Gefesselte Gespenster - Jungschar.biz
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Filou hatte bei ihr kein Zuckerlecken. Um sechs Uhr morgens warf sie ihn erbarmungslos aus dem Bett,<br />
obgleich er ruhig bis sieben hätte lie8enbleiben können, da sein Dienst erst um acht begann. Aber Oma<br />
war nun mal gewöhnt, den Tag um sechs Uhr morgens anzufangen. Einmal hatte Filou sich zu<br />
beschweren gewagt, da hatte sie entgegnet:<br />
„Der Vogel, der am frühesten aufsteht, fängt den ersten Wurm!“ Das leuchtete Filou zwar ein, aber er<br />
fragte sehr richtig: „Und der arme Wurm! Der ist doch noch früher aufgestanden?“ Sofort hatte er eine<br />
Maulschelle bezogen, die ausgesprochen nach Senegal schmeckte.<br />
Dennoch liebte Filou seine Oma. Sie sorgte rührend für ihn, und die beiden Zimmerchen, die sie<br />
bewohnten, waren die saubersten der Zwiebelstraße. Aber über Geld konnte man mit ihr nicht reden,<br />
genauso wenig wie einst mit Mister Pershing. Keiner der Jungens hätte gewagt, für Filou ein gutes Wort<br />
einzulegen. Oma hieß in der Zwiebelstraße „das Pulverfass“, und das war nicht nur als Anspielung auf<br />
ihre Figur zu verstehen.<br />
Eine einzige Möglichkeit hatte Filou allerdings, Geld nebenbei zu verdienen: er konnte Stullen<br />
verkaufen. Gelegentlich hatte er das schon getan, der Drehorgelspieler auf der Rue de Rome zum<br />
Beispiel nahm immer welche. Zur Zeit ging auch das nicht, denn Maurice musste ja durchgefüttert<br />
werden. Von Maurice erwartete übrigens niemand, dass er etwas beisteuerte. Wo sollte er es wohl<br />
hernehmen? Doch Maurice war zu stolz, um sich auch die Reisekosten von den Jungens schenken zu<br />
lassen. Er trabte los und versuchte nochmals, seine Bilder an den Mann zu bringen. Natürlich ohne<br />
Erfolg.<br />
Da griff André ein, ließ sich von Maurice eine Mappe mit Aquarellen geben und heftete acht davon an<br />
die Hauswand hinter seinem „Geschäft“. Wenn er jetzt seine Kundschaft bediente, sprach er nicht vom<br />
Wetter oder von seiner eigenen Tüchtigkeit, sondern pries die Bilder seines Freundes an, prahlte und<br />
lobhudelte wie ein Rosstäuscher, so dass Maurice, der neben seiner Freiluftausstellung stand,<br />
abwechselnd rot und blass wurde.<br />
„Sehen Sie doch mal, Herr Doktor“, sagte er zu Dr. Roland, einem jungen Nervenarzt, „welch<br />
entzückende Marinade Meister Dupont hier gemalt hat! ‚Springende Delphine’ heißt dieses<br />
aufsehenerregende Werk! Wäre das nichts für Ihr Wartezimmer?“ Der Arzt kaufte das Bild; es war das<br />
erste, das Maurice gegen Geld abgab. Strahlend wie eine Wunderkerze schob André seinem Freund fünf<br />
Franken hin:<br />
„Hier, Maurice! Fünf Franken, sicherlich nicht viel, aber es war ja auch nur ein kleines Bild!“<br />
„Behalt das Geld, André“, sagte Maurice, tu‘s in die Kasse. — Übrigens: mein Bild war ein Seestück<br />
oder, vornehm ausgedrückt: eine Marine. Marinaden sind Fischkonserven! Tschüs!“ Weg war er und<br />
besuchte seine Ausstellung nie wieder. Der bietet meine Aquarelle an wie saures Bier, dachte er und<br />
schüttelte sich vor Entsetzen. Dennoch war er zufrieden, dass auch er — auf dem Umweg über den<br />
tüchtigen Geschäftmann André — einen Beitrag für die Kasse leisten konnte.<br />
Pipin tat zwei Tage lang gar nichts, bis André massiv wurde:<br />
„Höre mal, mein Lieber! Wenn du wirklich mitfahren willst, musst du dich eines Gelderwerbs<br />
befleißigen! Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, dass du bisher schändlich gefaulenzt hast, oder?“<br />
Pipin brummte, zuckte missmutig die Achseln und sagte: „Ich habe nichts Passendes gefunden!“<br />
„So! Nichts Passendes! Dann verkaufst du eben Zeitungen, nicht wahr? Glaubst du, ich halte das<br />
Schuhputzergewerbe für sehr passend? Mitnichten! Aber ich kenne das Leben, und deshalb weiß ich,<br />
dass man, wenn man was erreichen will, auch schon mal Dinge tun muss, die einem keine Freude<br />
machen. Du widmest dich hinfort dem ‚Courtier du Midi’, verstanden?“<br />
Pipin nickte und schnitt eine Grimasse, die seinen Widerwillen deutlich zeigte. Er war nicht eigentlich<br />
faul, aber auch nicht ehrgeizig wie André. Darum verdiente er sich immer nur gerade so viel, wie er zum<br />
Leben brauchte. Alle seine gelegentlichen Berufe machten ihm keinen Spaß, am wenigsten der des<br />
Zeitungsverkäufers. Nur eine einzige Arbeit tat er gern: kochen. Jeden Sonntag nahm er seiner Wirtin,<br />
Madame Quinquaille, den Kochlöffel aus der Hand und bereitete das Mittagessen. Viel besser, als<br />
Madame es je gekonnt hätte. Er brauchte drei Stunden dazu, und die Küche sah hinterher aus, als sei ein<br />
Wirbelsturm hindurchgebraust, das Essen jedoch war köstlich.<br />
Liebend gern hätte er Filous Stelle gehabt. Der würde in einem halben Jahr zum Kochlehrling befördert<br />
werden, wozu er weder Lust noch Begabung hatte. Um aber einen solchen Posten zu bekommen, musste<br />
man eine Menge weißer Jacken, Schürzen und Mützen haben, und außerdem Empfehlungen. Die<br />
Arbeitskleidung hätte Pipin sich noch zusammensparen können, aber wer sollte ihn empfehlen? Er hatte<br />
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