Gefesselte Gespenster - Jungschar.biz
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Er versuchte, die seltsame Erscheinung seinen Freunden zu erklären, kam jedoch nicht zu Rande damit,<br />
weil mit einem Mal der Boden zu zittern begann und ein dumpfes, grollendes Trommeln sich näherte.<br />
Die Jungens sprangen auf und schauten gespannt nach rechts.<br />
Eine wogende, donnernde Wolke von gelbem Staub und schwarzen und weißen Leibern toste heran,<br />
Tausende von Hufen stampften in rasendem Galopp den Boden: eine Riesenherde schwarzer Stiere mit<br />
breiten, ausladenden Hörnern. Seitlich voraus sieben, acht, neun Reiter, lange Stangen in der Hand, auf<br />
kleinen, langmähnigen, wieselflinken Schimmeln. Ein wirbelnd kochender Gießbach, ein polterndes,<br />
grollendes Unwetter, immer näher, immer lauter.<br />
„Da! Da!“ schrie Maurice, zeigte mit der rechten Hand und drückte mit der linken heftig Andrés Arm.<br />
Der spürte nicht einmal den Schmerz, sprang von einem Bein aufs andere und brüllte: „Mensch!<br />
Mensch, so was! Mensch!“ und das Herz schlug ihm bis zum Hals.<br />
Ganz nah war die Herde jetzt, einen Moment sah es aus, als wollte sie die Jungen überrennen und<br />
zertrampeln. Filou quiekte wie eine Maus, machte einen Hechtsprung und nahm unter Spinne Deckung,<br />
zitternd verbarg er sein Gesicht in den Händen. Seppe riss Tista auf den Arm und war mit einem Satz<br />
hinter dem dicksten Baum. Der Kleine klammerte sich mit beiden Armen fest, drückte das Köpfchen an<br />
die Schulter des großen Bruders, schaute aber gebannt zu, mit weitoffenen Augen.<br />
So dicht prasselte und polterte die wilde Jagd an ihrem Rastplatz vorbei, dass sie den Stieren in die<br />
irrlichternden Augen, den Reitern in die dunkelbraunen, schweißigen Gesichter schauen konnten.<br />
Dichter Staubnebel überrollte sie, machte die Stiere zu grauen Schatten, dämpfte den ohrenbetäubenden<br />
Trommelwirbel, kratzte in der Kehle und biss in die Augen. Und dann war die Herde vorbei, das Poltern<br />
verebbte, grummelte in der Ferne wie ein abziehendes Gewitter. Der Staub zog langsam davon, folgte<br />
den Tieren wie ein Schleppe.<br />
„Boh!“ sagte Tista aufatmend; die anderen schwiegen noch immer.<br />
„Mordssache, was?“ meinte Maurice leuchtenden Auges. „Das werd‘ ich malen, irgendwann. Das war<br />
ein Bild, na!“<br />
Pipin nickte und atmete tief, Seppe stellte Tista auf den Boden und drehte rasend schnell die Daumen.<br />
André hatte sich so weit gefasst, dass er sagen konnte: „Ich stelle fest, dass diese Sache mich noch mehr<br />
beeindruckt hat als jene merkwürdige Fata Morgana!“<br />
„Unsinn!“ knurrte René. „Totaler Quatsch! Die Tiere werden ja nie fett, wenn man sie so durch die<br />
Landschaft jagt!“<br />
„Wer jagt die Tiere denn!“ fragte da eine fremde Stimme. „Glauben Sie nur, den Gardians wäre es viel<br />
lieber, die Toros blieben friedlich auf der Weide! — Nichts für ungut, Jungens, dass ich mich einmische!<br />
Und guten Tag allerseits!“<br />
„Tag!“ begrüßten sie den jungen Mann, der unbemerkt hinter ihnen aufgetaucht war, nun sein Fahrrad<br />
an den Baum lehnte und dienstseifrig den Deckel seines kleinen Anhängers öffnete. „Möchtet ihr nicht<br />
etwas trinken?“ sagte er und zeigte auf zwei in Eis gepackte Fässchen. „Prima Wein, erstklassig und<br />
schön kalt. Tut gut bei dem Staub hier!“<br />
Maurice räusperte sich anzüglich und blickte André ganz unmissverständlich an, sagte aber keinen Ton.<br />
Die anderen leckten sich die Lippen und schauten ihn ebenfalls schweigend an.<br />
„Wein macht müde“, wehrte André ab, „und wir haben noch viel vor!“<br />
„Ich habe auch Traubensaft und Mineralwasser!“ sagte der Händler und öffnete die rückwärtige Klappe<br />
des Anhängers. „Hier, ebenfalls eisgekühlt und prima!“<br />
Sieben Flaschen Traubensaft, dachte André. Wo kommen wir denn da hin? Aber etwas muss ich ihnen<br />
geben. Mensch, wie die mich angucken! Wie hungrige Kinder ihre böse Stiefmutter ansehen. Geht<br />
einem ja auf die Nerven! Schade für das Geld; wir haben ohnehin viel zuwenig.<br />
„Geben Sie mal drei Flaschen!“ sagte er, und zu den Jungen gewandt: „Je zwei Mann eine Flasche.<br />
Seppe muss Tista was abgeben.“<br />
Das kühle, ein wenig herbe Getränk tat wohl. Wer getrunken hatte, stöhnte vor Begeisterung oder<br />
schnalzte mit der Zunge. Nur André trank nicht, das heißt, er nahm zwei ganz kleine Schlückchen und<br />
reichte die Flasche verschämt lächelnd an Seppe weiter.<br />
Manchmal ist André wirklich ein netter Kerl, dachte Seppe, nahm nur einen Schluck und gab die Flasche<br />
seinem Brüderchen.<br />
„Macht ihr ‘n Ausflug, Jungens? Wo soll‘s denn hingehen?“ Der Händler fühlte sich verpflichtet, seine<br />
Kunden zu unterhalten.<br />
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