht neu. Neu war, dass das Thema unter einem<br />

nationalen Blickwinkel betrachtet und mit nationalistischen Tönen aufgeladen wurde,<br />

neu war auch der Einsatz von Flugschriften.<br />

Die Kritik hob zeitweise selbst gesellschaftliche Schranken auf, jeder wusste sich mit<br />

seiner Kritik in irgendeiner Form verstanden, die Kirche war zu einem Thema<br />

geworden, wo selbst Bruder Einfalt noch mitschwätzen konnte.<br />

Ende 1517 gelangen Luthers 95 Thesen in die Öffentlichkeit. Er greift den Ablasshandel<br />

an. Damit hat er den Daumen in die Wunde <strong>des</strong> öffentlichen Bewusstseins<br />

gelegt, obendrein ist er Professor in Wittenberg, das Echo ist ein gewaltiges.<br />

Bei den großen Hexenverfolgungen nach 1550 ist die Katastrophenhysterie dann<br />

offenkundig.<br />

In diesem Zusammenhang sei auf den Begriff „Schwarmintelligenz“ aufmerksam<br />

gemacht.<br />

Der Schwarm ist intelligenter als der einzelne, jedoch nur, solange jeder für sich denkt.<br />

Sobald der einzelne weiß, was andere denken oder glaubt es zu wissen, weil es<br />

beispielsweise über die Medien verbreitet wird, beginnt er sein Denken anzugleichen.<br />

Die Intelligenz <strong>des</strong> Schwarms n<strong>im</strong>mt ab, das Denken <strong>des</strong> Schwarms beginnt eine<br />

Richtung zu nehmen, so es die falsche Richtung ist, potenziert sich die Katastrophe.<br />

*<br />

Juden, Republikaner, Ketzer, Hexen<br />

Die Frage ist gestellt: Warum gibt es keine Nachrichten weder über wilde noch über<br />

„ordentliche“ Hexenverbrennungen in der Zeit von 1100 bis 1400?<br />

Mag sein, dass die Strafandrohungen für Hexerei stetig verschärft worden waren, doch<br />

das erklärt nicht den Verbleib der Antriebskräfte jener wilden Hexenverbrennungen aus<br />

der Zeit vor der Jahrtausendwende. Diese wilde Angst, aber auch böse Lust am<br />

Diffamieren, <strong>des</strong> sich gegenseitigen Anstachelns, um sich schließlich zusammen zu<br />

rotten, jemand aus der Behausung zu zerren und ihn zu verbrennen, oder ihn nun dem<br />

Richter zu zutreiben. Und die Obrigkeit, ist sie plötzlich blind? Die Volksmagie ist<br />

quicklebendig, es muss folglich Hexen geben!<br />

Oder gab es seit dem Jahr 1100 kaum mehr Hagelschläge, die ganzen Landstrichen<br />

das Brot nahmen? Gab es kaum noch Seuchen, welche die Menschen verzweifelt nach<br />

Schuldigen Ausschau halten ließen?<br />

Es sollte kein Zweifel daran bestehen, dass auch in diesen dreihundert Jahren Hexen<br />

und Heiler verbrannt wurden, doch die Zahl der in diesem Zeitraum Verurteilten war<br />

offenbar derart gering, dass uns darüber keine Nachrichten erreichten.<br />

Weit in der Geschichte zurückreichende Auseinandersetzungen zwischen Juden und<br />

Griechen, wobei vermutlich das harte Nebeneinander dieser zwei völlig verschiedenen<br />

Religionen in der Metropole Alexandrien als Katalysator wirkte, fanden nach der<br />

Christianisierung der Griechen ihre Fortsetzung als Machtkampf zwischen Juden und<br />

Christen. Die großen Schauplätze dieser Auseinandersetzungen, in Verbindung mit<br />

ersten antijüdischen Gesetzen, waren Ostrom, Nordafrika, Spanien.<br />

Etwa um das Jahr 750 flammte der Streit in Frankreich erneut auf. Die Karolinger<br />

hatten die judenfeindlichen Gesetze der Merowinger nicht nur weitgehend aufgehoben,<br />

neben christlichen Beratern weilten nun auch jüdische Berater am Hof.<br />

Die Kirche war in dieser Zeit keineswegs eine allumfassende Institution, das Heidentum<br />

in seinen verschiedenen Ausprägungen war noch <strong>im</strong>mer präsent.<br />

Die Politik der Karolinger, der Kirche über die Juden Paroli zu bieten, beziehungsweise<br />

die beiden Religionen gegeneinander auszuspielen, brachte die Kirche rasch in<br />

Schwierigkeiten. „ … Christen erklärten“ wurde nach Rom gemeldet, „die Rabbinen<br />

predigten besser … sie sabbatieren und kümmern sich nicht mehr um christliche<br />

Feiertage … sie speisen und trinken mit ihnen.“<br />

Nachdem alle christlichen Ermahnungen an die Herrscher nichts fruchteten, begann<br />

sich die Kirche über das Mittel der Predigt zu wehren: „Die Juden haben den Heiland<br />

245


ermordet!“ Es treten wirtschaftliche Anweisungen hinzu, es wird den Christen<br />

angeschafft, Wein und Fleisch fortan bei Christen zu kaufen.<br />

Wer sich durch die Kapitel dieser Auseinandersetzungen liest, für den wird es geradezu<br />

fassbar, wie schockiert die Kirche damals war. Es mussten nur kraftvolle Herrscher den<br />

Juden Raum geben, so waren diese in der Lage, die Kirche an die Wand zu drücken.<br />

Sie waren selbstbewusst, gebildet und finanzkräftig, nicht zuletzt bewegten sich die<br />

Inhalte jüdischen Glaubens in gefährlicher Nähe zum christlichen Glauben.<br />

Die Musl<strong>im</strong>e waren eine Sache, das Heidentum der Christen eine andere, zuvorderst<br />

gefährlich waren die Juden. Und das Judentum hatte Zulauf, die Proselytenbewegung.<br />

Dreihundert Jahre später hatte das Predigen den Boden bereitet, um das Jahr 1050<br />

kommt es in der Normandie zu ersten Übergriffen und Ermordungen von Juden.<br />

In Deutschland herrschte in dieser Zeit noch Ruhe, doch die Saat der Predigt war<br />

offenbar auch hier bereits aufgegangen. Als <strong>im</strong> Jahr 1096 der Zug der Kreuzritter<br />

Deutschland erreicht, schließt sich ihnen Volk an, es bricht eine Woge blutiger Gewalt<br />

über die jüdischen Gemeinden herein.<br />

Fortan werden die Juden mehr als dreihundert Jahre lang Zwangstaufen, Ketzerprozessen,<br />

Folter, Verbrennung, zeitweiser Duldung, steuerlicher Ausbeutung und<br />

erneuten Morden ausgesetzt sein. Der Katalog der Anschuldigungen nennt Hostienschändung,<br />

Brunnenvergiftung, Zauberei, Ritualmord und Verspottung <strong>des</strong> wahren<br />

Glaubens. Diese Anklagen waren nichts Neues, Christen hatte sie einst selbst am<br />

eigenen Leib <strong>im</strong> Römischen Reich erfahren.<br />

Mit dem Jahr 1400 werden die jüdischen Gemeinden nur noch ein Schatten ihrer selbst<br />

sein. Die großen Kapitalien sind vernichtet, eingeengt von Verboten schlägt man sich<br />

als Kleiderhändler und Kleinkreditgeber durch, Hunger und Angst sitzen am<br />

Mittagstisch. Derart steuerlich nutzlos geworden, beginnt ihre Vertreibung aus den<br />

einzelnen Städten.<br />

Neben der Verfolgung der Juden baut sich mit der so genannten Ketzerverfolgung eine<br />

weitere Blutkulisse auf.<br />

Ausgangspunkt für das massive Auftreten von christlichen Laienbewegungen, den<br />

später so genannten Ketzern, waren die Zustände in Italien; seit etwa 1100 herrschten<br />

Aufruhr und Chaos. Schuld daran waren Anmaßung und die brutale Steuerpolitik der<br />

jeweiligen Herren, ganz gleich ob es sich dabei um Normannen, Kaiser, Päpste, die<br />

Grafen von Anjou oder um einzelne Städte handelte. Der geistige Impuls <strong>des</strong><br />

Widerstands kam aus dem Bewusstsein römischer Geschichte. Städte erkämpften sich<br />

autonome Verfassungen; sie lösten die alten Stadtherrschaften der Bischöfe ab. Es<br />

kam zu Städtebündnissen, die wiederum andere Bündnisse erbittert bekämpften. In<br />

Rom selbst herrschten adelige Stadtguerillas und republikanische Bürgerbünde. Die<br />

ideologischen Fäden knüpfte wohl Arnold von Brescia, Mitglied der Augustinerchorherrn;<br />

er predigte Armut und Sitte, forderte die politische Enthaltsamkeit der<br />

Kirche, d. h. er forderte den laizistischen Staat, wie wir ihn heute kennen.<br />

Im Jahr 1155 langt Barbarossa zur Kaiserkrönung vor Rom an. Das Volk von Rom<br />

bietet ihm an, ihn zum Kaiser zu krönen. Die Kaiserkrone aus der Hand <strong>des</strong> Volkes?<br />

Der Kaiser lehnt ab – die Stadttore bleiben zu. Der Zutritt in die Stadt muss für Papst<br />

und Kaiser mit Waffen erkämpft werden. Als der Kaiser dann be<strong>im</strong> Krönungsmahl sitzt,<br />

bricht ein Aufruhr los, Bürger stürmen den Festsaal, der Kaiser muss zum Schwert<br />

greifen. Bei den Kämpfen wird Arnold von Brescia gefangen genommen. Er wird als<br />

Aufrührer gehenkt.<br />

Aufruhr, Bauernaufstände, wie zum Beispiel um 800 in England, aber auch Revolten<br />

<strong>des</strong> Adels waren in dieser Zeit kein Novum mehr. Sie waren bereits in diesen Jahren<br />

und auch in Zukunft fester Bestandteil herrschaftlicher Überlegungen und Maßnahmen.<br />

Kaiser Barbarossa waren Eidgenossenschaften, Bürgerbünde und Einungen als<br />

Ke<strong>im</strong>zellen <strong>des</strong> Aufruhrs zutiefst suspekt. Eine Einschätzung, welche bis zu den<br />

Patriziern der Städte hinunter reichte; die Bildung von Zünften blieb in Nürnberg strikt<br />

untersagt.<br />

246


Gegen 1170 haben verschiedene christliche Reformbewegungen weite Landstriche<br />

erfasst. Abgesehen von ihrer jeweiligen Ausprägungen, sie alle suchen, als Reaktion<br />

auf die Sündhaftigkeit und Verweltlichung der Kirche, das Urchristentum wieder<br />

herzustellen.<br />

Über die Predigt gewinnen sie laufend neue Anhänger. Ihre Ausbreitungsgebiete sind<br />

Oberitalien, Süd-Frankreich, damals Okzitanien genannt, das Elsass, die Rheinebene<br />

und weiter hinauf bis nach Köln.<br />

Ungeachtet der anspruchslosen Lebensweise ihrer Mitglieder sind die Gemeinden hoch<br />

vermögend, eben weil der einzelne nichts besitzt, aber auch <strong>des</strong>halb, weil ihnen<br />

beachtliche Schenkungen zufließen.<br />

Neben der Auslegung von Glaubensfragen wie z. B. die Ablehnung der Heiligen oder<br />

<strong>des</strong> Fegefeuers, sind die Neuchristen auch in Geldangelegenheiten mit Rom in Konflikt<br />

geraten. Einige der neuen Bewegungen weigern sich den Zehnten abzuführen, andere<br />

lehnen es ab, Ablass zu kaufen.<br />

Die Auseinandersetzungen berühren auch den Kaiser. Einmal ist er Schutzherr der<br />

Kirche, sodann erkennen die neuen Gemeinden die weltliche Gerichtsbarkeit nicht an,<br />

andere lehnen den Waffendienst ab.<br />

Im Jahr 1179 beruft Papst Alexander das 3. Laterankonzil ein. Konkret gegen die<br />

Katharer gerichtet werden Konzilsbeschlüsse gefasst. Mitglieder der Katharer werden<br />

als Häretiker (Glaubensabweichler) eingestuft, fortan sollen sie als exkommunziert<br />

gelten. Des weiteren verlieren sie die bürgerlichen Ehrenrechte, dürfen öffentliche<br />

Ämter nicht mehr ausüben, ihre Güter sollen eingezogen werden, auch erhalten sie<br />

kein christliches Begräbnis.<br />

Es ist allgemein <strong>im</strong> Schwang, der Begriff „Ketzer“ leite sich von „Katharer“ ab. Richtig<br />

ist, den Reformchristen wurde unterstellt, sie beteten Katzen an. Der Begriff „Ketzer“<br />

kommt also von „Cazzari“, Katzenanbeter.<br />

Doch die Konzilsbeschlüsse zeigen keinerlei Wirkung, die Reformchristen sind quer<br />

durch alle Schichten in der Bevölkerung derart fest verankert, in Toulouse kämmen sich<br />

Mönche die Haare über die Tonsur, da sie den Spott der Straße fürchten. Und nun<br />

erlässt Papst Lucius III. in Zusammenarbeit mit Kaiser Barbarossa (Friedrich I.) die<br />

Bulle „Ad Abolendam“. Neben den Katharern werden jetzt auch Waldenser, Arnoldisten<br />

und Josephiner als Ketzer gebrandmarkt. Das Predigen ohne kirchliche Erlaubnis ist<br />

fortan untersagt, wer dem Verbot der Laienpredigt zuwider handelt, wird der weltlichen<br />

Gerichtsbarkeit übergeben.<br />

Im Jahr 1199 setzt Papst Innozenz III. das Verbrechen der Häresie mit jenem der<br />

Majestätsbeleidigung gleich – ein wichtiger Gedankenschritt, er wird 1215 be<strong>im</strong> 4.<br />

Laterankonzil in den Anspruch münden, höchster Gesetzgeber zu sein. Was wiederum<br />

die Grundlage war, um Häresie und Hexerei als Hochverrat einzustufen, um dann<br />

gemäß dem Grundgedanken „Ecclesia vivit lege romana“, die Kirche lebt durch<br />

römisches Gesetz, den Einsatz der Folter zu beschließen.<br />

Zunächst werden jedoch Vertreter der Zisterzienser nach Okzitanien entsandt, das<br />

Gespräch mit den Katharern zu suchen.<br />

Als auch dieser Weg zu keinem Erfolg führt, ruft Innozenz III. <strong>im</strong> Jahr 1209 zum Kreuzzug<br />

auf, der allerdings auch keinen rechten Erfolg zeigen will.<br />

Und jetzt beruft der Papst <strong>im</strong> Jahr 1215 das Vierte Laterankonzil ein. Unter seinem<br />

Vorsitz beschließen die Bischöfe den Einsatz der Folter, wie sie einst <strong>im</strong> alten Rom bei<br />

Hochverrat und Staatsverbrechen angewandt worden war. Die Folter wird als Mittel der<br />

Wahrheitsfindung Teil <strong>des</strong> prozessualen Verfahrens. Da die Kirche jedoch nicht über<br />

die Blutgerichtsbarkeit verfügte, beschränkte sie sich auf Folter und Urteilsfindung, die<br />

Vollstreckung selbst wurde zur Angelegenheit <strong>des</strong> „weltlichen Arms“.<br />

Welt und Kirche gingen bei der Inquisition arbeitsteilig vor.<br />

Nachdem unter Einsatz der Folter nun Gefangenen die Namen von Glaubengenossen<br />

und deren Verstecke abgepresst werden können, zeitigt der Kreuzzug erste Erfolge.<br />

247


Mit dem Edikt „Cum ad conservandum“ macht sich Kaiser Friedrich II. <strong>im</strong> Jahr 1224 die<br />

Linie der Kirche auch offiziell zu Eigen. Er stellt fest, als höchste weltliche Gewalt sei es<br />

seine von Gott aufgegebene Pflicht, zum Schutz <strong>des</strong> Glaubens gegen Häretiker<br />

vorzugehen und sie zu bestrafen.<br />

1229 wird der Kreuzzug, er ist als Albigenser-Kreuzzug in die Geschichte eingegangen,<br />

erfolgreich beendet. Der verbrecherische wie riskante Schritt, den Machterhalt über die<br />

Einführung der Folter zu suchen, hatte sich in der Sache als richtig erwiesen.<br />

Die Auseinandersetzungen mit Glaubensabweichlern, die Verfolgungen, die Kriege,<br />

sollten bis ins 17. Jhdt. dauern. Ins <strong>Visier</strong> gerieten Amalrikaner, Apostelbrüder, Beginen<br />

und Begarden, Brüder und Schwestern <strong>des</strong> freien Geistes, Flagellanten, Fraticellen,<br />

Hussiten, Joach<strong>im</strong>iten, Lollarden, Protestanten, Waldenser, Wiedertäufer u. a.<br />

In Spanien und Portugal ging man zudem gegen konvertierte Juden, die Conversos,<br />

vor, sowie gegen getaufte Musl<strong>im</strong>e, die Moriscos; man unterstellte ihnen Scheinchristentum.<br />

Im Jahr 1232 dehnt der Kaiser die Inquisition, also auch die Anwendung der Folter <strong>im</strong><br />

Falle der Anklage auf Häresie und Hexerei, auf das gesamte Hl. Römische Reich aus.<br />

Was hat den Enkel Barbarossas, jenen von der Geschichtsschreibung so hoch<br />

verehrten Kaiser Friedrich II. – zwe<strong>im</strong>al vom Papst exkommuniziert, einmal vom Konzil<br />

für abgesetzt erklärt – veranlasst, eine Generalvollmacht zur unbegrenzten Ketzerverfolgung<br />

zu unterschreiben, der Kirche einen derart deutlichen Gewinn an Macht zu<br />

gestatten?<br />

Die Päpste jener Jahre zählen gewiss nicht zu <strong>des</strong> Kaisers Freunden, andererseits hat<br />

er selbst keine Skrupel, mit dem Heiligen Stuhl wenig heiligmäßig umzugehen.<br />

Papsttum und Kaiser, beide wollen die alleinige Macht, wie Katz und Hund umtoben sie<br />

die Beute.<br />

Seit seiner Krönung in Aachen <strong>im</strong> Jahre 1218 hatte Friedrich II. zunächst einen<br />

Kreuzzug in das Heilige Land, d. h. die Nachfolge König Davids, also den Anspruch<br />

<strong>des</strong> Weltkaisertums, sowie den Erhalt seines Besitzes von Sizilien verfolgt. Sizilien<br />

wurde ihm vom Papst zunächst streitig gemacht, <strong>im</strong> Jahr 1230 einigen sich Papst und<br />

Kaiser be<strong>im</strong> so genannten Friedensschluss von San Germano. Sizilien bleibt in der<br />

Hand <strong>des</strong> Kaisers.<br />

Danach kämpfte Friedrich II. um den Erhalt seiner lombardischen Besitzungen und griff<br />

mehrfach bei Papstwahlen ein, dazu ließ er auch Bischöfe einsperren. Einer der Päpste<br />

floh 1244 nach Lyon, er zitierte aus dem 124. Psalm: „… die Schlinge ist zerrissen, und<br />

wir sind befreit.“<br />

Der Kaiser bemühte darauf das 28. Kapitel der Sprüche Salomos: „Entflohen ist der<br />

Gottlose, den niemand verfolgt hat.“<br />

Von Friedrich II. stammt angeblich auch der Spruch: „Drei Betrüger täuschten die Welt,<br />

Moses, Jesus und Mohammed.“<br />

Groß ist die Freude am Hof <strong>des</strong> Papstes, als zum Weihnachtsfest <strong>im</strong> Jahr 1250 der<br />

Tod <strong>des</strong> Kaisers bekannt wird. „O festlicher Tag, feierlicher Erinnerung würdig! O Tag<br />

der Freude und ungeheuerer Fröhlichkeit! O willkommener Tod, erwünschter Tod!“<br />

Es ist ersichtlich, dieser Kaiser hat keinerlei Skrupel, er ist mächtig, er ist gewiss nicht<br />

<strong>des</strong> Papstes Diener. Doch diese durchaus beeindruckenden Auseinandersetzungen in<br />

Italien lassen übersehen, dass Kaiser Friedrich II. nicht mehr erreichte, als seine<br />

Rechte in Italien zu bewahren, die Vorgänge in Deutschland lassen sie gänzlich außer<br />

Acht.<br />

„Der Glanz <strong>des</strong> staufischen Kaisertums unter Friedrich I. (Barbarossa, 1152-1190) und<br />

Heinrich IV. (1190-1197) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass deren Machtgrundlage<br />

in Deutschland damals bereits stark reduziert war.“ Eine Entwicklung, die sich<br />

durch die Doppelwahl und nachfolgenden Streitigkeiten zwischen Philipp von<br />

Schwaben und Otto IV. (1198-1218) beschleunigte. Eine Phase verstärkter Schwäche,<br />

in der Rom sich unwidersprochen zum höchsten irdischen Gesetzgeber erklären<br />

konnte.<br />

248


„Im 13.Jahrhundert wurde das deutsche Königtum zum Spielball ausländischer<br />

Mächte.“ Oder, wie es ein Historiker bei einem Vortrag ausdrückte: „Die Missgunst der<br />

geistlichen und weltlichen Fürsten in Deutschland war untereinander so groß, dass sie<br />

lieber einem Ausländer die Krone andienten. Den Zuschlag erhielt derjenige, der bereit<br />

war alte Königsrechte an die Fürsten abzutreten oder gewisse Fürsten gegenüber<br />

anderen zu begünstigen.“ Otto IV. war ein Kandidat <strong>des</strong> englischen Königs, Friedrich II.<br />

(1215-1250), Italiener von Geburt und Sprache her, wurde vom Papst lanciert. 1257<br />

erfolgte erneut eine Doppelwahl: Ein König von Kastilien und ein Prinz von Cornwall.<br />

Erst mit Rudolf von Habsburg (1273-1291) endete „die kaiserlose, die schreckliche<br />

Zeit“; es begann ein neuer Abschnitt.<br />

Bereits vor Barbarossa hatten die deutschen Könige, die sich dann in Rom zum Kaiser<br />

krönen ließen, sich verstärkt auf die geistlichen Fürsten gestützt, sie räumten ihnen<br />

besondere Rechte ein. Auf diese Weise schränkten sie nicht nur die Begehrlichkeiten<br />

der weltlichen Fürsten ein, die ungleiche Behandlung führte zu nützlichen Spannungen.<br />

„Mit den großen Reichsgesetze Friederichs II. zugunsten der geistlichen Fürsten<br />

(Confoederatio cum principibus ecclasticis, 1220), mit welchen alte Begünstigungen<br />

bestätigt wurden, sodann aber auch mit den weltlichen Fürsten (Statutum in favorem<br />

principum, 1232), wurde die Ausübung von Hoheitsrechten über Gericht, Geleit,<br />

Münze, Zoll sowie Städte- und Burgenbau auch durch die Fürsten in deren Herrschaftsbereichen<br />

für <strong>im</strong>mer rechtsgültig.“ Doch nicht allein, dass der Kaiser einen<br />

umfassenden Verzicht von angestammten kaiserlichen Rechten unterschreiben<br />

musste, er musste sich darüber hinaus verpflichten vom Ausbau kaiserlicher Macht in<br />

seinen deutschen Stammlanden abzulassen; hierzu gehörte z.B. das Umleiten von<br />

Straßen, um Einnahmen aus Geleit und Zoll in die eigene Kasse zu leiten.<br />

Während dieser Verhandlungen <strong>im</strong> Jahr 1231 sowie 1232 verfügte Friederich II. auch<br />

die reichsweite Verfolgung der Ketzer; die nachfolgende Verfolgung war also Teil der<br />

Verhandlungen gewesen.<br />

Wie bereits erwähnt, <strong>im</strong> Jahr 1229 war der erste Kreuzzug gegen die christlichen<br />

Reformgruppen erfolgreich zu Ende gekommen; die in diesem Kreuzzug gewonnenen<br />

Erfahrungen müssen mit diesen Unterredungen in einem Zusammenhang gesehen<br />

werden.<br />

Mit der kaiserlichen Verfügung einer allumfassenden Ketzerverfolgung wird auch sofort<br />

ein Inquisitor aktiv, er organisiert einen Kreuzzug gegen die Bauern <strong>des</strong> Gaues<br />

Steding, <strong>im</strong> heutigen Oldenburg gelegen.<br />

Die Stedinger hatten sich um 1200 mit dem Bischof von Bremen <strong>des</strong> Jagdrechts und<br />

<strong>des</strong> Zehnten halber überworfen, dazu Geistliche, die Unterhändler <strong>des</strong> Bischofs,<br />

misshandelt. Nachfolgende kleine Gefechte bestanden sie siegreich, bzw. wussten sie<br />

durch Vergleiche zu beenden. Im Jahr 1207 fällt Erzbischof Hartwig in Steding ein, die<br />

Stedinger kaufen sich frei.<br />

Um 1222 ziehen Bischof Gerhard sowie benachbarte Fürsten ein Söldnerheer<br />

zusammen, doch die Stedinger wehren sich hartnäckig – es scheint nicht möglich, mit<br />

ihnen fertig zu werden. Auf seiner Reise nach Jerusalem bringt Bischof Gerhard in<br />

Rom die Stedinger Situation zu Gehör.<br />

1232 verfügt der Kaiser die bereits angesprochene Generalverfolgung.<br />

Noch <strong>im</strong> gleichen Jahr erlässt Papst Gregor IX. eine Bulle an die Bischöfe von Minden,<br />

Ratzeburg und Lübeck, es sei das Kreuz zu predigen, denn die Stedinger missachteten<br />

die Kirche, behandelten Geistliche geringschätzig und grausam, <strong>des</strong> weiteren befragten<br />

sie Dämonen, feierten Satansmessen …, kurzum, die Stedinger sind Ketzer.<br />

1233 überflutet ein Kreuzfahrerheer von 40 00 Bewaffneten den Gau Steding, 6 000<br />

Stedinger stellen sich ihm entgegen und werden erschlagen. Ihre Angehörigen geloben<br />

Wohlverhalten.<br />

249


Was ging damals in Deutschland vor? Es wird eine reichsweite Vefolgung der Ketzer<br />

verfügt, aufständische Bauern werden durch ein Kreuzfahrerheer niedergeworfen.<br />

Als Antwort darauf zunächst ein weiteres Zitat aus „Höfische Kultur 1, Joach<strong>im</strong> Bumke“:<br />

„Die Regalien, wie 1232 zuerkannt, wurden zu wichtigen finanziellen Einnahmequellen<br />

für die Territorialherren, während Burgenbau und Städtegründungen sich als wirksame<br />

Instrumente <strong>des</strong> Landausbaus erwiesen. Den größten Widerstand gegen die<br />

Umsetzung der neuen Form von Gebietsherrschaft – sie löste den Personenverbundsstaat<br />

ab, leisteten die alten Adelsfamilien, von denen die meisten ihre Hoheitsrechte an<br />

die Lan<strong>des</strong>fürsten verloren und in die Territorialstaaten integriert wurden.“<br />

