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Faust im Visier des Geheimdienstes (PDF) Neufassung

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Besessenheiten. Als Beispiele nennt er die Glossolalie einer Frau vor 12 Jahren über<br />

den Schmalkaldischen Krieg, sodann die Verwandlung von Fäden in echte Münzen<br />

durch das märkische Mädchen Gertrud Fischer aus Lebus vor 16 Jahren, und das<br />

Aufsagen eines Vergilverses durch eine italienische Analphabetin.<br />

(Glossolalie: Zungenrede, Redefluß aus sich selbst heraus, wohl ähnlich dem<br />

Channeling. Xenoglossalie: Zungenrede in fremder Sprache, obwohl man derer nicht<br />

mächtig ist; „Pfingstwunder“ in der Apostelgeschichte.)<br />

Auch von daher scheint es als wenig vorstellbar, dass er sich für <strong>Faust</strong>, über den er<br />

gemäß Manlius äußerte, dass dieser „viel verborgen Ding sagte“, sich ein Leben lang<br />

nicht interessiert hätte. Im Gegenteil, <strong>Faust</strong> muss ihn überaus interessiert haben.<br />

Neben den Gerüchten und Geschichten über <strong>Faust</strong>, die Melanchthon wohl in seinem<br />

Leben auf verschiedensten Wegen erreichten, stand er selbst mit zahlreichen<br />

Personen in Kontakt, die über <strong>Faust</strong> gut informiert waren. Am 19. Juli 1525 hatte er<br />

Daniel Stibar in Wittenberg kennengelernt, jenen Stibar, mit dem auch sein Freund,<br />

der Professor Joach<strong>im</strong> Camerarius bekannt ist. Stibar pflegte direkten Umgang mit<br />

<strong>Faust</strong> – der Zeitraum seiner Bekanntschaft mit <strong>Faust</strong> ist durch ein Schreiben <strong>des</strong><br />

Camerarius für das Jahr 1536 gesichert. Ohne hier dem Essay „Nachtsitzungen“<br />

vorzugreifen, so beeindruckend der Umfang von „MBW“ auch ist, er ist nur ein<br />

kläglicher Rest <strong>des</strong>sen, was einst an Briefen existiert haben muss. Dennoch findet sich<br />

Stibar ab 1536 etwa 25 Mal in den Briefen <strong>des</strong> Camerarius an Melanchthon erwähnt,<br />

<strong>des</strong> weiteren existieren noch zwei Briefe Melanchthons an Stibar. Es wäre nicht<br />

einsichtig, warum Stibar seine gute Bekanntschaft mit dem Astrologen <strong>Faust</strong> vor<br />

Melanchthon hätte verschweigen sollen, wo Melanchthon sich nicht weniger für<br />

Horoskope begeisterte als er selbst. Das gleiche gilt in noch höherem Maße für<br />

Camerarius: Er will von Stibar wissen, was <strong>Faust</strong> über den Sieg <strong>des</strong> Kaiser in den<br />

Sternen liest, denn auch er begeisterte sich für die Sprache der Sterne und nahezu<br />

täglich schrieb er an Melanchthon: sein Briefwechsel mit Melanchthon erfuhr keine<br />

Unterbrechungen und endete erst mit Melanchthons Tod.<br />

Am 22. Okt. 1522 traf sich Melanchthon in Erfurt <strong>im</strong> Haus <strong>des</strong> Heinrich Urban mit<br />

Petrus Mosellanus; Urban war einst als Bote <strong>des</strong> Conradus Mutianus in Sachen<br />

„<strong>Faust</strong>“ unterwegs gewesen. In „MBW“, Dok. 240 vom 3.Nov.1522, bezeichnet<br />

Melanchthon Urban als die wertvollste neue Bekanntschaft.<br />

Und <strong>im</strong> Juni 1526 übernachtete Melanchthon dann bei Heinrich Urban; in Dok. 472<br />

vom 1.Juli 1526 schreibt Melanchthon, er habe sich mit Urban erholsam unterhalten.<br />

Welcher Qualität dieses Gespräch unter Männern war, wird in etwa fassbar, wenn man<br />

weiß, dass Urban mit bürgerlichem Namen Fastnacht hieß und er bereits in seiner Zeit<br />

als Mönch mehr dem Nomen est Omen lebte denn seinen Gelübden. Dass bei dieser<br />

erholsamen Unterhaltung das Thema „<strong>Faust</strong>“ nicht berührt wurde, ist wenig vorstellbar.<br />

In „MBW“ tritt offen zu Tage, Melanchthon tauschte sich nicht nur liebend gern über<br />

Irrelevanta aus, er redete überhaupt viel. Um es in seiner Wiegensprache zu sagen, er<br />

„schwätzte“ gern.<br />

Und auch mit Johannes Virdung, der einst so dringend <strong>Faust</strong> sprechen wollte, war<br />

Melanchthon gut bekannt; Virdung hatte ihm einst, als er noch in den Windeln lag und<br />

Philipp Schwarzerd hieß, auf Bitten <strong>des</strong> Vaters das Lebenshoroskop gestellt. Wie<br />

„MBW“ zeigt, blieb Virdung bis zu seinem Tod <strong>im</strong> Jahr 1538 (?) für Melanchthon ein<br />

kompetenter Astrologe. In einem Brief vom 1.1.1531 an Georg Spalatin erwähnt<br />

Melanchthon, dass er <strong>im</strong> vergangenen Jahr dem Landgraf Philipp von Hessen geraten<br />

hätte, sich von Virdung das Horoskop stellen zu lassen, und <strong>im</strong> Schreiben vom<br />

30.9.1531 bittet er Johannes Brenz, dass dieser ihm über Camerarius die Prognostik<br />

für das Jahr 1532 <strong>des</strong> Schwäbisch Haller Astrologen Anton Brellochs und <strong>des</strong><br />

Johannes Virdung in Hassfurt sowie deren Deutungen <strong>des</strong> Halley`schen Kometen<br />

besorgen möchte.<br />

Nicht zuletzt saß Melanchthon oft genug mit Luther zu Tisch, und dort wurde derart<br />

viel über <strong>Faust</strong> geredet, dass Johannes Aurifaber es gar nicht mehr wiedergab, er<br />

notierte lapidar: „Multa dicebant de <strong>Faust</strong>o“, sie redeten viel über <strong>Faust</strong>.<br />

Melanchthon hätte seinen Schülern also richtig viel über <strong>Faust</strong> erzählen können.<br />

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