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Faust im Visier des Geheimdienstes (PDF) Neufassung

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Wanderarbeitern, Siechen und Armen, stellen sie ein kindisch märchenhaftes<br />

Gepränge wie aus Tausend-und-einer-Nacht zur Schau.<br />

Kultureller Überfluß und höchste künstlerische Verfeinerung stehen gegen viehische<br />

Brutalität und schamlose Ausbeutung. Jeder steht gegen jeden. Die geistlichen und<br />

weltlichen Fürsten beuten die Städte und die Bauern aus, die Patrizier wehren sich<br />

gegen Machtansprüche der Bürger, die Zünfte halten die Gesellen unter Kuratell, die<br />

Bauern treten die Saisonarbeiter. Der Handel mit Kindern ist üblich, das Prügeln<br />

ohnehin, und dass die Frauen von ihren Männern geschlagen werden, ist auch normal.<br />

Analphabetentum kontrastiert mit h<strong>im</strong>melsfern abgeschirmter, glänzend elitärer<br />

Gelehrsamkeit. Hochgeborener Dünkel geht Hand in Hand mit erbarmungsloser Rache<br />

an den aufständischen Bauern. Edelste Gedanken stehen gleichberechtigt neben dem<br />

Glauben an die Existenz <strong>des</strong> Teufels. Gemälde <strong>des</strong> Leidens Christi und <strong>des</strong><br />

Totentanzes konkurrieren mit dem „Garten der Lüste“, der vollen sexuellen Libertinage.<br />

Ein wesentliches Momentum dieser Zeit ist eine Religiösität hysterischer Ausmaße.<br />

In Breslau zählte ein Zeitgenosse allein <strong>im</strong> Dom und den beiden größten Pfarrkirchen<br />

322 Stiftungsaltäre. Selbstredend mischte sich hier, wie bei vielen Stiftern, die Selbstdarstellung,<br />

Selbststilisierung und Festigung <strong>des</strong> Status mit der Sicherung <strong>des</strong><br />

Seelenheils. Eine Art von Frömmigkeit, die gewiss nicht die Frömmigkeit der Masse<br />

<strong>des</strong> Volkes ist. Doch auch die Unterschicht treibt die Frage nach dem Seelenheil um,<br />

sie fürchtet den plötzlichen Tod, sie sucht Schutz bei der Mutter Gottes, und dies bald<br />

mehr als bei Jesus. Und auch ein gebildeter Mann wie Friedrich der Weise, Kürfürst<br />

von Sachsen, sammelt mit Inbrunst Heiligenreliquien; mehr als 11 000 Stück sollen es<br />

gewesen sein. Gleichzeitig verschafft er Martin Luther politische Deckung:<br />

Herrschaftsinteresse und Mühen um das eigene Seelenheil sind hier deckungsgleich.<br />

Der junge Luther ist dagegen das eindeutige Beispiel der Weltentsagung zur<br />

Erlangung <strong>des</strong> Seelenheils. Das Seelenheil bewegt auch die zahllosen Witwen; zäh<br />

sparen sie sich Geld vom Mund ab, um sich wenigstens eine einzige Seelenmesse zu<br />

sichern. 1519, also zwei Jahre nach Luthers so genanntem Thesenanschlag, kam es<br />

zu Massenwallfahrten zur „Schönen Maria von Regensburg“. 25 374 Messen sollen in<br />

3 Jahren gelesen worden sein. Im Jahr 1520 wurden 109 198 bleierne und fast 10 000<br />

silberne Pilgerabzeichen verkauft. Und das, obgleich die Wallfahrer in ihrem<br />

He<strong>im</strong>atdorf neben einem Kloster leben, <strong>des</strong>sen Abt den Luxus liebt und ungeniert<br />

prunkvoll auftritt. Im Refektorium, dem Speisesaal <strong>des</strong> Klosters, hat alle Welt Zutritt, es<br />

geht zu wie in einem Wirtshaus. Mönche halten sich Konkubinen, gehen mit ihren<br />

Kindern spazieren, tragen Herrenkleidung und gehen weltlichen Geschäften nach; die<br />

dabei erzielten Gewinne sind steuerfrei, Mönche sind von privilegiertem Stand.<br />

Die erneuerte klösterliche Zucht, soweit sie durch die Visitationen bereits bewirkt<br />

wurde, sie ändert nichts am Druck der Abgaben und Steuern. Folglich ändert sie auch<br />

nichts an der landläufig gewordenen Auffassung, Mönche seien „unnütze Fresser“, die<br />

obendrein noch nicht mal biblisch vorgegeben seien.<br />

Die Visitationen zeigten zuvorderst in den Städten und in deren Umland Wirkung, die<br />

Besetzung der ländlichen Pfarrstellen wird weiterhin auf alte Weise gehandhabt; das<br />

schmerzt die Menschen in ihrem religiösem Empfinden und Verlangen tief.<br />

Oft bleiben die Pfarrstellen vakant, oder es werden Scholaren mit der Seelsorge vor Ort<br />

betraut. Naturgemäß sind die Scholaren ortsfremd, ihre „Ausbildung“ reichte gerade<br />

soweit, dass sie <strong>im</strong> rechten Tonfall eine Messe lesen können. Zu predigen wissen sie<br />

allerdings nicht, die Schrift können sie auch nicht auslegen, ungeniert greifen sie<br />

dagegen in den Klingelbeutel, tragen Kirchengeschirr und Altardecken ihren Weibern<br />

hin, auch kann es den Gläubigen passieren, dass sie am Bett ihres Pfarrers beichten<br />

müssen – der Herr hat wieder keine Lust zum Aufstehen. Meist sind die „Heuerpfaffen“<br />

auch nach kurzer Zeit wieder verschwunden.<br />

Das alles ist nicht die Schuld dieser Geistlichen. Erstens sind sie keine Geistlichen, <strong>des</strong><br />

Weiteren ist eine Pfarre als Pfründe einem Kloster oder einem Domkapitel unterstellt.<br />

Diese vereinnahmen zwar die Einnahmen der Pfarre, heuern jedoch billigst einen<br />

Scholaren, einen fahrenden Schüler, als Pfarrer an.<br />

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