Hinter dieser trockenen Sprache verbirgt sich eine wilde Umschichtung von Macht und<br />

Recht, deren Anfänge gewiss vor 1150 anzusiedeln sind; mit der „Confoederatio cum<br />

principibus ecclasticis“ von 1220 und dem „Statutum in favorem principum“ von 1232<br />

wurden diese frei geschaffenen Fakten für rechtens erklärt. Zu den Verlierern zählte<br />

einmal das Kaisertum, grundsätzlich war es mit der gleichzeitigen Wahrung seiner<br />

Interessen sowohl in Italien als auch in Deutschland von Anbeginn überfordert<br />

gewesen.<br />

Der alte Adel wiederum hatte die Begehrlichkeit der Fürsten selbst auf sich gelenkt, er<br />

hatte sich von Generation zu Generation nicht nur finanziell durch stan<strong>des</strong>gemäße<br />

Verschwendung und Schenkungen verausgabt, er hatte sich zudem auf Kreuzzügen<br />

und bei Turnieren – in doppelten Sinn <strong>des</strong> Wortes – ausgeblutet; stan<strong>des</strong>gemäße<br />

Verpflichtungen, die ebenfalls kostspielig und gar nicht selten tödlich waren.<br />

Doch nicht allein, dass die Lan<strong>des</strong>fürsten sich ehemalige Kaiserrechte nahmen und die<br />

Macht <strong>des</strong> Alt-Adels reduzierten, sie griffen auch, der Fall „Steding zeigt es, in alte<br />

Bauernrechte ein; der Bremer Bischof beschnitt das Jagdrecht.<br />

Walther von der Vogelweide über das Treiben auf der Wartburg, dem Hof <strong>des</strong><br />

Landgrafen von Thüringen: „… Ein Haufen tobt heraus, ein anderer hinein, und das bei<br />

Tag und Nacht. … Das Hab und Gut wird durchgebracht, mit stolzen Haudegen, von<br />

denen jeder das Zeug zum Berufsfechter hat, der für Geld anderer Leute Händel<br />

austrägt. … Wenn er (der Landgraf) für ein Fuder guten Weines eine Unsumme zahlen<br />

müsste, vor leerem Becher säß keiner seiner Ritter.“<br />

Der Thüringer Landgraf tränkte nicht umsonst jene Horde von Haudegen, er brauchte<br />

sie um seine „Landgrafschaft zu konsolidieren und auszubauen“, also seinen Willen,<br />

seine Willkür vor Ort durchzusetzen, wenn er den Bauern ihre Rechte neu definierte,<br />

wenn er bei Anrainern gewisse „Flurbereinigungen“ vornahm. Denn die Umschichtung<br />

von Rechten fand nicht nur von unten nach oben statt, die Fürsten übten auch<br />

untereinander den Rechtsbruch. München wurde aus einem derartigen Übergriff<br />

heraus gegründet: Im Jahr 1158 ließ Heinrich der Löwe „bei den Mönchen“ eine Brücke<br />

über die Isar schlagen, verbrannte die flussabwärts gelegene Brücke <strong>des</strong> Bischofs von<br />

Freising und leitete die Salzfrachten, die von Salzburg nach Augsburg gingen, über<br />

München.<br />

Die Vorgänge jener Zeit weisen deutliche Parallellen zu den Umwälzungen um 1500<br />

auf.<br />

Da ist einmal der Fall „Steding“. Ein kleiner Gau feiert mehr als dreißig Jahre fröhliche<br />

Urstände, er widersteht zudem mehreren Angriffen. Um die kleine Selbstherrlichkeit zu<br />

beenden braucht es einen kaiserlichen Erlaß, sodann eine Bulle und schließlich einen<br />

Kreuzzug. Mag sein, dass „Steding“ ein Sonderfall war, doch es ist der Schluss<br />

zulässig, dass auf Grund der Eingriffe in alte Rechte sich allgemein eine gefährliche<br />

Unruhe in den Landschaften eingenistet hatte, die sich nicht allein in Zusammenrottungen<br />

äußerte, sondern auch durch Gewalttätigkeiten und Brandstiftungen.<br />

Dass es zu keinem Bauernkrieg kam, lag wohl an den noch nicht vorhandenen<br />

Kommunikationsmitteln sowie an der seinerzeit mäßigen Bevölkerungsdichte.<br />

Aus dieser Zeit – einst<strong>im</strong>miges Bedauern der Historiker, sind nur wenige Dokumente<br />

überliefert, und oft liegen diese wenigen Dokumente lediglich als Fragmente vor.<br />

Liest man sich durch die heute soweit noch vorhandenen Texte der Minnesänger,<br />

denkt man unwillkürlich an Ulrich von Hutten. „ … Ich hab sie an den Stock gebunden,<br />

all ihr Gut ist mein, ihr deutsches Silber fährt in meinen welschen Schrein.“ heißt es bei<br />

250


Walther von der Vogelweide; mit der Wiedergabe seiner romfeindlichen Verse ließen<br />

sich einige Seiten füllen. Walther von der Vogelweide sang nicht vor den Armen,<br />

obgleich es derer viel zu viele gab; über Esslingen wird berichtet, dass um 1100 etwa<br />

1000 Begüterte in der Stadt lebten, jedoch 8000 Bedürftige sich rund um die Kirchen<br />

behaust hatten. Er sang vor dem Adel, der noch ein wenig „Silber“ hatte, und der hörte<br />

es gern, dass „die Pfaffen essen Hühner, trinken Wein. Und lassen deutsche Laien<br />

mager sein“. Wenn zu dieser Botschaft auch noch die Harfe geschlagen wird, vergisst<br />

man leicht, dass man sich selbst in die Ohnmacht gebracht hat, dann weiß man woher<br />

alles Übel rührt. Er sang auch vor den Fürsten, er pries deren Gastfreundschaft, von<br />

deren Übergriffen und Rechtsbrüchen sang er unmittelbar allerdings nicht.<br />

Er besang diesen Ärger, der dreihundert Jahre später ebenfalls eine Entsprechung<br />

haben wird, gleichsam durch die Hintertür.<br />

Die Rechtsgrundlage dieser Umwälzungen um 1200 war das „Recht <strong>des</strong> Stärkeren“.<br />

Dazu Walther von der Vogelweide: „Wie unter den Menschen, herrsche auch unter den<br />

Tieren ein ständiger Kampf; aber in einem bewiesen sie Verstand: sie würden sich für<br />

nichtig halten, wär da nicht der Gerichte Walten. Sie wählen Könige und kiesen Recht,<br />

sie setzen Herren und setzen Knecht.“<br />

Zum gleichen Thema heißt es in einem Fragment: „Wir alle wissen: mehr als alles<br />

andere, ist das Recht Maß, Gewicht und Zahl der Dinge. Ohne Recht kann niemand<br />

friedlich leben.“<br />

Und ebenso diskutierte die hauchdünne Schicht von Gebildeten – keineswegs wie<br />

dreihundert Jahre später die breite Bevölkerung, auch über die Ursachen der<br />

Ungleichheit:<br />

„Es ist doch nicht <strong>des</strong>halb, weil Adam und Eva sich wider Gott versündigten oder weil<br />

Kain seinen Bruder Abel erschlug und auch nicht - wie oft gesagt wird – weil Noah<br />

seinen Sohn Ham verfluchte und sprach: „Verflucht sei Kanaan und sein ganzes<br />

Geschlecht! Sie sollen Diener und unfreie Knechte meiner beiden anderen Söhne<br />

sein!“ Und es ist auch nicht gemacht, damit die Frauen sich in den hohen Werken der<br />

Barmherzigkeit üben und auch nicht, damit das hoffärtige Scharlach der Herren besser<br />

in die Augen sticht.<br />

Es ist <strong>des</strong>halb so und wie mir gesagt wurde, dass jener tapfere Cicero es bereits<br />

niederschrieb, weil die Natur uns nicht mehr zugewiesen als dem Vieh auf der Weide<br />

und damit uns alle Dinge gemeinsam gegeben hat. Doch dann nahmen einige<br />

Menschen für sich alleine, wovon viele hätten leben können.“<br />

Und <strong>im</strong> Sachsenspiegel wurde nicht nur unverblümt notiert, dass Machtausübung stets<br />

das Nebeneinander von Recht und Unrecht beinhalte, sondern auch: „Es ist uns von<br />

den Vätern überliefert und das ist rechte Wahrheit, dass Leibeigenschaft ihren Anfang<br />

von Zwang und von Gefangenschaft und von unrechter Herrschaft genommen, die man<br />

von alter Zeit her in unrechte Gewohnheit übergeführt hat und nun für Recht hält.“<br />

Und noch einmal Walther von der Vogelweide:<br />

„Doch wie kann das alte Recht wieder gefunden werden, wenn Recht nur jene aller<br />

Orten heut erhalten, die <strong>im</strong> Gerichtskampf ob schierer Leibeskräfte siegen oder eines<br />

Richters Beutel zu fassen und zu füllen kriegen.“<br />

Es sei angemerkt, hier ist von einem Gerichtskampf die Rede; das überkommene<br />

germanische Recht war selbst in dieser Zeit noch <strong>im</strong>mer derart hilflos, gewisse<br />

Streitigkeiten konnten nur durch „Gottesurteil“ beigelegt werden. Was die Leibeigenschaft<br />

betrifft, so wird vermutet, dass sie ihren Anfang in einer Gabe für nichtgeleisteten<br />

Kriegsdienst nahm.<br />

Nachdem der Inquisitor, Konrad von Marburg, den Kreuzzug gegen Sterding organisiert<br />

hat – den Feldzug selbst wartet er nicht ab – reist er nach Trier, weiter in die Rheinebene,<br />

dann nach Schwaben, Baiern, Franken, Thüringen. Er lässt eine Unzahl<br />

rauchender Scheiterhaufen zurück. Das zügige Vorgehen <strong>des</strong> Inquisitors erlaubt den<br />

Schluss, dass umfassende Vorarbeit geleistet worden war, dass er <strong>im</strong> Besitz einer Liste<br />

der „schl<strong>im</strong>msten Bösewichter“ war. Ein Aufschrei <strong>des</strong> Entsetzens durchweht die<br />

251


Landschaften, <strong>im</strong> Sommer 1233 wird Konrad von Marburg auf der Marburger Heide von<br />

aufgebrachten Menschen wie ein Hund erschlagen.<br />

Mehr als 600 Jahre später wird ein national gest<strong>im</strong>mter Autor notieren: „Dieser<br />

Totschlag hatte für Deutschland das Gute, dass die heilige Inquisition vor dem<br />

deutschen Rechtssinn erschrak und vor deutschen Hieben erbebte und ihre Blutarbeit<br />

in deutschen Gauen fortan aufgab.“ Ein Kommentar von schmatzender Behaglichkeit,<br />

der mit Blick auf die große Hexenverfolgung bestenfalls einen schlechten Geschmack<br />

auf der Zunge erzeugt.<br />

Im Brief <strong>des</strong> Mainzer Erzbischofs an den Papst heißt es: „Wer Konrad von Marburg in<br />

die Hände fiel, dem blieb nur die Wahl, entweder freiwillig zu bekennen und dadurch<br />

sich das Leben zu retten, oder seine Unschuld zu beschwören und darauf verbrannt zu<br />

werden. Jedem falschen Zeugen wurde geglaubt, rechtliche Verteidigung nicht<br />

gestattet …besonders Vornehme, deren Namen Konrad als verdächtig ausforschte. So<br />

gab Bruder den Bruder, die Frau den Mann, der Knecht den Herren an…“<br />

Der Hinweis <strong>im</strong> Schreiben, dass „besonders Vornehme“ verfolgt wurden, zeigt an, dass<br />

der Stoß sich gegen den Adel richtete. Doch gewiss nicht gegen die adeligen Fürsten,<br />

und auch nicht gegen den Neuen Adel, der aus der Schicht der Ministerialen<br />

(Verwalter, Juristen, Berater) entstanden war, sondern gegen den ritterlichen Altadel,<br />

der sich in wirtschaftliche Bedrängnis gebracht hatte und nun die Kirche anfeindete,<br />

also ketzerte. Denn was ein Walther von der Vogelweide vortrug, stand nicht frei <strong>im</strong><br />

Raum, sondern hatte eine Entsprechung <strong>im</strong> Denken seiner Zuhörer: „… Euch hat der<br />

Papst hierher gesendet, dass Ihr ihm Reichtum bringt, uns Deutsche elend macht und<br />

pfändet. … Ihr seid auf Schaden hergesandt, Ihr habt den Willen dumme Leut zu<br />

suchen <strong>im</strong> deutschen Land.“<br />

Dass die Mörder Konrads von Marburg nicht verfolgt werden, bestätigt die Stoßrichtung,<br />

ebenso die eilige, höchst ungewöhnlich rasche Heiligsprechung Elisabeths<br />

von Thüringen; Konrad von Marburg, ihr Beichtvater, hinterließ einen ausführlichen<br />

Bericht über ihre Armenfürsorge. Sie verstarb am 17. Nov. 1231, keine vier Jahre<br />

später, „am 1.Mai 1236 hob Kaiser Friedrich II. <strong>im</strong> grauen Büßergewand die Heilige aus<br />

dem Grabe und setzte eine Krone auf ihr Haupt.“<br />

Die Botschaft dieser Heiligsprechung: Es kann nicht adelige Gesinnung sein, sich um<br />

irdische Güter zu sorgen, es gilt das H<strong>im</strong>melreich sich zu erwerben.<br />

Man kann das Schreiben <strong>des</strong> Mainzer Erzbischofs als Beweis bischöflicher Fürsorge<br />

werten, man kann es auch als Kritik lesen: Der Erzbischof gibt dem Stuhl Petri zum<br />

einen zu verstehen, dass mit Konrad von Marburg, der keine rechtliche Verteidigung<br />

zuließ, ein denkbar ungeeigneter Mann auf den Weg gebracht wurde, zum anderen<br />

deutet er an, dass er die Verfolgung <strong>des</strong> Adels für den falschen Weg hält.<br />

Eventuell hatten die verwandschaftlichen Verflechtungen sowie die Einziehung <strong>des</strong><br />

Vermögens der „Ketzer“ für neuen Unmut und Zorn gegenüber der Kirche gesorgt, der<br />

bis hinauf zu den Fürsten reichte. Abgesehen davon, der Adel war hoch angesehen, er<br />

konnte das Volk für seine Sache aufwickeln.<br />

Zeitgleich wurde auch in Frankreich und Spanien die Tortur zur Überführung der Ketzer<br />

lan<strong>des</strong>weit legalisiert.<br />

1234 kommt es zu Aufständen in Narbonne und Albi, 1235 werden Inquisitoren aus<br />

Toulouse vertrieben, 1242 werden vier Inquisitoren in Toulouse erschlagen. Vergeblich<br />

bitten <strong>im</strong> Jahr 1243 die Dominikaner <strong>im</strong> Languedoc den Papst, sie vom<br />

Inquisitionsgeschäft zu entbinden. In Italien setzt sich der Aufruhr fort.<br />

In Spanien wird das erste Inquisitionstribunal 1233 in Lerida eingesetzt, 1236 erfolgt die<br />

Einführung der Inquisition <strong>im</strong> Königreich Kastilien, 1238 in Navarra.<br />

Es ist mit keinem Dokument jener Zeit belegt, dass von Ketzerei gesprochen wird,<br />

Rebellion jedoch gemeint ist, erst in der Hexenbulle von 1484 wird überdeutlich von<br />

„Ausschreitungen“ gesprochen werden.<br />

252


Dass es jedoch um Rebellion geht, lässt sich aus den belegten Volksbewegungen in<br />

Italien schließen, auch daraus, dass die republikanische Bewegung der Arnoldisten zu<br />

den Ketzern gerechnet werden sowie aus der Abfolge der Ereignisse selbst.<br />

Anmerkung meines Historikers: „Man kann „Rebellion“ nicht gegen „Ketzerei“<br />

ausspielen, da bei<strong>des</strong> <strong>im</strong> damaligen Zeitgeist untrennbar miteinander verbunden war.<br />

“Rebellion“ drückte sich gerne in religiösen Begriffen aus, da säkulare Formulierungen<br />

noch kaum zu Gebote standen.“<br />

Der Griff <strong>des</strong> 4. Laterankonzils <strong>im</strong> Jahr 1215 nach Folter und Feuer war ein Griff zum<br />

allerletzten Mittel, mit dem sich die Kirche allerdings endgültig außerhalb der Lehre<br />

Jesu stellte. Dessen war man sich selbstredend <strong>im</strong> Vatikan bewusst, man hatte nicht<br />

vergessen, dass Papst Nikolaus I. einst um 860 dem Fürsten der Bulgaren geschrieben<br />

hatte, die Folter sei nicht einzusetzen, ein solches Verfahren verstoße gegen alles<br />

göttliche und menschliche Gesetz.<br />

Die Einführung der Folter - ein vielfach bedenklicher Schritt, bei dem es obendrein<br />

keine Gewissheit gab, ob damit der Feldzug gegen die Ketzer erfolgreich zu Ende<br />

geführt werden könne. Von daher schien es geraten diesen Beschluß allein durch die<br />

Bischöfe <strong>des</strong> 4.Laterankonzils, also quasi halbamtlich fassen zu lassen.<br />

Mit der Bulle „Ad extirpanda“ <strong>im</strong> Jahr 1252 ordnet der Papst die innerkirchlichen<br />

Machtverhältnisse; er n<strong>im</strong>mt den Bischöfen die Befugnisse bei der Bekämpfung von<br />

Ketzern und erklärt sie zu seiner alleinigen Sache. Er allein hat nun das Recht,<br />

Inquisitoren zu ernennen und zu instruieren.<br />

Er n<strong>im</strong>mt das Instrumentarium römischer Caesaren, einst angewandt zur Beweisfindung<br />

bei Staatsverbrechen und Hochverrat, in seine Hände. Über das Recht, die<br />

Inquisitoren zu ernennen und sie zu instruieren, erhält er die Möglichkeit direkt in die<br />

weltlichen Fürstentümer hinein zu greifen, Ketzerei ist eine Sache <strong>des</strong> Glaubens. Da er<br />

in dieser Sache die höchste Autorität ist, kann er auch die Rechte der Bischöfe<br />

beschneiden und in deren Territorien hineingreifen.<br />

Konrad von Marburg ist ermordet, die Spannungen und Anfeindungen auf<br />

inquisitorischem Weg zu unterdrücken ist nicht möglich.<br />

Zwei Jahre später, 1235, wird die Blutlüge, der Vorwurf <strong>des</strong> Ritualmords, gegen die<br />

Juden wieder aktuell.<br />

Abgesehen von der römischen Christenverfolgung, ist der erste neuere Fall 1146 <strong>im</strong><br />

englischen Norwich dokumentiert, von England lief die Blutlüge als Psychose über<br />

Frankreich, Italien, nach Deutschland und hatte – zumin<strong>des</strong>t vorläufig – 1199 in Erfurt<br />

geendet.<br />

1235 werden in Lauda und Bischofshe<strong>im</strong> erneut Angehörige der jüdischen Gemeinden<br />

<strong>des</strong> Ritualmords beschuldigt, gefoltert und verbrannt. In Fulda werden 32 Juden <strong>des</strong><br />

Ritualmords bezichtigt – zufälliger Weise sind auch Kreuzfahrer in der Stadt, ohne den<br />

Prozess abzuwarten, erschlagen sie die Beschuldigten.<br />

Das Märlein, Juden begehrten durch Christi Blut, <strong>im</strong>mer neues Christenblut, läuft<br />

erneut durch Deutschland und mit dem Märlein läuft der Mord.<br />

Im Juli 1236 verbietet Kaiser Friedrich II. einem jeden, die verleumderische Anklage zu<br />

wiederholen. 1247 wenden sich die verzweifelten Juden schließlich an den Papst. Der<br />

Papst schreibt am 5. Juli 1247 an die Erzbischöfe und Bischöfe in Deutschland: „Wir<br />

haben die flehentliche Klage der Juden vernommen, dass manche kirchliche und<br />

weltliche Würdenträger, wie auch sonstige Edelleute und Amtspersonen in euren<br />

Diözesen gottlose Anklagen gegen die Juden erfänden, um sie aus diesem Anlass<br />

auszuplündern … Diese Männer scheinen vergessen zu haben, dass es gerade die<br />

alten Schriften der Juden sind, die für die christliche Religion Zeugnis ablegen. … Du<br />

sollst nicht töten! … Wird irgendwo die Leiche eines von unbekannter Hand getöteten<br />

Menschen gefunden, so wirft man sie den Juden zu. … beraubt sie in gottloser und<br />

ungerechter Weise … Hungerqualen … Tortur … schmachvollen Tode … Da Wir die<br />

Juden, deren Bekehrung Gott in Seiner Barmherzigkeit noch <strong>im</strong>mer erwartet, nicht<br />

253


ungerechterweise gequält wissen wollen, gebieten Wir euch, ihnen freundschaftlich und<br />

wohlwollend zu begegnen. Solltet ihr in Zukunft von solchen gesetzeswidrigen<br />

Bedrückungen von Seiten der Prälaten, Edelleute oder Würdenträger hören, so achtet<br />

darauf, dass die Schranken <strong>des</strong> Gesetzes nicht überschritten werden, und lasset nicht<br />

zu, dass die Juden unverdienterweise belästigt werden.“<br />

Der Kaiser verbietet und der Papst gebietet, bei<strong>des</strong> ist nichts wert, beide Mal fehlt das<br />

Strafmaß, mit dem eine Zuwiderhandlung geahndet wird. Abgesehen davon, Jahrzehnt<br />

um Jahrzehnt ist die Liste der gegen Juden gerichteten Gesetze gewachsen; Kaiser<br />

und Papst, sie nehmen keines der Gesetze zurück. Statt<strong>des</strong>sen wird jüdisches Leben<br />

mit weiteren Gesetzen eingeschränkt, gleichzeitig werden die „lieben Kammerdiener“<br />

mit höchsten Steuern bedrückt.<br />

1263 führt der Dominikaner Thomas von Cant<strong>im</strong>prè in seinem Buch „Bonum universale<br />

de apibus“ den „Beweis“, dass die Juden seit Pilatus je<strong>des</strong> Jahr Christenblut vergießen<br />

müssen.<br />

Der Blutlüge schließt sich <strong>im</strong> Jahr 1287 der Vorwurf der Hostienschändung an, erneut<br />

springt der Mordfunke von Stadt zu Stadt. Im neuen Jahrhundert wütet die Pest, und<br />

mit der Pest läuft das Gerücht, die Juden hätten die Brunnen vergiftet.<br />

Es ist dabei recht offenkundig, dass es Dominikaner sind, die von Ort zu Ort die<br />

Volksseele zum Kochen bringen, sprich: die Menschen mit einem abseitigem Thema<br />

verwirren.<br />

Zwischenruf<br />

Mit der Ermordung Konrads von Marburg kam das Vorgehen gegen den aufsässigen<br />

Alt-Adel zum Erliegen. Soll man das Aufleben der Judenverfolgung, die mit den Morden<br />

in Lauda und Bischofshe<strong>im</strong> ihren Anfang nahm, mit den Vorgängen um Konrad von<br />

Marburg in einen Zusammenhang sehen oder als eigenen Strang betrachten? Es<br />

liegen nur zwei Jahre zwischen diesen beiden Vorgängen.<br />

Nachdem mit der Ermordung Konrads von Marbug die Schwierigkeiten mit dem<br />

rebellischen Adel nicht aus der Welt geschafft waren – <strong>im</strong> Gegenteil, der Adel sich wohl<br />

eher bestärkt sah, könnte es zwischen den zwei völlig verschiedenen Vorgängen<br />

durchaus eine Verbindung geben.<br />

Existierten also zwischen dem Adel und den jüdischen Gemeinden gemeinsame<br />

Interessen oder gar Verflechtungen?<br />

Zitat aus „Und wurden zerstreut unter alle Völker“, von Werner Keller, 1966, Kap.<br />

„Judenzeichen und Judengesetze“, S. 243: „Urspünglich besaßen die Juden, die als<br />

Fremde galten, Privilegien. Sie erhielten Sonderrechte wie andere Bevölkerungsgruppen,<br />

so die Geistlichkeit und die Kaufleute. Sie unterstanden der Schutzvormundschaft<br />

der Herrscher, bekräftigt seit Ludwig dem Frommen unter den Karolingern, wie<br />

auch später unter den Sachsenkaisern und deren Nachfolgern durch Schutzbriefe.“<br />

Und Zitat aus Kap. „Tolerante Karolinger und Sachsenkaiser“, S. 177: „Gerade der<br />

Juden bedurfte man in jenen Zeitläuften mehr als je zuvor … sei es in diplomatischer<br />

Mission oder <strong>im</strong> Außenhandel … Denn seit dem siegreichen Vordringen <strong>des</strong> Islam sah<br />

sich Mitteleuropa abgeschnitten von Afrika, Ägypten und dem Vorderen Orient, der<br />

einst rege Handel über das Mittelmeer erlosch … Selbst die Kirche bekam es zu<br />

spüren: Weihrauch und Öl galten als Mangelware. … Und allein die Juden durften die<br />

muselmanischen Länder unbehindert bereisen.“<br />

Der Außenhandel lag also darnieder, die Einnahmen aus Steuern und Zöllen waren<br />

geschrumpft, Grund genug für Toleranz und die Gewährung von Privilegien, die unter<br />

König Pippin mit der Rückeroberung <strong>des</strong> arabisch besetzten Narbonne <strong>im</strong> Jahr 729<br />

ihren Anfang nahmen.<br />

Erst in Verbindung mit einer offeneren Handelspolitik der Musl<strong>im</strong>e sollte 200 Jahre<br />

später ein Venedig seine Entwicklung zur Handelsmetropole nehmen; zur Zeit Pippins<br />

war es eine Ansammlung von Inseln, vielleicht auch Sandbänken, auf denen Fischer<br />

wohnten, die entlang der italienischen Küste mit Salz und Getreide handelten.<br />

Es ist nachvollziehbar, dass die Juden auf Grund ihrer Privilegien in den Jahren<br />

zwischen 729 und bis zum Unglück, das mit dem ersten Kreuzzug <strong>im</strong> Jahr 1098 über<br />

254


sie hereinbrach, eine Zeit <strong>des</strong> Wohlstands, freilich auch <strong>des</strong> Reichtums und der<br />

Einflussnahme erfahren hatten. Ebenso, dass nicht wenige der Juden in hohe Ämter<br />

aufgestiegen waren und in ihrer Eigenschaft als welterfahrene Kaufleute auch als<br />

Unterhändler und Diplomaten unterwegs gewesen waren.<br />

Ebenso dürfte nachvollzeihbar sein, dass der Adel sich mit den politisch und<br />

geschäftlich bedeutenden Juden gut zu stellen suchte, ebenso wie diese wiederum<br />

nach Verbindungen mit dem hochangesehenen Adel strebten – ein Geschäft, Heiraten<br />

inklusive, auf Gegenseitigkeit.<br />

Nun wird man nicht allein wegen der fehlenden Nachweise diesem Bündel von<br />

„Naheliegendem“ widersprechen, sondern auch wegen der unterschiedlichen Religion<br />

und der Ausgrenzung der Juden. Was die Urkundenlage in dieser Zeit betrifft, so sind<br />

die Nachrichten aus diesen Jahrhunderten derart dünn, ein Historiker klagte: „Wir<br />

kennen jeden Stein <strong>des</strong> Römischen Reiches, doch von dieser Zeit wissen wir kaum<br />

etwas“. Was die Religion angeht, so ist die Sichtweise eines Politikers oders eines<br />

