Zehnter Tätigkeitsbericht - 2011 (PDF, 5MB, Datei ist nicht - BStU
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Teil der Bestände Materialien aus der Zeit vor 1945 enthielt,<br />
war <strong>nicht</strong> absehbar, welche Bedeutung dies sowohl<br />
für die Erforschung des Nationalsozialismus als auch für<br />
die der Geschichte des Umgangs beider deutscher Staaten<br />
mit ihrer Vergangenheit haben würde.<br />
Unterlagen aus der Zeit des Nationalsozialismus, welche<br />
auf dem Gebiet der DDR aufgefunden wurden, sind durch<br />
das MfS übernommen, archiviert, systematisch erfasst<br />
und ausgewertet worden. Das MfS instrumentalisierte sie<br />
in erheblichem Ausmaß für die Herrschaftssicherung der<br />
SED, nutzte und verfälschte zum Teil die dort enthaltenen<br />
Informationen über die NS-Vergangenheit von Politikern<br />
der Bundesrepublik zur Durchführung von SED-Kampagnen<br />
mit dem Ziel, sich als der wahre konsequent antifasch<strong>ist</strong>ische<br />
Staat darzustellen. Verschwiegen wurde jedoch,<br />
dass auch in der DDR in vielen Fällen auf eine<br />
Strafverfolgung von NS-Verbrechen verzichtet wurde,<br />
wenn es zweckmäßig erschien, das gesammelte Material<br />
zu operativen Zwecken zu nutzen, um Personen auf<br />
Grundlage belastender Erkenntnisse zur Zusammenarbeit<br />
mit dem MfS zu veranlassen. Eine objektive, vorbehaltlose<br />
Nutzung für die zeitgeschichtliche Forschung über<br />
den Nationalsozialismus war weder gewollt noch zugelassen.<br />
Viele Unterlagen sind als Quelle einmalig, da sie<br />
keine Entsprechung im Bundesarchiv oder Berlin Document<br />
Center haben.<br />
Es war <strong>nicht</strong> zu erwarten, dass diese seit 1990 für die NS-<br />
Forschung zugänglichen Unterlagen zu grundsätzlich<br />
neuen Erkenntnissen führen würden. Jedoch konnten<br />
viele Detailkenntnisse über Konzentrationslager, Euthanasieverbrechen,<br />
Kunstraub, Wehrmacht usw. gewonnen<br />
werden. Beispielsweise sei hier die Geschichte eines in<br />
aller Welt bekannten und für die Verbrechen im Warschauer<br />
Ghetto als synonym geltenden Fotos erwähnt:<br />
Ein Kind mit erhobenen Händen wird von einem SS-<br />
Mann mit dem Maschinengewehr bedroht. MfS-Unterlagen<br />
ermöglichten es, diesen Mann als Josef Blösche zu<br />
identifizieren.<br />
In jüngster Zeit werden die Unterlagen vermehrt genutzt,<br />
um auch die NS-Vergangenheit einzelner Institutionen in<br />
der Bundesrepublik zu untersuchen. Da das NS-Archiv<br />
des MfS eine umfangreiche Materialsammlung zur personellen<br />
Besetzung des Justiz- und Behördenapparates im<br />
Dritten Reich, der NSDAP sowie der Wehrmacht enthält,<br />
kann für diese Zwecke unschätzbares Quellenmaterial zur<br />
Verfügung gestellt werden.<br />
Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass am Wert der MfS-<br />
Akten für die h<strong>ist</strong>orische Forschung heute kein ernst zu<br />
nehmender Zweifel mehr bestehen kann. Das MfS war integraler<br />
Bestandteil der Diktatur und ohne die Auswertung<br />
seiner Akten <strong>ist</strong> eine umfassende Aussage darüber,<br />
wie die Herrschaft der SED wirklich funktionierte, <strong>nicht</strong><br />
möglich. Insbesondere die Sachakten, also solche Unterlagen,<br />
die <strong>nicht</strong> zu einer bestimmten Person angelegt worden<br />
waren und die einen gewichtigen Teil der Hinterlassenschaft<br />
ausmachen, sind für die h<strong>ist</strong>orische Forschung<br />
von großem Wert, denn hier finden sich vor allem die<br />
zahlreichen Berichte über die Stimmung in der Bevölkerung.<br />