Reichen bekanntermaßen eine bedeutend andere als die eines Armen. Und was die<br />

Ausgrenzung betrifft, so beginnt sie erst mit dem Laterankonzil von 1179: „Es ist den<br />

Gläubigen untersagt, <strong>im</strong> Kreise der Ungläubigen zu wohnen.“ Das dann ummauerte<br />

und verschlossene Ghetto wurde <strong>im</strong> Jahr 1555 durch Papst Paul IV, mit der Bulle „Cum<br />

n<strong>im</strong>is absurdum“ befohlen; Papst Paul IV. war zuvor als Großinquisitor Pietro Caraffa<br />

tätig gewesen. Die Bulle „Cum n<strong>im</strong>is absurdum“ ist Teil eines Bündels entschiedener<br />

Maßnahmen, mit welchen Rom auf den beschlossenen Religionsfrieden von 1555<br />

reagierte; der Protestantismus war fortan Fakt, Roms Gangart wurde hart.<br />

Von 1096 bis 1179, den Jahren zwischen dem ersten Kreuzzug und dem 3. Laterankonzil,<br />

verloren die Juden ihre Privilegien, damit freilich auch Ämter und die Möglichkeiten<br />

politischer Einflussnahme. In der Zeit zwischen dem 3. Laterankonzil von 1179<br />

und dem 4. Laterankonzil von 1215 ergeht dann eine Reihe von Anweisungen, die<br />

jüdisches Leben <strong>im</strong>mer weiter einschränken. Nicht allein das Tragen <strong>des</strong><br />

Judenzeichens wird Pflicht, mit dem Verbot Christen zu beschäftigen, werden sie zur<br />

Aufgabe ihrer Manufakturen und landwirtschaftschaftlichen Betriebe gezwungen. Dazu<br />

drängt man sie aus dem Fernhandel; so verweigerte Venedig die Verfrachtung ihrer<br />

Waren. Mit dem gleichzeitigen Verbot Geld gegen Zinsen auszuleihen, geht Christen<br />

das Kreditgeschäft verloren, ein „sündhafter“ Erwerbszweig, in welchen nun die Juden<br />

– gezwungenermaßen – tätig werden; ihnen ist das Zinsnehmen vom Alten Testament<br />

her erlaubt.<br />

Mit dem zweiten Kreuzzug <strong>im</strong> Jahr 1146 war es erneut zu Übergriffen und<br />

Ermordungen gekommen und bis zum Ende jenes Jahrhunderts rissen die Wellen der<br />

Gewalttätigkeiten nicht ab.<br />

Es liegt nahe, dass auch in dieser Phase, einem Szenario von Schutzlosigkeit und<br />

harter gesetzlicher Beschränkungen, sich die Juden um Verbindungen zum örtlichen<br />

Adel bemühten.<br />

Was der hochangesehene Adel in einer Situation ärgster Bedrängnis leisten konnte,<br />

wird an einem Vorgang deutlich, wie er sich damals nahezu tagtäglich ereignete.<br />

Am 8. Mai 1147 überfielen Banden die jüdischen Gemeinden von Ramerupt; in der<br />

Region Champagne-Ardenne gelegen. Dabei drangen sie auch in das Haus <strong>des</strong> Rabbi<br />

Jakob Tam ein, zerfetzten die Heiligen Schriften, und nur das Dazwischentreten eines<br />

Ritters verhinderte, dass der Rabbi erschlagen wurde.<br />

Juden gab es nach 1215 nur noch in den Städten, doch auch der Adel zog inzwischen<br />

das Leben in der Stadt – freilich in einem repräsentativem Bau, dem Leben auf seiner<br />

Burg vor; etwa 3000 Städte waren um 1200 auf Befehl der Lan<strong>des</strong>herren gegründet<br />

worden.<br />

Der Adel wohnte also vor Ort und nichts muss einem betuchtem jüdischen „Wucherer“,<br />

in seinem Bemühen um den Schutz und den Erhalt seiner Familie – eventuell auch der<br />

gesamten jüdische Gemeinde dienlicher erschienen sein, als eine seiner Töchter mit<br />

einem Adeligen zu verheiraten. Der Adelige selbst profitierte von der Mitgift, dazu war<br />

er auch weiterhin kreditwürdig, seine Frau sorgte dafür, dass das geliehene Kapital an<br />

ihre Verwandtschaft zurück bezahlt wurde.<br />

255


Die Voraussetzung für diesen Schutz war, die Tochter musste sich zum christlichen<br />

Glauben bekennen. Wer hier zweifelt, nehme das Alte Testament zur Hand und lese<br />

das Buch „Esther“; die Folie für diese Vorgehensweise.<br />

Es liegt auf der Hand, dass es nicht <strong>im</strong> Interesse Roms sein konnte, dass zum einen<br />

sich die Juden Schutz verschafften, zum andern sich der angeschlagene Altadel mit<br />

neuem Geld versorgte.<br />

Mit den umlaufenden Gerüchten über Ritualmorde wurden diese Verbindungen<br />

unterbunden; wer sich von nun an dennoch mit Juden einließ, grenzte sich selbst aus.<br />

In der Reihe der Minnesänger steht – als Besonderheit, mehr noch, als ungeklärtes<br />

Kuriosum, ein jüdischer Minnesänger. Ihm erging es zwar nicht besser, als seinen<br />

christlichen Genossen, von denen viele gegen Ende ihres Lebens feststellten, dass sie<br />

besser nicht die „Minne der hohen Fruwe“ besungen hätten, statt<strong>des</strong>sen lieber die alten<br />

Pferde und alten Kleider, die man ihnen schenkte, sowie die Mägde, in deren Stroh sie<br />

sich die Beine zerkratzt hatten, doch bei Süszkind von Tr<strong>im</strong>berg hat die Resignation<br />

eine eigene Färbung: „Ich will fliehen aus dem herrschaftlichem Hofe, mir einen langen<br />

Bart und graue Haare wachsen lassen und fortan das Leben der alten Juden führen,<br />

nachdem mir die Herren ihre Gunst entzogen.“<br />

Süszkind von Tr<strong>im</strong>berg wird in Verbindung mit der Zeit um 1280 gehandelt. Eine höchst<br />

unbefriedigende Angabe, sie fügt sich jedoch in die Zeitspanne von Ursache und<br />

Auswirkung. Hatte er in seinen jungen Jahren noch die Gunst der Herren genossen –<br />

er wäre sonst kaum als Minnesänger unterwegs gewesen, mit den Jahren öffneten sich<br />

für ihn <strong>im</strong>mer seltener die Türen und Tore.<br />

Gegen Ende jenes Jahrhunderts waren die Juden auf sich selbst zurückgeworfen. Den<br />

alten Adel gab es weitgehend nicht mehr, die letzten Liegenschaften hatte er an die<br />

Klöster verkauft.<br />

Nach Jahren der Ausplünderung werden die Juden <strong>im</strong> Jahr 1290 aus England<br />

vertrieben.<br />

Am 22. Juli 1306 werden sie in Frankreich verhaftet und enteignet – die Kriege hatten<br />

die Staatskasse geleert – und anschließend außer Lan<strong>des</strong> gewiesen.<br />

Mit dem Ende der ersten französischen Judenverfolgung wendet sich das Interesse<br />

<strong>des</strong> französischen Königs dem Orden der Templer zu; die Templer kontrollierten über<br />

ihre Mittelmeerhäfen einen Teil <strong>des</strong> Orienthandels, sie waren über die vereinnahmten<br />

Zölle vermögend geworden. Unter der Vorspiegelung eines neuen Kreuzzugs lockt der<br />

König den Großmeister Molay von Rhodos nach Frankreich. Der Großmeister und<br />

seine Ritter werden der Zauberei und <strong>des</strong> Teufelsdienstes bezichtigt. Mit entsetzlichen<br />

Qualen bringt der namentlich bekannt gewordene Dominikaner Imbert 362 Ritter zum<br />

Geständnis. Am 12. Mai 1311 werden 76 Ritter der Abtei St. Antoine verbrannt, am 19.<br />

März 1314 die übrigen. Ihre französischen und mittelmeerischen Besitzungen werden<br />

eingezogen und später an die Johanniter verkauft.<br />

Im Jahr darauf, 1315, wird den Juden die Rückkehr nach Frankreich gestattet, 1321<br />

wiederholt sich das Drama der Beraubung und Ausweisung.<br />

Dieser Ereigniskette schließt sich die Zeit der französischen Hexenverbrennungen an.<br />

Auf Grund der zentralen Stellung <strong>des</strong> Königs n<strong>im</strong>mt sie einen anders gearteten Verlauf<br />

als die Hexenverfolgung, die ab 1555 in den deutschen Fürstentümern tobt; über die<br />

Rechtsgutachten der Sorbonne steuerte der französische König die Jagden nach<br />

seinen Wünschen.<br />

Die Verfolgung der Juden in Deutschland dagegen lässt auf den ersten Blick kein<br />

System erkennen.<br />

So legte beispielsweise Kaiser Karl IV. freien Reichsstädten hohe Strafgelder auf, weil<br />

sie „seine lieben Kammerknechte“ nicht geschützt hatten, er untersagte in Luxemburg<br />

die Anklageerhebung wegen Brunnenvergiftung, doch verschenkte er am 27. Juni<br />

1349 eine Reihe jüdischer Häuser in Nürnberg – für den Fall, dass diese Häuser frei<br />

würden. Am 5.Dezember 1349 wurden sie frei, und die Jüdische Gemeinde zählte 560<br />

Tote.<br />

256


Kaiser Friedrich II. hatte <strong>im</strong> Jahr 1236 für Juden den Status der „Kammerknechtschaft“<br />

angeordnet, damit wurden die Juden zu „Sachen, an denen Rechte bestehen“. In der<br />

Praxis bedeutete das willkürliche Besteuerung und Beschlagnahme, als Personen<br />

konnten sie verpfändet, abgetreten, verkauft, verschenkt werden.<br />

Die Verfügungsgewalt über Juden wurde zum begehrten Objekt der aufstrebenden<br />

Städte und der erstarkenden Lan<strong>des</strong>fürsten. Der zeitgleich, von Stadt zu Stadt<br />

verschiedenartige Umgang mit jüdischen Gemeinden, ob Duldung, Anfeindung oder<br />

Mord, hat seine Ursache in der Aufsplitterung der Machtverhältnisse und den <strong>im</strong>mer<br />

anders gearteten Interessen vor Ort.<br />

Bei aller Widersprüchlichkeit der Ereignisse, bei näherer Betrachtung wird deutlich, die<br />

Schlinge wurde von Generation zu Generation <strong>im</strong>mer stärker zugezogen. Und von<br />

Generation zu Generation ließen sich <strong>im</strong>mer mehr Juden taufen, bzw. schlossen sich<br />

dem fahrenden Volk an.<br />

Ihre Spuren finden sich als Einsprengsel in alten Texten, wenn es heißt: „Ein jüdischer<br />

Fechter, hurtig und schnell“. Oder auf alten Zeichnungen: In der Linie der Söldner, ganz<br />

außen, marschiert einer, er trägt den spitzen Judenhut.<br />

Gegen 1400 sind die jüdischen Gemeinden am Ende. Das geistige Leben ist zum<br />

Erliegen gekommen, die großen Kapitalien sind vernichtet, die Geschäfte laufen<br />

ungeordnet, Armut und Angst haben sich eingenistet. Man kann sie nicht mehr<br />

schröpfen, in ihrem Elend eignen sie sich auch nicht länger zur Ableitung <strong>des</strong><br />

Volkszorns, sie erregen Mitleid. Es beginnt für sie das letzte Kapitel.<br />

1421 lässt der Habsburger Herzog Albrecht V. 200 Juden verbrennen und befiehlt,<br />

dass die übrigen Juden Österreich verlassen müssen. 1424 müssen sie Zürich und<br />

Freiburg verlassen, 1426 Köln, 1432 Sachsen, 1435 Speyer, 1438 Mainz, 1440<br />

Augsburg …<br />

Das Kapitel neigt sich dem Ende zu. Jüdisches Leben n<strong>im</strong>mt seinen Fortgang <strong>im</strong> polnischen<br />

Reich. Seit einem Jahrhundert hatten die polnischen Könige ihre Herrschaft über<br />

das Stromgebiet von Dnjepr und Dnjestr, sodann über Tschernigow und Poltawa, <strong>im</strong><br />

Süden über Wolhynien und Podolien ausgedehnt. König und Hochadel beuten die<br />

Menschen dieser fruchtbaren Ländereien rücksichtslos aus. Die Magnaten bekommt<br />

das Volk allerdings nicht zu Gesicht, vor Ort sind jene, welche die Ausbeutung<br />

umsetzen und selbst unter Druck stehen, unter ihnen viele Juden; als Steuereinnehmer,<br />

Pächter und Verwalter der Latifundien, der Schnapsbrennereien, Molkereien,<br />

Mühlen und Wirtshäuser. Auf diese Exponenten fürstlicher Macht richtet sich der Haß<br />

<strong>des</strong> Volkes. Im April 1648 ruft der Kosaken-Hetman Bogdan Chmielnicki zum Aufstand<br />

auf, der nach und nach nahezu alle Landstriche erfasst. Das mörderische Chaos nutzt<br />

der russische Zar, er vergrößert sein Herrschaftsgebiet, während die Schweden in<br />

Zentralpolen einmarschieren. Allein die Zahl der zwischen 1648 und 1656 ermordeten<br />

Juden wird auf etwa 400 000 geschätzt. Ab 1648 wandern Juden wieder in das<br />

deutsche Reich hinein, dort hat inzwischen der dreissigjährige Krieg gewütet, die in<br />

Deutschland verbliebenen jüdischen Gemeinden nehmen sich der Flüchtlinge an.<br />

Mit Beginn der Ausweisungen der Juden um 1420 werden die Hexen als Ursache für<br />

das Übel der Welt wiederentdeckt. Wahrscheinlich mit Ende einer neuerlichen<br />

Verfolgung von Waldensern <strong>im</strong> Wallis kommt es zu Hexenjagden in Savoyen, sie<br />

greifen auf deutschsprachiges Gebiet über.<br />

Der Bericht <strong>des</strong> Johannes Fründ aus dem Jahr 1428 wird gelegentlich auch so<br />

verstanden, dass es sich nicht um Hexen gehandelt habe, sondern um Waldenser, es<br />

sei von Frauen und Männern die Rede. Andererseits spricht der Text nicht von Häresie,<br />

sondern von angeblichen Hexenkünsten.<br />

Im Bericht heißt es: „…auch wie der bös geist sy nachts umbe trug von einem berg uff<br />

den andern….er sy lert salben machen… sy mit fluchen und mit anderer boßheit die<br />

frucht <strong>des</strong> ertrichs, sonderlich den wein und das korn, auf dem land verdarbten…die<br />

den lüten ir milch namen und der ir vich nit milch habent. Und wie vil man sy fragt mit<br />

manger hertter swerer martter, so wollte ir vil nie nit verjehen und liessen sich ee<br />

257


marttern, das sy davon sturben, und wurdent denocht verurteilet und verbrönnt, ettliche<br />

todt und ettliche lebend. … me den 100 personen … und me denn 200 …“<br />

Seit 1428, beginnend mit dem Bericht <strong>des</strong> Johannes Fründ, sind in Deutschland wieder<br />

breit angelegte Hexenverfolgungen nachgewiesen.<br />

*<br />

Eine Spekulation 9.Mai 2010<br />

Die Essays warten auf ihre Überarbeitung, gibt es noch eine Frage, die zu klären ist?<br />

Abgesehen davon, dass „<strong>Faust</strong>“ sich mit <strong>im</strong>mer neuen Fragen verbindet, da war noch<br />

jener Rezeptforscher, den ich zu Jahresbeginn auf diesen Zauberzettel aufmerksam<br />

machte. Zwar hat das Pergament aller Wahrscheinlichkeit nach mit <strong>Faust</strong> rein gar<br />

nichts zu tun, dennoch wäre es reizvoll zu wissen, wie weit der Rezeptforscher<br />

inzwischen mit der Entschlüsselung gekommen ist. Also greife ich zum Handy.<br />

Hier seine Auskunft: „Nach der Schrift zu urteilen, nehme ich an, der Schreiber war<br />

gebildet und er war ein Vielschreiber. Was den Zeitpunkt der Niederschrift angeht, so<br />

halte ich die Zeit um 1720 für wahrscheinlich; es erschließt sich aus stilistischen<br />

Vergleichen insbesondere aus der Schreibweise der Buchstaben der AREPO-Formel.<br />

Was nun die Entzifferung der Formeln betrifft, so würde ich zur Stunde sagen, es liegt<br />

ein alkoholischer Pflanzenauszug zu Grunde, aus dem durch hintereinander<br />

geschaltete alchemistische Mehrfach<strong>des</strong>tillationen der pflanzliche Wirkstoff, die<br />

Essenz, gewonnen wird.<br />

Die Überlegungen <strong>des</strong> Alchemisten gründeten wohl auf den Gedanken <strong>des</strong> Paracelsus.<br />

Um welche Heilpflanze es sich dabei handelt, kann ich zur Stunde noch nicht sagen.“<br />

Voila!<br />

Die Frage, wie der Zettel die Brände von 1632 und 1692 überstehen konnte, stellt sich<br />

also gar nicht. Auch der Verweis auf die Alchemisten-Kolonie in Groß-Sachsenhe<strong>im</strong>,<br />

als möglicher Ursprung besagter Türschwelle, scheint sich damit zu erübrigen.<br />

Die Leserinnen und Leser erinnern sich, der Dozent für Pharmazie-Geschichte schätzte<br />

das Baujahr <strong>des</strong> Tabernakels auf 1700 und jünger.<br />

Besteht zwischen Tabernakel und Pergament etwa ein unmittelbarer Zusammenhang?<br />

Könnte es sein, dass unter den Fre<strong>im</strong>aurern, die den Tabernakel bestatteten, sich ein<br />

„Pharmazeut“ befand, der dieses Pergament einem der Balken beigab, aus welchen<br />

der Unterstand <strong>des</strong> Tabernakels errichtet wurde?<br />

Nachdem es sich gewiss um Balken guter Qualität gehandelt hat, was lag näher, als<br />

sie um 1840 <strong>im</strong> Neubau zu verwenden? Denn die Hölzer <strong>des</strong> Verschlags, obgleich<br />

be<strong>im</strong> Aushub der Erde gewiss an die hundert Jahre alt, waren in gutem Zustand, sie<br />

waren in trockener Erde gelegen.<br />

Gesetzt den Fall, dass ein Fre<strong>im</strong>aurer das Pergament in Verbindung mit dem<br />

Tabernakel deponierte, dann handelt es sich bei der „Kochanleitung“ höchst<br />

wahrscheinlich nicht um den Auszug irgendeiner Pflanze, sondern um eine Pflanze, die<br />

den Fre<strong>im</strong>aurern etwas bedeutet. Geht es dabei etwa um das Arkanum der Walnuss?<br />

Die Frucht <strong>des</strong> Walnussbaumes ist nicht nur ein sehr altes Heilmittel, sie ist bis auf den<br />

heutigen Tag als solches anerkannt.<br />

*<br />

„Melanchthons Briefwechsel“ – eine Nachlese<br />

30% jeder wissenschaftlichen Arbeit sind Beschränkung, heißt, all jenes auszugrenzen,<br />

was nicht zum Thema gehört.<br />

So gesehen, gehört dieser Essay gewiss nicht in die Sammlung der Essays rund um<br />

den historischen <strong>Faust</strong>, denn <strong>Faust</strong> wird in diesem Briefwechsel namentlich nicht<br />

genannt, er tritt auch sonst in keiner Weise erkennbar in Erscheinung.<br />

Andererseits erheben jene Essays rund um den historischen <strong>Faust</strong> nicht den Anspruch<br />

von Wissenschaftlichkeit, sie sind Suche und Versuch, und zwar unter Einbeziehung<br />

eines Zeitrahmens, der, bedingt durch die Aufhellung magisch-mediumistischer Welten,<br />

258


von der Zeit weit vor Christi Geburt bis ins Heute reicht, <strong>Faust</strong>s Zeitfenster von 1480 bis<br />

1540 also deutlich sprengt.<br />

Und gewiss lässt sich der Leser gerne auf zwei dutzend Seiten berichten – es wurde<br />

schließlich oft genug in den vorangegangenen Essays daraus zitiert, was sich sonst<br />

noch in „MBW“ in etwa an Essenz findet, wenn er erfährt, dass „MBW“ mehr als 4000<br />

Seiten füllt. Wobei diese 4000 Seiten bereits hoch problematisch sind, eine<br />

Problematik, die sich entsprechend potenziert, so man diese 4000 Seiten zu einer<br />

flotten Revue von gerademal 24 Seiten kompr<strong>im</strong>iert.<br />

Heinz Scheible fertigte von jedem einzelnen Dokument eine Inhaltsangabe. Die so<br />

geschaffene Transparenz <strong>des</strong> Briefwechsels geht einher mit einer Färbung <strong>des</strong> Inhalts.<br />

Dazu aus dem Vorwort: „Das Regest eines Briefes kann nicht nur den Inhalt der<br />

Vorlage wiedergeben, sondern muss zusätzliche Informationen und Interpretationen<br />

beisteuern. Das subjektive Moment <strong>des</strong> Verfassers stellt einen erheblichen Faktor dar,<br />

der dem Leser ins Bewusstsein gehoben und der methodischen Reflexion unterzogen<br />

werden muss.“<br />

Dieses „subjektive Moment <strong>des</strong> Verfassers“ ist jedoch nicht der einzige Faktor, <strong>des</strong>sen<br />

sich der Leser bewusst sein muss. Er muss <strong>des</strong> weiteren bedenken, Briefe sind<br />

subjektiv, wurden eventuell auch mit Hintersinn geschrieben, die geschichtliche<br />

Wirklichkeit spiegelt sich in ihnen nur bedingt. Ebenso wenig darf er vergessen, es ist<br />

Reformationszeit, der Schlagabtausch wird geübt. Es wird polemisiert, übertrieben und<br />

verschwiegen. Sich mit „MBW“ zu beschäftigen, macht Lust auf Geschichte, „MBW“<br />

lässt Geschichte gelegentlich dramatisch miterleben, zu einem Geschichtsbuch wird<br />

„MBW“ dadurch nicht.<br />

Der Leser braucht Nehmerqualitäten, der Briefwechsel ist unvollständig – gutmöglich<br />

fehlen 80% <strong>des</strong> Materials. Aus dem Nichts tauchen Begriffe auf, sie werden nicht<br />

konkretisiert, Namen und Verbindungen werden über die Bühne gereicht, gerne möchte<br />

man mehr dazu erfahren, man erfährt nichts. Viele Vorgänge wie z. B. die<br />

Reformierung Englands oder die inhaltlichen Differenzen verschiedener protestantischer<br />

Gruppierungen, sie bleiben unklar.<br />

Sich „Melanchthons Briefwechsel“ zu Gemüte zu führen, kommt einem Flanieren in<br />

einem überaus luftigen Kolossalgemälde gleich. Ein Spaziergang, bei dem man freilich<br />

bisweilen nicht nur den Atem anhält, sondern auch eine zunehmende Abscheu<br />

empfindet, nicht derart, dass man darüber zum Atheisten wird, doch es reicht zum<br />

heilsamen Ekel vor jedwedem theologischen Wortgefecht – Worte sind willige Huren.<br />

Gleiches gilt auch für das politische Geschäft jener Tage. Und spätestens in diesem<br />

Zusammenhang hat „MBW“ seinen unmittelbaren Bezug zum Heute – das<br />

Kolossalgemälde steht <strong>im</strong> Jetzt. Auf leichte Art wird dem Leser offenbart, Politik ist die<br />

Kunst der Kulisse, <strong>des</strong> Donnergetöses, der nachhaltigen Ohrenbläserei.<br />

Mit diesem Bezug zum Heute präsentiert sich der Fundus – durch seine Lücken<br />

angenehm luftig zu lesen, als erster Aufriss eines großen historischen Romans, der an<br />

sich nur noch auf seinen Autor wartet.<br />

Auf eine Autorin, auf einen Autor, die allerdings <strong>des</strong> Lateinischen so mächtig sein<br />

müssen, als wäre es ihre Muttersprache.<br />

Denn „MBW“, die Regesten, d. h. die Kurzfassungen der Briefe in deutscher Sprache,<br />

wie von Heinz Scheible und seinen Mitarbeitern angefertigt, lassen die Persönlichkeit<br />

Philipp Melanchthons zwar erahnen, doch wer er wirklich war, das erschließt sich<br />

vermutlich erst durch das Studium der Volltexte; in den feinen Schleifen und Ösen<br />

seiner Ausführungen, über das Hineinlauschen in die Winkel und Fluchten scheinbar<br />

belangloser Nebensätze. Und diese Volltexte sind nahezu alle auf Latein geschrieben;<br />

Melanchthon notierte, es falle ihm leichter, Briefe in Latein zu schreiben als auf<br />

Deutsch. Und wie mir Christine Mundhenk, die Leiterin der Melanchthon Forschungsstelle<br />

in Heidelberg mitteilte, liegen die Briefe in ihrem vollen Wortlaut bis zur Stunde<br />

nicht in deutscher Übersetzung vor, auch sei eine Übersetzung nicht geplant.<br />

Verständlich, die Sprache ist derart derb, dem Publikum bliebe nur die Wahl sich daran<br />

zu begeistern, sich unausgesetzt wiehernd vor Vergnügen auf die Schenkel zu<br />

schlagen oder aber sich aufpeitschen zu lassen, um sich erneut <strong>im</strong> Streit um das rechte<br />

259


Evangelium gegenseitig umzubringen; neben „multorum diabolorum“ kommen auch<br />

„porci“ und „asini“ und „ander geschmeiß gar vil“ darin reichlich vor.<br />

Der kommende Autor, der sich der Figur „Melanchthon“ annehmen möchte, sollte<br />

zudem Kenntnisse <strong>des</strong> Altgriechischen mitbringen. Denn gelegentlich verfasste<br />

Melanchthon seine Briefe auf altgriechisch und zwar <strong>im</strong>mer dann, wenn er meinte, dass<br />

der Inhalt sich wirklich nur dem Empfänger eröffnen sollte; wie zum Beispiel die<br />

Schilderung der Vorgänge bei Luthers Heirat. Am 16. Juni 1525 schreibt Melanchthon<br />

darüber an Camerarius: Zu einem Zeitpunkt, da doch die Unruhen (Bauernaufstand)<br />

<strong>des</strong>sen volle Aufmerksamkeit und Autorität erfordert hätten. Er räumt ein, dass die<br />

ehemalige Nonne Luther umgarnte, bestreitet aber das Gerücht der vorherigen<br />

Entjungferung. Luther sei gedemütigt, was nicht so schlecht sei, er erwarte von der Ehe<br />

eine beruhigende Wirkung auf Luther. Die Ehe ist naturnotwendig und gottgewollt.<br />

„MBW“ kann übrigens online gelesen werden, nach Aufruf von „Melanchthon<br />

Forschungsstelle“ findet sich „MBW“ über den Klick auf „Regesten“.<br />

„MBW“ umfasst eine Zeitspanne von mehr als 40 Jahren, deren zweite Hälfte in die Zeit<br />

nach <strong>Faust</strong> fällt. Der Briefwechsel liefert also einen Teil <strong>des</strong> Bühnenbilds zu <strong>Faust</strong>s<br />

Lebzeiten, nachfolgend erzählt er gleichsam wie es weiterging.<br />

Die Wiedergabe eines Briefes stellt sich in „MBW“ dar wie folgt:<br />

6461 (Wittenberg), 1.Juni 1552<br />

M. an Georg Maior (in Eisleben)<br />

>6435 (1) Eine Seuche breitet sich in (Wittenberg) aus, die M. aufgrund einer Konstellation<br />

befürchtete. Die Verlegung der Universität wird erwogen (>6462.1). (2) Ein<br />

wütender Angriff (Andreas Osianders) auf M. (>6399.4). M. will antworten. Er stellt sich<br />

dem Urteil der Gemeinden. (3) Gebet um Frieden. M. sieht Anzeichen dafür (>6449.2).<br />

>6465<br />

CR 7, 1009 Nr.5128<br />

Es handelt sich also um das Dokument Nr. 6461, <strong>des</strong>sen Wiedergabe mit mehreren<br />

Hinweisen auf andere Dokumente versehen wurde. Die Fußnote CR besagt, dass der<br />

Brief zum „Corpus Reformatorum“ gehört.<br />

„MBW“ vermittelt anschaulich, wie mühsam die Anfänge <strong>des</strong> Protestantismus waren.<br />

Nicht allein, dass die protestantischen Fürsten und Städte sich über Jahrzehnte hinweg<br />

in einen zunächst schwelenden, später offenen Konflikt mit dem Kaiser begaben, es<br />

blühte das Sektieren und schier unüberwindbar waren die organisatorischen Probleme.<br />

Pastoren, die aus dem Amt laufen, ihnen ist das Entgelt zu minder; Pastoren, die<br />

schlicht über Nacht verschwinden; ungebildete Pastoren; Pastoren, die von Luther nur<br />

soviel verstanden haben, dass sie <strong>im</strong>merfort gegen den Papst und die Bischöfe<br />

wettern; Gemeinden, die ihren Pastor davonjagen, weil er verheiratet ist; Gemeinden,<br />

die unter Bildern feiern; Gemeinden, welche die Bilder in der Kirche abhängen – und<br />

versteigern.<br />

Aus „MBW“ erfährt man, die Reformierung wurde keineswegs erstmalig in Nürnberg<br />

umgesetzt, sondern bereits 1521 in Liv.- Est.- und Kurland. In Brief Nr. 429 berichtet<br />

Johannes Oekolampad über das Wüten der Fürsten und Bischöfe nach dem Bauernkrieg,<br />

über die Zerstörung Weinsbergs, über den Tod und das Exil vieler seiner<br />

Freunde und, dass die Evangelischen nach dem Aufstand weiterhin umgebracht<br />

würden – he<strong>im</strong>lich. Aus „MBW“ geht hervor, dass bis zum Jahr 1530, also weit nach<br />

dem großen Bauernkrieg, sich wiederholt in einigen Landstrichen bewaffnete Bauern<br />

zusammenfanden, dazu wurden Brandstiftungen verübt.<br />

Man erfährt, dass Papst Hadrian be<strong>im</strong> Nürnberger Reichstag 1522 / 23 durch<br />

Francesco Chieregati die Beseitigung der schl<strong>im</strong>msten kirchlichen Missstände, der<br />

sogenannten Wormser Gravamina an sich versprochen hatte, das Anliegen der<br />

Protestierenden zumin<strong>des</strong>t am Vorabend <strong>des</strong> Bauernaufstands noch in Teilen für<br />

berechtigt hielt.<br />

260


Auch über den Ursprung der sch<strong>im</strong>pflichen Bezeichnung „Hanswurst“ wird man<br />

aufgeklärt; Luther hat 1541 eine Schrift „Wider Hans Worst“ verfasst.<br />

Man liest, Melanchthon klagt, die Fürsten seien bereits in vorreformatorischer Zeit<br />

begieriger auf Klostergüter gewesen, als auf die Versorgung der Pfarreien und<br />

Schulen.<br />

Man erfährt, dass der Turm der Wittenberger Schlosskirche bei der Belagerung <strong>im</strong><br />

Schmalkaldischen Krieg als Geschützturm diente; es wurde die Haube abgenommen,<br />

auf die Plattform wurden Kanonen gestellt. Kaiser Karl V. ist persönlich vor Wittenberg,<br />

er will Melanchthon mitnehmen, der allerdings entfleucht war; er hatte wohl keine Lust<br />

sich meistbietend zwischen Rom und den protestantischen Fürsten versteigern zu<br />

lassen. Doch als der Kaiser hört, dass der Maler Lukas Cranach und <strong>des</strong>sen Sohn in<br />

der Stadt weilen, bittet er sie heraus und unterhält sich mit ihnen über die Entstehung<br />

eines Jugendbildnisses, das Vater Cranach einst von ihm fertigte.<br />

In „MBW“ findet sich der Niedergang der deutschen Erzbergwerke bestätigt; ein<br />

Brieffreund berichtet, dass die Bergwerke zunehmend mindere Metalle fördern.<br />

Bestätigt finden sich auch die seinerzeitigen Straßenverhältnisse; Melanchthon schreibt<br />

in einem Februar-Brief, dass er – 200 Schritte abseits der Straße, sich seinen Weg<br />

suchte. Wiederholt liest man, Melanchthon mag keine Kutschen, er reitet lieber.<br />

Man erhält Kenntnis, dass Melanchthon <strong>im</strong> Traum den Kurfürst von Sachsen, <strong>des</strong>sen<br />

Gemahlin Sybille und dazu seine Mutter Barbara sah, interessant dabei, dass er in<br />

Parallele zur katholischen „Heiligen Mutter Kirche“ seine Mutter als Symbol der<br />

reformierten Kirche interpretierte.<br />

Es findet sich die Vorarbeit der frühen Humanisten für die Reformation bestätigt, auf<br />

dem Augsburger Reichstag von 1530 greifen der päpstliche Abgesandte Pico della<br />

Mirandola und spanische Vertreter namentlich Erasmus von Rotterdam an und zeihen<br />

ihn der Verantwortlichkeit für die Existenz <strong>des</strong> Protestantismus.<br />

Man erfährt, dass der päpstliche Unterhändler, jener Pietro Paolo Vergerio, sich später<br />

zum Protestantismus bekannte, und dass es schließlich auch in Venedig und selbst in<br />

Spanien Protestanten gab, die freilich als Ketzter verfolgt wurden.<br />

Zahlreich sind die Briefe, die zwischen Melanchthon und englischen Gesandten hin und<br />

her gehen, und dennoch bleibt der Leser über die Reformierung Englands <strong>im</strong> Unklaren<br />

– die Lücken in „MBW“ lassen die Vorgänge unter Heinrich VIII. als Rätsel erscheinen.<br />

Erst durch weitere Bücher erfährt man, was „MBW“ nicht erzählt:<br />

Heinrich VIII hatte sich zum Oberhaupt der Kirche in England erklärt, um seine<br />

Scheidung von der Habsburger Katharina von Aragon selbst zu regeln. Er hob die<br />

Klöster auf, um seine Festungsbauten zu finanzieren, und auch die Schiffe, mit<br />

welchen er der teuren Tradition der Kriege mit Frankreich frönte. Um das Land, das<br />

unter den Steuerlasten entlang <strong>des</strong> Aufruhrs lebte, steuerbar zu halten, fuhr er<br />

wechselnd einen lutherischen Kurs, dann wieder einen römischen, um bei jedem<br />

Kurswechsel einmal Protestanten, dann wieder Katholiken – manchmal auch beide<br />

gleichzeitig, etwa 70 000 Menschen, als Ketzer verbrennen zu lassen.<br />

Wiederholt liest man in „MBW“, Melanchthon verehrt die Tschechen wegen Jan Hus, er<br />

liebt die Polen, da sie seit Jahrhunderten die asiatischen Horden von Europa<br />

fernhalten, einen gewissen Kopernikus, so findet er, sollte man dagegen einsperren,<br />

denn der vertausche die Bewegungen von Sonne und Erde.<br />

Dazwischen finden sich Dokumente – sie lassen schmunzeln. Melanchthon wohnte<br />

offenbar über mehrere Jahre hinweg in einem Gebäude, das mehr Bruchbude und<br />

Baustelle denn Wohnhaus war. Mit einem Busenfreund will er eine WG gründen, was<br />

allerdings von der Verwandtschaft seiner jungen Frau resolut unterbunden wird. Und<br />

am 3. Februar 1560 schreibt ein Eustachius von Schlieben, er bedauere, dass ihn das<br />

Schicksal … zum Höfling machte, weshalb er den gelehrten Melanchthon mit dummen<br />

Fragen belästigen muss. (Er schreibt dann umfassend vom Wirken <strong>des</strong> Teufels auf<br />

Erden.) Sodann: Er gehe häufig zum Abendmahl, hat aber Gewissensbisse, ob er<br />

angesichts seiner politischen Tätigkeit auch <strong>im</strong>mer würdig empfängt. Er erbittet<br />

Melanchthons Rat.<br />

261


Doch liest man auch, dass Melanchthon einen gewissen Bartholomäus Schrack aus<br />

der Steiermark empfiehlt, der aus Gefälligkeit zum Magister promoviert wurde, Caspar<br />

Peucer, der Schwiegersohn Melanchthons, erfreute sich an <strong>des</strong>sen Musikalität. Nicht<br />

weniger bedenklich, Melanchthon bittet einen Autor umgehend 500 Exemplare einer<br />

Abhandlung nach Wittenberg zu senden, er, Melanchthon, werde das Werk auf die<br />

Vorankündigung der nächsten Vorlesungen setzen; Marketing nennt man das heute,<br />

wobei jedoch Melanchthon in dieser Zeit häufig von der Armut der Studenten schreibt.<br />

„MBW“ klärt auch den Begriff „Wucher“. Für Melanchthon ist ein Zinssatz von 5%<br />

zulässig, ein Zinssatz von 20% und mehr, sei hingegen Wucher. Die merkwürdige<br />

Spanne zwischen 5% und 20% erklärt sich vermutlich dadurch, dass bei der<br />

galoppierenden Inflation in jener Zeit der Kreditgeber bei Gewährung eines Zinssatzes<br />

von 5% sich selbst schädigte. Diese Inflation ist es auch, die die Studenten verarmen<br />

lässt, die Kosten stiegen, die Höhe der Stipendien blieb unverändert.<br />

Geradezu schockiert verfolgt man, wie die deutschen Fürsten nach 1546, mit Beginn<br />

<strong>des</strong> Schmalkaldischen Kriegs, Deutschland in ein Chaos stürzen.<br />

Sengend und mordend ziehen die Heere verschiedener Fürsten und Grafen durch die<br />

Landschaften, teils um ihre Rivalitäten auszutragen, teils um den Menschen die wahre<br />

Religion zu bringen, um sie ungeachtet <strong>des</strong>sen <strong>im</strong> gleichen Augenblick totzuschlagen.<br />

Dazu aus einem Brief an Calvin vom 1. Okt. 1552: Niederlage eines Heeres <strong>des</strong> Kg.<br />

Ferdinand in Ungarn gegen die Türken; Türkenzug <strong>des</strong> Kf. Moritz von Sachsen.<br />

Kriegshandlungen <strong>des</strong> Mgf. Albrecht von Brandenburg-Kulmbach um Nürnberg, um<br />

Frankfurt und in den Bistümern Mainz und Trier. Kaiser Karl sammelt in Speyer<br />

Truppen gegen diesen und gegen Kg. Heinrich II. von Frankreich, <strong>des</strong>sen Heer in der<br />

Diözese Lüttich ist. Volrad, der Sohn <strong>des</strong> Gf. Mansfeld stellt bei Bremen ein Heer auf,<br />

um Mansfeld zu erobern.<br />

Der Schmalkaldische Krieg war ein siebenjähriger Krieg und er war das erste Bühnenbild<br />

<strong>des</strong> Dreißigjährigen Kriegs; dieser endete mit dem Frieden von Münster <strong>im</strong> Jahr<br />

1648.<br />

Dass der Zar nach der Ostsee greift, die Türken nach und nach Ungarn besetzen und<br />

schließlich Wien in Schrecken versetzen, berührt Kaiser und Fürsten offenbar wenig.<br />

Freilich werden in den Briefen gelegentlich Schlachten mit den Türken erwähnt, doch<br />

auch, dass es wiederholt Seuchen sind, die das türkische Heer auseinander treiben,<br />

dass Rivalitäten unter den Söhnen <strong>des</strong> Sultans den Ansturm bremsen, und nicht<br />

zuletzt, dass es die Perser sind, die mit ihren Feldzügen und Aufständen die Türken<br />

vom Angriff auf Österreich abhalten.<br />

Mit Blick auf die katholische Kirche möchte man annehmen, dass die Inhalte <strong>des</strong><br />

Protestantismus durch Luther, Melanchthon und deren Mitstreiter ausformuliert wurden<br />

– weit gefehlt. „MBW“ zeigt, die Reformatoren hatten zu allen offenen Fragen, wie<br />

Taufe, Zölibat oder Tabernakel, lediglich eine Erörterung zu liefern, der Fürst bedachte<br />

sich und entschied. Ob Befugnisse eines Bischofs, Ritus und zum Teil auch<br />

Glaubensinhalte, bis ins Detail wurde es vom Fürst, dem Herrn der jeweiligen<br />

Lan<strong>des</strong>kirche, festgesetzt. Selbst bei der Suche nach Eintracht unter den<br />

Evangelischen wurde den Reformatoren wenig Boden eingeräumt. Am 12. Okt. 1537<br />

schreibt Melanchthon an Camerarius, dass er in Anwesenheit <strong>des</strong> Kürfürsten von den<br />

Räten wegen seines Briefes an Jakob Schenck über den Abendmahlsempfang<br />

(Laienkelch) zur Rechenschaft gezogen werde. Es würde ihm nicht leid tun, so er aus<br />

seinen Fesseln entlassen würde und er sich ganz dem humanistischen Unterricht<br />

widmen könnte.<br />

Diese Abhängigkeit vom Lan<strong>des</strong>herrn blieb bis 1918 festgeschrieben; also steht selbst<br />

noch in „Evangelisches Kirchengesangsbuch für den Konsistorialbezirk Cassel“ von<br />

1906 zu lesen: „Ausgabe für die lutherischen Gemeinden. Herausgegeben vom<br />

Königlichen Konsistorium zu Cassel unter Mitwirkung <strong>des</strong> Gesamt-Synodal-<br />

Ausschusses. Cassel 1906 / Hof- und Waisenhaus-Buchdruckerei.“<br />

Wenn er als neuer Kleinpapst das Laufen erst noch lernen musste, wie selbstbewusst<br />

der Kurfürst von Sachsen bereits in seiner neuen Macht agierte, belegen die<br />

Instruktion <strong>des</strong> Kurfürsten vom 25. Okt. 1521, seine Anweisung vom 2. Jan. 1522,<br />

262


sodann seine Instruktion vom 13. Febr. 1522. Rüge, heißt es darin, dass ärgerlicher<br />

Zwiespalt entstand und entgegen dem Befehl <strong>des</strong> Kf. Neuerungen eingeführt wurden,<br />

die noch nicht mal dringlich waren, vor allem die Abschaffung der Bilder. …<br />

Kanzelpolemik ist verboten … Karlstadt darf nicht mehr predigen …<br />

Selbstredend wehrt man sich in Wittenberg. So gibt Luther Melanchthon den Rat, den<br />

Fürsten schlicht vor vollendete Tasachen zu stellen. Das Grollen aus der fürstlichen<br />

Kanzlei erfolgt prompt. Er wünsche nicht, lässt der Fürst wissen, dass künftig ein<br />

Pfarrer aus seinem Amt entfernt werde, bevor nicht Rücksprache mit ihm genommen<br />

wurde.<br />

Fürstliche Einrede, die jedoch nicht allein vom Willen zur Macht best<strong>im</strong>mt wird, sondern<br />

auch notwendig ist, um die Reformierung am Leben zu erhalten; das Fallbeil der<br />

Ketzerei schwebt über den Protestierenden. Seit dem Edikt „Cum ad conservandum“<br />

Kaiser Friedrichs II. aus dem Jahr 1224 gehört es zu den kaiserlichen Pflichten –<br />

freilich auch Rechten, zum Schutz <strong>des</strong> Glaubens gegen Häretiker vorzugehen und sie<br />

zu bestrafen. Luther, Melanchthon und die übrigen Reformatoren wollen die Reinigung<br />

der Kirche voranbringen, ihr Fürst hingegen sieht das politische Umfeld, das<br />

gegenwärtig Machbare, das aktuell Zulässige. Denn neben dem „reinen Evangelium“,<br />

bzw. dem „sündhafte Machtmissbrauch der Päpste“ geht es auch um eine gewaltige<br />

Besitzumschichtung. Die Grundlinie dabei, von der die protestierenden Fürsten<br />

gegenüber dem Kaiser folglich nicht abweichen, freilich auch nicht abweichen dürfen,<br />

lautet: „Demütig erwarten wir ein reformorientiertes Konzil, sehen uns aber durch die<br />

Fürsorge gegenüber unseren Untertanen gezwungen, bis dahin zumin<strong>des</strong>t die<br />

schl<strong>im</strong>msten Auswüchse sündhafter Religionsausübung zu beschneiden.“<br />

Wohlwissend, dass Rom niemals ein freies Konzil einberufen wird, um sich dann<br />

wegen Sündhaftigkeit anklagen zu lassen, und auch, dass der Papst niemals der<br />

Argumentation folgen würde, er sei nicht mehr als nur der Bischof von Rom.<br />

Und während die breite Öffentlichkeit sich weiter über Reformen bzw. über lutherische<br />

Ketzerei erregt, brüten die protestantischen Fürsten über dem Schachbrett. Das Spiel<br />

„Rom gegen Wittenberg“ darf sich nicht auf dem Schlachtfeld entscheiden – zumin<strong>des</strong>t<br />

nicht in diesen Jahren.<br />

Niemand ist artiger gegenüber dem Kaiser <strong>im</strong> ersten Jahrzehnt nach Worms als die<br />

protestantischen Fürsten, sie bleiben ihm den Gehorsam – soweit festgeschrieben,<br />

nicht schuldig. Dazu spielen sie auf der nationalen Klaviatur die Zeitgeistjedermannsmelodie<br />

„Los von Rom!“, und mit dem Zugriff auf kirchliches Vermögen reizen sie die<br />

abseits stehenden, unentschlossenen Fürsten, sich ihnen anzuschließen. Ein Anreiz,<br />

der schließlich selbst in die kaiserliche Familie hineinwirkt. Am 6.Juli 1537 schreibt<br />

Melanchthon, dass der Gesandte (Gallus Müller) König Ferdinands (Bruder <strong>des</strong><br />

Kaisers) fordert, auf dem Konzil in Mantua die freie evangelische Lehre, Laienkelch,<br />

Priesterehe und ein Verbot für Klöster, Erbschaften anzutreten, zu beschließen.<br />

Wurden anfangs noch viele Entscheidungen Luther, Melanchthon sowie den übrigen<br />

Wittenberger Professoren überlassen, bzw sie bei Entscheidungen hinzugezogen, an<br />

Hand „MBW“ lässt sich verfolgen, wie das freie Florettieren nach und nach in die<br />

Bahnen einer ordentlichen Verwaltung gelenkt wird. Über 600 Ehegutachten habe er in<br />

den letzten Jahren gefertigt, notiert Melanchthon um 1532, zwei Jahrzehnte später<br />

werden die Fälle <strong>im</strong> Konsistorium beraten. Wobei der Fürst nicht allein in der<br />

Universität die Wände laufend zurechtrückt. Adelige Studenten, deren Familien bis<br />

dato das Privileg eines Stipendiums besaßen, sehen sich plötzlich mittellosen<br />

Studenten gleichgestellt; nicht anders als diese müssen sie in der fürstlichen Kanzlei<br />

um Gewährung <strong>des</strong>selben bitten und noch mal später, nicht anders als ihre armen<br />

Kommilitonen, auch ein Empfehlungsschreiben beibringen.<br />

Die Ehe-Fälle lesen sich übrigens recht witzig, dazu aus Band 3 ein Gutachten für<br />

Georg Spalatin in Altenburg vom 10. Dez. 1543: Bastian Mulner hatte in We<strong>im</strong>ar Anna<br />

Graf geheiratet, die aber am dritten Tag der Ehe zu einem Naumburger Priester<br />

entlief, von dem sie drei Kinder hat. Bastian Mulner heiratete eine andere. Der<br />

Entscheid dazu lautet: die erste Frau ist vorzuladen und zu verurteilen; die zweite Ehe<br />

ist gültig.<br />

263


Nicht zu übersehen, die Anzahl jüdischer Namen in „MBW“: Honigmann, Seligmann,<br />

Seidemann. Ein Student namens Johannes Mendel wird zwar in „MBW“ nicht erwähnt,<br />

doch der Leser kennt ihn bereits, er heißt Johannes Manlius. Es will scheinen, dass in<br />

dieser Zeit, da die Juden noch <strong>im</strong>mer aus den Städten fortgejagt werden, sich nicht<br />

wenige von ihnen mit dem Protestantismus arrangierten.<br />

Ohne Luther – keine Reformation, doch „MBW“ macht deutlich: ohne Melanchthon –<br />

kein Überleben der Reformation.<br />

Melanchthon stand für die geistige Quintessenz <strong>des</strong> Protestantismus – Wittenberg<br />

erstrahlte in hellem Licht. Melanchthons Nähe zum kurfürstlichen Hof gab dem<br />

Engagement seines Fürsten den Glanz von Gelehrsamkeit, bürgte für <strong>des</strong>sen<br />

Friedensliebe, Kaisertreue und ehrliche Verhandlungsbereitschaft mit Rom. Dem Zorn,<br />

der Intoleranz und der Gier jener Jahrzehnte stellte Melanchthon sein Bedürfnis nach<br />

Frieden und Harmonie entgegen. Seiner Bereitschaft zum Kompromiss, sowohl mit<br />

Rom als auch mit den protestantischen Gruppierungen, waren keine Grenzen<br />

gezogen. Melanchthon verstand es quer durch die Menschheitsgeschichte zu<br />

argumentieren. Sein profun<strong>des</strong> Wissen, nicht allein der Antike, sondern auch der<br />

Bibelauslegung, der Geschichte, der Kirchengeschichte, selbstverständlich auch der<br />

mosaischen Gesetze, dazu sein überaus biegsam-elastischer Geist, gaben den<br />

protestantischen Fürsten jene Argumente und Gutachten in die Hände, damit diese auf<br />

der politischen Bühne agieren konnten. Mühelos trägt Melanchthon für seinen Fürsten<br />

in einem Gutachten vom Dezember 1536 ein Dutzend Präzedenzfälle zusammen, die<br />

beweisen, dass auch ein Kaiser ein Konzil einberufen darf. Für König Heinrich VIII.<br />

von England konstruiert er eine Ausnahmeregelung für Bigamie, diese sei zulässig, so<br />

es der Erhalt der Dynastie erfordere. Die Verehrung der Tagesheiligen, vorgestern<br />

noch als „verruchter römischer Götzendienst“ angeprangert, Melanchthon kann sich<br />

auch vorstellen, sie als „Gedenktage“ zu etikettieren.<br />

Melanchthons Scharfsinn ist es zu verdanken, dass Rom den Vorwurf der Ketzerei<br />

nicht aufrechterhalten konnte. Auf dem Augsburger Reichstag von 1530 legt er die<br />

„Confessio Augustana“ vor, der die „Confutatio“, ein katholisches Positionspapier,<br />

entgegen gestellt wird. Als Melanchthon dann in der Debatte um das Abendmahl<br />

darlegt, dass Christus nur <strong>im</strong> Augenblick der Wandlung in Wein und Brot gegenwärtig<br />

sei und Johann Eck ihn nicht widerlegen kann, gerät Johann Eck in Gegenwart <strong>des</strong><br />

Pfalzgrafen Friedrich und <strong>des</strong> Nikolaus Granvella derart in Zorn, dass er erkrankt;<br />

Nikolaus Granvella, ein hoch angesehener Jurist, war Leiter <strong>des</strong> kaiserlichen<br />

Petitonswesen.<br />

Der Augsburger Reichstag von 1530, neun Jahre nach Worms, war für den Bestand<br />

und die Entwicklung <strong>des</strong> Protestantismus von hoher Bedeutung: Der Vorwurf der<br />

Ketzerei war vom Tisch, das Anliegen der Protestanten, dass Rom Reformen<br />

durchführen müsse, war legit<strong>im</strong>.<br />

So <strong>im</strong> Essay „Melanchthon schweigt“ bei der Betrachtung <strong>des</strong> Manlius-Textes der<br />

Eindruck vermittelt wurde, Luther und Melanchthon wären bei der Verfolgung<br />

faustischer und überhaupt teuflischer Künste Hardliner gewesen, so wird dieser<br />

Eindruck durch „MBW“ nicht korrigiert. Zwar ist „MBW“ nur ein Torso, doch die<br />

seinerzeitige Vorstellung, dass der Teufel auf Erden wirke, findet sich in vielen<br />

Dokumenten bestätigt.<br />

In einem Gutachten vom 4./5. Juni 1536 für den Landgraf Philipp von Hessen in<br />

Sachen „Bestrafung der Wiedertäufer“ schreiben Luther, Bugenhagen, Cruciger und<br />

Melanchthon: Halsstarrigkeit gegen Gottes Wort beweist das Wirken <strong>des</strong> Teufels.<br />

Im Dokument Nr. 1827 von 1536 notiert Melanchthon die Vorwürfe gegen die<br />

lutherische Sache (Schisma, Ärgernis, Aufruhr), sodann Argumente zu deren<br />

Verteidigung (Rechtfertigungslehre, Messe, Zölibat, Obrigkeit, Teufel).<br />

Und eines der letzten Bücher, das Luther vor seinem Tod publizierte, trägt den Titel<br />

„Wider das Bapstum zu Rom vom Teuffel gestifft“.<br />

Luther und Melanchthon, nicht anders als ihre Zeigenossen, glaubten an die Existenz<br />

<strong>des</strong> Teufels und sie haben ihren Beitrag zur großen Hexenverfolgung, die mit dem<br />