Gegenüber Berichten von Parteidienststellen zeich-<br />
– 22 –<br />
nen sich diese Berichte des Staatssicherheitsdienstes<br />
durch einen hohen Quellenwert aus. Sie informieren über<br />
Themen, die ansonsten in der DDR tabu waren: Zu nennen<br />
sind in diesem Zusammenhang die „kritische, oft ablehnende<br />
Haltung großer Teile der DDR-Bevölkerung gegenüber<br />
der Politik der SED, die Wirkungen fehlender<br />
demokratischer Legitimation, insbesondere die Tendenz<br />
zu politischer Verweigerung, zu Opposition und Widerstand“<br />
(Udo Wengst in: Dagmar Unverhau (Hg.): Das<br />
Stasi-Unterlagen-Gesetz im Lichte von Datenschutz und<br />
Archivgesetzgebung, Münster, 2003).<br />
In manchen Fällen wäre ohne diese Unterlagen eine h<strong>ist</strong>orische<br />
Aufarbeitung bisher oder überhaupt unmöglich gewesen,<br />
entweder weil andere Erkenntnisquellen nur bedingt<br />
zugänglich sind oder gar <strong>nicht</strong> ex<strong>ist</strong>ieren.<br />
1.6 Aktuelle Schwerpunkte der Forschungsarbeit<br />
Die Forscher der <strong>BStU</strong> haben im Berichtszeitraum erhebliche<br />
Fortschritte auf dem Gebiet der h<strong>ist</strong>orischen Grundlagenforschung<br />
gemacht, einem ihrer gesetzlichen Hauptaufgabenfelder,<br />
das als Dienstle<strong>ist</strong>ung in Wissenschaft<br />
und Öffentlichkeit gleichermaßen Anerkennung findet.<br />
Im Vordergrund stand hierbei der Start eines neuen und<br />
wichtigen Projekts, mit dem die <strong>BStU</strong> im Oktober 2009<br />
an die Öffentlichkeit trat. Hier erschien der erste Band der<br />
auf 37 Bände angelegten Edition „Die DDR im Blick der<br />
Stasi. Die geheimen Berichte an die SED Führung“. Mit<br />
der Veröffentlichung der geheimen Berichte, die die Zentrale<br />
Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des<br />
Min<strong>ist</strong>eriums für Staatssicherheit zur Information der<br />
Partei- und Staatsführung der DDR vom Juniaufstand<br />
1953 bis zum Dezember 1989 verfasst hat, wird der Forschung<br />
und interessierten Laien eine zeitgeschichtliche<br />
Quelle von hohem h<strong>ist</strong>orischen Wert zur Verfügung gestellt.<br />
Die Berichte an die Parteiführung zeigen den besonderen<br />
Blick des MfS auf und in die DDR: Hinweise<br />
auf „oppositionelles“ Verhalten sind dort ebenso zu finden<br />
wie die Beschreibung von Problemen in Wirtschaft<br />
und Versorgung und Stat<strong>ist</strong>iken zum Devisenumtausch,<br />
zu Ausreise- und Fluchtfällen. Scheinbar Triviales steht<br />
hier neben den größeren und kleineren Schwierigkeiten,<br />
die sich bei der Etablierung und Aufrechterhaltung der<br />
SED-Herrschaft und dem Aufbau des „real ex<strong>ist</strong>ierenden<br />
Sozialismus“ ergaben. Unternommen wird eine Tiefenbohrung<br />
in die DDR-Gesellschaft, geprägt von der geheimdienstlichen<br />
Sicht, die vor allem darauf bedacht war,<br />
Kritik, „politisch-ideologische Diversion“ und „Untergrundtätigkeit“<br />
aufzudecken, zu bekämpfen und möglichst<br />
im Keim zu ersticken.<br />
Wie erste positive Besprechungen bereits hervorheben,<br />
wird die Editions-Reihe zu einem Standardwerk zur Geschichte<br />
der DDR, zum Verhältnis von MfS und SED sowie<br />
zur Informationstätigkeit des MfS werden. Für die<br />
Edition wurde eine zweigleisige Form der Veröffentlichung<br />
gewählt: Buchform plus CD. Im Buch wird eine<br />
Auswahl der aufschlussreichsten Dokumente publiziert.<br />
Eine ausführliche Einleitung führt die Benutzerinnen und<br />
Benutzer in die Spezifika des Berichtswesens des jeweili-