Religionsfrieden von 1555 einsetzte, geleistet.<br />

264


Mit dem Religionsfrieden wurde die Einteilung in katholische und reformierte Gebiete<br />

festgeschrieben, die Zwistigkeiten darüber, einmal unter den Fürsten selbst, sodann<br />

der Fürsten mit dem Kaiser, waren damit beendet. Auf die Bevölkerung, die man bis<br />

dahin brauchte, um einer möglichen zwangsweisen Re-Katholisierung – die dann auch<br />

nach dem Schmalkaldischen Krieg über das „Augsburger Inter<strong>im</strong>“ versucht wurde, zu<br />

widerstehen, musste keine Rücksicht mehr genommen werden.<br />

Den Beitrag der Bevölkerung be<strong>im</strong> Widerstand gegen das Inter<strong>im</strong> belegt der Brief<br />

Melanchthons vom 3. Okt. 1548 an Kilian Goldstein in Halle:<br />

„ … (2) Halle solle das Inter<strong>im</strong> ablehnen. Am Rhein beging ein Priester wegen der<br />

Annahme Selbstmord. Die Herzöge Barn<strong>im</strong> und Philipp von Pommern samt ihren<br />

Untertanen und Markgraf Johann von Brandenburg-Küstrin lehnten es ab. Dasselbe<br />

erwarte er von den niedersächsischen Städten. Der gefangene Landgraf von Hessen<br />

befahl die Annahme, aber die Geistlichen und das Volk weigern sich. …“<br />

„MBW“ lenkt zudem den Blick auf einen anderen Vorwurf der Geschichtsschreibung,<br />

der mit Sicht auf die Ereignisse <strong>im</strong> 20ten Jahrhundert noch schwerer wiegt, er lautet:<br />

Fürstenknechte!<br />

In einem Gutachten vom 1. Aug. 1531 für die Räte <strong>des</strong> Mgf. Georg von Brandenburg-<br />

Ansbach und den Rat der Stadt Nürnberg, angefertigt von Luther, Jonas, Bugenhagen<br />

und Melanchthon, heißt es unter 4.: Auch ungerechter Obrigkeit gebührt Gehorsam.<br />

Ende 1531 schreibt Melanchthon an Bernhard Rothmann in Münster, das Volk soll das<br />

auf sein Gewissen bezügliche lernen, nämlich Glaube, Buße, Obrigkeit, Liebe.<br />

Und in einem Gutachten, ebenfalls von Ende 1531, angefertigt von Justus Jonas und<br />

vermutlich auch von Melanchthon, heißt es: Man darf nichts gegen sein Gewissen<br />

unterstützen, kann aber seine Lehensherren walten lassen.<br />

Einer der Vorwürfe, mit dem sich die Protestanten laufend auseinandersetzen<br />

mussten, lautete, sie seien illoyal, ungehorsam und rebellisch; bester Beweis dafür<br />

war die vielfache Zerrissenheit unter den Protestierenden selbst. Nicht allein wegen<br />

unterschiedlicher Auffassungen über Glaubensinhalte und Riten, sondern auch wegen<br />

Vorstellungen – von der Geschichtsschreibung weiträumig als „schwärmerisch“<br />

bezeichnet, die urchristliche, katharische, gottesstaatliche und auch kommunistische<br />

Lebensformen zu verwirklichen suchten. Luther und Melanchthon waren dagegen<br />

Garanten der überkommenen weltlichen Ordnung.<br />

Im Jahr 1522 veröffentlichte Luther die Schrift: „Eyn trew vormanung Martini Luther tzu<br />

allen Christen. Sich tzu vorhuten fur auffruhr unnd Emporung.“<br />

Und Melanchthon verweist mit seiner Schrift „Wider die Artikel der Bauernschaft“ alle<br />

Forderungen der aufständischen Bauern als ungesetzlich bzw. als unchristlich <strong>des</strong><br />

Fel<strong>des</strong>; <strong>im</strong> Nachsatz schreibt er, dass Fürsten gerechte Herrschaft üben sollten.<br />

Ob „auffruhr unnd Emporung“, Sickingische Fehde oder Krieg, gemäß „MBW“ waren<br />

Luther und Melanchthon allem Waffenlärm, jeder Unruhe feind.<br />

Dass Luther und Melanchthon mit ihrer Forderung nach Gehorsam das Fortbestehen<br />

<strong>des</strong> Protestantismus sichern wollten, erhellt ein Brief von Ende August 1526 an den<br />

Landgraf Philipp von Hessen: Die gegenwärtige Unruhe in Deutschland ist gefährlicher<br />

als je zuvor in der Geschichte der Kirche. Während früher nur Dogmen strittig waren<br />

und die politische Gewalt unangefochten blieb, wird heute alles in Zweifel gezogen<br />

und kirchliche Bräuche ohne Notwendigkeit geändert, es droht die Gefahr einer<br />

bewaffneten Auseinandersetzung. … Kanzelpolemik ist von den Amtleuten zu unterbinden.<br />

Auch das Gesetz ist zu predigen, insbesondere der Gehorsam gegen die<br />

Obrigkeit. … Das Wesen <strong>des</strong> Christentums ist Gottesfurcht, Glaube, Liebe und Gehorsam<br />

gegen die Obrigkeit. Was Waffen für das Evangelium ausrichten, zeigte der<br />

Bauernkrieg.<br />

Um die Reformierung am Leben zu erhalten, erachtet Melanchthon also zwei Grundpositionen<br />

für notwendig. Von den Fürsten verlangt er beharrliche Friedensliebe. Vom<br />

Volk fordert er Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Er fürchtet also zum einen<br />

bewaffnete Konflikte unter den Fürsten, die den Kaiser zum Eingreifen zwingen, bzw.<br />

ihm den Vorwand zum Eingreifen und zur Unterdrückung der Reformbestrebungen<br />

265


liefern, er befürchtet zum andern, dass Aufrührer und Schwärmer die der Reformation<br />

zugeneigten Fürsten wieder abspenstig machen könnten.<br />

Im Brief vom 14. Sept.1522 wendet sich Melanchthon scharf gegen alle Fanatiker<br />

(Storch, Müntzer, Karlstadt), er schließt: „Christus bekennen, heißt sein Kreuz tragen.“<br />

Womit Melanchthon sich nicht allein gegen gesellschaftliche Veränderungen stellt, er<br />

sieht den leidenden Menschen näher bei Gott als den Prasser und Protzer.<br />

Im Februar 1523 fertigte Melanchthon <strong>im</strong> Auftrag seines Fürsten ein erstes Gutachten<br />

über das „Widerstandsrecht christlicher Fürsten gegen den Kaiser“ an, wenige Tage<br />

später ein zweites. Melanchthon selbst hält von einem Widerstandsrecht wenig, er will<br />

den Kaiser nicht herausgefordert sehen, folglich gibt er es auch seinem Fürsten <strong>im</strong><br />

Gutachten zu lesen: „Das Leiden stehe einem Christen ohnehin besser an.“<br />

Kaiser, Fürsten, Adel und Volk, das ist die überkommene Hierarchie und auch<br />

Melanchthons weltliche Ordnung. Aus dem Brief <strong>des</strong> Apostels Paulus an die Römer<br />

führt er den Beweis, diese Ordnung ist gottgewollt.<br />

Anders formuliert: Das Volk hat zu gehorchen, Anspruch auf einen einsichtigen<br />

Fürsten erwirbt es durch sein gottgefälliges Wohlverhalten jedoch nicht.<br />

Wobei die Protestanten der angesehenen Stadt Straßburg es sich jedoch nicht<br />

nehmen ließen, Luther und Melanchthon wegen jener „Obrigkeits-Paragraphen“<br />

hartnäckig zu attackieren.<br />

Dreißig Jahre später, um 1550, wird Melanchthon auch den Widerstand gegen<br />

Tyrannei und unberechtigte Steuern für zulässig erachten. Eine Auffassung, freilich<br />

rein theoretischer Art, die er auch nicht öffentlich vertritt, sondern in einem privaten<br />

Schreiben äußert. Dass er sich jedoch überhaupt in dieser Richtung äußert, lässt<br />

aufhorchen.<br />

Es findet sich in „MBW“ das Dokument 9211. Wenngleich vom Inhalt her eine Rarität<br />

<strong>im</strong> Fundus, es macht beinah glauben, dass die an sich verdächtig griffige Bezeichnung<br />

„Fürstenknecht“, doch zu einfach sei.<br />

Ein gewisser Keyser in Malitzschkendorf hatte gemeldet, dass der Bauer Anton<br />

Mickarth <strong>im</strong> Filialdorf Jagsal, Untertan <strong>des</strong> Hans von Stauchwitz, ein Brot anschnitt,<br />

worauf Blut aus dem Brot lief. Auf Anraten seiner Tochter wusch er sich die Hände,<br />

doch es lief weiterhin Blut aus dem Brot. Hans von Stauchwitz hatte <strong>im</strong> Beisein von<br />

Keyser den Bauern befragt, beide bitten um ein Gutachten über die Bedeutung dieses<br />

Vorfalls. (Vermutlich handelte es sich um einen älteren Laib, der mit Mikroben der Art<br />

Micrococcus prodigiosus besiedelt war.)<br />

Nachdem Melanchthon durch die Betreung von Gästen verhindert ist, antwortet Paul<br />

Eber für Melanchthon: „Das blutende Brot bedeutet Blutvergießen als Strafe für<br />

Missachtung der irdischen und h<strong>im</strong>mlischen Gaben Gottes. Es ist eine besondere<br />

Warnung an die Adligen, die ihre Untertanen aussaugen.“<br />

Ein härenes Gutachten, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen lässt, allerdings nicht<br />

für den Bauern Anton Mickarth angefertigt.<br />

Das Urteil, Melanchthon sei ein Fürstenknecht gewesen, wird durch „MBW“ nicht<br />

widerlegt. Für Melanchthon gab es ein gottgewolltes Verhältnis der Unterwerfung: Der<br />

Untertan schuldet seinem Lan<strong>des</strong>herrn Gehorsam, der Lan<strong>des</strong>herr schuldet als „Pater<br />

familiae“ seinem Untertan Fürsorge. Daran hielten die Lan<strong>des</strong>herren sich allerdings<br />

nicht, statt Fürsorge zu üben, verschärften sie die Gesetze und pressten Steuern.<br />

Melanchthons Empörung über die selbstherrliche Pflichtvergessenheit der Fürsten<br />

beschränkte sich auf den Ausfluß <strong>im</strong> Briefwechsel – zuvorderst mit Camerarius, seine<br />

Frustration und Trauer kompensierte er durch Studien.<br />

Es ist bezeichnend für die Vorgehensweise der protestantischen Fürste und Städte in<br />

jenem Jahrzehnt, dass zwischen den ersten Überlegungen zum Widerstandsrechts<br />

gegen den Kaiser, um sich vor sündhafter Religionsausübung zu schützen, bis zur<br />

Gründung einer Militärallianz <strong>im</strong> Jahr 1531, acht Jahre liegen; Warten, Sondieren,<br />

Taktieren, ein Spiel für das es kein Drehbuch gab, aber kalte Nerven brauchte. Ein<br />

Spiel, das allerdings abrupt und mit einem Paukenschlag endet: Die Protestanten<br />

schließen sich zu jener Militärallianz, dem Schmalkaldischen Bund, zusammen.<br />

266


Die Voraussetzung für die Gründung <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong> hatte sinniger Weise und wieder<br />

einmal – so darf man durchaus sagen, Melanchthon geschaffen, er hatte auf jenem<br />

Augsburger Reichstag von 1530 die Protestanten vom Vorwurf der Ketzerei erlöst.<br />

Was nichts daran ändert, dass die protestantischen Fürsten mit dem Schmalkaldischen<br />

Bund ein keckfreches Stück auf der politischen Bühne inszenieren. Zum einen<br />

müssten sie dem Kaiser nicht derart unverfroren Paroli bieten – gehe<strong>im</strong>e<br />

Beistandsabkommen erfüllten in etwa den gleichen Zweck, zum anderen sind selbst<br />

ihre eigenen Juristen sich nicht darüber einig, ob das Bündnis nicht bereits eine Form<br />

von Landfriedensbruch darstellte, das den Kaiser zur Reichsexekution bevollmächtigte.<br />

Doch ein Bund gegen den Kaiser, er fand auch den he<strong>im</strong>lichen Beifall der<br />

katholischen Fürsten; alles, was den Kaiser gegenüber seinen Fürsten einschränkte,<br />

war willkommen. Und der Kaiser brauchte Geld, viel Geld. Für die Kriege mit<br />

Frankreich, für die Abwehr der Osmanen, er brauchte die finanzielle Hilfe aller<br />

Reichsstände. Im Jahr darauf, 1532, wird bereits der „Nürnberger Anstand“<br />

ausgehandelt: eine befristete Rechts- und Friedensgarantie für den gegenwärtigen<br />

konfessionellen Besitzstand. Das „Wormser Edikt“, das Luther in die Acht erklärt hatte,<br />

war damit aufgehoben, alle Religionsprozesse be<strong>im</strong> Reichskammergericht wurden<br />

eingestellt, ebenso die Verfolgung der Protestanten.<br />

Mit dem „Nürnberger Anstand“ war der Protestantismus zwar noch <strong>im</strong>mer nicht<br />

sanktioniert – schließlich wartete man weiterhin auf Reformen seitens Rom, doch<br />

weiterhin geduldet. Ausgestanden war damit also nichts, auch hatte der Kaiser nicht<br />

unterschrieben. Der ungute Zustand der Schwebe und Unsicherheit hielt weiter an.<br />

Eine der Fragen, die sich be<strong>im</strong> Lesen in „MBW“ einstellen, lautet: Was war dieser<br />

Philipp Melanchthon für ein Mensch? Melanchthon betet viel, er weint viel und er hat<br />

Angst, viel Angst um das Fortbestehen der Reformation. Vor Angst und Sorgen darüber<br />

kann er über Wochen hinweg nicht schlafen, bis er schließlich selbst seine geliebten<br />

Vorlesungen nicht mehr halten kann. Es ist Luther, der ihm auf die Schulter klopft und<br />

ihn neuen Mut fassen lässt. Luther, Kämpfernatur, robust, praktisch veranlagt, und<br />

Melanchthon, der ängstliche Mensch, der sich allein hinter Büchern vor dem Leben in<br />

Sicherheit weiß. So grundverschieden die beiden auch sind, so dringend brauchen sie<br />

einander. Nach außen demonstrieren sie Wittenberger Einigkeit, Freundschaft<br />

verbindet sie jedoch nicht, sondern allein die Erkenntnis, dass einer ohne den andern<br />

nicht kann. Wo es Luther genügt zu wissen, dass es reicht von Zeit zu Zeit <strong>im</strong> rechten<br />

Moment den rechten Hammerschlag zu tun, eilt Melanchthon bereits weit <strong>im</strong> Geiste<br />

voraus, er will für alle auch nur denkbaren Stöße und Untergriffe Roms gewappnet<br />

sein. Ein Bedürfnis, dem Luther nun gar nichts abgewinnen kann. Und so bleibt<br />

Melanchthon in einer speziellen Glaubensfrage nur der zweifelhafte Weg einen Dritten<br />

zu bitten, bei Luther anzufragen, ihn sodann über Luthers Antwort zu informieren,<br />

jedoch keinesfalls zu verraten, dass er, Melanchthon, hinter der Anfrage stehe.<br />

„MBW“ zeigt in Umrissen wie sich die Beziehung der beiden <strong>im</strong> Lauf der Jahrzehnte<br />

veränderte. Am 4. Nov. 1520 schreibt Melanchthon an Spalatin nicht nur, dass die<br />

Ernte dürftig war, er bittet auch um Schutz für Luther, den er für gottgesandt und für<br />

über Augustinus stehend hält. Am 13. Juli 1521 schreibt Luther auf der Wartburg an<br />

Melanchthon, dass ihm <strong>des</strong>sen Kleinmut genauso missfiele, wie <strong>des</strong>sen Überschätzung<br />

seiner (L.) Person. 10 Jahre später klagt Melanchthon in seinen Briefen an<br />

Camerarius, dass er in der Knechtschaft Luthers lebe, und nach 1540 notiert er<br />

wiederholt, dass Luther nur noch seiner Grobheit und Streitsucht fröne. In diesem Zeitfenster<br />

wird dann dem Leser Kunde, Luther hat nicht nur das Buch „Gegen die Jüden<br />

und ihre Lügen“ verfasst, sondern zwei weitere Schriften: „Vom Schem Amphoras“ und<br />

„Von den letzten Worten Davids“<br />

Die steuerliche Bedrückung bei gleichzeitiger Verschwendung, die Vernachlässigung,<br />

die schlechte Behandlung der protestantischen Kirche seitens seines Fürsten, die<br />

Verarmung der Wittenberger Universität (Dok. 2368), Melanchthon war gemäß „MBW“<br />

über alles <strong>im</strong> Bild. Die Missstände, dazu das Übermaß an Arbeit, das alles macht ihn<br />

nicht nur krank, er lebt ein Leben entlang der Verausgabung. Von daher wundert es<br />

nicht, dass er sich laufend den Tod wünscht oder den Tod kommen sieht. Ab dem<br />

267


Schmalkadischen Krieg wird er dann auch häufig von der „Endzeit“ und vom „Ende <strong>des</strong><br />

Reiches“ schreiben. Das entspricht seinem eigenen Lebensgefühl und auch dem<br />

innenpolitischen Hader, der den Reichsgedanken nun endgültig zerfrisst.<br />

Er wünscht sich, dass er entlassen wird, er wünscht es sich wiederholt, doch an Flucht<br />

dachte er gemäß „MBW“ nie, und auch ein Gesuch um Entlassung reichte er offenbar<br />

niemals ein. Seine triebhafte, zwanghafte Lust sich unentwegt Wissen anzulesen,<br />

jeden Sachverhalt geistig zu fassen, die daraus resultierende Macht der Einflußnahme,<br />

seine Hingabe an die Idee einer Reformierung der Kirche sowie die Begabung<br />

seiner sächsischen Fürsten ihn zu gängeln – Melanchthon hatte sich verfangen.<br />

Eine Erklärung freilich, die als psychologisieren<strong>des</strong> Amalgam von widerstreitenden<br />

Motiven allerdings nicht ganz befriedigt. Denn die hierarchische Ordnung von Kaiser,<br />

Fürsten, Adel, Volk, das ist die überkommene Ordnung, dass er sie nun reibungsfrei<br />

für gottgewollt erklärt, das ist nun doch zu bieder und gar nicht scharfsinnig.<br />

Melanchthon stammte aus wohlhabender Familie, sein Blick auf die Weltordnung war<br />

feudal geprägt, der Klasse, der er sich angehörig fühlte, war nicht die Schicht der<br />

Gebildeten, sondern die der Bildungselite, der Crème; sein dabei sich selbst<br />

zugedachter Rang, selbstverständlich unter dem Fürsten, jedoch über dem Adel<br />

stehend. Gemäß „MBW“ will es scheinen, Melanchthon weigerte sich bis ans Ende<br />

seines Lebens zu bemerken, dass Bildung allein nicht genügte, um <strong>im</strong> Dunstkreis von<br />

Herrschaftsrechten und angeborenen Machtinstinkt respektiert zu werden. Der lebenslange<br />

Schlingerkurs Melanchthons – durchaus schmerzhaft zu lesen, zwischen<br />

Ablehnung, mehr noch, zwischen Abscheu gegenüber der Politik seiner Fürsten und<br />

gleichzeitigem Eifer <strong>im</strong>mer wieder aufs Neue mit seinem Scharfsinn den Machenschaften<br />

seiner Herren zu dienen, es erklärt sich gutmöglich damit, dass Melanchthon<br />

nicht von der Vorstellung lassen konnte, dass ihm auf grund seiner hohen Bildung,<br />

freilich auch seiner Verdienste, der gedachte Rang innerhalb jener Hierarchie gebührt<br />

und er eisern entschlossen war, es <strong>im</strong>mer wieder aufs Neue und allen Widrigkeiten<br />

zum Trotz zu beweisen.<br />

Was jedoch nichts daran änderte, dass Melanchthon bei Hofe mit all seinem Wissen<br />

und seinem Scharfsinn gegen das Ansehen eines schlauen Höflings nicht ankam.<br />

Die Crème! Wunsch- und Phantasieprodukt der damaligen Bildungsbewegung, der die<br />

Fürsten, nicht anders als dem Adel, nun zügig ihre neuen Plätze weisen; mit ein paar<br />

Knabberknöchelchen, falls nötig, mit bösen Worten.<br />

Ein geradezu schmerzlicher Höhepunkt für den Leser ist das Ende der französischen<br />

Affaire: Melanchthon hatte 1534 / 1535 in Briefen den französischen König zur<br />

Reformierung gedrängt. Er wollte damit den Druck auf Rom erhöhen, Reformen durchzuführen.<br />

In seiner Reformbegeisterung hatte er allerdings dabei übersehen, dass er<br />

damit außenpolitisch tätig geworden war, also in kaiserliche Befugnisse eingegriffen<br />

und somit den Reichsfrieden aufs Spiel gesetzt hatte. Er war <strong>des</strong>halb von seinem<br />

Fürsten gerügt worden, infolge<strong>des</strong>sen fühlte er sich gekränkt und mied den Umgang<br />

mit seinem Fürsten. Wenige Wochen später schreibt Melanchthon an verschiedene<br />

Adressaten – jene, bei denen er sich vorher bitter beklagt hatte, der Fürst habe mit ihm<br />

freundlich geredet, jetzt sei alles wieder gut.<br />

Wo Melanchthon denkt, alles sei wieder gut, tauscht sein Fürst mit seinen Beratern nur<br />

ein Kopfschütteln – das begeisterte Lachen ist ihnen bei soviel kluger Einfalt und<br />

Wohlverhalten vermutlich schon längst vergangen. Sie kennen seinen geschwätzigen<br />

Briefverkehr nach überall, sie wissen, dass er nun hinausposaunt, wie kompromisslos<br />

sein Fürst das Pr<strong>im</strong>at <strong>des</strong> Kaisers in Sachen Außenpolitik respektiert, dass selbst eine<br />

Reformierung Frankreichs hintenangestellt wird.<br />

Die schlichte Wahrheit: Die protestantischen Fürsten sind <strong>im</strong> zweiten Jahrzehnt der<br />

Reformation entschlossen, die Früchte der Reformation in trockene Tücher zu bringen;<br />

sie haben den Vorwurf der Ketzerei abgeschüttelt, den Schmalkaldischen Bund<br />

gegründet, dazu den „Nürnberger Anstand“ durchgedrückt – die Zeit geduldigen<br />

Zuwartens ist vorbei. Der sächsische Kurfürst, ebenso Herzog Ulrich von Württemberg,<br />

und auch der hessische Landgraf, sie haben sich in außenpolitische Strudel begeben.<br />

268


Im selben Moment wo Melanchthon für seinen eigenmächtigen Briefwechsel zurechtgestutzt<br />

wird, pflegen sie selbst eifrige Korrespondenz mit dem König von Frankreich,<br />

dem Kontrahenten ihres Kaisers.<br />

Bei allen merkwürdigen Dunkelfeldern seiner Wahrnehmung, Melanchthon weiß zu<br />

leben. Zur Heirat müssen ihn zwar die Freunde überreden, er willigt ein, weil auch die<br />

Natur in ihm sei, nachfolgend beklagt er sich noch ein wenig, dass die Ehe wenig mit<br />

seinen Studien zu tun hätte, doch akzeptiert er dann rasch. Dazu gibt es Bier und Wein<br />

und Wildschweine – Präsente verschiedener Städte und Fürsten, man lädt sich ein zum<br />

Hasenessen, so ein Kandidat seinen Doktortitel erlangt, sitzt man be<strong>im</strong> Doktorschmaus<br />

zusammen und <strong>im</strong> Falle einer Hochzeit fragt man bei Hofe an, ob nicht wieder Wildbret<br />

spendiert werde. Der Überfluss ist derart, dass er wählerisch ist: den Lachs mag er<br />

nicht so gern, das Bier soll ein anderer trinken.<br />

Was nichts daran ändert, dass Melanchthon bis zum letzten Tag seines Lebens in der<br />

Pflicht bleibt, er von der Pflicht nahtlos in den Tod tritt. Ironie der Geschichte, das letzte<br />

seiner vielen Gutachten fertigt er für den sogenannten „protestantischen Erzfeind“, den<br />

Kaiser. Der Papst hatte die Rechtmäßigkeit der Wahl König Ferdinands zum Kaiser in<br />

Abrede gestellt, Rom hätte ein Wörtchen mitzureden gehabt. Melanchthon weist nach,<br />

Rom hat bei der Wahl selbst nichts mitzureden.<br />

Melanchthon, der kostbare Mann, den Rom seit Jahren zu umgarnen sucht, den der<br />

Kaiser sich so dringend als Kriegsbeute in die Tasche stecken wollte, den auch der<br />

neue Kurfürst von Sachsen – ganz gleich wie viel Druck der siegreiche Kaiser in der<br />

Inter<strong>im</strong>szeit auch machte, nicht aus Wittenberg fortlässt, <strong>des</strong>sen Scharfsinn schließlich<br />

auch Kaiser Ferdinand, Bruder und Nachfolger Karls V., zur Verfügung gestellt wird.<br />

Melanchthon! Der Mann, der dem Protestantismus über so viele Hürden hinüber half,<br />

<strong>des</strong>sen dienstfertigen Scharfsinn der „fromme vnd löbliche Fürst Hertzog Johannes“<br />

allerdings auch benutzte, um sich ins offene Unrecht zu begeben.<br />

Mit Beginn <strong>des</strong> dritten Jahrzehnts <strong>im</strong> Protestantismus hatte der sächsische Kurfürst<br />

neuen Appetit bekommen.<br />

Verständlich, die fortlaufenden Provokationen und Beleidigungen <strong>des</strong> Kaisers zeigten<br />

keine Folgen, der Kaiser ist weiterhin an allen Fronten beschäftigt, und nicht allein,<br />

dass Rom sich keinem freien Konzil stellen will, es fährt weiterhin einen antikaiserlichen<br />

Kurs. Also fasst der sächsische Kurfürst den Plan, sich das Bistum Naumburg-Zeitz<br />

anzueignen. Er bittet Melanchthon, der gerade seine Taschen für die Abreise zum<br />

Reichstag von Regensburg packt, sich schon mal seine Gedanken „umb die Zeit“<br />

darüber zu machen. Gedanken, die Melanchthon wiederum und wieder einmal<br />

überhaupt nicht behagen.<br />

Und so schreiben dann Johannes Bugenhagen, Caspar Cruciger und Melanchthon in<br />

Dok. 2835 von Anfang Nov. 1541, dem zu diesem Vorhaben angefordeten Gutachten:<br />

Bei der grundlegenden Bedeutung <strong>des</strong> Bischofsstan<strong>des</strong> für den Katholizismus, die<br />

jüngst auch in Regensburg zum Ausdruck kam, wird die Aufhebung eines Bistums nicht<br />

wie die der Klöster hingenommen werden, sondern der Kaiser und andere Potentaten<br />

werden um Hilfe ersucht und ein Krieg wird auch von den Friedlichsten befürwortet<br />

werden, zumal die Verfassung <strong>des</strong> deutschen Reiches verändert würde.<br />

So man einen Melanchthon <strong>im</strong> Portefeuille hat, gibt man eben ein zweites Gutachten in<br />

Auftrag. Und Melanchthon formuliert dann auch hurtig, dass unter Berücksichtigung der<br />

bisherigen Amtsführung <strong>des</strong> Bistums, … in Betrachtung der Rechte, wie sie bis dato<br />

durch das Bistum wahrgenommen wurden, … so man bei der Vorgehensweise<br />

folgende Punkte beachte …<br />

Als Reaktion auf diesen Raub passiert gleichsam nichts. Das hätte den Kurfürsten<br />

nachdenklich st<strong>im</strong>men müssen. Denn umso mehr tat sich hinter verschlossenen Türen,<br />

denn nun lag frei, was bis dahin gleichsam ein offenes Gehe<strong>im</strong>nis gewesen war, die<br />

protestantischen Fürsten waren Räuber von Kirchengut. Und der Schmalkaldische<br />

Bund war keineswegs die Wagenburg wahrer Christen, aber die Wehr, um diese<br />

Räubereien zu decken. Der Kaiser ließ Kriegspläne skizzieren und überarbeitete – für<br />

den Fall seines Sieges, die Liste der Kurfürsten und Fürsten. Später wird man von<br />

einem abgekarteten Spiel sprechen.<br />

269


Es kommt zum Schmalkaldischen Krieg und zur Niederlage der Protestanten. Der<br />

sächsische Kurfürst verliert seine Kurwürde, zig-tausende von Protestanten geraten ins<br />

Unglück.<br />

„Weltliche Sachen und Lehre sind zu unterscheiden, was die Protestanten jedoch nicht<br />

<strong>im</strong>mer taten.“ schreibt Melanchthon in Dok. 4451 vom 17. Nov 1546.<br />

Und in Dok. 4458 vom 23. Nov. 1546 an Camerarius heißt es: Eine der Ursachen <strong>des</strong><br />

Schmalkaldischen Krieges ist die Verdrängung <strong>des</strong> Julius Pflug vom Naumburger<br />

Bischofsstuhl. Er riet damals davon ab. (Dok. 2829, 2834, 2835, 2839 – 2841, 2847)<br />

Dafür wurde er von zwei Hofräten verspottet, deren Pflicht es gewesen wäre, der<br />

blinden Gier <strong>des</strong> Kurfürsten entgegenzutreten.<br />

Es folgte die Zeit <strong>des</strong> Augsburger Inter<strong>im</strong>s, besser gesagt, der Zeitabschnitt jenes<br />

merkwürdig halbherzigen Versuchs es umzusetzen, was wiederum in die sogenannte<br />

Fürstenverschwörung mündete, bei der es um mehr ging als sich gegen das Inter<strong>im</strong><br />

und gegen einen verordnenden Kaiser zu wehren.<br />

Dazu aus Dok. 6250 vom 1.11.1551:<br />

Melanchthon warnt den Kurfürsten von Sachsen vor dem Anschluß an das von<br />

Frankreich unterstützte Fürstenbündnis. Obwohl der Kaiser seine Zusagen bezüglich<br />

<strong>des</strong> Landgrafen (von Hessen) halten sollte, ist ein Krieg nicht zu verantworten. Er weist<br />

auf Frankreichs Untreue. Der König von Frankreich übergab einst dem Kaiser, um ein<br />

Bündnis mit dem Kaiser zu erlangen, Briefe <strong>des</strong> Kurfürsten Philipp von der Pfalz, <strong>des</strong><br />

Herzog Ulrich von Würtemberg, <strong>des</strong> Herzog Heinrich von Braunschweig, <strong>des</strong><br />

Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen, <strong>des</strong> Langrafen Philipp von Hessen sowie der<br />

Lübecker unter Wullenweber. Melanchthon weist auf Frankreichs Zusammengehen mit<br />

den Türken und auf die Unzuverlässigkeit der Verschwörer. Deren Ziel die Bistümer<br />

aufzuteilen, wird Papst, Kaiser und den König von Frankreich einen.<br />

Doch mit der Fürstenverschwörung ist eine Pattsituation entstanden, die zum<br />

Religionsfrieden von 1555 führt, womit dem Religionsstreit und der damit<br />

einhergehenden Gier ein Ende bereitet wird. Zu einem Zeitpunkt, da auch der Kaiser<br />

verbraucht, er an sich selbst und seiner eigenen Gier müde geworden ist.<br />

Am 20. Sept. 1553 schreibt, gemäß einer Fußnote zu Dok. 6972, ein gewisser Franz<br />

Waser aus Torgau an einen ernestischen Rat: „Gestern Abend ist der alt Philippus zu<br />

Torgau einkommen, ist zu vermuten, das er von dem fursten und retten (Räten)<br />

bescheiden (angewiesen) ist, die predicanten (Prediger) zu verhoren und zu schtrafen,<br />

das sie die obrigkeit nicht auf der kanzel angreifen sollen.“<br />

Eifernde Angriffe seitens der Prediger gegen Stadtväter, gegen den Fürsten, weil diese<br />

die Schriften einer anderen protestantischen Gruppe nicht zensierten, dass sie deren<br />

Ritus der Messfeier duldeten, oder weil sie es versäumt hatten, sich entschieden gegen<br />

die Umsetzung <strong>des</strong> Inter<strong>im</strong> zu verwahren, statt<strong>des</strong>sen mit Zugeständnissen taktiert<br />

hatten.<br />

Melanchthon ist <strong>im</strong> Lauf der Jahrzehnte also zum „alt Philippus“, zur vertrauten<br />

Erscheinung, zur Institution geworden.<br />

Doch hautnah erlebt man wie diese Institution „Melanchthon“ in den letzten 12 Jahren<br />

seines Lebens unter Beschuß genommen wird. Ein Weichling sei er, einer, den schon<br />

Luther laufend auf die Beine stellen musste, so man nur genügend Druck auf ihn<br />

ausübe, würde er die Protestanten geschlossen dem Papst ausliefern.<br />

Der große Melanchthon, am Ende stand er mit dem Rücken zur Wand.<br />

Die Ursachen dafür, sie treten in „MBW“ offen zu Tage.<br />

Grundsätzlich und von Anfang an, die Exponenten der verschiedenen protestantischen<br />

Gruppierungen gingen rücksichtslos miteinander um. Die Weitergabe kompromittierender<br />

Briefe, das Kolportieren privater oder vertraulicher Gespräche, das in<br />

Umlaufbringen gefälschter Gutachten, das war nicht Ausnahme, es war die Regel. Die<br />

Voraussetzung dafür war ein begeisterter Briefverkehr nach überall und mit jedem von<br />

Rang und Namen; nicht allein <strong>des</strong>halb, weil man mit dem Renommee ehrenvoller<br />

Beziehungen weiterrenommieren konnte, sondern auch, da man Nachrichten und<br />

Informationen brauchte. Wobei die Briefe sich allerdings keineswegs auf Theologie,<br />

Wissenschaften und Politik beschränkten, sie ließen bald kein Ereignis in der Familie<br />

270


und <strong>im</strong> Bekanntenkreis aus. Es will scheinen, dass die Briefe eine Art fortwährende<br />

Selbstvergewisserung waren, dass sie eine geradezu therapeutische Funktion hatten.<br />

Der Briefverkehr jener Zeit war ein nahezu tabuloser Chatroom, freilich ohne<br />

schützende Anonymität, aber gewiss ein letzter Freiheitshort, in welchem selbst ein<br />

„streng gehe<strong>im</strong>“ wenig respektiert wurde.<br />

Ein trautes Plauderkarusell, das solange ohne Folgen blieb, wie Briefe nicht gestohlen<br />

oder weitergereicht wurden und der Freund ein Freund blieb.<br />

Wie schrankenlos die Weitergabe von Interna war, erhellt Melanchthons Bericht vom<br />

14. Mai 1529 über den Speyrer Reichstag an Wilhelm Reiffenstein in Stolberg:<br />

… strikte Durchführung <strong>des</strong> Wormser Edikts verlangt. Diese Forderung trieb die<br />

meisten Städte zum Kurfürst von Sachsen und zum Landgraf von Hessen.<br />

Im Fürstenrat forderte darauf der Kf. von Sachsen die Milderung <strong>des</strong> Wormser Edikts,<br />

<strong>des</strong>sen Friedensfeindlichkeit schon auf dem Nürnberger (1523) und auf dem ersten<br />

Speyrer Reichstag festgestellt worden sei.<br />

Nach langem Streit wurden Artikel verfasst: über das Konzil, über den Geltungsbereich<br />

<strong>des</strong> Wormser Edikts, über die zwinglianische Lehre, Wiedertäufer, Messe und<br />

Jurisdiktion der Bischöfe.<br />

Der Kf. von Sachsen verlangte Änderungen, ebenso die Städte, was der Reichstag<br />

bewilligte.<br />

Weil aber in der Nachverhandlung die Protestanten die Zwinglianer nicht verurteilen<br />

wollten, war die andere Seite auch zu keiner Änderung der Artikel bereit.<br />

Auch wollten sich die Lutheraner nicht von Straßburg trennen.<br />

Die Artikel wurden mit Ausnahme <strong>des</strong> Artikels über die bischöfliche Jurisdiktion<br />

ratifiziert. Die evangelischen Fürsten setzten eine Protestation dagegen, der sich einige<br />

Städte anschlossen …<br />

Doch wurde gegenseitige Friedenswahrung verbrieft.<br />

Diesen Bericht soll Reiffenstein gehe<strong>im</strong> halten.<br />

Die Bitte um Gehe<strong>im</strong>haltung, man liest sie oft in „MBW“.<br />

Wie es sich mit dem geschriebenen Wort verhielt, so ähnlich verhielt es sich mit dem<br />

gedruckten Wort.<br />

Am 24. Sept. 1518 schreibt Melanchthon an Spalatin: Noch in diesem Jahr werden von<br />

ihm erscheinen: die Lukian-Übersetzung, ein griechisches Lexikon, zwei Plutarch-<br />

Schriften, ein Hymnus auf die Engel, Athenagoras, De corrigendis …, und Platons<br />

Symposion.<br />

Es herrscht Veröffentlichungsdruck, innerer wie äußerer, und so jemand Luther oder<br />

Melanchthon heißt, dann wird es ihm von den Druckern förmlich aus den Händen<br />

gerissen. „Die Drucker wühlen schon wieder in meinen Schränken.“ schreibt<br />

Melanchthon. Und passend zur Hurtigkeit der Drucker, liest man, dass Melanchthon<br />

sein jüngstes Werk erstmalig bei seinem Besuch eines Freun<strong>des</strong> in die Hände bekam.<br />

Und was da alles gedruckt wird!<br />

Ethik <strong>des</strong> Aristoteles, Abhandlung über Thukydi<strong>des</strong>, einzelne Gedichte, Betrachtung<br />

von Ereignissen, Predigten, Vorträge, Trostgründe für den aktuellen Verlauf <strong>des</strong><br />

Schmalkaldischen Kriegs, Auslegungen von Apostelbriefen.<br />

„Sie hoffen auf literarischen Ruhm.“ teilen ihm einige mit, zu einem Zeitpunkt, da<br />

Melanchthon sich durch sein Wirken längst in der Weltgeschichte verewigt hat.<br />

Es sei darauf aufmerksam gemacht, dass von den vielen Autoren jener Jahrzehnte, die<br />

sich über das neue, preiswerte Verfahren <strong>des</strong> Buchdrucks mit beweglichen Lettern<br />

editorisch austobten, dem breiten Publikum von heute bald keiner mehr – zumin<strong>des</strong>t<br />

nicht als Autor, bekannt ist. Das Wissen über die Autoren jener bücherwütigen Jahre<br />

beschränkt sich heute auf Universitätskreise, wobei aber selbst ein Eobanus Hessus –<br />

ein offenbar recht wackerer Dichter, nicht derart Interesse entfacht, als dass sich<br />

jemand bis zur Stunde der Mühe unterzogen hätte, seine auf Latein verfassten<br />

Gedichte ins Deutsche zu bringen.<br />

271


Melanchthon will gezielt publizistisch in das Tagesgeschehen eingreifen, er ist dabei<br />

auch Propagandist. Er erfährt, dass in den habsburger Niederlanden Protestanten<br />

verbrannt wurden, schon fertigt er eine Flugschrift darüber an.<br />

Das alles ginge hin, wenn er es mit dem Veröffentlichen nicht gar so eilig hätte. Noch<br />

sind die Texte unreif, mit heißer Feder geschrieben, schon werden sie gedruckt. Hinzu<br />

kommt, dass durch das Ungeschick der Drucker die Texte auch verderbt werden, was<br />

nicht weniger bedeutet, als dass Melanchthon und auch sonst niemand die<br />

Korrekturfahnen liest. Es fehle seinen Schriften der Tiefgang, kritisiert ihn Erasmus von<br />

Rotterdam; bei einem derartigen Stress, wie ihn Melanchthon lebt, ist das nicht<br />

verwunderlich. Was das Edieren angeht, Melanchthon lernt mit den Jahren nichts<br />

hinzu, der Druck unfertiger Schriften ist ein bleibender Zustand. Was bei einer<br />

Flugschrift nicht sonderlich bedeutsam ist, bei der Neuauflage einer überarbeiteten<br />

Fassung der „Loci Communes“, neben der „Confessio Augustana“ und der „Apologie“,<br />

eine der Grundlagen <strong>des</strong> Protestantismus, ist es verheerend. Kaum ist die Auflage von<br />

3000 Exemplaren verkauft, schon fällt ihm auf, dass er etwas umformulieren muss,<br />

oder dass es einen zusätzlichen Abschnitt braucht. Später, <strong>im</strong> letzten Jahrzehnt seines<br />

Lebens wird man ihn dahingehend attackieren, dass er die „Loci“ inhaltlich veränderte.<br />

Hat er oder hat er nicht? Die Frage wird durch „MBW“ nicht beantwortet, doch muss er<br />

gemäß „MBW“ seine „Loci“ gewiss ein halbes dutzend Mal überarbeitet haben.<br />

Herzog Albrecht von Preußen schreibt am 19. Nov. 1554 an Melanchthon: … er habe<br />

sich <strong>im</strong>mer väterlich um die Religion bemüht … während der Inter<strong>im</strong>szeit Asyl gewährt,<br />

doch habe er jetzt bei den größtenteils ungelehrten und zänkischen Pfarrern nichts<br />

ausgerichtet.<br />

Zumin<strong>des</strong>t die letzte Aussage darf man unbesehen glauben. Von Anbeginn waren die<br />

Protestanten zerstritten, ein Zustand, der bis zum Tode Luthers <strong>im</strong> Jahr 1546, bis zum<br />

Beginn <strong>des</strong> schmalkaldischen Kriegs <strong>im</strong> Jahr 1546, auch offen zu Tage lag, doch<br />

abgesehen von Schwärmern und Wiedertäufern, angesichts kaiserlicher Bedrohung,<br />

sich relativ maßvoll äußerte. Als allerdings ab dem Jahr 1550 deutlich wird, dass die<br />

Durchsetzung <strong>des</strong> Inter<strong>im</strong> sich höchst unterschiedlich präsentiert, beginnen die<br />

Protestanten mit geradezu inquisitorischem Zorn gegeneinander zu wüten. Die<br />

Protestantin Anne du Bourg wird in Paris verbrannt, und Protestanten sprechen von ihr<br />

als Märtyrerin <strong>des</strong> Teufels. Nicht wesentlich anders Melanchthons Kommentar, dass<br />

nicht alle, die da starben, <strong>im</strong> rechten Glauben gestorben sind. Und merkwürdiger Weise<br />

sind es Protestanten, die in Schlesien einem protestantischen Pastor die Finger<br />

abhacken, er hatte die Elevation, das Zeigen der Hostie bei der Wandlung nach<br />

katholischem Ritus, verweigert. Jedenfalls ein weiteres Beispiel für die Zerrissenheit<br />

der Protestanten, denn Luther hatte die Elevation an sich verworfen, weil, so seine<br />

Begründung, das Volk glaube, das Betrachten der Hostie sei bereits ein gutes Werk.<br />

Im Januar 1557 führt der Rat von Iglau Beschwerde: Albert Cruciger toleriert nicht die<br />

Messe. Er polemisiert gegen Papst, Kardinäle, Bischöfe und gegen König Ferdinand,<br />

was eine Verwarnung <strong>des</strong> Amtmanns zur Folge hatte. Ermahnungen blieben erfolglos,<br />

vielmehr stiftete er den Schulmeister und <strong>des</strong>sen Kollegen an, den Gesang zu<br />

verweigern. Als diese verhaftet wurden, besuchte er sie. Auf dem Ratshaus bedrohte er<br />

den Ratsältesten.<br />

Hintergrund dieses Vorgangs war ein Entgegenkommen Iglaus bei der Umsetzung <strong>des</strong><br />

Augsburger Inter<strong>im</strong>, wobei jener von Melanchthon empfohlene Cruciger allerdings ein<br />

beinharter Lutheraner war. Dementsprechend deutlich weist Melanchthon dann die<br />

Stadtväter von Iglau in seinem Antwortschreiben auch zurecht.<br />

Im Dezember 1557 wird Melanchthon durch den Rat von Rostock informiert:<br />

Peter Egger<strong>des</strong> und Tilemann Heshusen (ein Schüler Melanchthons) wurden wegen<br />

Streitsucht ausgewiesen, die Vorwürfe lauten: maßlose Angriffe gegen die Obrigkeit,<br />

Leidenschaftlichkeit, Verhetzung <strong>des</strong> Volkes, namentliche Verurteilungen von der<br />

Kanzel herunter, Verweigerung von Begräbnissen, Verbot von sonntäglichen<br />

Hochzeiten und Taufen, Einführung <strong>des</strong> Bannes, Gründung einer Gegenuniversität zur<br />

Universität Rostock, Aufhetzung der Herzöge Albrecht und Ulrich von Mecklenburg,<br />

Toben auf der Kanzel.<br />

272


Bei Peter Egger<strong>des</strong> und Tilemann Heshusen handelte es sich um Abweichler der<br />

Wittenberger Schule; Rostock selbst folgte treu der Wittenberger Linie.<br />

Zur gefährlichen Lust am Korrespondieren und Publizieren, zur gnadenlosen<br />

Abrechnung mit kleinen und großen Inter<strong>im</strong>s-Kolloborateuren, gesellt sich dann eine<br />

ganz persönliche Eigenart Melanchthons, er redet gern. Nicht weiter tragisch, wenn da<br />

nicht an seinem Mittagstisch jene Studenten säßen, die ihm persönlich anvertraut<br />

wurden, deren Studien und Erziehung er überwachen muss. Und er redet offenbar sehr<br />

viel, unter anderem wohl auch darüber, was er in seinen Briefen schreibt. Später wird<br />

er sich damit verteidigen, dass er „gern scherze und plaudere“. Zu spät, seine<br />

Studenten sind zu ehrgeizigen Männern geworden und sie haben keine Skrupel der<br />

Welt zu erzählen, was sie an seinem Tisch gehört haben. „Es schadet uns kein<br />

schl<strong>im</strong>merer Feind, als der <strong>im</strong> Haus mit uns vereint.“ wusste bereits Sebastian Brant,<br />

und dieser Feind ist besonders eklig, wenn er mit dem ehemaligen Lehrer persönliche<br />

Rechnungen offen hat. Gemäß „MBW“ schien es sich so zu verhalten, dass es <strong>im</strong><br />

Hause Melanchthons keine Privatsphäre gab, dass jeder von jedem bis ins Detail alles<br />

mitbekam, freilich auch Dinge ertragen musste, die ihm persönlich gar nicht behagten.<br />

Und Melanchthon hatte wohl auch seine Eigenheiten. So schwierig es ist, aus „MBW“<br />

zulässige Aussagen zu ziehen, es wurde bereits deutlich, Melanchthon ist furchtsam.<br />

Doch das ist nur die eine Seite <strong>des</strong> Menschen Melanchthon.<br />

„Er glaube wohl, dass er auf Grund seiner Bildung überall mitreden könne“<br />

wetterleuchtet es in einem Brief um 1522. „Er könne die herablassende Art, mit der<br />

Melanchthon theologische Fragen behandle, nicht mehr ertragen“ heißt es wiederholt in<br />

Schreiben um 1538. Und 1557 schreibt der ehemalige Schüler Nikolaus Gallus von<br />

einem „selbstgefälligen Brief Melanchthons“ und „M. besitzt systematische Fähigkeiten,<br />

ist aber voreingenommen und hat Papstallüren.“<br />

Zur Aufhellung sei ein Schriftwechsel gereicht, zu <strong>des</strong>sen Zeitpunkt Melanchthon<br />

gerade 22 Jahre jung war, Erasmus von Rotterdam hingegen bereits 50 Jahre zählte.<br />

5. / 9. Januar 1519, Melanchthon in Leipzig an Erasmus von Rotterdam in Löwen:<br />

Er bedauere, dass er durch die Verleumdung eines Windbeutels bei Erasmus in<br />

Verdacht gekommen sei, <strong>des</strong>sen Paraphrase zum Römerbrief kritisieren zu wollen. Er<br />

versichert, dass ihm solches schlecht anstehe; lediglich be<strong>im</strong> ersten Lesen sei ihm<br />

einiges zu weitläufig erschienen. Er bittet Erasmus, ihm zu verzeihen.<br />

Am 22. Jan. 1519 antwortet Erasmus: Nicht ein Windbeutel hat ihm Melanchthons<br />

abfälliges Urteil hinterbracht, sondern ein gemeinsamer Freund (ungenannt) hat<br />

beiläufig erwähnt, dass Melanchthon Kritik an der Übersetzung <strong>des</strong> Neuen Testaments<br />

geübt habe, über welches er Melanchthon eher ein gutes Urteil abgenommen hätte als<br />

über die Paraphrase, wozu eine gute Kenntnis der alten Kommentatoren erforderlich<br />

wäre. Erasmus betont, dass ein fre<strong>im</strong>ütiges aber fundiertes Urteil seine Freundschaft<br />

nicht beeinträchtigen könne. Er lobt Melanchthons „Hymnus auf die Engel“, er macht<br />

eine kritische Äußerung zur Polemik in Melanchthons Vorrede in „De corrigendis<br />

adulescentiae studiis“. … Er schreibt weiter, Melanchthon solle sich schonen.<br />

Sobald es um Bücher geht, dann quälen Melanchthon also keine Ängste mehr, dann ist<br />

er sehr von sich überzeugt, dann wird er kess bis unvorsichtig. Allerdings vergaloppiert<br />

er sich wohl gelegentlich und steht dann leider nicht dazu. Der Flucht in die Frechheit<br />

eines Ausspruchs wie der eines nachgeborenen Schwaben: „Was interessiert mich<br />

mein Geschwätz von gestern“, versagt er sich ebenfalls. Er duckt sich weg.<br />

Die Briefschreiberei, das schnelle Veröffentlichen, das liebe Reden und seine Art, sich<br />

schlank zu machen, so er sich in eine missliche Lage manövrierte, diese Unarten<br />

verwinden sich in der letzten Dekade seines Lebens zu einem festen Strick, den er sich<br />

mit Beginn der Inter<strong>im</strong>sverhandlungen selbst um die Handgelenke wickelt, und mit<br />

seinen Überlegungen inwieweit die Protestanten bei der Umsetzung <strong>des</strong> Augsburger<br />

Inter<strong>im</strong> nachgeben könnten, zieht er die Fessel zu.<br />

273


An sich wollte der Kaiser nach seinem Sieg über den Schmalkaldischen Bund den<br />

Beschluss <strong>des</strong> Konzils von Trient durchsetzen, was Melanchthon allerdings abwenden<br />

konnte, er stellte fest, dass der Konzilsbeschluss fehlerhaft war. Nachdem der Kaiser<br />

jedoch nicht darauf verzichten wollte, Deutschland wieder eine einheitliche Religion zu<br />

geben, gab er die Ausarbeitung <strong>des</strong> Augsburger Inter<strong>im</strong>s in Auftrag.<br />

Dieses Inter<strong>im</strong> war in seinem Ritus und Glaubensbekenntnis ein gleichsam<br />

verwässerter Katholizismus, eine Vorspiegelung von Reformen, mit dem Ziel den<br />

Protestantismus zu verwässern, um die Protestanten wieder nach Rom zu rudern.<br />

Am 15. Mai 1548 befahl der Kaiser den besiegten protestantischen Fürsten die<br />

Umsetzung <strong>des</strong> Inter<strong>im</strong>; für Württemberg befahl er gar die Zwangs-Rekatholisierung.<br />

Am 3. Okt. 1548 schreibt Melanchthon jenen bereits zitierten Brief an Kilian Goldstein<br />

in Halle: Auf der Pegauer Konferenz verwarf er den Rechtfertigungsartikel <strong>des</strong><br />

Augsburger Inter<strong>im</strong>s. (2) Halle solle das Inter<strong>im</strong> ablehnen. Am Rhein beging ein<br />

Priester wegen der Annahme Selbstmord. Die Herzöge Barn<strong>im</strong> und Philipp von<br />

Pommern samt ihren Untertanen und Markgraf Johann von Brandenburg-Küstrin<br />

lehnten es ab. Dasselbe erwarte er von den niedersächsischen Städten.<br />

Die Position Melanchthons ist Anfang Oktober 1548 klar: er ist gegen das angeordnete<br />

Inter<strong>im</strong>.<br />

Doch am 21. Okt. 1548 schreibt sein Kollege und Professor Matthias Flacius in<br />

Wittenberg an Melanchthon in Wittenberg: Augustin Schurff warnte vor seinem Tod <strong>im</strong><br />

vergangenem Mai vor denen, die Melanchthon wie früher zum Irrtum verführen. Doch<br />

damals konnte ihn Luther wieder aufrichten. Der Kurfürst Moritz von Sachsen soll auf<br />

Veranlassung <strong>des</strong> Kurfürsten Joach<strong>im</strong> II. von Brandenburg und <strong>des</strong> König Ferdinands<br />

Religionsveränderungen planen. Jedenfalls will man Melanchthon missbrauchen.<br />

Bereits Gerüchte über Zugeständnisse, vor denen Flacius warnt. Jede Änderung wird<br />

Ärgernisse hervorrufen.<br />

Und tatsächlich, einen Monat später, am 20. Nov. 1548 lässt der Kurfürst wissen, dass<br />

er wünscht, man solle, soweit es mit gutem Gewissen möglich ist, dem Inter<strong>im</strong><br />

nachgeben, um größeren Schaden für Kirche und Land zu verhüten.<br />

Am Tag darauf notiert Melanchthon <strong>im</strong> Brief an Paul Eber: Heute übergeben die<br />

(Wittenberger) Theologen eine Verteidigung gegen die Beschuldigung der Räte, ihre<br />

Hartnäckigkeit schade dem Vaterland.<br />

Und noch mal einen Tag später schreiben Melanchthon und seine Kollegen in Dok.<br />

5357 vom 22. Nov. 1548 an die kurfürstlichen Räte: Nur noch Chrisma (Salböl) und<br />

Messkanon sind strittig. … bis zur äußersten Gewissensgrenze nachgegeben, um<br />

Gehorsam gegen den Kaiser zu zeigen, und werden ihr Verhalten vor dem Volk nur<br />

schwer rechtfertigen können.<br />

Melanchthon, unter dem Eindruck der Niederlage der protestantischen Fürsten, zudem<br />

durch seinen Bruder informiert, wie die kaiserliche Soldateska in Württemberg haust,<br />

dazu in Angst um das Fortbestehen <strong>des</strong> Protestantismus, freilich auch vom Hof unter<br />

Druck gesetzt, hatte also weitreichende Zugeständnisse gemacht. Einmal über den<br />

Pr<strong>im</strong>at <strong>des</strong> Papstes, sodann hinsichtlich der Wiedereinführung von Riten, die für<br />

Melanchthon lediglich unbedeutende Adiaphora sind.<br />

Adiaphora sind Zutaten wie Bilder, Prozessionen, Heiligenverehrung, Messgewänder<br />

und dergleichen mehr.<br />

Später wird er ratsuchenden Pastoren raten, so es nicht anders ginge, solle ein Pastor<br />

eben den geforderten Chorrock wieder anziehen, denn es gehe um Inhalte, nicht um<br />

Äußerlichkeiten. Um die Auflagen <strong>des</strong> Inter<strong>im</strong>s zu unterlaufen, werden andere viel<br />

weiter gehen, sie werden empfehlen, die gefordeten Gebete zu murmeln – also<br />

Blasphemie zu üben. Überhaupt ergibt die Umsetzung <strong>des</strong> Inter<strong>im</strong>s ein wild gemischtes<br />

Bild. Neben Fürstentümern, in welchen es nicht umgesetzt wird, finden sich Gebiete –<br />

vornehmlich am Rhein, in welchen es voll umgesetzt wird, was zur Vertreibung und<br />

Flucht vieler Pastoren führt – die Melanchthon meist nach Ungarn weiter schickte, <strong>des</strong><br />

weiteren finden sich Städte und Landschaften, in welchen es in Teilen nach jeweiligem<br />

Gutdünken, von Stadt zu Stadt völlig verschieden, realisiert wird.<br />

274


Melanchthons Nachgiebigkeit findet sich in einem Gutachten für Frankfurt bestätigt, er<br />

schreibt am 19.Jan.1549:<br />

Laurentius ist ein Vorbild für die Starken. Es geht aber um einen Rat für die<br />

Schwachen. Wenn die Obrigkeit die Pastoren ersucht, wieder adiaphorische Riten<br />

einzuführen, um dadurch weiteren Forderungen zu entgehen und den Gemeinden<br />

Härten zu ersparen, so soll man nachgeben. … Bekenntnis und Leiden werden um der<br />

Wahrheit willen verlangt, z. B. bei Messe und Heiligenkult, nicht bei Nebensächlichkeiten<br />

wie Gesänge, Festen, Kleidern. …<br />

Am 8. Juni 1549, eröffnet Flacius von Magdeburg aus das Feuer gegen Melanchthon:<br />

„Dem Vorwurf der Undankbarkeit steht seine Gewissensbindung entgegen und die<br />

Pflicht, den Antichrist zu entlarven. Er wird Melanchthon sein Ansehen lassen, aber er<br />

wird darlegen müssen, wie Melanchthon in den Adiaphorismus hineingezogen wurde,<br />

wobei die eitle Hoffnung auf den Tod <strong>des</strong> Kaisers, gewonnen aus einer Mondfinsternis<br />

von 1547, mitspielte.<br />

Er, Flacius, handele unter Gewissenszwang.“<br />

Was man dem Fremdsprachengenie Flacius nicht abzukaufen braucht, denn die<br />

„Mondfinsternis“ ist ein schöner Hieb, dem nun weitere Gehässigkeiten folgen werden.<br />

„Melanchthons Leipziger Rede (Dok. 5386 vom 22. Dez. 1548) betrübe ihn.“ Heißt auf<br />

gut deutsch: „Melanchthons Rede bereitet ihm ungemeines Behagen, denn da<br />

Melanchthon so unüberlegt war, ihn öffentlich anzugreifen, kann er nun seinerseits<br />

Melanchthon attackieren.“ Melanchthon hatte Flacius u. a. namentlich als diejenigen<br />

erwähnt, die gar keine Änderungen zulassen wollten.<br />

„Er könnte zu seiner Verteidigung leicht die Fehler der Wittenberger, namentlich<br />

Melanchthons Brief an Christoph von Carlowitz (Dok. 5139 vom 28. April 1548)<br />

hochspielen.“<br />

Darin heißt es neben anderem: „Am Augsburger Inter<strong>im</strong> … sind die Zeremonien, die<br />

ihm eine liebe Kindheitserinnerung sind, annehmbar.“ Eine Meinung, zum einen noch<br />

vor dem 15. Mai 1548, dem Beginn <strong>des</strong> Inter<strong>im</strong>s, geäußert, zum andern besagt sie<br />

etwas völlig anderes, als was Melanchthons <strong>im</strong> Oktober an Kilian Goldstein schreibt.<br />

Ob Melanchthon nun taktierte oder schwankend war, oder durch seine unzähligen<br />

Gutachten überhaupt keine Linie mehr hatte, statt<strong>des</strong>sen nur noch – je nach<br />

Perspektive und Erfordernis, eine wabernde Spielmasse sah, es bleibe dahingestellt.<br />

„Oder auch die Bugenhagen Geschichte.“<br />

Das ist Dok. 4876 vom 2. Sept 1547, ein Brief Melanchthons an Veit Dietrich in<br />

Nürnberg: Dietrich soll bis zum Ende <strong>des</strong> Reichtags (Augsburg) ausharren, denn<br />

danach werden vielleicht kaiserliche Erlasse viele ins Exil treiben. Dietrich soll vom<br />

Reichstag berichten, aber nicht so senil wie Bugenhagen in seiner Historia „Wie es uns<br />

zu Wittenberg ergangen ist in diesem vergangenem Krieg …“<br />

Johannes Bugenhagen, der Autor jener Kriegshistoria, ist <strong>im</strong>merhin Rektor der<br />

Universität Wittenberg.<br />

Flacius schreibt weiter, „dass er Melanchthons Unbußfertigkeit bedauere, da dieser<br />

doch selbst seine Krätze als Strafe Gottes verstand. Und der zu ihm und anderen<br />

gesagt hatte, niemand könne mit gutem Gewissen an den Inter<strong>im</strong>sverhandlungen<br />

teilnehmen. Melanchthons verderbliche, nach Augsburg geschickte Schriften führten<br />

das Inter<strong>im</strong> herbei und schwächten den Widerstand. Er verweist auf Dok. 5105, 5110<br />

und 5139.<br />

Darin heißt es unter anderem: Der Pr<strong>im</strong>at <strong>des</strong> Papstes und die bischöfliche Verfassung<br />

kann bestehen bleiben, wenn der Papst die rechte Lehre vertritt.<br />

Bei aller Gehässigkeit <strong>des</strong> Flacius sei festgehalten, auch Melanchthon teilt gerne aus.<br />

Er nennt Flacius namentlich als einen derjenigen, die gar keine Änderung wollten; er<br />

führte Flacius also vor. Melanchthon hätte statt<strong>des</strong>sen auch Verständnis äußern oder<br />

neutral von „einigen“ sprechen können. Er bezeichnet, warum auch <strong>im</strong>mer, die kleine<br />

Kriegshistorie <strong>des</strong> Kollegen und Rektors als „senil“, wobei seine eigene Formulierung,<br />

„die Zeremonien, die ihm eine liebe Kindheitserinnerung, sind annehmbar.“ nicht wenig<br />

seltsam anmutet.<br />

275


Wie bereits <strong>im</strong> Essay „Schattenboxen“ dargestellt, in die Diskussion um eine<br />

Angelegenheit, in diesem Fall um das Inter<strong>im</strong>, mischen sich die Lust und die Freude<br />

beider Seiten am Profilieren und am Austeilen von Schlägen.<br />

Interessant, dass ein Nikolaus Gallus in Wittenberg am 28. Mai 1549 in seinem<br />

Schreiben an seine Lehrer Melanchthon, Bugenhagen und Maior, sich bereits ebenfalls<br />

auf diese kompromittierenden Briefe bezog; an der Universität Wittenberg wurde<br />

offenbar tatsächlich bei offenen Türen diskutiert.<br />

Weiter hieß es in jenem Brief <strong>des</strong> Gallus: Adiaphora an sich sind weder von Gott<br />

Gebotenes noch Verbotenes (sind wertfrei). Echte Adiaphora verlieren diese Eigenschaft,<br />

wenn sie mit Bekenntnis und Ärger verbunden sind, wenn sie als Kult, Verdienst<br />

oder Notwendigkeit angesehen werden, oder wenn sie Anlaß zu Götzendienst, Lehrverderbnis<br />

bieten und zum Abfall der Glaubensschwachen führen. Deshalb ist die<br />

Restitution <strong>des</strong> päpstlichen Pr<strong>im</strong>ats und der bischöflichen Jurisdiktion unmöglich.<br />

Den ersten Einstich wagte also jener kecke Schüler Gallus, gutmöglich in Absprache<br />

mit Flacius, und mit seinem eigenen Schreiben vom 8. Juni 1549 gibt Flacius, der<br />

angesehene Ex-Wittenberger Professor, die Richtung vor: „Melanchthons verderbliche,<br />

nach Augsburg geschickte Schriften führten das Inter<strong>im</strong> herbei und schwächten den<br />

Widerstand.“<br />

Warum Melanchthon, als Mann von herausragender Bedeutung, diese Schriften nach<br />

Augsburg schickte, sich derart unklug zum Inter<strong>im</strong>, das in diesem Moment noch seine<br />

Formulierungen suchte, überhaupt äußerte, geht aus „MBW“ nicht hervor. Eventuell<br />

<strong>des</strong>halb, weil er allgemein gerne korrepondierte, nicht auszuschließen, dass das<br />

Theologisieren ihm längst zur Manie geworden war, dass er die Finger einfach <strong>im</strong> Brei<br />

haben musste. Flacius hat ihn jedenfalls am Haken. In nachfolgenden Schriften wird er<br />

Melanchthon dann als jemand vorführen, der schon <strong>im</strong>mer ein unsicherer Kantonist<br />

war, den bereits Luther wiederholt aufrichten musste.<br />

Das ist der Tenor, mit dem die Demontage <strong>des</strong> angesehenen Philipp Melanchthon<br />

ihren Anfang n<strong>im</strong>mt, ein Tenor, der zunächst dort gut ankommt, wo das Volk sich aktiv<br />

gegen das Inter<strong>im</strong> wehrte und wehrt.<br />

200 Bücher wird Flacius in den nächsten Jahren schreiben, man wird sie ihm aus der<br />

Hand reißen. Es geht darin zwar letztlich <strong>im</strong>mer um dasselbe, <strong>im</strong> steten Wechsel<br />

einmal links herum und dann wieder rechts herum gerührt, aber verlässlich mit <strong>im</strong>mer<br />

neuen Gehässigkeiten abgewürzt.<br />

Und da Flacius nicht loslässt, Melanchthon selbst sich nicht recht zu wehren weiß,<br />

besinnt sich auch Andreas Osiander auf einen alten Streit: Die Abendmahlsfrage.<br />

Darüber hatte Osiander bereits mit Luther die Klingen gekreuzt; die Abendmahlsfrage<br />

war auch von Luther nie entschieden worden.<br />

Spätestens mit Osiander schlagen über Melanchthon die Wellen zusammen:<br />

Schwenckfeld, Nikolaus von Amsdorf, Anton Otto, Johannes Agricola (jun.), Jakob<br />

Schenck, Thomas Naogeorgus, Johannes Brenz, Franciscus Stancarius, Theobald<br />

Thamer, Friedrich Staphylus, Andreas Musculus, Johannes Funck, Michael Servet,<br />

Joannes Campanus, Erasmus Sarcerius, Sebastian Franck, Matthias Lauterwald,<br />

Petrus Gonesius, Johannes Freder, Caesio Eminga, Hieronymus Kupferschmidt, … wie<br />

beissige Hunde hängen sie sich an ihn und er wird sie nicht mehr los.<br />

Was Rom und auch der Kaiser nicht schaffte, seine protestantischen Widersacher<br />

schaffen es beinahe, ihn, den Altgewordenen, aus Wittenberg zu vertreiben. Sie zerren<br />

die Höllenfahrt Christi hervor, sie streiten über die Ordination, über Buße und Gute<br />

Werke, über die Absolution, über die Fortdauer der Jungfräulichkeit Marias, über<br />

Prä<strong>des</strong>tination, über den freien Willen, sie greifen Melanchthons Bildung an, <strong>im</strong><br />

Besonderen das Latein und die Philosophie, sie stellen in Teilen seine „Loci<br />

Communes“ und selbst die vom Kaiser anerkannte „Confessio Augustana“ in Frage.<br />

Melanchthon muss feststellen, dass die Drucker nicht wenig begierig auch die Schriften<br />

und Bücher seiner Feinde drucken; die Streitereien befördern das Geschäft ungemein.<br />

In einer Ansprache vor Geistlichen in Nürnberg nennt Melanchthon – wohl zutreffend,<br />

die Motive seiner Widersacher, beziehungsweise die Ursachen: Ehrgeiz, Haß,<br />

dogmatischer Eigensinn, dazu falsche sowie ungenaue Formulierungen.<br />

276


In der Tat, bevor man über Sachverhalte diskutiert, sollte man Wortbedeutungen<br />

klären, was jedoch einige der Kontrahenten als Zwang und Einengung zurückweisen.<br />

Im August 1557 spricht sein Gegner Flacius in Worms vor evangelischen Kolloquenten<br />

die aufschlussreichen Worte: „Dass Gott durch die Geringen wirkt, dafür gibt es viele<br />

Beispiele seit Luthers Tod.“<br />

„Melanchthons herausragende Position mache ihn zum Ziel sowohl von Angriffen, als<br />

auch von hohen Erwartungen“ heißt es in Dok. 8213.<br />

Melanchthon, der weidwunde Mann, an dem man sich nun gefahrlos reiben kann, um<br />

selbst zu glänzen.<br />

Die „vielen Hunde sind <strong>des</strong> Hasen Tod“, wobei diese Widersacher weder seine<br />

Verdienste um die Reformation haben, noch ihm geistig das Wasser reichen können.<br />

Was nichts daran ändert, dass ihrer viel zu viel sind. Soll er sich herabwürdigen? Soll<br />

er tatsächlich die widerstreitenden Auffassungen über Taufe, Beichte oder Absolution,<br />

die bereits vor zwanzig Jahren behandelt wurden, noch mal diskutieren, sprich:<br />

wiederkäuen? Wem soll er zuerst antworten? Macht es überhaupt Sinn sich öffentlich<br />

über den „Freien Willen“ oder die „Höllenfahrt Christi“ zu streiten?<br />

Freilich antwortet er durch Publikationen, die – wie auch anders – nur dem Geschäft<br />

der Gegner mit weiteren Streitschriften förderlich sind.<br />

Bei alledem, Flacius hat ihn fest: Melanchthon hat Schuld am Inter<strong>im</strong>, er trägt die<br />

Verantwortung für das nachfolgende Elend vertriebener Pastoren und deren Familien,<br />

Melanchthons bewegliche Auffassung über die Tolerierung von Adiaphora begünstige<br />

Rom und schade dem Protestantismus.<br />

Der Vorwurf der Nähe zu Rom ist wohl der gefährlichste Punkt unter den<br />

Anschuldigungen, er macht die protestantischen Fürsten hellhörig. Dass es nicht allein<br />

um theologische „Wahrheiten“, sondern um Abgrenzung gegenüber Rom geht, macht<br />

ein Brief Bullingers deutlich. Er weist Melanchthon darauf hin, dass die Wittenberger<br />

mit ihrer Auffassung vom Abendmahl sich doch in bedenklicher Nähe zu Rom<br />

befänden.<br />

Melanchthon verteidigt sich gegen den Vorwurf ein Adiaphorist, sprich: ein Papstfreund<br />

zu sein, wiederholt weist er darauf hin, dass in Wittenberg und Kursachsen nichts<br />

verändert wurde, dass das Inter<strong>im</strong> keine Umsetzung fand. Was allerdings nicht sein<br />

Verdienst, sondern das Verdienst seines Fürsten ist, auch ändert es nichts an der<br />

Existenz jener kompromittierenden Briefe.<br />

Die sich nun entwickelnde Geschichte <strong>des</strong> „Alle gegen einen“, ist ein Verwirrspiel.<br />

Wiederholt wird Melanchthon in den letzten Jahren seines Lebens in seinen Briefen<br />

schreiben: „Schweigend ertrage ich das Unrecht.“<br />

Dazu beteuert er viele Male seine Friedensliebe und Verhandlungsbereitschaft. Er<br />

bietet an, sich dem Urteil der Theologen von Sachsen, Hamburg, Lübeck, Lüneburg<br />

und Braunschweig zu unterwerfen.<br />

Er versichert oft, dass er rein gar nichts getan habe und auch aktuell nichts tue, um<br />

jemand zu reizen. Darüber hinaus könne er nur auf die bereits zu Luthers Zeiten<br />

geschriebenen „Loci, die „Apologie“ und die CA (Confessio Augustana) verweisen.<br />

Als Bestätigung seiner Haltung finden sich in „MBW“ Aussagen, die ihm gut anstehen:<br />

„Nichts zieht eine Religion mehr hinab, als der Streit der Theologen.“<br />

„Viele Menschen sind weder durch Predigten noch durch Unglück wie den Bürgerkrieg<br />

in Deutschland und die Türken in Ungarn zu bessern, schreibt er 1553 in der Vorrede<br />

zu „Elegia de vitanda ebrietate“ von Hieronymus Osius.<br />

„Buße und Gebet trösten einen Menschen mehr als die Diskussionen selbstsicherer<br />

Menschen.“ notiert er in einem Brief.<br />

„Was soll all der Streit um Inhalte und Adiaphora, so es doch auf das Gebet, das<br />

persönliche Gespräch mit Gott ankommt.“ schreibt er sinngemäß an anderer Stelle.<br />

Und Dok. Nr. 8517, ein Gutachten Melanchthons für den Markgrafen Johann von<br />

Brandenburg-Küstrin vom 2. Februar 1558 über das Wormser Religionsgespräch mit<br />

den Vertretern Roms, schließt mit den resignierenden Worten: „Angesichts <strong>des</strong><br />

gegenseitigen Hasses ist es gut, dass dabei keine weiteren Schriftstücke entstanden.<br />

277


Ohne einen Kaiser Konstantin lässt sich kein Kolloquium veranstalten, und nicht einmal<br />

dieser konnte Frieden herstellen.“<br />

Auch das klingt angemessen und vernünftig und weise.<br />

Umso mehr ist man überrascht, dass sich wenige Monate später auch der König von<br />

Dänemark von Melanchthon abwendet; erstaunlich, nachdem er von Melanchthon bis<br />

dato derart beeindruckt war, dass er ihm seit Jahren eine jährliche Pension von 50<br />

Talern zahlte.<br />

Um es vorwegzunehmen, so friedlich, wie es sich stellenweise in „MBW“ liest, war<br />

Melanchthon nicht. Wie denn auch?! Vom „Aufstand der Ungebildeten“ sprach er<br />

bereits um 1538 <strong>im</strong> Zusammenhang mit den damaligen Streitereien. Und sollte er, der<br />

er von Anbeginn die Reformation durch alle Strudel mitgesteuert hatte, der vierzig<br />

Jahre hindurch in Briefen und Schriften, in Vorlesungen und Disputen gelebt hatte, der<br />

einem Johann Eck den Vorwurf der Ketzerei entwunden hatte, sich für die letzten zwölf<br />

Jahre seines Lebens das Schweigen von Zunge und Feder auferlegen, nur weil die<br />

„Unbildung“ überhand nahm. Wo ihm nichts derart verächtlich ist, wie gerade die<br />

Unbildung. Es liegt auf der Hand, es muss ihn unbedingt gereizt haben, diese<br />

neidischen Widerlinge ein wenig gegen den Strich zu streicheln.<br />

Grundsätzlich sei dazu angemerkt, ein hochgebildeter Mensch muss, um seinen<br />

Kontrahenten zu reizen, sich nicht allzu weit dabei aus dem Fenster lehnen. Es braucht<br />

nur einen Brief in geschliffenem Latein, um dem Empfänger stilvoll zu bedeuten: wie<br />

soll ich mit dir über die „Beichte“ disputieren, wo du so ungebildet bist, dass du bereits<br />

meinen Brief kaum verstehst.<br />

Geschliffene Sprache, auf die Melanchthon in seinen privaten Briefen gerne verzichtet,<br />

er bezeichnet eine gegnerische Schrift als „Stuttgarter Latein“.<br />

Dazu „scherzt und plaudert“ er weiterhin gerne in Wittenberg, vom Widersacher<br />

Schwenckfeld redet er in geselliger Runde als „Stenckefelder“.<br />

Auch existiert ein Schreiben Calvins vom 19. November 1558, darin heißt es: Genf<br />

drohen durch Kg. Heinrich II. von Frankreich und Kg. Philipp von Spanien größere<br />

Gefahren, als Melanchthon von seinen undankbaren Schülern. Calvin schreibt weiter,<br />

dass es ihn verletzte, dass Hubert Languet um dem Sebastian Castellio zu gefallen,<br />

Melanchthons abfällige Reden über seine (Calvins) Lehre kolportierte.<br />

Neben ehemaligen Schülern, die ihn angreifen, gibt es jene, die ihm zur Seite springen.<br />

„MBW“ berichtet von einer Schmähschrift gegen einen seiner Herausforderer in<br />

Kopenhagen, und da sie von ehemaligen Wittenbergern geschrieben wurde, wird die<br />

Universität von Wittenberg empört als „die Schule der Frechheit“ bezeichnet.<br />

Und in Dok. 8299 führt Flacius vor Kolloquenten aus:<br />

Man muss zur Eintracht zurückkehren. Die Schmähschriften der Wittenberger müssen<br />

unterbleiben; wie die zwei Bilder von den Eseln, die Philomela, die Polemiken <strong>des</strong><br />

Willibald Ramsbeck und die „Vogelsynode“. Gott möge zur Eintracht, wie sie zu Luthers<br />

Zeiten bestand, zurückführen.<br />

Mit der beschworenen Eintracht zu Luthers Zeiten war es zwar nicht weit her gewesen,<br />

doch das Vorwort zu Willbald Ramsbecks Polemiken „Von dem reichen Mann und<br />

einem armen Lazaro“ hatte kein anderer als eben Melanchthon geschrieben, und auch<br />

über die „Vogelsynode“ war er gut informiert: Johannes Stigel, der sich von Flacius<br />

angegriffen fühlte, hatte Melanchthon brieflich aufgefordert, dass Caspar Peucer nun<br />

seine „Vögel“ erscheinen lasse.<br />

Nicht minder fragwürdig, Melanchthons generöses Angebot, sich dem Urteil der<br />

Theologen zu stellen. Als das Urteil schließlich ergeht, weist er es als parteiisch zurück.<br />

Die Demut, die hinter Sätzen wie „Schweigend ertrage er das Unrecht.“ hervorleuchtet,<br />

die gibt es also nicht, wahrscheinlicher ist vielmehr, dass auch er gelegentlich vom<br />

Zank erschöpft war.<br />

Wie heftig der Schlagabtausch war, wird in „MBW“ nicht auf den ersten Blick deutlich –<br />

der fehlenden Dokumente sind zu viele. Allerdings lassen die Grobheiten einiger<br />

Schriftstücke erahnen, was den Lücken <strong>im</strong> Fundus an Schweigen aufgetragen ist.<br />

278


1560 schreibt Melanchthon in seinem Vorwort zu „Corpus doctrinae christianae“ von<br />

der unberechtigten Polemik der vom Papst Gekauften: Friedrich Staphylus, Georg<br />

Witzel, Petrus Canisius u. a.<br />

Das ist mehr als frontal, das ist Verleumdung, denn beweisen kann er es nicht – wie<br />

denn auch. Grundsätzlich lag er mit seiner Annahme wohl richtig: Rom ging der eitlen<br />

Gelehrsamkeit protestantischer Spaltpilze gerne mit theologischem Sprengstoff zur<br />

Hand.<br />

Verständlich, dass bei all dem Krach und dem nichtendenwollendem Getöse sich bald<br />

die ersten Protestanten blindlings aus den Fenstern in die Tiefe warfen. Wie<br />

aufmerksam von der jesuitischen Feuerwehr, dass sie bereits die Sprungtücher<br />

gespannt hielt.<br />

Wobei die Aufzählung der „vom Papst Gekauften: Friedrich Staphylus, Georg Witzel,<br />

Petrus Canisius u. a.“ ist ein deutliches Beispiel dafür, mit welcher Vorsicht der<br />

Datenbrei in „MBW“ zu geniessen ist. Petrus Canisius war Jesuit, den musste der<br />

Papst gewiss nicht kaufen.<br />

Das Konzil von Trient, es dauerte von 1545-1563, verkündete: „Wer sagt, Jesus<br />

Christus sei den Menschen von Gott als Erlöser gesandt, dem sie vertrauen, nicht aber<br />

zugleich als Gesetzgeber, dem sie gehorchen sollen, der sei verflucht!“<br />

Anspruch und Selbstbewusstsein, das dem Leser be<strong>im</strong> Essay „Utrius utriusque“<br />

gutmöglich recht anachronistisch erschien, schließlich sei die Reformation inzwischen<br />

Fakt gewesen. Fakt war allein, dass der Protestantismus selbst nach vierzig Jahren<br />

noch <strong>im</strong>mer um Form und Inhalt kämpfte.<br />

Melanchthons Eingeständnis, dass er auch Fehler gemacht habe, kommt spät und<br />

geradezu kläglich heißt es <strong>im</strong> Brief vom 5. Juni 1558 an David Chytraeus in Rostock,<br />

dass trotz seines Eifers für Gesetz und politische Ordnung, sich einige Fürsten von ihm<br />

abwandten, Chytraeus möchte bitte zwischen ihm und Herzog Johann von<br />

Mecklenburg vermitteln.<br />

„Eifer für Gesetz und politische Ordnung“, eine alarmierende Formulierung! Es sei die<br />

provokante Frage gestattet: Wollte er in seiner Bedrängnis etwa mit dem einst<br />

gefordertem und auch verordnetem „Gehorsam gegen die Obrigkeit“ nun einen Handel<br />

machen?<br />

Warum sich am Ende selbst Fürsten von Melanchthon abwandten, „MBW“ bietet eine<br />

Reihe von Antworten.<br />

Melanchthon hat sich wohl nie deutlich von seiner lockeren Haltung gegenüber den<br />

Adiaphora distanziert. Nach seinem Tod behielten übrigens andere Wittenberger<br />

Professoren seine Haltung bei, als Philippiner werden sie um 1575 vom sächsischen<br />

Kurfürsten aus Wittenberg vertrieben, Caspar Peucer wird zwölf Jahre in Haft gehalten.<br />

Der Adiaphorismus war den protestantischen Fürsten, wie bereits gesagt, verdächtig.<br />

Heinz Scheible schreibt, dass Melanchthon sich genug freien Geist bewahrte und <strong>im</strong><br />

Gegensatz zu anderen wohl nicht <strong>im</strong>mer „linientreu“ war. Was Heinz Scheible mit<br />

„linientreu“ auch <strong>im</strong>mer sagen will, es könnte ein Hinweis auf Dok. 6231 sein:<br />

Melanchthon spöttelt über Osiander, dass der die Fürsten nur schön in ihrer<br />

Gottähnlichkeit bestärken soll.<br />

Womit Osiander freilich nichts anderes tut, als was Melanchthon mit seiner Forderung<br />

von Gehorsam bereits vor ihm tat. Wobei, nach Melanchthons großzügigen<br />

Vorarbeiten, „Gehorsam gegenüber der Obrigkeit“ freilich nicht mehr genügte, um<br />

fürstliches Wohlwollen zu erlangen.<br />

Doch die Abschriften spöttischer Briefe dieser Art mochten durchaus unter den Fürsten<br />

kursiert haben, denn der Leser erinnert sich eventuell, Melanchthon beschwerte sich in<br />

diesen Jahren vehement, dass Briefe abgefangen würden, er gleichsam niemand mehr<br />

schreiben könne. Und dass er von den Fürsten längst nichts mehr hielt, wurde bereits<br />

<strong>im</strong> Zusammenhang mit Camerarius dargestellt, aber auch, dass er ungeachtet der<br />

Warnung <strong>des</strong> Camerarius seinen brieflichen Ausführungen keine Zügel anlegte,<br />

vielmehr seinem Ärger ungeniert freien Lauf ließ. Einer der Beweggründe, die<br />

279


Camerarius später veranlassen werden, Melanchthons Briefe in Teilen umzuschreiben,<br />

da er „Empörung fürchtete“.<br />

Womit Melanchthon keineswegs zu einem Wilhelm Tell wird. Bis zuletzt geht er mit<br />

seinen Gutachten den Fürsten zur Hand, und in seinem letzten Brief an den<br />

Pfalzgrafen bezeichnet er sich als <strong>des</strong>sen Untertan.<br />

Auch ist nicht auszuschließen, dass seine undurchsichtige Haltung <strong>im</strong> Streit mit seinen<br />

theologischen Widersachern, der Widerspruch zwischen behaupteter Friedfertigkeit<br />

und scharfen Attacken, einflussreiche Personen an ihm zweifeln ließ und sie sich<br />

schließlich von ihm abwandten.<br />

Wie mag Melanchthon in seiner Ambivalenz auf seine Zeitgenossen gewirkt haben?<br />

Ein Mann, der die Fürsten um Wohlwollen anbettelt, und <strong>im</strong> gleichen Moment sich über<br />

sie abfällig äußert? Der als Vertreter der „reinen Lehre“ den Vorwurf, ein Adiaphorist zu<br />

sein, selbst nach dem Religionsfrieden von 1555 nicht aus der Welt schafft, während er<br />

zeitgleich selbst notiert, dass bis auf die Wandlung, alle Teile der Messfeier letztlich<br />

Adiaphora seien?<br />

Die Liste von Beispielen seiner Widersprüchlichkeit, sie ist lang.<br />

Am 28. Juni 1552 hält Melanchthon eine öffentliche Rede: „De Capnione Phorcensi“,<br />

„Über Reuchlin von Pforzhe<strong>im</strong>“. Es ist in keiner Weise einsichtig, warum er die<br />

tragischen Vorgänge um Reuchlins Bibliothek nicht nur aufwärmt, sondern sie in einer<br />

Weise darstellt, die den Fakten, wie sie zumin<strong>des</strong>t den Gebildeten unter seinen Zeitgenossen<br />

bekannt gewesen sein sollten, völlig widersprechen.<br />

Reuchlins Bibliothek war keine große, sondern eine erlesene Bibliothek gewesen. Sie<br />

enthielt z. B. eine alte hebräische Bibelhandschrift, die Kaiser Friedrich III. <strong>im</strong> Herbst<br />

1492 Reuchlin geschenkt hatte; Melanchthon notierte einst dazu: „pulcherr<strong>im</strong>um<br />

codicem, qui non potuisset emi trecentis aureis.“ (Ein allerschönstes Werk, das man<br />

selbst für 300 Goldstücke nicht kaufen könnte.) Am 31. Mai 1520 berichtet Reuchlin, er<br />

habe bei den Kobergern in Nürnberg eine hebräische Bibel nebst einem Hesychius für<br />

11 Gulden erworben.<br />

Das Ansehen der Sammlung sowie Reuchlins Absicht, sie später Melanchthon zu<br />

vermachen, spielten selbst in die Überlegungen hinein, als es darum ging, Melanchthon<br />

an die Universität Wittenberg zu berufen. Am 9. Juni 1518 berichtete Spalatin dem<br />

Kurfürst (Friedrich der Weise): „Dann der man (R.) hat Inen (M.) ser lieb und also, das<br />

er Im seyn gantze librey bescheiden, die Im freylich lieber ist dann manchem seyn<br />

konygreich“.<br />

24. Juli 1518 teilt Reuchlin Melanchthon mit, dass die Bestallung <strong>des</strong> Kurfürsten von<br />

Sachsen eingetroffen sei. Er, Reuchlin segnet ihn.<br />

In der Folgezeit ließ sich Melanchthon von Luther faszinieren. Dazu Reuchlin: „ … sed<br />

non est in iuvenibus prudentia.“ (… aber in den jungen Menschen liegt keine Klugheit.)<br />

Es folgte Melanchthons Engagement bei der Leipziger Disputation, was Reuchlin sehr<br />

übel aufnahm. Der völlige Bruch erfolgte, als Reuchlin mit Schreiben vom 18. März<br />

1520 Melanchthon aufforderte, nach Ingolstadt überzusiedeln, was Melanchthon<br />

ablehnte. Reuchlin ließ ihm ausrichten: Um nicht in Ungelegenheiten verwickelt zu<br />

werden, solle er ihm nicht mehr schreiben. Reuchlin starb am 30. Juni 1522, seine<br />

Bücher hatte er dem St. Michaelsstift in Pforzhe<strong>im</strong> vermacht.<br />

In der Rede „De Capnione Phorcensi“ führt Melanchthon nicht aus, dass ihn die Parteinahme<br />

für Luther die geliebten Bücher kostete, er formuliert: „ … ita ut ibi in templo<br />

publice serventur et ab omnibus inspici possint.“ (… damit sie dort in einer öffentlichen<br />

Halle bewahrt und von allen eingesehen werden können.)<br />

Melanchthon ist eine spannende Figur. Er, der sich in seinen Briefen an Camerarius<br />

keinerlei Zwang antut, gegenüber der Öffentlichkeit ist er darauf bedacht, gelebten<br />

Einklang ins Bild zu rücken; Einklang mit dem „löblichen Hertzog“, Einklang mit dem<br />

angesehenen Reuchlin.<br />

280


Ist er etwa harmoniesüchtig? Oder ist seine Persönlichkeit eine nahezu vollkommen<br />

narzißtische? Eigenliebe, bar jeder Selbstreflektion! Ist das der Blickwinkel über den<br />

sich seine Person und sein Handeln erschließt?<br />

Was er auch tut, es ist gut. So er <strong>im</strong> nächsten Moment das Gegenteil tut, so ist auch<br />

das gut, weil er es tut. Eine Haltung, die freilich keine Schuldeingeständnisse, keine<br />

Bitte um Verzeihen und auch keinen Respekt kennt. Es sei denn, die Beweislast ist<br />

erdrückend, es sei denn, er sieht sich der granitnen Haltung seiner Fürsten gegenüber<br />

oder einem Erasmus von Rotterdam, der soviel Ansehen hat, dass ihn die Angst packt,<br />

dass der ihn wegen seiner Vorwitzigkeit lächerlich machen könnte bzw., dass er<br />

fürchtet, einen ehrenvollen Kontakt zu verlieren.<br />

Den gehe<strong>im</strong>en Triebfedern Melanchthons nachzuspüren – ein lustvolles Knobel-<br />

Vergnügen, es bleibe jener Autorin, jenem Autor vorbehalten, die sich von seiner<br />

Person und dem ihm umgebenden Zeitmaterial angezogen fühlen.<br />

Wobei sie die protestantischen Fürsten, die sich in der offiziellen Geschichtsschreibung<br />

hinter Luther wegducken, nicht verschenken sollten. Sie sind es wert, dass<br />

man sie herausholt aus dem Dunkel und sie würdigt, diese Spieler und Hasardeure, die<br />

<strong>im</strong> tösenden Theaterdonner um den rechten Glauben, so frech wie beharrlich eine<br />

gewaltige Vermögensumschichtung über die Bühne brachten.<br />

Sich mit jenen Fürsten auseinanderzusetzen, heißt freilich auch, sich mit Kaiser Karl V.<br />

zu befassen. Um den Blick frei zu bekommen, empfiehlt es sich jene zwei Gemälde <strong>des</strong><br />

großen Meisters Tizian abzuhängen: Der Mann <strong>im</strong> teuren Harnisch hoch zu Roß und<br />

der edel gekleidete Weise <strong>im</strong> Sessel, es sind Auftragsarbeiten, die Konterfeis selbst<br />

sind mehr als geschönt, sie sind zum positiven verfälscht.<br />

Kaiser Karl V. sei ein entschlussloser Mann gewesen, steht wiederholt zu lesen. Dieser<br />

Aussage steht diametral ein Gemälde von Lukas Cranach d. Ä. entgegen. Der große<br />

Meister hat es wohl gemalt, nachdem er den Kaiser bei der Belagerung von Wittenberg<br />

gesprochen hatte. Und es ist gewiss keine Auftragsarbeit, das füllige Gewand verrät<br />

Fettleibigkeit, das Gesicht <strong>des</strong> Kaisers ist aufgedunsen, wirkt krank, der Mund steht<br />

offen – zahnlos. Es sind die Augen, über die sich der Kaiser dem Betrachter erschließt.<br />

Dunkle Augen unter hängenden Oberlidern – sie lassen den Betrachter erschauern.<br />

Überlegen intelligente – geradezu schamlos wissende Augen, die den Gegenüber<br />

sofort als Ganzes erfassen und <strong>im</strong> selben Moment bereits <strong>des</strong>sen gehe<strong>im</strong>ste<br />

Gedanken kennen. Es ist das Gesicht eines Menschen, mit dem man besser keine<br />

Geschäfte macht. Wer in diesem Gesicht so etwas wie Zauderlichkeit oder Entschlusslosigkeit<br />

sucht, geht fehl. Es ist das Gesicht eines durch und durch amoralischen<br />

Menschen. Gier, He<strong>im</strong>tücke, Gewalt, Rücksichtslosigkeit, Wortbruch, so lauten die<br />

Begriffe, die sich dem Betrachter mit dem ersten Blick auf das Bild unmittelbar<br />

aufdrängen. Und geradezu schockiert stellt man fest, dass man sich als Betrachter<br />

ertappt fühlt; alle die dem Kaiser zugedachten Negativbegriffe fallen auf einen selbst<br />

zurück. In den Augen dieses Mannes gab es nicht den neuen Menschen nach<br />

humanistischem Ideal und auch keine guten Menschen, sondern – nicht anders als er<br />

selbst, nur käufliche Kreaturen.<br />

Einen höchst banalen Gegenstand hat der Meister dem großen Kaiser in die gemalte<br />

Hand gedrückt. Wo andere Fürsten einen Schwertgriff umfassen oder eine Krone<br />

halten, Kaiser Karl V. hält einen schlaffen Geldbeutel an sich gepresst.<br />

Ein hungiger Geldbeutel, so will der große Maler wohl sagen, ist der Schlüssel, über<br />

den sich das Handeln dieses Kaisers erschließt.<br />

In der Tat, bereits die Vorgänge um Luther in Worms erinnern fatal an eine Polit-Affaire<br />

unserer Tage. Über Luther wird zwar die Reichsacht verhängt, doch nicht allein, dass<br />

sie mit einem verzögerten Inkrafttreten abgepolstert wird, dem Kurfürst von Sachsen,<br />

Luthers Lan<strong>des</strong>herr, wird die Urkunde nie zugestellt. Könnte es sein, dass einige<br />

Fürsten – in jenen Tagen selbst auch einige geistliche Fürsten, <strong>im</strong> Vorfeld von Worms<br />

dem Kaiser ihre unverbrüchliche Treue versichernd, um Gehör in der lutherischen<br />

Sache baten und ihre artigen Schreiben in Geldkisten übersandten? Ein alter Brauch:<br />

Erstklassige Geschäftsverbindungen beginnen mit großzügigen Geschenken.<br />

281


Es wurde bereits gesagt: die Aufhebung der Klöster, die Einziehung <strong>des</strong> Klosterguts,<br />

die Überführung der klostereigenen Dörfer in die Leibeigenschaft eines Lan<strong>des</strong>herrn,<br />

es waren ideologisch verbrämte Enteignungen, die einzig dadurch zu Recht wurden, da<br />

sie mit den Jahre zu unumstößlichen Tatsachen wurden. Anders gesagt, es wurde<br />

weiträumig frecher Rechtsbruch verübt, wobei der Kaiser nicht allein darauf verzichtete,<br />

die Rechtsbrecher durch das Reichsgericht zu bestrafen, er verzichtete dazu auf seine<br />

Rechte als Schutzherr der Kirche, <strong>des</strong> weiteren weigerte er sich gegen Ketzer vorzugehen,<br />

was mit dem Edikt „Cum ad conservandum“ Kaisers Friedrich II. <strong>im</strong> Jahr 1224<br />

seine Pflicht gewesen wäre.<br />

Dass der Kaiser – umgeben von klugen Juristen, keinen seiner Hebel nutzte, erlaubt<br />

den Schluss, es waren Geld und andere Leistungen <strong>im</strong> Spiel.<br />

Wobei durch „Worms“ das Geschäft freilich keineswegs beendet war. Der Kaiser selbst<br />

hatte sich nicht festgelegt, dazu hatte er in der künftigen Behandlung der lutherischen<br />

Angelegenheit und deren Repräsentanten – diesen verkleideten Ketzern, nun zum<br />

einen ein Druckmittel gegenüber Rom in der Hand, auch bewegten sich diese Luther<br />

zugeneigten Fürsten weiterhin <strong>im</strong> Raum von Rechtsbruch, Unfriede, Ungehorsam, was<br />

wiederum – so die Situation weiter ausreifte, seinem persönlichem Streben nach<br />

Errichtung der Universalmonarchie eines Tages sehr nützlich sein würde.<br />

An Hand dieser frühen Vorgänge wird bereits deutlich, das Allerwelts-Urteil, der Kaiser<br />

sei ein Feind der Protestanten gewesen, schafft keine Klarheit über die Motive seines<br />

Handelns. Vermutlich gab es in seinen Augen nur Faktoren: Rom, Luther, die<br />

finanziellen Interessen in der Luther-Sache u.v.a.m. Faktoren, die es mit einander zu<br />

verrechnen galt, jeder Faktor freilich mit einer Variablen ausgestattet – eine<br />

Rechenaufgabe, die von Woche zu Woche neu gestellt, Verstand brauchte. Und<br />

Verstand hat Karl V. wohl besessen, der Mann, über <strong>des</strong>sen Unterredungen, Schuldverschreibungen<br />

und Schlachtfeldern, die Sonne nie unterging.<br />

Geld war wohl auch der stille Motor der Restitution Württembergs an Herzog Ulrich,<br />

wobei die anschließende Reformierung <strong>des</strong> Herzogtums mit dem Kaiser sicherlich<br />

abgesprochen war. Wie anders sollte Herzog Ulrich die Summe aufbringen, die er dem<br />

Kaiser für die Rückgabe Württembergs vermutlich zu zahlen hatte?<br />

Womit das Geschäft keineswegs beendet war. Denn nicht allein, dass sich Herzog<br />

Ulrich damit in die Reihe der protestantischen Fürsten stellte, gutmöglich ließ er sich<br />

demnächst wieder zu einer neuen Tollheit hinreißen, worauf man ihm die Herrschaft<br />

über Württemberg wieder entziehen konnte.<br />

Dass die Reformation stets Hand in Hand mit einer Art von Gegenleistung ging, bei der<br />

Reformierung Brandenburgs ist es offenkundig. Als der Bruder <strong>des</strong> Kaisers gegen die<br />

Reformierung protestiert, rüstet der Kurfürst von Brandenburg ein Heer aus und schickt<br />

es gegen die Türken.<br />

Womit das Geschäft keineswegs beendet war. Zeitgleich bietet der Bruder <strong>des</strong> Kaisers<br />

den Ungarn an, sie von türkischer Herrschaft zu befreien, so sie sich vom<br />

Protestantismus lossagten. Eventuell hatte er dazu bereits mit Rom entsprechende<br />

Zahlungen oder als Adaequat, einen Waffenstillstand vereinbart.<br />

Vielschichtig erhellend sind die Vorgänge um die Annexion <strong>des</strong> Bistums Naumburg-<br />

Zeitz. Grundsätzlich hätte es genügt, den Übergriff vor dem Reichsgericht zu<br />

verhandeln und dem Urteil – falls erforderlich – durch ein Reichsheer Geltung zu<br />

verschaffen. Doch anstelle der Mühlräder der Justiz, beginnen die Räder der<br />

Reisewagen der Unterhändler zu rollen, die Annexion eines Bistums ist ein gefährlicher<br />

Präzedenzfall, Rom ist aufgeschreckt, dieser Kaiser musste endlich seinen Pflichten<br />

nachkommen. Der Kaiser hingegen war vermutlich nur angetan, über Jahrzehnte<br />

hinweg hatte er die Sache reifen lassen, die freche Formierung eines Schmalkaldischen<br />

Bun<strong>des</strong>, die Verrätereien mit dem französischen König, die Pressung zum<br />

Nürnberger Anstand, wohlwissend, dass der Tag kam, da ein Mitglied <strong>des</strong><br />

Schmalkaldischen Bun<strong>des</strong> sich offen ins Unrecht und damit in seine Hand es begab.<br />

Dass die Jahre geduldigen Wartens ihm als Handhabe allerdings den Raub eines<br />

Bistums in den Schoß geworfen hatten, war mehr als eine hübsche Zugabe, endlich<br />

würde Rom sich mit ihm vernünftig unterhalten. Der Papst schließt mit dem Kaiser<br />

282


einen Vertrag, der Kaiser siegt <strong>im</strong> Schmalkaldischen Krieg und Württemberg wird sofort<br />

zwangsrekatholisiert. Womit das Geschäft hinsichtlich Württembergs keineswegs<br />

beendet war. Nachdem die Katholisierung Württembergs abgeschlossen ist, zieht der<br />

Kaiser seine Söldner aus Württemberg nicht ab – Melanchthon vermutete, dass er<br />

Herzog Ulrich zu Zahlungen presste.<br />

Inwiefern bei der höchst unterschiedlichen Umsetzung <strong>des</strong> Augsburger Inter<strong>im</strong>s wieder<br />

Leistungen <strong>im</strong> Spiel waren – welcher Art auch <strong>im</strong>mer, müsste von Fall zu Fall eigens<br />

betrachtet werden; der Kurfürst von Sachsen setzte jedenfalls 1552 ein Heer gegen die<br />

Türken in Marsch.<br />

Gewiss war Kaiser Karl V. ein ehrgeiziger Mann, doch das war nicht der einzige Grund<br />

für seinen unstillbaren Hunger nach Geld. Die kriegerischen Aktivitäten <strong>des</strong><br />

französischen Königs, der sich übrigens nicht anders als Karl V. als Erbe Karls <strong>des</strong><br />

Großen betrachtete, richteten sich zuvorderst gegen die habsburger Erblande <strong>im</strong><br />

Westen <strong>des</strong> Reiches sowie gegen die angestammten Rechte <strong>des</strong> Reiches in Italien.<br />

Die Angriffe der Türken bedrohten ebenfalls zuallerst habsburger Interessen, nämlich<br />

Österreich, die habsburger Stammlande. Die territorialen Interessen Roms richteten<br />

sich gleichfalls gegen die kaiserlichen Rechte in Italien. Die deutschen Fürsten<br />

hingegen interessierten sich dagegen weitgehend allein für ihre persönlichen<br />

Angelegenheiten, und das gewiss bereits seit mehr als hundert Jahren. Eine<br />

Verteidigung Österreichs oder der Erblande <strong>im</strong> Westen oder gar der Reichsinteressen<br />

in Italien betrachteten sie zunächst einmal als alleinige Angelegenheit <strong>des</strong> Kaisers.<br />

Auch hatten sie kein Interesse an einem starken Kaiser, sie brauchten einen Kaiser,<br />

der in Bedrängnis war. So er Hilfsleistungen wollte, sollte er sich entgegenkommend<br />

zeigen. Doch wie sollte ein Kaiser noch Entgegenkommen zeigen, nachdem die<br />

Fürsten das Gros der kaiserlichen Rechte den Kaisern längst nach und nach<br />

entwunden hatten. Ein Umstand, den auch Max<strong>im</strong>ilian I., der Großvater Karls V., fortlaufend<br />

zu spüren bekommen hatte. Von daher befand sich sein Nachfolger, der junge<br />

Kaiser Karl V., in einer überraschend trefflichen Ausgangsposition. Durch Luther und<br />

die Vermögensinteressen der protestierenden Fürsten war dem Kaiser über das<br />

Kirchengut eine Verhandlungsmasse zugefallen, die er in seinem Sinn verhandeln<br />

konnte.<br />

Anmerkung meines Historikers: „Das ist alles viel zu oberflächlich! Das von den<br />

protestantischen Fürsten eingezogene Kirchengut ist doch nur für den Kaiser<br />

interessant, wenn er selbst es sich aneignen kann. Das aber ist, jedenfalls damals,<br />

unmöglich, da er als Schutzherr der Kirche gilt.“<br />

Die Frage, wie sie gelegentlich gestellt wird, warum Kaiser Karl V. nicht die reichsweite<br />

Reformierung zuließ, verkennt neben vielem anderem die Tatsache, dass die Fürsten<br />

zwar gerne die Reformierung akzeptiert hätten, aber nur um den Kaiser anschließend<br />

wieder <strong>im</strong> Stich zu lassen. Karl V. konnte nichts Klügeres tun, als die Refomation zu<br />

verhökern, nicht nur einmal – der Fall Württemberg zeigt es, sondern <strong>im</strong> selben<br />

Atemzug nach mehreren Seiten und <strong>im</strong>mer wieder aufs Neue.<br />

Karl V. war best<strong>im</strong>mt kein Kaiser <strong>des</strong> Volkes, aber er war ein Großer. Er war der letzte<br />

Kaiser, der die Fürsten in ihre Schranken wies, ein Mann, den sie am Ende derart<br />

fürchteten, dass sie sich nur durch die so genannte Fürstenverschwörung, sprich:<br />

gemeinschaftlichen Reichsverrat, durch die Abtretung lothringer Bistümer an<br />

Frankreich, zu wehren und zu bewahren wussten.<br />

Bei seiner Abdankung <strong>im</strong> Jahre 1556 spricht Karl V. in Brüssel vor den burgundischen<br />

Ständen: „Ich wurde König von Spanien, dann selbst Kaiser, nicht um persönliche<br />

Macht zu vergrößern, sondern um das Wohl dieser Länder zu mehren …“<br />

Die Schulden, die er der Bevölkerung bei den Fuggern, Welsern und anderen hinterließ,<br />

beliefen sich auf 10 Mio. Gulden; das entspricht etwa 100 Tonnen Gold.<br />

Das Zeichen <strong>des</strong> Dollars, <strong>des</strong> einstigen Talers, ist das Abzeichen der Monarchie Karl V.<br />

und auch Stempel damaliger Münzen aus südamerikanischem Silber: Zwei Säulen und<br />

ein Spruchband; sie stehen für die Säulen <strong>des</strong> Herkules und die Warnung der Antike<br />

„Non plus ultra“ – Segle nicht hinaus in das Barbarische, Unbekannte. Karl V. wandelte<br />

es zu seinem „Plus ultra“, Weiter hinaus! Ein Motto, das auch gut zu <strong>Faust</strong> passte.<br />

283


Kaiser Karl V., Gemälde von Lucas Cranach d. Ä.; Öl auf Holz, um 1550<br />

284


Erklärung <strong>des</strong> Autors<br />

Die Textsammlung wurde von einem Dozent für Pharmazie-Geschichte gegengelesen<br />

und „abgesegnet“; Leserinnen und Leser bewegen sich mit den Darstellungen über<br />

Heilzauber und ärztlicher Kunst auf sicherem Grund.<br />

Die Essays wurden auch einem Historiker vorgelegt, er äußerte seine Missbilligung.<br />

Er bemängelte neben der saloppen, unwissenschaftlichen Sprache, das Fehlen von<br />

Quellenangaben. Er monierte die Verwendung unzeitgemäßer Begriffe, Bezeichnungen<br />

wie „Vatikan“, „Index“ u.v.a.m. hätte es damals noch nicht gegeben. Er kritisierte<br />

„kühne Schlussfolgerungen“.<br />

Ich habe gewiss nicht wenig seiner Kritik umgesetzt, doch die essayistische Ebene<br />

wollte ich bewusst nicht verlassen. Ich selbst bin kein Historiker, die Einbeziehung der<br />

geschichtlichen Begleitumstände kann von daher, aber auch mit Rücksicht auf den<br />

Umfang der Betrachtungen, nicht mehr als ein Flanieren entlang den Schaufenstern<br />

der Geschichte sein.<br />

Ich muss <strong>des</strong>weiteren darauf hinweisen, ich habe rein mit Sekundär-Literatur<br />

gearbeitet. Das bedeutet, ich zitiere aus Büchern, von denen vermutlich die meisten<br />

sich ebenfalls auf Sekundär-Literatur gründen; Zitate können also Fehler enthalten.<br />

Dankworte<br />

Neben den Autoren der <strong>Faust</strong>forschung, die mir nicht allein wichtige Informationen<br />

lieferten, sondern mich auch Fragen stellen liessen, gilt mein Dank auch jenen<br />

Menschen, die mir unmittelbar zur Seite standen; sei es durch Recherche <strong>im</strong> Internet,<br />

Auskünfte oder auch Kritik. Ohne deren Hilfe und Wissen hätte mein „<strong>Faust</strong>“ gewisslich<br />

nicht derart radikal die bekannten Pfade der <strong>Faust</strong>forschung verlassen. Einige der<br />

guten Geister wollten nicht genannt werden; statt deren Namen finden sich die<br />

Berufsbezeichnungen.<br />

Der Autor<br />

Februar 2009 – Oktober 2012 / Saarbrücken<br />

Alexander Bartmuß / Leipzig<br />

Andreas Deutsch / Heidelberg<br />

Ein ehemaliger Meister der Fre<strong>im</strong>aurer<br />

„Die Literatten“, kleinster Literaturkreis Saarbrückens<br />

Christine Mundhenk / Heidelberg<br />

Ein Dozent für Pharmazie-Geschichte<br />

Stefan Rhein / Wittenberg<br />

Ein Rezept-Forscher<br />

Bernd Rill / München<br />

Peter Rückert / Stuttgart<br />

Ulrich Schäfer-Newiger / München<br />

Heinz Scheible / Heidelberg<br />

Ute Trieglaff / Saarbrücken<br />

Wolfgang Weinkauf / München<br />

Copyright beachten! Die Verwertung der Rechte liegen be<strong>im</strong> Autor!<br />

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